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Mit ‘Suizid’ getaggte Beiträge

Depression und Suizidalität – die Erfahrungen von Angehörigen

Über Gedanken, Gefühle und Herausforderungen im Alltag mit einem von Depression und Suizidalität betroffenen Vater.

15 von 1000 Todesfällen in der Schweiz sind Suizide. 9% der Schweizer*innen leiden an Depressionen (Bundesamt für Statistik, o.J.a, o.J.b). Davon betroffen sind auch Angehörige; zwei davon erzählen von ihren individuellen Gedanken, Ängsten und Wünschen und hoffen, damit zur Enttabuisierung der beiden Themen beizutragen.

Von Student*innen des Vereins Mindful[L] der UZH
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Isabelle Bartholomä

Nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch das Leben der Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen wird durch diese Erkrankungen stark beeinträchtigt. Es ist besonders wichtig,dass diese Menschen nicht vergessen werden, sondern dass ihnen Unterstützung angeboten und ihren Herausforderungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch Angehörige sollen Hilfe bekommen und diese vor allem auch in Anspruch nehmen. (Weiterführende Informationen finden sich in der Infobox.)

Die im Folgenden dargestellten Erfahrungsberichte sind sehr individuell und sollten keinesfalls als Generalisierung für alle Betroffenen und deren Angehörige dienen. Sie sollen vielmehr einen tiefen und ehrlichen Einblick in das Erleben von Angehörigen geben.

Mehr Raum für Angehörige

Meine Jugend war stark durch die Depression meines Vaters geprägt.

Diese hat viel Raum in unserer Familie und somit auch in meinem Leben eingenommen. Es war ein sich ständig wiederholendes Auf und Ab, zu dem leider auch mehrere Suizidversuche gehörten. Der Gedanke, dass der eigene Vater nicht mehr weiterleben möchte, war hart und bei jedem weiteren Suizidversuch wurde ich schwächer, irgendwie auch wütender und ungeduldiger. Dass er dazu bereit gewesen wäre, uns mit diesem Schmerz alleine zurückzulassen, hat mich sehr verletzt und auch enttäuscht.

Die ständige Angst, es könnte wieder passieren, hat mich und mein Verhalten stark geprägt. Unbewusst habe ich mir angewöhnt, wie auf Eierschalen zu laufen. Damit wollte ich verhindern, ihn mit meinen Handlungen noch zusätzlich zu belasten oder in irgendeiner Art zu triggern. Letzteres beschreibt das Auslösen einer starken emotionalen (hauptsächlich negativen) Reaktion durch einen äusseren Einfluss (hier: meine Handlung). Diese Neigung trage ich auch heute noch in mir. Ich habe eine Erwartungshaltung entwickelt, aufgrund derer mein Herz bei jedem Anruf meiner Mutter schneller zu schlagen begann, weil ich immer das Schlimmste befürchtete. Und auch heute geschieht mir das noch ab und zu. Die Angst, es könnte wieder von vorne beginnen, begleitet mich weiterhin in meinem Leben.

Jede*r Angehörige reagiert, fühlt und verhält sich anders. Dabei gibt es kaum ein Richtig oder Falsch. Einigen Angehörigen geht es wie mir: Oft dachte ich, dass ich selbst nicht leiden und klagen darf, weil ich meinem Vater helfen und für ihn stark sein musste und dies auch selber unbedingt wollte. Dabei rückte meine eigene Belastung oft in den Hintergrund.

Was wir euch mit auf den Weg geben möchten

Bitte verwendet bei diesem Thema nicht die Begriffe Selbstmord oder Freitod, denn dies kann für Betroffene sehr verletzend sein. Selbstmord ist ein veralteter Begriff, welcher als Beurteilung der Tat verstanden wird und einen kriminellen Akt beschreibt. Der Begriff Freitod deutet auf eine selbstbestimmte Tat hin und somit auf eine freie Entscheidung. Dies ist es keinesfalls, denn suizidgefährdete Menschen befinden sich in einer Notlage, in einem Zustand extremen Leidens, aus welchem sie sich befreien wollen. Als eine freie Entscheidung kann das nicht verstanden werden (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.).
Die Mehrheit aller Suizidhandlungen sind Impulshandlungen, da der momentane seelische Schmerz nicht ausgehalten werden kann.
Suizidabsichten konnten bei 68 – 80 Prozent der Patient*innen in weniger als 2 Tagen; bei 90 – 99 Prozent in weniger als 10 Tagen in der Klinik behandelt werden (Bronisch & Hegerl, 2011).

Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein für die Herausforderungen, mit denen die Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen zu kämpfen haben, in unserer Gesellschaft mehr Platz findet und vor allem auch bei den Betroffenen selbst vorhanden ist. Es ist völlig in Ordnung, manchmal nicht mehr weiter zu wissen und es ist akzeptabel und sogar ausserordentlich wichtig, sich auch mal zurückzuziehen, auf sich selbst zu achten und bei Bedarf Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Mein Alltag als Suizidhinterbliebene*r

Im Alltag wird man oft mit der Frage nach seinen Eltern konfrontiert. Wenn ich sage, dass mein Papa nicht mehr lebt, kommt manchmal die Frage auf, warum man im Alter von 23 Jahren keinen Vater mehr hat. Darauf antworte ich immer ehrlich, dass er sich suizidiert hat. Oft merke ich dann schnell, dass es doch niemand so genau wissen möchte. Trotzdem antworte ich so, weil ich die Stigmatisierung und das Tabu satt bin und mit der Reaktion der Personen umgehen kann. Es ist mir egal, wie sich die andere Person mit meiner Antwort fühlt, denn ich fühle mich auch nicht gut mit der Tatsache, dass sich Menschen das Leben nehmen. Dies ist aber leider die Realität. Weisst du, wie viele Personen sich das Leben in der Schweiz nehmen? Jährlich sind es etwa 1000 Personen (Bundesamt für Statistik, 2021), assistierte Suizide sind davon ausgeschlossen. Gemäss einer schweizerischen Gesundheitsbefragung kam es im Jahr 2017 zu 33´000 Suizidversuchen. Es wird von einer grossen Dunkelziffer ausgegangen (Peter & Tuch, 2019). Weiter nimmt man an, dass zwischen 18-40% der Bevölkerung im Laufe des Lebens Suizidgedanken haben (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.). Als Reaktion auf meine Geschichte wird mir überraschend oft entgegnet, dass mein Gegenüber eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Dies zeigt sich auch in den Zahlen der WHO, welche davon ausgeht, dass bei jeder suizidierten Person durchschnittlich 5-7 Angehörige von den Folgen mitbetroffen sind (AGUS e.V., o.J.). Angehörige haben nach dem Tod eines suizidierten Familienmitglieds ein signifikant höheres Risiko, selber psychisch zu erkranken. Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder die eigene Suizidalität sind einige Beispiele von häufigen psychischen Erkrankungen von Angehörigen (Wagner et al., 2021).

« And maybe I put everything I have
into helping others
because at the end of the day-
I don’t know how to help myself.
Self-prescription medicine doesn’t seem to help
So what can I really do
He said he marvels at my strive to help others
He said that’s the best character a person can have
And I smile and take the compliment
But I feel no pride, no satisfaction
I know I wouldn’t do it if I wasn’t just like them
I know I wouldn’t do it if I could heal myself
I know I wouldn’t do it if I didn’t need to be needed.
This is the only way I know to help myself
I do this because keeping others alive –
keeps me alive.»

Student*in des Vereins Mindful[L] der UZH, 2021

Neben der Trauer haben Angehörige auch mit einer starken Stigmatisierung zu kämpfen. Sei es nun der Arbeitgeber, dem man sich anvertraut und der einem nachfolgend keine Belastung zumutet oder die Kaderposition, welche man nicht bekommt, weil man in Therapie ist oder war. Es fühlt sich für mich wie eine Doppelstigmatisierung an, weil ich Hilfe in Anspruch genommen habe.

Etwas Gutes habe ich aber aus der Erfahrung gelernt. Ich habe Bewusstsein für die Tatsache entwickelt, dass die Zeit, welche ich zur Verfügung habe, ein Ablaufdatum hat. Ich habe mich schon sehr früh mit der Frage auseinandergesetzt, wer ich sein und was ich werden will und tue dies auch heute noch.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich (mindestens) so oft an meinen toten Vater wie an meine Mutter denke, werde ich sehr selten nach meinem Vater gefragt. Meine Tanten und Onkel fragen mich oft nach meiner Mutter, aber nur selten nach meinem Vater. Genau darum ist es mir unglaublich wichtig, das Thema zu entstigmatisieren. Ich will gefragt werden, wie es mir mit meinem Papa geht. Ich will Geschichten über ihn hören, denn mein Papa ist so viel mehr als nur sein Suizid. Ich will nicht behandelt werden, als wäre ich in Watte gepackt, als hätte ich keinen Vater oder als hätten meine Verwandten ihn nie gekannt. Denn ich habe einen Papa, einfach einen toten. Ich will dir auch sagen können, dass ich mich grad schlecht fühle, weil ich meinen Papa vermisse und ich möchte, dass du damit umgehen kannst. Und ich möchte, dass alle, welche mein Schicksal teilen, auch die Möglichkeit haben, nach ihren Gefühlen gefragt zu werden, eine Therapie machen und fröhlich sein zu dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden.


Zum Weiterlesen

Hilfestellen

Mehr zum Thema Depression, Suizidalität und den Umgang von Angehörigen mit diesen Themen

  • VASK Schweiz

https://www.vask.ch/de/Bewaeltigungshilfen/Situation-der-Angehoerigen/Belastung/Belastung-Fortsetzung

Literatur

AGUS e.V. (o.J.). Angehörige nach Suizid. https://www.agus-selbsthilfe.de/info-zu-suizid/tod-durch-suizid/angehoerige-nach-suizid/

Bronisch, T. & Hegerl, U. (2011). Suizidalität. In H.-J. Möller et al. (Eds.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (4th ed., pp. 2659-2691). Springer.

Bundesamt für Statistik. (2021). Suizidmethoden nach Geschlecht. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.assetdetail.19444410.html

Bundesamt für Statistik. (o.J.). Spezifische Todesursachen. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html

Bundesamt für Statistik. (o.J.). Psychische Gesundheit. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/psychische.html#par_headline_1677393895

Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung. Obsan Bulletin 7. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_bulletin_2019-07_d_0.pdf

Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Suizid oder Selbstmord? Warum wir von Suizid und nicht von Selbstmord sprechen. https://www.suizidpraevention-zh.ch/ich-bin-in-der-krise/erwachsene/wie-kann-ich-mir-helfen/gespraechstipps/zur-wortwahl/

Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Wie häufig sind Suizide? https://www.suizidpraevention-zh.ch/mehr-wissen-ueber-suizid/einige-zahlen/wie-haeufig-sind-suizide/

Wagner, B., Hofmann, L., & Grafiadeli, R. (2021). Wirksamkeit von Interventionen für Hinterbliebene nach einem Suizid: Ein Systematischer Review. Psychiatrische Praxis, 48(01), 9–18. https://doi.org/10.1055/a-1182-2821

Suizid

Wie durch Reden die Distanzierung von Suizidalität gelingen kann 

Der Freitod ist ein Thema unserer Gesellschaft. Nicht immer sichtbar und doch präsent. Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin), Matthias Herren (Stellenleiter Dargebotene Hand ZH) und eine Betroffene erzählen, wie eine offene Kommunikation vor Selbstmord bewahren kann. 

Von Hannah Löw
Lektoriert von Marie Reinecke und Zoé Dolder
Illustriert von Alessia Geisshüsler

Der Tod gehört zum Kreislauf des Lebens. Früher oder später sterben Lebewesen und Neue werden geboren. Doch wenn psychisches Leiden Menschen in den freiwilligen Tod drängt, ist keine Rede mehr von einem natürlichen Tod. Dass Suizid ein Thema unserer Gesellschaft ist, zeigen die Ergebnisse der Untersuchung des Bundesamts für Statistik (BFS): Etwa 1000 Menschen in der Schweiz beendeten im Jahr 2016 selbst ihr Leben (BAG, 2019). Nach der WHO erschwert eine Tabuisierung der Suizidthematik das Erkennen von selbstgefährdeten Menschen (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).  

Gefühlte Datenlage und Daten der Gefühlslage 

Wie oft laufen wir täglich durch die Gegend und begegnen fremden Menschen. Wir blicken in unbekannte Gesichter, schauen schnell weg, nicken kaum merkbar oder es rutscht sogar ein Grüezi über die Lippen. Wir kreuzen für einen kurzen Augenblick den Weg eines anderen und doch bleibt uns vieles dabei verborgen. Wie der Kapitän auf der Titanic, als er die Spitze des Eisberges entdeckte, erhaschen auch wir nur einen Bruchteil des Befindens. Die tieferliegende, emotionale Verfassung bleibt in den Strassen des Alltags meist unerkannt. Bei wie vielen Menschen würden wir einen verborgenen Eisberg an suizidalen Gedanken unter der Oberfläche vermuten? 
In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) erhob das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2017 mittels Fragebogen Daten zu Suizidgedanken und Suizidversuchen in der Schweizer Bevölkerung. Die Prävalenz von Suizidgedanken lag bei ungefähr 7,8 Prozent. «Hochgerechnet auf die gesamte Wohnbevölkerung ab 15 Jahren sind dies rund 541’000 Personen (95%-KI: 508’000–575’000)» (Obsan, 2019, S. 2). Konstruiert das innere Auge diese Zahl zu einem Bild, so könnte die Platzkapazität des Stadions Letzigrund rund 20-mal ausgeschöpft werden mit Menschen, die Suizidgedanken in sich tragen (Stadt Zürich, 2018).  
Die Prävalenz der Suizidversuche lag nach der Datenerhebung der SGB 2017 bei 0,5 Prozent innerhalb der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2016. Auch hier rechnet das SGB diese Zahl hoch auf «rund 33’000 Suizidversuche (95%-KI: 23’000–42’000)» (Obsan, 2019, S. 4–5) schweizweit. 

3,4 Prozent der Befragten haben während ihrer gesamten Lebensspanne bis zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Das bedeutet, dass 214’000 bis 259’000 Menschen, die in der Schweiz leben, zuvor einen Suizidversuch unternommen haben (Obsan, 2019). Zu erwähnen ist hierbei, dass bei der Datenerhebung in der Schweiz lebende Personen ab 15 Jahren befragt worden sind, exklusiv der Personen im Freiheitsentzug, in psychiatrischen Kliniken oder im Asylbereich (Obsan, 2019). 

«Angst. […] ein Drang, weg auf die Strasse zu gehen und zur nächsten Brücke runter. Dann hat mich jemand angesprochen, ein Wildfremder. […] Ich weiss […] nicht, was passiert wäre, wenn er mich nicht angesprochen hätte.» 

Philipp Zürcher – Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich, 2015. 

Wenn ein Suizidversuch misslingt – Rettungssanitäter*innen im Einsatz 

Fast 100 Rettungsdienste versorgen die Schweizer Bevölkerung täglich mit über 1’200 Rettungseinsätzen (Obsan, 2017). In einer Befragung von 245 Rettungsdiensteinsatzkräfte wurde die Häufigkeit der Einsätze aufgrund psychiatrischer Notfälle auf 8,7 Prozent geschätzt (Pajonk et al., 2004). Das würde demnach bedeuten, dass fast jeder zehnte Rettungsdiensteinsatz aufgrund eines psychiatrischen Notfalls erfolgt, zu denen auch Suizidversuche zählen.  
Auch Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin) rückte während ihrer Arbeit beim Rettungsdienst immer wieder aufgrund von Suizidversuchen aus. Elisa gibt für das aware einen Einblick in ihre Erfahrungen. 
«Vor Beginn meines Veterinärmedizinstudiums habe ich als Rettungssanitäterin gearbeitet und so hatte ich auch einige Suizideinsätze. Dabei sind mir vor allem die Selbstmordversuche der gesunden, jungen Menschen in Erinnerung geblieben, weil diese meist „nur“ ein Hilferuf an ihre Umgebung waren. So haben mir ein paar Patienten*innen im Nachhinein erzählt, wie erschrocken sie über ihre eigene Tat gewesen seien. Sie seien sich der Konsequenzen bis dato nicht wirklich bewusst gewesen. Meiner Meinung nach kann man in vielen Fällen eine solche Verzweiflungstat verhindern, indem man diesen Menschen eine Möglichkeit gibt, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen. Prävention und offene Kommunikation sind oftmals schon sehr hilfreich.» 

Die innere Not zu erkennen geben 

«Ich finde es wichtig, dass man Menschen nicht alleine lässt, wenn sie in einer Krise sind und dass man sie vor allem ernst nimmt» (Pro Juventute et al., 2018), äussert sich Elea in der Präventionskampagne Jugendsuizid der Pro Juventute, SBB und weiteren Kampagnenträger*innen. Wachsame Augen entdecken im Winter 2019/2020 in der Stadt Zürich die Plakate von fünf Jugendlichen aus dieser Kampagne. Sie plädieren dafür, dass Betroffene über ihre Suizidgedanken reden. Auch die Kampagne «reden kann retten» der Prävention und Gesundheitsförderung des Kantons Zürich will dem Schweigen über Suizidgedanken entgegenwirken.  
Wie eingangs erwähnt, gehört Tabuisierung der Suizidthematik nach der WHO zu den zentralen Schwierigkeiten in der Suizidprävention. Auch die Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung beeinflussen die Rate der Menschen, die sich Hilfe holen, massgeblich (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).  
Die Schweiz ermöglicht Anlaufstellen, die 24 Stunden betreut werden und die jederzeit Menschen in einer akuten Krise ihre Hilfe anbieten, so beispielsweise das Kriseninterventionszentrum Zürich (KIZ). Die Bettenzahl im KIZ ist zwar beschränkt, doch sind Gespräche rund um die Uhr möglich (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, 2019). Wer keinen persönlichen Kontakt möchte, hat die Option zum Telefon zu greifen. Auch die Dargebotene Hand bietet durch Freiwilligenarbeit ein 24-Stunden-Telefon an. Ausserdem gibt es Online-Chats, in denen Menschen in einer Krise mit Freiwilligen der Dargebotenen Hand oder auch mit der Nightline Zürich ihre Sorgen per Computer besprechen können.  
Matthias Herren, der Stellenleiter der Dargebotenen Hand im Raum Zürich, äussert sich für das aware folgendermassen zum Thema Suizid. 

«Wenn Suizidwillige die Dargebotene Hand am Telefon oder per Chat kontaktieren, gilt das Grundprinzip, dort anzuknüpfen, wo der*die Kontaktsuchende jetzt gerade steht. Dabei gilt es ernst zu nehmen und offen anzusprechen, dass Suizidwillige ihre akute Krisensituation als Sackgasse erleben, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Im Gespräch wird aber beachtet, dass es Suizidwilligen nicht primär darum gehen muss, zu sterben, sondern vor dem Unerträglichen zu fliehen. Möglicherweise gibt es dafür auch einen anderen Weg als den Tod.» 

Sich helfen lassen – im Gespräch mit einer Betroffenen (16.01.20) 

«Die Mutter meines Ex-Freundes hat sich das Leben genommen, als er zehn Jahre alt war. Meine Tante habe ich nie kennengelernt, weil sie sich als junge Erwachsene das Leben genommen hat. In der Primarschule ist eine Schulkollegin von mir eine Zeit lang nicht mehr zum Unterricht erschienen – ihr Vater hatte sich damals das Leben genommen.», berichtet Lena1. Mehr als fünf Personen könne Lena aufzählen, die sie direkt oder indirekt kenne, die Suizid begangen haben. Und mehr als doppelt so viele, die es versucht hätten.  
«Suizidgedanken sind ein ernstzunehmendes Thema. Hinter diesen Gedanken steckt meiner Meinung nach oft ein tieferliegendes Gefühl, das sich im Wunsch nach dem Tod ausdrückt.», sagt die Studentin. Zumindest sei es ihr so ergangen. Auch sie wollte sterben. Dachte sie zumindest. Zweimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Zweimal sei es schief gegangen. Heute ist sie dankbar für ihr Leben.  
Zwei stationäre Klinikaufenthalte folgten auf die beiden Suizidversuche. «In der zweiten Klinik war ich zunächst unter FU-Status, also fürsorgliche Unterbringung. Anders gesagt: Zwangseinweisung. In vielen Gesprächen, Kunsttherapien und Körpertherapien konnte ich dann das Geschehene besser verstehen, den Kern in meinen Suizidgedanken erkennen und mit der Zeit Abstand davon nehmen.» Es sei nicht der Wunsch nach dem Tod für sie gewesen. Es war ihre Verzweiflung, nicht zu wissen, wie sie ihre Emotionen aushalten könne. Nicht zu wissen, wie sie sich selbst helfen könne. «Leider waren die Gedanken nicht einfach verschwunden. Als ich angefangen habe, darüber zu reden, blieb der Drang nach dem Sterben immer noch bestehen», erzählt Lena. Erst als sie es als Symptom der eigenen Überforderung erkannte, konnte sie mit der Zeit anders damit umgehen. Jedes Mal, wenn sie die Müdigkeit des Lebens ergriff, habe sie offene Ohren in der Therapie gesucht. Später habe es gereicht, wenn sie in schwierigen Phasen kurz in den Online-Chat der Nightline Zürich ging oder mit einem*r Freiwilligen der Dargebotenen Hand chattete. Lena denkt: «Wenn jemand keinen Ausweg mehr sieht, kann man diesen Menschen zwar am Leben halten, indem der Suizid verhindert wird, doch kann niemand einen Menschen dazu bringen, wieder wirklich zu leben. Es gehört auch der Wille dazu, sich helfen zu lassen und dem Leben eine neue Chance zu geben.» Trotz Scham und Angst sei das Reden für Lena der Schlüssel zur Ausgangstür aus dem Gedankengefängnis Suizid gewesen.  
«Den Tod kann dir niemand wegnehmen. Doch wer keinen alternativen Weg ausprobiert, verpasst vielleicht die Oase hinter der nächsten Sanddüne des Lebens.» 

Notfalladressen – rund um die Uhr erreichbar: 

Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (KIZ): 044 296 73 10 

Kriseninterventionszentrum der Integrierten Psychiatrie Winterthur (KIZ): 052 224 37 00 

Notfallpsychiatrischer Dienst am Universitätsspital Zürich: 044 255 11 11 

Die Dargebotene Hand: 143 

Pro Juventute (für Kinder- und Jugendliche): 147 

Weitere Adressen für Krisensituationen: 

Psychiatrisch-Psychologische Poliklinik: 044 412 48 00 

Die Dargebotene Hand: Online Chat unter www.143.ch 

Nightline Zürich: Online Chat unter www.nightline.ch 

Pro Mente Sana: 0848 800 858 

Psychologische Beratungsstelle UZH/ETH: 044 634 22 80, pbs@sib.uzh.ch 

Onlinesuche nach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (psychiatrisch und psychologisch): www.therapievermittlung.ch 


Zum Weiterlesen

Suizidprävention Kanton Zürich. (2020). In der Krise: Das hilft. Besorgt um jemanden?: So können Sie helfen. Retrieved from https://www.suizidpraevention-zh.ch 

Coelho, P. (1998). Veronika beschliesst zu sterben. Rio de Janeiro: Editora Objetiva Ltda. 

Söldi, A. (08. April 2013). Wenn Krisen am Studieren hindern. Tages-Anzeiger, 25. http://www.pbs.uzh.ch/medien/WennKrisenamStudierenhindern.pdf 

Forum für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich. (2015). Den Kindern helfen: Wie Sie Kinder nach einem Suizid unterstützen können. Zürich: Verlag Kirche+Jugend. https://www.suizidpraevention-zh.ch/fileadmin/user_upload/Kinder_reden_Broschuere_2015.pdf 

Literatur 

Pajonk, F.G., Gärtner, U., Sittinger, H., von Knobelsdorff, G., Andresen, B. & Moecke, H. (2004). Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall & Rettungsmedizin 7(3): 161-167. https://doi.org/10.1007/s10049-004-0654-x 

Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung (Obsan Bulletin 7/2019). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 

Frey, M., Lobsiger, M. & Trede, I. (2017). Rettungsdienste in der Schweiz: Strukturen, Leistungen und Fachkräfte (Obsan Bulletin 1/2017)Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 

Stiftung Deutsche Depressionshilfe. (2016). Suizidprävention: Eine globale Herausforderung. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/131056/9789241564779-ger.pdf 

Pro Juventute. (2020). Kampagne Suizidprävention. Retrieved from https://www.147.ch/de/suizidpraevention 

Stadt Zürich (2018). Das Stadion Letzigrund in Zahlen und Fakten. Retrieved from https://www.stadionletzigrund.ch/de/zahlenfakten 

Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich. (2015). Warum reden wichtig ist: Momo Christen, Daniel Göring und Philipp Zürcher haben einen Suizidversuch überlebt. Sie berichten in Filmclips über ihre Erfahrungen. Retrieved from https://reden-kann-retten.ch