Das Tier an meiner Seite
Über die Abenteuer mit meinem Teddybären und warum unsere Beziehung damals so wichtig für mich war.

Calvin hat Hobbes. Charlie Brown hat Snoopy. Christopher Robin hat Puh-Bär und ich habe meinen «kleinen Bär». Übergangsobjekte übernehmen eine wichtige Entwicklungsfunktion im Kindesalter. Die Theorie stammt von D. W. Winnicott und wird anhand von meinen eigenen Erfahrungen mit meinem Teddybären erklärt.
Von Stefan Dorner
Lektoriert von Marie Kappen und Loriana Medici
Illustriert von Stefan Dorner
Von früh morgens an, wenn ich aufwache, bis spät abends, wenn ich zu Bett gehe, ist mein «kleiner Bär» mit mir unterwegs. Stets ist er an meiner Seite und wir erkunden zusammen die Welt. Wir schlafen immer zusammen ein, ohne ist unmöglich. Der «kleine Bär» ist der beste Tröster, den ich mir wünschen kann. Doch ich werde grösser und selbstständiger. Meinen pelzigen Komplizen brauche ich immer seltener. Schliesslich verschwindet er in einer dunklen, modrigen Kartonkiste im Keller. Doch ich bekomme bald ein schlechtes Gewissen: Schlechte Luft und Dunkelheit machen das Leben meines «kleinen Bären» bestimmt unerträglich. Nein! Ich kann ihn nicht einfach in den Keller verbannen.
Für diesen Artikel möchte ich die Geschichte von meinem Teddybären wiederaufleben lassen. Ich nehme also meinen «kleinen Bär» von der Kommode, wo er die letzten Jahre verbrachte und setze ihn vor mich auf meinen Schreibtisch. Mein «kleiner Bär» sieht mit seinem stellenweise dünn gewordenen Fell sehr «abgeschmust» aus. Die Bärenarme und die aufgenähten Herzen auf dem weissen Bauch könnten sehr bald abfallen. Das linke Bärenohr und die Bärenschnauze sehen ramponiert und geflickt aus. Die Glasaugen sind verkratzt und der Bärenstummelschwanz fehlt gänzlich. Weitere Schmuseattacken, vielleicht einmal von meinem Sohn oder meiner Tochter, würde er kaum überleben. Ich schone also Meister Petz und versuche mich mit ihm an unsere vergessenen Abenteuer zu erinnern.
Der nüchterne wissenschaftliche Begriff
Mit der Theorie der Übergangsobjekte beschreibt der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott ein materielles Objekt, wie ein Kuscheltier, der Zipfel einer Decke oder ein Schmusetuch, das vom Säugling selbst ausgesucht wird (Winnicott, 2015). Ein Übergangsobjekt hilft dem Kind die Abwesenheit seiner Bezugsperson zu akzeptieren (Grüter, 2012). Doch es dient nicht nur als Mutterersatz, auch im Beisein der Mutter hat das Übergangsobjekt eine ungeheuerliche Bedeutung, so z.B. in fremden oder angstbesetzen Situationen. Das Übergangsobjekt hilft die Anforderungen der Aussenwelt anzunehmen und stellt somit eine Art Brücke zwischen Kind und Welt dar. Das Übergangsobjekt unterstützt das Kind dahingehend, dass das Kind seine Gefühle auf das Übergangsobjekt projiziert anstatt die Angst mit Weinen auszudrücken. So kann sich der Übergang von der ersten frühkindlichen Beziehung zur Mutter zu reiferen Beziehungen vollziehen (Strangl, 2018).
«Ich sollte schliesslich auch erwähnen, dass es in einigen Fällen nur ein bestimmtes Übergangsobjekt gibt, nämlich die Mutter.»
Donald W. Winnicott, 2015, S. 14
Die Einzigartigkeit des Übergangsobjektes sieht nur das Kleinkind selbst. In den seltensten Fällen ist es der schöne Steiff-Teddybär von Oma und Opa. Neben Meister Petz für das Einschlafen, hatte ich für eine kurze Zeit auch ein Abwasch-Bäseli immer mit dabei. Niemand kann nachvollziehen warum ich ein Bäseli als Übergangsobjekt brauchte. Egal, ob auf einer Wanderung, auf dem Spielplatz oder zuhause im Bad, ich hielt das Bäseli auf jedem Foto immer in den Händen.
Viele Emotionen und der erste «Nicht-Ich-Besitz»
Übergangsobjekte sind mit grossen Gefühlen verbunden (Grüter, 2012). Eltern unternehmen alles, damit diese Beziehung nicht durch kleine Missgeschicke verloren geht. Als mein «kleiner Bär» bei der Gepäckkontrolle am Flughafen von Südafrika vergessen ging, bemerkten dies meine Eltern erst auf dem Weg vom Gate zum Flugzeug. Ohne zu zögern rannte mein Vater zurück und rettete meinen «kleinen Bär». Nach den Ferien nähte mir meine Mutter einen Umhängebeutel, damit Meister Pelz nicht mehr verloren gehen würde.
Ein Übergangsobjekt ist nach der Theorie von Winnicott der erste «Nicht-Ich-Besitz» der äusseren Welt eines Säuglings (Winnicott, 2015). Trinkt das Neugeborene von der Brust der Mutter, hat dieses noch keine Vorstellung, dass die Brust zur Mutter gehört. Für das Neugeborene ist alles eins und sieht noch nicht, dass es nicht alles sofort haben kann. Winnicott schlussfolgert daher, dass sich der Säugling aufgrund dieser Illusion omnipotent fühlt. Wenn das Kleinkind langsam zu begreifen beginnt, dass es nicht identisch mit der Mutter ist, werden Übergangsobjekte wichtig (Blass, 2011). Damit beginnt die Vorstellung einer inneren und einer äusseren Realität zu wachsen. An die Stelle der Illusion tritt dann das Übergangsobjekt (Winnicott, 2015). Das wiederholte Nutzen eines Gegenstandes, aber auch einer Geste, eines Wortes oder einer Melodie hilft dem Kind sich zu beruhigen und die eigenen Ängste, meist Trennungsängste, abzuwehren. Diese sogenannten Übergangsphänomene können für ein Kind eine lebenswichtige Bedeutung erlangen (Bahrenberg, 2016). Mit der Beziehung zum Plüschtier verzichtet das Kleinkind somit auch auf seine Omnipotenz.
Im Spiel werden Liebe und Hass ausgelebt
Mein «kleiner Bär» musste viel aushalten. Wenn er unsere Beziehung beschreiben könnte, würde er Folgendes berichten: «Der kleine Stefan behandelt mich beim Einschlafen genauso zärtlich, wie er mich leidenschaftlich liebt und drückt. Manchmal bekomme ich auch seine Aggressionen zu spüren. Dann werde ich an die Wand geschleudert. Jedoch dauert dies nicht lang. Oft werde ich schnell wieder bei den Armen gepackt und festgedrückt. Der kleine Stefan ist mein Kumpane und ich tröste ihn, wenn der Vater schimpft oder die Mutter ihm etwas nicht erlaubt». Das Kind zeigt damit erste Züge eines Rollenspiels und kann sich in der Beziehung zu seinem Objekt austesten (Bahrenberg, 2016). Das Ausleben positiver und negativer Affekte gegenüber dem Übergangsobjekt hilft dem Kind in seiner gesunden Entwicklung.
«Es war ein nie versagendes Beruhigungsmittel. Dies ist ein typisches Beispiel für das, was ich als Übergangsobjekt bezeichne.»
Donald W. Winnicott, 2015, S. 17
Waschen nur im Notfall
Das Übergangsobjekt darf nicht verändert werden, ausser das Kind verändert es selber (Winnicott, 2015). Als mein «kleiner Bär» nach einiger Zeit nicht mehr braun-weiss, sondern dunkelbraun war und unangenehm roch, gab ich ihn immer noch nicht zum Waschen frei. Meiner Mutter wurde es jedoch zu bunt und sie erklärte mir, dass der «kleine Bär» genauso gerne Karussell fährt wie ich, nur eben am aller liebsten in Waschmaschinen – dies klang glaubhaft. Ganz geheuer war mir diese Karussellfahrt in der Waschmaschine dennoch nicht und so verbrachte ich den ganzen Waschgang vor der Trommel. Nur um sicher zu gehen, dass mit dem «kleinen Bär» wirklich alles in Ordnung ist.
Es wäre zu bedauern, wenn mein «kleiner Bär» dasselbe traurige Schicksal wie viele Teddybären dieser Welt erfahren hätte und den Rest seines Lebens an einem dunklen und kalten Ort verbringen müsste. Seine beruhigenden Superkräfte wären so verbannt gewesen. Es war schön in die Geschichten meiner frühsten Kindheit zurückzukehren. Welche vergessenen Geschichten warten auf Dich?
Übergangsobjekte in der klinischen Anwendung
Die Theorie der Übergangsobjekte ist auch in der Praxis äusserst interessant: Ein elfjähriges Kind kann in der Psychotherapie nur schwer zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Das zeigt sich beim Monopolyspiel, wenn das Kind bei ungünstigem Spielende aggressiv gegenüber der Therapeutin wird. Wenn nach einiger Zeit wirksamer Therapie aber eine Playmobilfrau – ein Übergangsobjekt – vom Kind ins Spiel integriert wird und bei frustrierenden Situationen mit einem Spielzeuggewehr abgeschossen wird, lassen die Aggressionen gegen die Therapeutin nach. Eine reife Beziehung zur Therapeutin kann entstehen. Die Beziehung zur Therapeutin kann das Kind somit schützen, indem es die natürlichen Aggressionen an der Playmobilfrau auslässt.
Weiterlesen
Watterson, B. (2011). Calvin und Hobbes. Hamburg: Carlsen Comics.
Feig, P., Schulz, B., Schulz, C., Travers, M.J. & Uliano, C.(Produzenten). (2015). The Peanuts [Spielfilm].
Kögler, M. & Busch, E. (2014). Übergangsobjekte und Übergangsräume. Winnicotts Konzepte in der Anwendung. Wetzlar: Psychosozial-Verlag.
Literatur
Bahrenburg, C. (2016). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Bedeutsame Begleiter des Kindes in seiner frühen Entwicklung. Zugriff am 13.01.2018 http://www.fruehe-bildung.online/artikel.php?id=1079
Blass, S. (2011). Die Schmusetuchlobby – welche Rolle spielen Übergangsobjekte? Zugriff am 13.01.2018 http://www.t-online.de/leben/familie/erziehung/id_48506954/die-schmusetuchlobby-welche-rolle-spielen-uebergangsobjekte-.html
Grüter, I. (2012). Übergangsobjekt [Radiobeitrag]. Zugriff am 13.01.2018 https://www.srf.ch/sendungen/100-sekunden-wissen/uebergangsobjekt
Stangl, W. (2018). Übergangsobjekt. Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 13.01.2018 http://lexikon.stangl.eu/14828/uebergangsobjekt/)
Stern, D. (2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings (neunte, erweiterte Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Winnicott, D.W. (2015). Vom Spiel zur Kreativität (14. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.