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Mit ‘Zwang’ getaggte Beiträge

Vincent will meer

Ein Film über Zwänge, Freundschaft und Tourette

Die deutsche Komödie Vincent will meer (2010) dreht sich um einen jungen Mann, der am Tourette-Syndrom leidet. Er begibt sich auf eine Reise nach Italien, die ihn und alle anderen verändert.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Julia Küher und Marina Reist

«F*tze» schreit Vincent während der Beerdigung seiner Mutter. Sein Vater blickt ihn vorwurfsvoll an, die anderen Trauernden tuscheln schockiert. Wütend stürmt Vincent hinaus und flucht weiter. In der Kirche stimmen die Anwesenden ein geistliches Lied an und versuchen weiterhin den Schein zu wahren. Mit dieser Szene beginnt der Film Vincent will meer.

Vincent ist 27 Jahre alt, ist traumatisiert vom Tod seiner alkoholkranken Mutter und leidet an Tourette. Sein Vater schiebt Vincent kurzerhand in eine Klinik ab, in der vergeblichen Hoffnung, Vincent könnte von seiner «Behinderung» geheilt werden. Die Beziehung zwischen Vincent und seinem Vater ist überaus dysfunktional. Nicht nur ein gegenseitiges Unverständnis herrscht vor, sondern auch eine ganze Menge Vorwürfe, unerfüllte Erwartungen über Vincents Zukunft und ein Mangel an Bereitschaft, sich mit ihrer Beziehung auseinander zu setzen. In der Klinik trifft Vincent auf Alex, der an einer Zwangsstörung leidet, und auf Marie, die anorektisch ist. Bereits nach kurzer Zeit flieht das ungleiche Trio mit dem Auto der Therapeutin Dr. Rose aus der Klinik. Ihr Ziel ist das Meer, wo Vincent die Asche seiner Mutter hinbringen möchte. Eine dramatische Reise beginnt, auf welcher sich alle drei Charaktere gegenseitig unterstützen, aber auch manipulieren und beleidigen. Zeitgleich machen sich Dr. Rose und Vincents Vater auf, um die Ausreisser wieder einzufangen. Auch sie müssen sich im Verlauf der Reise ihren Dämonen stellen. Für alle fünf Charaktere wird der Weg zum eigentlichen Ziel.

Der Zwang

Eines der interessanten Themen, die der Film aufgreift, ist das des Zwangs. Vincent, Marie und Alex leiden alle an einer psychischen Störung, die sie zwingt, gewisse Dinge zu tun oder nicht zu tun. So muss Alex permanent putzen, Vincent kämpft gegen seine Ticks und seine aggressiven Ausbrüche und Marie isst nichts. Hinzu kommt der Zwang, gesund zu werden und in eine Gesellschaft hineinzupassen, in welcher sie alle hauptsächlich auf Unverständnis oder Abneigung stossen. Aber auch Dr. Rose und Vincents Vater leiden unter einem Zwang. Dr. Rose ist sehr um Marie besorgt und verkrampft sich darauf, eine gute Therapeutin zu sein. Der Vater von Vincent lässt sich sein Leben durch die permanenten Arbeitsanrufe diktieren. Während sich bei den jüngeren Figuren diese Zwänge durch die Freiheit ihrer Reise und die Beziehung untereinander zum Teil lösen, müssen Dr. Rose und der Vater von Vincent zuerst einen Verlust erleiden, bevor sie frei werden. So verliert der Vater sein Handy und Dr. Rose ihre Patientin, bevor die Entwicklung der Figuren einsetzt. Doch auch sie verhelfen einander durch Gespräche zur Einsicht. Aber nicht alle schaffen es, ihre Zwänge zu überwinden.

«Ich hab’n Clown im Kopf, der mir ständig zwischen die Synapsen scheisst!»

Huettner, 2010

Die Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit

Einige Inhalte werden im Film nicht korrekt dargestellt. So mag es einem beispielsweise schleierhaft sein, wie jemand mit Tourette-Syndrom einen Platz in einer Klinik erhält oder wie jemand mit schwerer Anorexie die Initiative für sexuelle Handlungen ergreift. Eine der Hauptfragen, die man sich als Zuschauer*in stellen mag, ist, was Komödien alles dürfen. Ist es wirklich okay, sich über die Ticks von Vincent oder die Putzzwänge von Alex zu amüsieren? Da der grosse Leidensdruck der drei jungen Charaktere kaum bis gar nicht thematisiert wird, mag die Antwort auf diese Frage verzerrt sein. Allgemein werden die negativen Seiten der psychischen Störungen kaum thematisiert, was den Film leichter verdaulich macht, aber auch etwas oberflächlich wirken lässt. Hinzu kommt, dass die Figuren mit eher gesellschaftlich akzeptierten Diagnosen behaftet sind. Die Balance zwischen der Leichtigkeit einer Komödie und der Ernsthaftigkeit psychischer Störungen zu finden, mag schwer zu erreichen sein. Der Film hätte provokativer sein dürfen. Dennoch ist er sehenswert.


Zum Weitersehen

Huettner, R. (Director). (2010). Vincent will meer [Motion Picture]. Constantin Film.

Zwanghaftes Horten

Wenn man den emotionalen Wert von Gegenständen inadäquat einschätzt

Zwanghaftes Horten oder Hoarding Disorder beschreibt eine Erkrankung, bei der Betroffene sich nicht von scheinbar wertlosen Dingen trennen können und auch die Neubeschaffung von oftmals wertlosen Dingen ein Problem darstellt. Im Folgenden wird das Krankheitsbild näher vorgestellt.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Marie Reinecke und Laura Trinkler
Illustriert von Alba Lopez

Eigentlich wollte ich diesen Artikel mit einer Anspielung auf das Horten von Toilettenpapier – eine Tätigkeit, welcher nicht zu wenige unserer Mitmenschen zu Anfang der Corona-Pandemie nachgegangen sind – eröffnen. Eine Extremform des Sammelns und auch der Akquise neuer Gegenstände stellt zwanghaftes Horten dar. Was manche von uns schon in fragwürdigen Sendungen gesehen haben, ist ausserhalb der Reality-TV-Welt bitterer Ernst, welcher mit grossem Leidensdruck für die Betroffenen und ihr Umfeld verbunden ist. Zwanghaftes Horten findet im DSM-V eine eigene Diagnose, zuvor war es als eine Ausprägung einer Zwangsstörung definiert.

Krankheitsbild

Betroffene Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie anhaltende Schwierigkeiten haben, persönliche Gegenstände fortzugeben oder wegzuwerfen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert. Sie haben das Gefühl, ihre Besitztümer aufbewahren zu müssen und erfahren massive Anspannung beim Versuch, sich der Besitztümer zu entledigen. Das Behalten von diesen wertlosen Dingen führt zu dem Bild, welches man von Messie-Wohnungen hat. Betroffene wohnen oftmals in einer überfüllten Wohnung, wovon viel Wohnbereich auch mit Müll okkupiert sein kann. Die Kriterien können auch bei einer aufgeräumten Wohnung zutreffen, wobei die Ordnung auf Dritte zurückgeführt werden können muss. Um die Kriterien des DSM-V für pathologisches Horten zu erfüllen, muss des Weiteren eine Beeinträchtigung im häuslichen, sozialen oder arbeitsbezogenen Alltag vorhanden sein (Külz & Voderholzer, 2018).

Im Unterschied zum Messie-Syndrom ist beim zwanghaften Horten häufiger die Akquirierung neuer Gegenstände Bestandteil der Krankheit. Personen mit dem Messie-Syndrom sind zudem nicht nur bei der Ordnung im Wohnbereich desorganisiert, sondern auch beim Einhalten von Terminen, der sozialen Einbindung und der Umsetzung von Handlungsplänen im Allgemeinen (Külz & Voderholzer, 2018).

Sammeln und auch Überfluss an Dingen liegt zu einem gewissen Grad in der menschlichen Natur (wie uns die Toilettenpapiersituation anno Corona zeigte). Das Sammeln von Dingen unterscheidet sich jedoch gegenüber Horten dahingehend, dass Sammeln nicht als das eigene Wohlergehen oder das Wohlergehen anderer als negativ beeinträchtigend gilt (Külz & Voderholzer, 2018).

Die Bindung an scheinbar wertlose Dinge an sich ist nichts Aussergewöhnliches. Gewisse Besitztümer können mit Personen oder Ereignissen in Verbindung gebracht werden und haben daher emotionalen Wert. Oder man identifiziert sich mit einem Gegenstand, so dass das Entledigen desselben sich wie die Vernichtung eines Teils seiner selbst anfühlt (Külz & Voderholzer, 2018). Während diese objektiv wertlosen Dinge mit grossem subjektiven Wert bei klinisch unauffälligen Personen dünn gesät sind, verspüren Betroffene diese Verbindungen zu einer Vielzahl von Dingen, wie alten Zeitschriften oder abgetragenen Kleidungsstücken.

Befundlage

Nordsletten und Kollegen (2013) fanden des Weiteren, dass Betroffene im Vergleich zu klinisch Unauffälligen signifikant häufiger Schulden hatten, geschieden oder verwitwet waren und häufiger staatliche Finanzhilfe in Anspruch nahmen. Zusätzlich wurde festgestellt, dass die körperliche Gesundheit bei Betroffenen schlechter war als die der Kontrollgruppe. Timpano und Kollegen (2011) berichteten, dass bei Nicht-Hortenden gelegentliches Stehlen mit 6.2 Prozent deutlich tiefer lag als bei pathologisch Hortenden mit 25.3 Prozent. Auch das impulsive Kaufen von Dingen oder das Mitnehmen von Gratisprodukten wurde bei pathologisch Hortenden häufiger festgestellt.

In einer retrospektiven Studie fanden Landau und Kollegen (2011) heraus, dass Personen, welche unter pathologischem Horten leiden, mehr stressige oder traumatische Ereignisse erlebt hatten als Personen mit einer Zwangsstörung oder aus der Kontrollgruppe. Die Exposition gegenüber traumatischen Ereignissen korrelierte dabei stark mit der Ausprägung des Hortverhaltens. Zwischen materieller Entbehrung in der Vergangenheit und Hortverhalten wurden keine signifikanten Zusammenhänge festgestellt.

Neurologische Grundlage

Tolin und Kollegen (2014) führten mit Personen, welche unter einer Zwangsstörung oder pathologischem Horten litten und Kontrollpersonen ein Experiment durch, in welchem die Probanden an einer Go/no-Go-Aufgabe teilnahmen. Bei dieser Aufgabe wurde mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Stimulus präsentiert, nach welchem von den Probanden die Reaktion gefordert wurde, einen Knopf zu drücken. Die Stimuli wurden in einer kurzen zeitlichen Abfolge präsentiert und alle 10-15 Sekunden wurde ein Stimulus präsentiert, bei dem keine Aktion gefordert war. Bei den Probanden zeigten sich unterschiedliche Hirnaktivierungen in Bezug auf die response inhibition. Bei den Studienteilnehmern, welche mit zwanghaftem Horten diagnostiziert worden waren, stellten die Forschenden im Vergleich zu den anderen Probanden eine Hypoaktivität im Frontalkortex fest. Dieses Muster konnte auch bei anderen Tests, bei welchen es nicht um das Behalten oder Wegwerfen von Dingen geht, festgestellt werden und könnte laut Tolin und Kollegen (2014) eine Erklärung für die beobachtbare, geminderte, allgemeine Motivation und das mangelhafte Einsichtsvermögen bei Betroffenen sein.

«Together, these regions are thought to be part of a functionally connected network of structures used to identify the emotional significance of a stimulus, generate an emotional response, and regulate affective state.»

Tolin et al., 2012, S. 838

In einer weiteren Studie von Tolin und Kollegen (2012) mussten Probanden in Bezug auf fremde und eigene wertlose Gegenstände entscheiden, ob sie weggeworfen oder behalten werden sollen. Bei den Probanden mit zwanghaftem Horten wurde eine vergleichsweise hohe Aktivität im anterioren cingulären Cortex sowie in der Insula festgestellt, wenn es um Entscheidungen bezüglich eigener Gegenstände ging. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die Entscheidungsschwierigkeit, welche Personen mit zwanghaftem Horten beim Wegwerfen von Besitztümern erfahren, neurologisch widerspiegeln. Die betroffenen Hirngebiete sind unter anderem bei Entscheidungsprozessen, Salienzbestimmung von Stimuli und emotionalen Entscheidungen von Bedeutung (Tolin et al, 2012). Zusammengefasst sind die neuronalen Strukturen, welche dazu dienen, Gegenständen einen emotionalen Wert adäquat beizumessen, eine emotionale Reaktion hervorzurufen und den affektiven Zustand zu regulieren, bei Menschen mit zwanghaftem Horten in Bezug auf Besitztümer auffällig.

Besserung der Symptomatik

In einer Metaanalyse fanden Tolin, Frost, Steketee und Muroff (2015) heraus, dass kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung von zwanghaftem Horten gute Resultate hervorbringt. Vor allem fällt es den Betroffenen nach einer Therapie leichter, sich von Dingen zu trennen und die Vermüllung des Wohnraumes nimmt ab. Eine vollständige Heilung im Sinne von Skalenergebnissen in Bezug auf Hortungsverhalten, welche dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, wird allerdings nicht erreicht.

Zwanghaftes Horten kann für direkt und indirekt Betroffene grossen Leidensdruck verursachen. Es geht mit spezifischen, neuronalen Mustern einher und unterscheidet sich explizit von einer Zwangsstörung. Die Häufigkeit der Erkrankung wird mit einer Prävalenz zwischen 2 Prozent bis 6 Prozent sehr unterschiedlich eingeschätzt (Timpano et al., 2011). Die Menschen, die dabei am stärksten betroffen sind, sind vermutlich die gleichen Personen, denen die Einsicht zu ihrem Problem fehlt (Nordsletten et al. 2013).


Zum Weiterlesen

Külz, A. K., & Voderholzer, U. (2018). Pathologisches Horten. Hogrefe Verlag. https://doi.org/10.1026/02785-000

Tolin, D. F., Witt, S. T., & Stevens, M. C. (2014). Hoarding disorder and obsessive–compulsive disorder show different patterns of neural activity during response inhibition. Psychiatry Research: Neuroimaging, 221, 142-148. https://doi.org/10.1016/j.pscychresns.2013.11.009

Literatur

Landau, D., Iervolino, A. C., Pertusa, A., Santo, S., Singh, S., & Mataix-Cols, D. (2011). Stressful life events and material deprivation in hoarding disorder. Journal of Anxiety Disorders, 25, 192-202. https://doi.org/10.1016/j.janxdis.2010.09.002

Nordsletten, A. E., Reichenberg, A., Hatch, S. L., de la Cruz, L. F., Pertusa, A., Hotopf, M., & Mataix-Cols, D. (2013). Epidemiology of hoarding disorder. The British Journal of Psychiatry, 203, 445-452. https://doi.org/10.1192/bjp.bp.113.130195

Timpano, K. R., Exner, C., Glaesmer, H., Rief, W., Keshaviah, A., Brahler, E., & Wilhelm, S. (2011). The epidemiology of the proposed DSM-5 hoarding disorder: Exploration of the acquisition specifier, associated features, and distress. The Journal of Clinical Psychiatry, 72, 780-786. https://doi.org/10.4088/JCP.10m06380

Tolin, D. F., Frost, R. O., Steketee, G., & Muroff, J. (2015). Cognitive behavioral therapy for hoarding disorder: A meta-analysis. Depression and Anxiety, 32, 158-166. https://doi.org/10.1002/da.22327

Tolin, D. F., Stevens, M. C., Villavicencio, A. L., Norberg, M. M., Calhoun, V. D., Frost, R. O., Steketee, G., Rauch, S. L., & Pearlson, G. D. (2012). Neural mechanisms of decision making in hoarding disorder. Archives of General Psychiatry, 69, 832-841. https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2011.1980