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Mit ‘Therapie’ getaggte Beiträge

Türen öffnen mit psychedelischer Therapie

Was hat es mit der psychedelischen Renaissance auf sich?

Worum handelt es sich bei Psychedelika, was sind die Hintergründe psychedelischer Forschung und was gibt es für neue Erkenntnisse zum Thema Therapie mit Psychedelika? Was passiert, wenn man diese Türen öffnet? Welche Möglichkeiten und Risiken bergen bewusstseinserweiternde Drogen?

Von Anna Boeker
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Arne Hansen
Illustriert von Katrin Grings

Menschen verwenden Psychedelika schon seit Tausenden von Jahren (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016). Psilocybin-haltige Pilze sind zum Beispiel auf allen Kontinenten der Erde zu finden. Ihre Verwendung wurde von präkolumbianischen mesoamerikanischen Gesellschaften wie den Azteken und Mayas ausführlich dokumentiert (Grof & Grof, 2010; Nichols & Barker, 2016).

Ein weiteres Psychedelikum ist NN-DMT, eine Substanz, die in vielen Pflanzenarten vorkommt (Drug Enforcement Administration, 2019) und einer der wichtigsten Bestandteile des beliebten psychedelischen Gebräus namens Ayahuasca ist. Dieses wird in den Regionen des Amazonas seit mindestens 1000 Jahren verwendet (Miller et al., 2019). Bei vielen Ureinwohnern wurden diese Psychedelika häufig zu Heilzwecken und zu religiösen oder spirituellen Zwecken verwendet (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016) und spielten in einigen kulturellen Ritualen eine wichtige Rolle (Grof, 2019).

Betrachtet man den Zeitraum von den ersten Belegen für die Verwendung von Psychedelika durch Menschen bis zur Gegenwart, so wurden die psychedelischen Praktiken grösstenteils im Kontext der einheimischen Kulturen ausgeübt und von Personen wie Mystikern, Priestern, Ältesten, Schamanen, Heilern und Medizinmännern entwickelt. Westliche Gesellschaften fingen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, Psychedelika zu verwenden und eigene Praktiken zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass die Psychedelika Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurden (Grof, 2019).

«die legale psychedelische Therapie wird kommen»

Cormier, 2022

Ein neueres Beispiel ist LSD. Albert Hofmann, ein Schweizer Chemiker, synthetisierte LSD 1938 bei Sandoz Chemicals. Er glaubte, dass LSD die Psychiatrie revolutionieren und eine Generation von Künstlern und Intellektuellen inspirieren könnte (Grof, 2019). Sandoz Chemicals, sowie andere Forschungsstellen, gaben die Droge damals zu Forschungszwecken kostenlos an amerikanische Psychiater ab.

Zwischen 1953 und 1960 wurden tausende Personen mit einer Alkoholabhängigkeit unter kontrollierten Bedingungen einer Behandlung mit LSD unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass fast die Hälfte der behandelten Personen noch mehr als ein Jahr später alkoholabstinent war. Obwohl diese Forschung in einigen Kreisen Zustimmung fand, wurde sie in anderen Kreisen angegriffen. Ähnliche Studien konnten die Ergebnisse nicht reproduzieren und deshalb äußerte auch die konservative Ärzteschaft Kritik (MAPS, 2012). Jahrzehnte später stehen wir immer noch an einer ähnlichen Stelle. Wie Menschen auf die Substanz und das mögliche Potenzial reagieren, hängt womöglich von weit mehr ab als der Substanz selbst (MAPS, 2012).

Als die Forschenden das Verständnis für die klassischen Psychedelika und auch Cannabis weiterentwickelten, wurden diese Substanzen auch in der Öffentlichkeit bekannter und ihr Konsum wurde schließlich in der Kulturbewegung der Hippies in den 1960er und 1970er Jahren weit verbreitet (Encyclopaedia Britannica, 2022)

1971 wurde dann das Verbot der klassischen Psychedelika, wie auch der meisten anderen heute illegalen Drogen, durch das UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe weltweit verabschiedet (UNODC, 1971).

Innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts wandelte sich die Einstellung der Menschen gegenüber Psychedelika von Neugier und Faszination hin zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung dieser Substanzen. Die zahlreichen Folgen dieses Bruchs sind noch heute spürbar, denn das Verbot schränkt zum Beispiel stark ein, was und wie heutzutage mit Psychedelika geforscht werden darf. Trotzdem stieg das Interesse an diesen «unspezifischen Verstärkern» in den letzten Jahrzehnten wieder an (Cormier, 2022)

Seitdem wurde dieses erneut erwachte Interesse an der psychedelischen Forschung am Menschen von Organisationen wie der Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies (MAPS), der Johns Hopkins University und vielen anderen Verbänden, auch außerhalb der USA, gefördert (Cormier, 2022; Grof, 2019).

In Onlineforen wie actualized.org teilen Menschen anonym ihre Erfahrungen mit Psychedelika

«I had previously reported no insights on my initial acid trip and a month later took the same dose. For some reason I’ve had these amazing mind-blowing awakenings on ganja.  I took a week off from smoking and smoked again and had another God Realization awakening that really rocked me hard. However, despite not having any immediate insights after dropping LSD, the longterm effect has been a total cessation of drinking alcohol. I no longer pick up a single beer for after work and I’ve been avoiding going out for drinks…not out of some weird kind of willpower but because it no longer appeals to me. A week or two ago I walked into a liquor store to buy lager beer and some tequila.  I bought nothing because it just didn’t appeal to me. I’ve been struggling with alcohol addiction for years and I’m SO fucking ELATED that I don’t desire it anymore. I’m still shocked and blown away by this in a great way. All that struggle and after two LSD sessions it’s gone. Wow!» (Ramu, 2022)

Darüber hinaus wurde das medizinische Potenzial von Psychedelika 2017 und 2018 anerkannt, als die US-amerikanische Food and Drugs Administration (FDA) psychotherapeutische Verfahren mit MDMA (MAPS, 2017) und Psilocybin (COMPASS Pathways, 2018) als «bahnbrechende Therapien» einstufte.

Außerdem wurde vor allem in Nordamerika eine Welle von Gesetzesreformen auf den Weg gebracht, die den legalen Zugang zu Psychedelika entkriminalisieren und/oder ermöglichen (Lewis-Healey, 2021). Im Rahmen dieser neuen Gesetze wurden die Fälle, in denen bestimmte Psychedelika für religiöse oder spirituelle Zwecke in den USA verwendet werden durften – insbesondere meskalinhaltiger Peyote für die indianische Kirche und Ayahuasca für die brasilianische indigene Kirche União do Vegetal – eingeführt (Nichols & Barker, 2016).

«Psychedelic experience — like all other intense life events — may offer the potential for growth and change. How people respond, however, depends on far more than a drug. »

MAPS, 2012

Mit dem derzeitigen Paradigmenwechsel, den laufenden klinischen Studien und der Entwicklung einer ganzen Industrie rund um Psychedelika gewinnt der Begriff psychedelische Renaissance weiter an Popularität. Dennoch sind Psychedelika in den meisten Teilen der Welt auch 2022 noch illegal und die Mehrheit der Konsumenten bezieht sie vom Schwarzmarkt (Cormier, 2022).

Letztes Jahr konnte eine Studie des Imperial College London zeigen, dass Psilocybin bei der Bekämpfung von Depressionen genauso wirksam ist wie Escitalopram (auch Lexapro genannt), welcher ein gängiger Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ist (Carhart-Harris, 2021). Zu beachten ist, dass sich die Symptomatik in beiden Patientengruppen verbesserte. Diese Verbesserung zeigte sich unabhängig davon, ob Psilocybin oder Escitalopram verabreicht wurde. Beide Patientengruppen erhielten außerdem fast 40 Stunden Psychotherapie. Hier könnte kritisiert werden, dass dies weit mehr Stunden sind, als ein*e durchschnittliche*r Patient*in erhält, die in Behandlung mit SSRIs ist (Cormier, 2022).

Nicht nur in akademischen Kreisen sind Psychedelika ein Thema. Bereits mehr als 50 börsennotierte Unternehmen, die an der Entwicklung oder Verabreichung psychedelischer Substanzen arbeiten, sind heute in Amerika tätig – drei von ihnen werden bereits mit jeweils über 1 Milliarde Dollar bewertet: Angermayers ATAI Life Sciences, Compass Pathways und GH Research (Cormier, 2022).

Es entsteht die Sorge, dass es den meisten dieser Unternehmen nur um den wirtschaftlichen Gewinn geht und nicht um die Behandlung von Patient*innen. Es könnte zu einem Streit um Patente, Lizenzen und Rechten kommen. Zusätzlich zu den noch nicht ausreichend erforschten Risiken der Substanzen selbst, kommen so noch Risiken der wirtschaftlichen und ethischen Umsetzung. Es scheint, als öffneten Psychedelika nicht nur im Bewusstsein, sondern auch für den Markt neue Türen.

Es muss als zentral verstanden werden, Psychedelika nicht selbst als Heilmittel zu betrachten. Eine andere Art von Medikation, egal bei welchem Störungsbild, sollte nicht als Möglichkeit gesehen werden, Therapiezeiten zu verkürzen (Cormier, 2022). Risiken müssen ausreichend erforscht und kommuniziert werden und die Integration psychedelischer Erfahrungen selbstverständlich sein. Trotzdem dürfen die neuen Erkenntnisse und die Suche nach Alternativen zu herkömmlichen Medikamenten nicht abgetan werden und


Zum Weiterlesen

Cormier, Z. (2022). The Brave New World of Legalized Psychedelics Is Already Here. https://www.thenation.com/article/society/legal-drugs-psychedelics-corporate/

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Literatur

Carhart-Harris, R., Giribaldi, B., Watts, R., Baker-Jones, M., Murphy-Beiner, A., Murphy, R., … & Nutt, D. J. (2021). Trial of psilocybin versus escitalopram for depression. New England Journal of Medicine384(15), 1402-1411.

COMPASS Pathways. (2018, October 23). COMPASS Pathways receives FDA Breakthrough Therapy designation for psilocybin therapy for treatment-resistant depression. COMPASS Pathways. https://compasspathways.com/compass-pathways-receives-fda-breakthrough-therapy-designation-for-psilocybin-therapy-for-treatment-resistant-depression/

Cormier, Z. (2022). The Brave New World of Legalized Psychedelics Is Already Here. https://www.thenation.com/article/society/legal-drugs-psychedelics-corporate/

Drug Enforcement Administration. (2019). N,N-DIMETHYLTRYPTAMINE. https://www.deadiversion.usdoj.gov/drug_chem_info/dmt.pdf

Encyclopaedia Britannica. (2022). hippie subculture. Britannica. https://www.britannica.com/topic/hippie

Grof, S., & Grof, C. (2010). HOLOTROPIC BREATHWORK A New Approach to Self-Exploration and Therapy. State University of New York Press.

Grof, S. (2019). The Way of the Psychonaut – Encyclopedia for Inner Journeys V1 (Vol. 1). Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies.

Lewis-Healey, E. (2021). The Legal Status of Psychedelics Around the World. Psychedelic Spotlight. https://psychedelicspotlight.com/legal-status-of-psychedelics-around-the-world/

MAPS. (2012). LSD May Help Treat Alcoholism. MAPS. https://maps.org/news/media/lsd-may-help-treat-alcoholism/

MAPS. (2017). FDA Grants Breakthrough Therapy Designation for MDMA-Assisted Therapy for PTSD, Agrees on Special Protocol Assessment for Phase 3 Trials. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-fda-grants-breakthrough-therapy-designation-for-mdma-assisted-psychotherapy-for-ptsd-agrees-on-special-protocol-assessment-for-phase-3-trials/

MAPS. (2020). Psychedelic Research Fundraising Campaign Attracts $30 Million in Donations in 6 Months, Prepares MDMA-Assisted Therapy for FDA Approval. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-psychedelic-research-fundraising-campaign-attracts-30-million-in-donations-in-6-months-prepares-mdma-assisted-psychotherapy-for-fda-approval/

Miller, M. J., Albarracin-Jordan, J., Moore, C., & Capriles, J. M. (2019). Chemical evidence for the use of multiple psychotropic plants in a 1,000-year-old ritual bundle from South America. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 166(23), 11207–11212. https://doi.org/10.1073/pnas.1902174116

Nichols, D. E., & Barker, E. L. (2016). Psychedelics. Pharmacological Reviews, 68(2), 264–355. https://doi.org/10.1124/pr.115.011478

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Ramu (2022). LSD and Alcohol. Actualized.Org Forum. https://www.actualized.org/forum/topic/83595-lsd-and-alcohol/

UNODC. (1971). Convention on Psychotropic Substances, 1971. https://www.unodc.org/pdf/convention_1971_en.pdf

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Mehr gemeinsam, weniger einsam

Angehörigenarbeit als zentraler Faden im Versorgungsnetz psychisch erkrankter Menschen

Psychische Störungen bergen Leid, in dessen Schatten häufig die Angehörigen stehen. Die Angehörigenarbeit beschäftigt sich damit, diese versteckten Belastungen des Umfelds anzugehen. Verschiedene Studien weisen auf theoretisch fundierte Ansätze und deren praktische Präsenz und Wirksamkeit hin.

Von Hannah Löw
Lektoriert von Vera Meier und Zoé Dolder 
Illustriert von Hannah Löw

«Es hat sich viel geändert seit der Ersterkrankung meiner Tochter vor 22 Jahren. Damals wurde uns beiden gesagt, sie werde niemals mehr ein ‹normales› Leben führen können. Eine Schizophrenieerkrankung mache das unmöglich […]. Ich hätte gerne gewusst, wie lange die Behandlung in etwa dauern würde und was ich als ihre Mutter dazu beitragen kann, damit sie schneller wieder gesund wird. […] Stattdessen wurde mir etliche Male gesagt, es sei nicht gut, wenn ich meine Tochter so oft besuchen würde, schlimmer noch: Dass man zuerst herausfinden müsse, ob ich ihr guttue oder eher nicht. […]. Ich fühlte mich in dieser Zeit sehr alleine, unverstanden, schuldig gesprochen, immer und immer wieder, und zwar vom ganzen Umfeld.»

Weibel, 2019, S. 9

Die Alltagslast der Angehörigen

Mit siebzehn Jahren erfüllte die Tochter von Franca Weibel erstmals die Diagnosekriterien einer Schizophrenie. In ihrem Beitrag für das Fachmagazin für psychiatrisch Tätige des Vereins Netzwerk für Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) gibt sie einen Einblick in ihren persönlichen Leidensdruck als Angehörige. Obwohl sie sich während den ersten akuten schizophrenen Episoden ihrer Tochter nach eigenem Bericht einsam gefühlt hat, steht sie mit der Last als Angehörige eines psychisch erkrankten Menschen nicht alleine da (NAP, 2019). Das Bundesamt für Gesundheit (2019) stellt fest, «psychische Krankheiten erschweren den Alltag vielseitig. Sie belasten die Angehörigen» und hebt damit in der Einführung seines Beitrags über psychische Erkrankungen die weit verbreitete Belastung von Angehörigen psychisch erkrankter Personen hervor. Daraus lässt sich schliessen, dass eine Unterstützung im psychiatrischen und psychotherapeutischen Rahmen über den*die Patient*in hinaus gehen und die Angehörigen ebenfalls abholen sollte. Nicht nur für die Angehörigen selbst ist die Einbettung in den Therapieprozess wichtig, sondern auch für die erkrankte Person bedeutet dies eine erhöhte Chance, dass eine Behandlung ihre gewünschte Wirkung zeigt (Troxler, 2005).
In Bezug auf das Versorgungsnetz von Patient*innen mit Essstörungen beispielsweise begründen Zitarosa und Kolleg*innen (2012) die Wichtigkeit des Einbezugs der Angehörigen darin, dass die Patient*innen einen Grossteil ihrer Zeit im privaten Umfeld verbringen und nicht in stationären psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kliniken. Somit ruht ein beträchtlicher Teil der Krankheitslast nicht auf professionellen Schultern, sondern auf jenen der Angehörigen der Patient*innen. Weiter sind auch Angehörige von Menschen mit einer Alkoholkonsumstörung grossen Belastungen ausgesetzt; sie werden auch als «Ko-Problemträger*innen» bezeichnet (Spohn, 2014). Auch in Bezug auf die Behandlung von Patient*innen einer Störung des schizophrenen Spektrums wird die Wichtigkeit einer frühen Integration der Angehörigen hervorgehoben (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020).

Verschiedene Autor*innen sind sich also dahingehend einig, dass die Angehörigen von Personen mit verschiedenen psychischen Krankheiten in ihrem Alltag hohen Belastungen ausgesetzt sind. Doch inwiefern können psychiatrische und psychotherapeutische Kliniken neben den Patient*innen auch die Angehörigen praktisch unterstützen und einbeziehen?

Eine Lücke im System?

In einer etwas weiter zurückliegenden Studie an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg, Deutschland, untersuchten Schmid, Spiessl und Klein (2006) die praktisch durchgeführte Angehörigenarbeit und setzten diese in einen Vergleich mit den Vorgaben der dort geltenden Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) in den Behandlungsbereichen A1-A6 [siehe Kästchen 3]. Die Autor*innen befragten acht Psycholog*innen und 25 Assistenzärzt*innen mittels Fragebögen. Lediglich 52.3% der Angehörigen der am Erhebungstag behandelten 390 Patient*innen führten ein Gespräch mit den behandelnden Fachpersonen. Die restlichen 47.7% der Angehörigen erhielten zum Erhebungszeitpunkt der Studie keine gesprächsbasierte Unterstützung und wurden nicht in die Behandlung miteinbezogen. Schmid, Spiessl und Klein (2006) schlussfolgern daraus, dass eine unzureichende Versorgung der Angehörigen vorliege. Die Ursache dieser Lücke in der Angehörigenarbeit scheint ein Zeitmangel zu sein; auf Kosten der adäquaten Angehörigenarbeit und des direkten Patientenkontakts wird zunehmend mehr Zeit für Dokumentations- und Administrationsarbeiten aufgewendet (Schmid, Spiessl & Klein, 2006).

Auch die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern erwähnen in ihrem Konzept für die Angehörigenarbeit Mängel in der praktischen Durchführung der Angehörigenarbeit; diese Lücken im System gelten nach den UPD sowohl für den akutpsychiatrisch-stationären Bereich als auch für ambulante Behandlungen in der Schweiz (Troxler, 2005).

Dreizehn Jahre später berichtet der Verein NAP von einer wachsenden Wichtigkeit der Angehörigenarbeit in verschiedenen nationalen psychiatrischen Institutionen (Scherer, 2020). Lampert (2018) berichtete in einem Vortrag am ersten nationalen Patientenkongress in Bern, dass im Jahr 2017 durch den Verein NAP 1’887 Beratungen mit Angehörigen psychisch erkrankter Menschen stattgefunden haben. Im Vergleich zu den Jahren davor zeigt sich eine steigende Tendenz der vollzogenen Beratungsgespräche mit Angehörigen (Lampert, 2018). Worin sich die hier aufgeführten Autor*innen einig sind, ist die zentrale Rolle und Notwendigkeit der Angehörigenarbeit in der Behandlung von Menschen, welche die Diagnosekriterien einer psychischen Störung erfüllen.

«Jede Anstrengung, Angehörige respektvoll in die Hilfe einzubeziehen, ist begrüssenswert. Mit dem Einbezug […] kann eine psychiatrische Behandlung als eine Dienstleistung am ‹System› verstanden werden.»

Lampert, 2018, S. 37

Der Verein NAP zeigt in seinem Magazin für psychiatrisch Tätige, dass die Angehörigenarbeit in der Schweiz durchaus besteht und angewandt wird (Scherer, 2020). Die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) haben zum Beispiel eine eigens für Angehörige eingerichtete Fachstelle und bieten dadurch Eltern, Kindern und ganzen Familien verschiedene kostenlose Beratungsangebote. Damit Angehörige die Dienste nutzen können muss die betroffene Person, die an einer psychischen Störung erkrankt ist, nicht einmal bei den PDAG in Behandlung sein (Scherer, 2020). Die Kontaktinformationen zu diesem Angebot sind im Infokästchen 1 zu finden.

Das Ziel des Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP)

Der Verein bezweckt die Vernetzung von in der Angehörigenarbeit tätigen Fachleuten und Professionalisierung der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung.

Die Aufgaben des Vereins sind unter anderem:

  • Erhöhung des Stellenwertes der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung und Förderung des Wissens unter Fachpersonen
  • Formulierung und Verbreitung von erfahrungsbasierten Empfehlungen für qualitativ gute Angehörigenarbeit

Wurzeln und Flügel der Angehörigenarbeit

Troxler (2005) ordnet den Beginn der Angehörigenarbeit in die 1980er Jahre ein. Das erklärte Ziel dieser Arbeit war bereits damals der Einbezug von Angehörigen der Patient*innen im klinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich und in diesem Zusammenhang auch die Senkung der Rezidivrate der Patient*innen.

Zur Erreichung dieses Ziels kommt der Psychoedukation eine wichtige Bedeutung zu. Sie beinhaltet nach Bäuml und Pitschel-Walz (2020) die Weiterbildung im Wissen über psychische Störungen und somit das Herausführen aus einer vorhandenen Informationslücke. Hierbei gilt in Bezug auf das Vermitteln von Wissen an Angehörige, dass es einen «Brückenschlag zwischen dem professionellen ‹Know-how› und dem subjektiven ‹So now?› der Betroffenen» bildet (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020, S. 113). Weiter dient auch das sogenannte Trialog-Vorgehen, wobei Patienten*innen, Angehörige und behandelnde Fachpersonen gemeinsam im Austausch stehen, als Mittel zur Integration der Angehörigen in die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung der Patient*innen (Troxler, 2005).

Ein klassisches Setting der Angehörigenarbeit bildet die Familientherapie. Diese kann zu multiplen Familientherapiegruppen erweitert werden, in denen die Patient*innen selbst nicht zwingend anwesend sein müssen. Die Angehörigenarbeit kann also in An- aber auch in Abwesenheit der*des betreffenden Patient*in erfolgen.

Die PsychPV ist eine im Jahr 1991 eingeführte Verordnung in Deutschland, die Richtlinien für den stationären Behandlungsbedarf psychisch erkrankter Menschen im volljährigen Alter vorgibt. A1 bis A6 bilden verschiedene Behandlungsbereiche innerhalb der PsychPV (Schmid, Spiessl und Klein, 2006).

Eine mögliche Behandlungsmodalität bei Krankheiten aus dem schizophrenen Spektrum bildet die bifokale Gruppenarbeit, wobei eine Angehörigengruppe und parallel dazu eine psychoedukative Patient*innengruppe angeleitet wird (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020).

Bei Essstörungen scheint die Angehörigeninterventionstudie (ANGIS) von Zitarosa und Kolleg*innen (2012) ein vielversprechendes, psychoedukatives Setting für Angehörige von Menschen mit Essstörungen zu bieten. In fünf Sitzungen lernen die Teilnehmenden des ANGIS-Programms kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken kennen, die zum einen Informationen rund um die spezifische Essproblematik bieten und zum anderen auch sogenannte Skills für den Alltag vermitteln. So lernen Angehörige von Menschen mit Essstörungen bestimmte störungsbedingte Situationen besser einzuordnen und wie sie diese konstruktiver überwinden können. Zudem beinhaltet das ANGIS-Programm auch ein Kommunikationstraining, das einen konfliktfreieren Umgang zwischen Angehörigen und den Betroffenen einer Essstörung ermöglichen soll. Zitarosa und Kolleg*innen (2012) berichteten nach Abschluss der ANGIS-Studie, dass das Interventionsprogramm bei den Angehörigen grossen Anklang gefunden hat und Hinweise auf eine Reduktion der Belastungen der Angehörigen zu erkennen waren. Besonders im Bereich der sogenannten «high expressed emotions (HEE)» [Erklärung folgt im nächsten Unterkapitel] zeigten sich gemäss den Autor*innen positive Wirkungen des Programms.

«Wir haben viel über Kommunikation gelernt und verstehen jetzt besser, warum manche Sätze bei unserer Tochter falsch ankommen.»

Angehörige im ANGIS-Programm, Zitarosa et al., 2012, S. 10

Expressed Emotions

Nicht nur für Angehörige von Menschen mit Essstörungen stellen die sogenannten expressed emotions (EE) einen bedeutsamen Faktor für die Angehörigenarbeit dar, sondern auch für Angehörige von Schizophreniepatient*innen (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020) und Betroffene einer Alkoholkonsumstörung (Spohn, 2014).

EE stellen nach Zitarosa und Kolleg*innen (2012) sämtliche emotionale Reaktionen der Angehörigen im Umgang mit den Patient*innen dar. Insbesondere vor erfolgter Angehörigenarbeit sind diese EE häufig stark ausgeprägt, aufgrund eines Wissensmangels über die betreffende Störung und den damit einhergehenden, dysfunktionalen Bewältigungsstrategien für Konfliktsituationen zwischen Angehörigen und Betroffenen. In diesem Fall wird von verschiedenen Autor*innen auch der Begriff der high expressed emotions (HEE) verwendet. HEE werden definiert als «ein übermässig kritisches Verhalten, Feindseligkeit oder auch Überbehütung und überhöhtes emotionales Engagement der Angehörigen dem erkrankten Familienmitglied gegenüber.» (Zitarosa et al., 2012, S. 392).

Die Angehörigenarbeit kann zu einer willkommenen Veränderung in EE, beziehungsweise HEE führen. Bei Schizophrenie-Spektrum-Störungen zeigt die Angehörigenarbeit insbesondere eine Senkung von Kritik und emotionalem Überengagement bei den Angehörigen (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020). Im Bereich der Alkoholkonsumstörungen wirkt Angehörigenarbeit als Mittel zur Verminderung rechthaberischer Kommentare (Spohn, 2014). Auch bei Patient*innen, welche die Diagnosekriterien einer Essstörung erfüllen, wird eine Reduktion der kritischen Stimmen der Angehörigen wahrgenommen und eine grundlegend bessere Beziehung festgestellt (Zitarosa et al., 2012).

Zusammenfassend lässt sich aus den oben aufgeführten Arbeiten schliessen, dass Angehörigenarbeit nicht nur theoretisch eine zentrale Rolle in der zwischenmenschlichen Beziehungskommunikation spielt, sondern auch praktisch zu einem erhöhten Wohlbefinden der Angehörigen und Patient*innen beiträgt (Zitarosa et al., 2012). Auch wenn weiter zurückliegende Studien die Umsetzung der Angehörigenarbeit kritisierten (Schmid et al.,2006), erscheint die Angehörigenarbeit in den letzten Jahren bei verschiedenen Autoren in einem positiven Licht, da sie sich im klinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontext immer mehr als Interventionsmethode festigt (Lampert, 2018).

Angehörigenarbeit der PDAG

Fachstelle für Angehörige

Hauptstandort Brugg-Windisch
Areal Königsfelden

Nicole Friedrich
Virginia Ulrich

056 462 24 61
angehoerige@pdag.ch


Zum Weiterlesen

Website des Vereins Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP): https://www.angehoerige.ch/

Scherer, E. & Lampert, T. (2017). Basiswissen: Angehörige in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH.

Albermann, K. (2016). Wenn Kinder aus der Reihe tanzen. Psychische Entwicklungsstörungen von Kindern und Jugendlichen erkennen und behandeln. Ringier Axel Springer Schweiz AG.

Fessel, K.-S. & Kull, H. (2018). Nebeltage, Glitzertage – Kindern bipolare Störungen erklären. BALANCE Buch + Medien Verlag.

Literatur

Bäuml, J. & Pitschel-Walz, G. (2020). Psychoedukation und Angehörigenarbeit bei Schizophrenie. PSYCH up2date 2020, 14(2), 111-127. http://doi.org/10.1055/a-0748-8998

Bundesamt für Gesundheit. (2019). Psychische Störungen und Gesundheit.  https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/psychische-erkrankungen-und-gesundheit.html#-426547683

Troxler, M. (2005, 08. Dezember). Projekt Erwachsenenpsychiatrie, Teilprojekt Psychologische, Soziale und Therapeutische Dienste, Arbeit mit Angehörigen:

 Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) – Konzepte. https://www.angehoerige.ch/informationfachleute/konzepte/

Scherer, E. (2019). Gute Angehörigenarbeit in der Behandlung. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2019-1, 12. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2019_1.pdf

Scherer, E. (2020). In eigener Sache – Angehörigenberatungsstellen. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2020-1, 9–10. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2020_1_web_compressed.pdf

Lampert, T. (2018). Gemeinsam den Herausforderungen begegnen – Angehörige in der Psychiatrie. Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP). http://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/referate/andere_tagungen/Patientenkongress_2018_Bern_Thomas_Lampert.pdf

Schmid, R., Spiessl, H. & Klein, H. E. (2006). «Theorie und Praxis» der Angehörigenarbeit auf allgemein psychiatrischen Stationen. Krankenhauspsychiatrie. 17 (4), 139-142. http://doi.org/10.1055/s-2006-944293

Spohn, A. (2014). Komorbidität in der Angehörigenarbeit. SuchtMagazin, 40(1), 42-44. http://doi.org/10.5169/seals-800088

Weibel, F. (2019). Gute Angehörigenarbeit – Die Sicht einer Angehörigen. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2019-1, 9–10. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2019_1.pdf

Zitarosa, D., de Zwaan, M., Pfeffer, M. & Graap, H. (2012). Angehörigenarbeit bei essgestörten Patientinnen. PPmP-Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 62(9/10), 390-399. http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1316335