Zum Inhalt springen

Mit ‘Störung’ getaggte Beiträge

Muscle Dysmorphia

Wenn es keine realistische Selbstsicht mehr gibt

Muscle Dysmorphia ist eine Körperschemastörung, die häufig im Fitnesskontext auftritt und in den letzten Jahren besonders bei Männern vermehrt diagnostiziert wurde. Im Folgenden werden die Symptome, mögliche Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren sowie verschiedene Behandlungsmöglichkeiten der Störung beschrieben. 

Von Madita Schindler
Lektoriert von Arne Hansen und Julia Küher
Illustriert von Shaumya Sankar

Der Wunsch nach dem idealen Körper

In einer Gesellschaft, die nach dem perfekten Erscheinungsbild strebt, sei es mit Hilfe von Make-up, Schönheitschirurgie oder exzessivem Sport, wird einem athletischen Körper viel Bedeutung beigemessen. Die Mitgliedschaften im Gym steigen jährlich (Wienke, 2014). Die sozialen Medien sind voll von fitspirational quotes wie «the pain you feel today will be the strength you feel tomorrow». Doch gibt es auch ein Zuviel an Sport? In vereinzelten Fällen kann der Fitnesswahn ein wahrhaftiger Wahn sein.

«I don´t stop when I´m tired. I stop when I´m done.»

David Goggins, 2018

Wie äussert sich Muscle Dysmorphia?  

Body Dysmorphic Disorder (BDD) beschreibt eine psychische Erkrankung, die durch ein verzerrtes Selbstbild in Bezug auf den eigenen Körper und die ständige Beschäftigung mit meist eingebildeten Makeln charakterisiert werden kann. Im DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders) ist BDD in der Kategorie der «obsessive-compulsive disorders», also der Zwangsstörungen, klassifiziert. Zu den Symptomen gehören unter anderem die andauernde Beschäftigung mit eingebildeten oder in übertriebener Weise wahrgenommenen Makeln des eigenen Körpers und repetitive Verhaltensmuster wie ein zwanghafter Blick in den Spiegel oder eine exzessive Körperhygiene. Diese Gedanken und Verhaltensweisen müssen klinisch relevanten Stress auslösen, also das Leben der betroffenen Person erheblich beeinträchtigen, um als Störung diagnostiziert zu werden. BDD kann abgegrenzt werden von Essstörungen, bei denen allgemeine Sorgen um das Gewicht im Vordergrund stehen (American Psychiatric Association, 2013).

Bei BDD kann prinzipiell jedes Körperteil betroffen sein, die häufigsten «Problemzonen» sind jedoch Haut, Haar oder Nase (Bjornsson et al., 2022). Eine spezifische Form der BDD ist Muscle Dysmorphia (MD). Hier bezieht sich die Verzerrung des Selbstbildes auf den gesamten Körper und die Idee, nicht muskulös genug zu sein, obwohl die betroffene Person meist überdurchschnittlich viel Muskelmasse besitzt. Dabei kreisen die Gedanken stundenlang um dieses Thema, können nur schwer oder gar nicht kontrolliert werden und führen zu Stress und Angstzuständen (American Psychiatric Association, 2013).

«My only fixation was what I looked like. I would think about that numerous times throughout the day. I would panic if I couldn’t make a gym session.»

Micky David in Dawson, 2021

Als Folge des verzerrten Selbstbildes wird häufig versucht, den eigenen Körper mit weiter Kleidung zu verdecken oder Orte wie das Schwimmbad, in denen der Körper für andere besonders sichtbar ist, zu vermeiden (Phillips, 2005). Zudem wird exzessiv Sport betrieben, um endlich das gewünschte Erscheinungsbild zu erreichen. Dieses übertriebene Training hat nichts mehr mit Freude am Body Building zu tun. Personen mit MD fokussieren sich so stark auf einen konstanten, dauerhaft meist nicht gesundheitsförderlichen Trainingsplan und eine strikte Diät, dass andere wichtige Aspekte des Lebens hintenangestellt werden müssen. Oft gehen Beziehungen zu Bruch oder der Job wird vernachlässigt. Wenn an einem Tag kein Sport getrieben werden kann, führt das zu extremen Angstzuständen oder Wut. Es kommt zu ständigen Vergleichen mit anderen Personen und Blicken in den Spiegel. In vielen Fällen werden Anabolika eingenommen, in der Hoffnung, damit endlich den eigenen Ansprüchen zu genügen (Pope et al., 1997). Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass MD mit vermehrten Suizidgedanken, aggressivem Verhalten und Substanzmissbrauch einhergeht (Bjornsson et al., 2022).

«Exercise becomes dangerous when it takes away from other things that people might want to enjoy, like being with their friends or family. It becomes a disorder when this problematic behavior really reduces their quality of life.» 

Professor Jason Nagata in Dawson, 2021

Wer ist von der Störung betroffen?

MD tritt schätzungsweise bei 1,4-2,2 Prozent der Bevölkerung auf (Mitchison et al., 2021). Im Kontext von Body Building wird sie deutlich häufiger diagnostiziert (Guerra-Torres & Arango-Vélez, 2015). Während Frauen von der generellen BDD tendenziell häufiger betroffen sind als Männer (Bjornsson et al., 2022), scheint MD deutlich öfter bei Männern aufzutreten (Grieve, 2007). Eine plausible Erklärung hierfür ist, dass der gesellschaftliche Druck, gross und muskulös zu sein für Männer höher ist als für Frauen (Pope et al., 1997). Es ist schwierig zu sagen, ob die Störung heute häufiger auftritt als früher oder einfach öfter erkannt und diagnostiziert wird (Pope et al., 1997).

Mögliche Ursachen

In der Entwicklung einer MD können sowohl biologische als auch soziale und individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Laut einigen Studien gibt es eine genetische Disposition, die Störung zu entwickeln (Olivardia, 2001).

Individuelle Risikofaktoren, die in Zusammenhang mit MD stehen, sind unter anderem ein geringes Selbstbewusstsein, ein hohes Level an Perfektionismus, die Internalisierung von muskulösen Idealen und das Betreiben von Kraftsport (Olivardia, 2001). In einer Studie von Olivardia und Kollegen (2004) war geringes Selbstbewusstsein assoziiert mit einer stärkeren Ausprägung von MD. Zudem wurde beobachtet, dass besonders die Abhängigkeit des Selbstbewusstseins von der körperlichen Erscheinung mit vermehrtem Kraftsporttraining einherging (Crocker, 2002). Der Risikofaktor Perfektionismus ist charakterisiert durch das Verfolgen von unrealistischen Zielen. In diesem Sinne ist es plausibel, dass Perfektionist*innen dazu prädestiniert sind, sich unrealistisch hohe Ziele bezüglich ihrer Muskelmasse zu setzen. Henson (2003) zeigte in einer Studie, dass die Ausprägung von Perfektionismus das Level an MD der Studienteilnehmer*innen vorhersagte. Des Weiteren wurde gefunden, dass die Internalisierung von traditionell maskulinen Normen bei Männern den wahrgenommenen sozialen Druck, muskulös zu sein, erhöhen kann (Bégin et al., 2019) und mit einer höheren Ausprägung von MD-Symptomen einhergeht (Blashill et al., 2020). Ein weiterer Faktor, der mit MD verbunden wird, ist das Betreiben von Kraftsport oder Sportarten, welche viel Kraft erfordern (Pope et al., 1993; Cerea et al., 2018). Es ist schwierig zu bestimmen, in welche Richtung der Effekt wirkt. Es ist plausibel, dass der Fitnesskontext selbst die Entwicklung von MD begünstigt, weil man dort regelmässig besonders sportlichen und muskulösen Körpern ausgesetzt ist. Alternativ kann es sein, dass Individuen, welche Symptome von MD zeigen, wahrscheinlicher extensiven Kraftsport betreiben. Eine dritte Erklärung ist, dass Personen im Kraftsport Charaktereigenschaften wie Perfektionismus teilen, welche die Entwicklung von MD wahrscheinlicher machen. Vermutlich spielen alle Erklärungsansätze eine Rolle. Generell kann man sagen, dass das Ausüben von Kraftsport allein nicht direkt zu der Entwicklung einer MD führt. Es kann aber aufgrund verschiedener Mechanismen und in Kombination mit anderen Faktoren die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung begünstigen (Olivardia, 2001).

In Bezug auf soziale Faktoren gibt es Hinweise darauf, dass Familie und Gleichaltrige sowie die Medien relevant für die Vermittlung eines körperlichen Idealbildes sind (Grieve, 2007) und indirekt die Entwicklung einer MD beeinflussen können (Olivaria, 2001). Im Hinblick auf die zunehmende Verlagerung unserer Leben in die digitale Welt liegt es nahe, dass das Internet hier einen wachsenden Einfluss hat. Soziale Medien wie Facebook, Instagram und TikTok sind in der Hinsicht besonders relevant, weil sie mithilfe von Algorithmen die persönlichen Interessen der Nutzer*innen ermitteln und gezielt passende Inhalte vorschlagen (Pariser, 2011). Infolgedessen wird einer Person, die selbst Sport treibt, vermehrt Fitnesscontent angezeigt.

Während Fitnessinhalte prinzipiell motivierend sein können, gibt es Hinweise darauf, dass sie auch negative Auswirkungen haben (Easton et al., 2018). Beispielsweise gibt es Studien, die zeigen, dass häufig unrealistische Körperstandards vermittelt werden (Harrison & Cantor, 1997). Eine Theorie ist deshalb, dass die Darstellung von scheinbar perfekten und muskulösen Körpern in den Medien zu einem Vergleich des eigenen Körpers mit einem nicht zu erreichenden Ideal und demnach zu Unzufriedenheit führen kann (Pope et al., 1997). Gerade bei Männern ist dies aufgrund des gesellschaftlichen Ideals von Grösse und Stärke der Fall. In einer Studie von Leit und Kollegen aus dem Jahr 2002 wurde dies bestätigt: Einer Gruppe von männlichen Studenten wurde entweder Werbung mit muskulösen Männern oder mit neutralen Inhalten gezeigt. Anschliessend wurden die Teilnehmer zu ihrem Körperbild befragt. Das Ergebnis zeigte, dass die Studenten, welche vorher muskulöse Männer gesehen hatten, eine deutlich höhere Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung ihres Körpers und ihrem Wunschkörper aufwiesen. Das lässt darauf schliessen, dass das Betrachten muskulöser Ideale in den Sozialen Medien einen negativen Einfluss auf das eigene Körperbild hat und zur Aufrechterhaltung von MD-Symptomen beitragen kann (Schoenenberg, 2020).

Wie kann Personen mit MD geholfen werden?

Weil viele der oben genannten Faktoren dafür sorgen, dass die Symptome von MD aufrechterhalten werden oder sich verstärken, ist der Verlauf der Erkrankung typischerweise chronisch und verbessert sich nicht von allein. Obwohl die Störung seit vielen Jahren bekannt ist, wurde bislang nur wenig Forschung zu Behandlungsmöglichkeiten durchgeführt (Bjornsson et al., 2022) und die aktuellen Empfehlungen beruhen hauptsächlich auf Fallstudien (Olivardia, 2007). Higgins und Wysong (2018) merken an, dass vermeintlich schnelle Interventionen wie chirurgische Eingriffe keine dauerhafte Lösung darstellen, weil die Ursache des Problems dadurch nicht behoben wird. Zu den aktuell empfohlenen Optionen zählen unter anderem die pharmakologische Behandlung mit SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; Phillipou & Castle, 2015) und kognitiv-behaviorale Psychotherapie. In der Therapie wird unter anderem versucht, perfektionistische Denkmuster oder Schwarz-Weiss-Denken („Wenn ich nicht perfekt aussehe, bin ich hässlich und ein*e Versager*in.“) zu ändern und die emotionale Selbstregulation zu verbessern (Cunningham et al., 2017).

Zwangsstörungen

Zwangsstörungen sind gekennzeichnet durch sogenannte Obsessionen und Kompulsionen. Obsession wird als Besessenheit definiert, die sich in zwanghaft wiederkehrenden, unerwünschten Gedanken oder Bedürfnissen äussert. Kompulsion beschreibt ein nach strengen Regeln ausgeführtes Verhalten oder auch eine geistige Handlung auf Basis dieser Besessenheit. Während der Inhalt der obsessiven Gedanken und Zwänge sehr unterschiedlich sein kann, gibt es einige häufig auftretende Motive wie Sauberkeit oder Symmetrie (American Psychiatric Association, 2013).

Fazit

Die oben erläuterte Unterform der BDD, Muscle Dysmorphia, ist eine psychologische Störung, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Sie äussert sich in einer Abweichung der Körperwahrnehmung von der Realität und in rigiden Versuchen, muskulöser zu werden oder den eigenen Körper zu verstecken. Männer sind häufiger von MD betroffen als Frauen, da besonders das männliche Schönheitsideal Muskelmasse und Stärke einschliesst. In der Entwicklung einer MD wirken verschiedene biologische, individuelle und soziale Einflüsse zusammen, wobei Ursache und Effekt oft schwierig zu bestimmen sind und viele Faktoren in beide Richtungen wirken. Zur Behandlung der Störung werden pharmakologische Therapien sowie Psychotherapien empfohlen, wobei die Forschung in diesem Bereich nicht umfangreich ist.


Zum Weiterlesen

https://www.healthline.com/health/muscle-dysmorphia

Literatur

American Psychiatric Association. (2013). Obsessive-compulsive and related disorders. In Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5. Ausg.). https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425787

Bégin, C., Turcotte, O., & Rodrigue, C. (2019). Psychosocial factors underlying symptoms of muscle dysmorphia in a non-clinical sample of men. Psychiatry Research272, 319-325. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2018.12.120

Bjornsson, A. S., Didie, E. R., & Phillips, K. A. (2022). Body dysmorphic disorder. Dialogues in clinical neuroscience. https://doi.org/10.31887/DCNS.2010.12.2/abjornsson

Blashill, A. J., Grunewald, W., Fang, A., Davidson, E., & Wilhelm, S. (2020). Conformity to masculine norms and symptom severity among men diagnosed with muscle dysmorphia vs. body dysmorphic disorder. PloS one15(8), e0237651. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237651

Cerea, S., Bottesi, G., Pacelli, Q. F., Paoli, A., & Ghisi, M. (2018). Muscle dysmorphia and its associated psychological features in three groups of recreational athletes. Scientific reports8(1), 1-8. https://doi.org/10.1038/s41598-018-27176-9

Crocker, J. (2002). The costs of seeking self–esteem. Journal of social issues58(3), 597-615. https://doi.org/10.1111/1540-4560.00279

Cunningham, M. L., Griffiths, S., Mitchison, D., Mond, J. M., Castle, D., & Murray, S. B. (2017). Muscle dysmorphia: An overview of clinical features and treatment options. Journal of Cognitive Psychotherapy31(4), 255-271. https://doi.org/10.1891/0889-8391.31.4.255

Dawson, B. (2021, August 22). Eating disorders are stereotyped as only impacting women and girls. But young men are also obsessing about dieting and appearance leading to muscle dysmorphia. Insider. https://www.insider.com/muscle-dysmorphia-makes-me-feel-way-a-man-should-feel-2021-8

Easton, S., Morton, K., Tappy, Z., Francis, D., & Dennison, L. (2018). Young people’s experiences of viewing the fitspiration social media trend: Qualitative study. Journal of medical Internet research20(6), e9156. https://doi.org/10.2196/jmir.9156

Festinger, L. (1957). Social comparison theory. Selective Exposure Theory16. http://www.bahaistudies.net/asma/selective_exposure-wiki.pdf#page=18

Grieve, F. G. (2007). A conceptual model of factors contributing to the development of muscle dysmorphia. Eating disorders15(1), 63-80. https://doi.org/10.1080/10640260601044535

Guerra-Torres, J. H., & Arango-Vélez, E. F. (2015). Muscle dysmorphia among competitive bodybuilders. Revista Politécnica11(20), 39-48. https://revistas.elpoli.edu.co/index.php/pol/article/view/487

Harrison, K., & Cantor, J. (1997). The relationship between media consumption and eating disorders. Journal of communication47(1), 40-67.  

https://doi.org/10.1111/j.1460-2466.1997.tb02692.x

Henson, C. (2003). Potential antecedents of muscle dysmorphia. Masters Theses & Specialist Projects. Paper 598. https://digitalcommons.wku.edu/theses/598

Higgins, S., & Wysong, A. (2018). Cosmetic surgery and body dysmorphic disorder–an update. International journal of women’s dermatology4(1), 43-48. https://doi.org/10.1016/j.ijwd.2017.09.007

Leit, R. A., Gray, J. J., & Pope Jr, H. G. (2002). The media’s representation of the ideal male body: A cause for muscle dysmorphia?. International Journal of Eating Disorders31(3), 334-338. https://doi.org/10.1002/eat.10019

Mitchison, D., Mond, J., Griffiths, S., Hay, P., Nagata, J. M., Bussey, K., … & Murray, S. B. (2021). Prevalence of muscle dysmorphia in adolescents: findings from the EveryBODY study. Psychological Medicine, 1-8. https://doi.org/10.1017/S0033291720005206

Olivardia, R. (2001). Mirror, mirror on the wall, who’s the largest of them all? The features and phenomenology of muscle dysmorphia. Harvard review of psychiatry9(5), 254-259. https://doi.org/10.1080/hrp.9.5.254.25

Olivardia, R. (2007). Muscle Dysmorphia: Characteristics, Assessment, and Treatment. In J. K. Thompson & G. Cafri (Eds.), The muscular ideal: Psychological, social, and medical perspectives (pp. 123–139). https://doi.org/10.1037/11581-006

Olivardia, R., Pope Jr, H. G., Borowiecki III, J. J., & Cohane, G. H. (2004). Biceps and body image: the relationship between muscularity and self-esteem, depression, and eating disorder symptoms. Psychology of men & masculinity5(2), 112. https://doi.org/10.1037/1524-9220.5.2.112

Pariser, E. (2011). The filter bubble: What the Internet is hiding from you. Penguin UK.

Phillipou, A., & Castle, D. (2015). Body dysmorphic disorder in men. Australian Family Physician44(11), 798-801. https://search.informit.org/doi/10.3316/informit.585209858722018

Phillips, K. A. (2005). The broken mirror: Understanding and treating body dysmorphic disorder. Oxford University Press, USA.

Pope Jr, H. G., Gruber, A. J., Choi, P., Olivardia, R., & Phillips, K. A. (1997). Muscle dysmorphia: An underrecognized form of body dysmorphic disorder. Psychosomatics38(6), 548-557. https://doi.org/10.1016/S0033-3182(97)71400-2

Pope Jr, H. G., Katz, D. L., & Hudson, J. I. (1993). Anorexia nervosa and “reverse anorexia” among 108 male bodybuilders. Comprehensive psychiatry34(6), 406-409. https://doi.org/10.1016/0010-440X(93)90066-D

Schoenenberg, K., & Martin, A. (2020). Bedeutung von Instagram und Fitspiration-Bildern für die muskeldysmorphe Symptomatik. Psychotherapeut65(2), 93-100. https://doi.org/10.1007/s00278-020-00403-3

Wienke, K. (2014). Welchen Einfluss hat Social Media auf einen möglichen Erfolg von Fitnessstudios: eine Bestandskundenanalyse von Fitnessstudios (Doctoral dissertation, Hochschule Mittweida).

Gestörtes Essverhalten bei Männern

Ein aufgrund weiblicher Stereotypisierung verkanntes Phänomen

Essstörungen tragen wegen des hohen Anteils an weiblichen Betroffenen unter Laien wie auch unter Fachpersonen den Stempel «Frauenerkrankungen». Die Symptomatik wird durch die Assoziation mit dem weiblichen Geschlecht von männlichen Betroffenen vermehrt verleugnet und von Behandlungspersonen fehlinterpretiert.

Von Nina Rutishauser
Lektoriert von Michelle Donzallaz und Yésica Martinez 
Illustriert von Daniel Skoda

Neulich fragte mich eine Freundin, ob es Essstörungen bei Männern überhaupt gebe – ein Ausdruck davon, dass diese primär mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wer glaubt, dass sich dieser Geschlechterbias auf Laien beschränkt, der irrt sich. Der Fokus auf Mädchen und Frauen lässt sich auch in mancher Fachliteratur finden. Jacobi und de Zwaan (2011) sprechen zum Beispiel in ihrem Kapitel zu Essstörungen im umfassenden Werk Klinische Psychologie & Psychotherapie überwiegend von «Patientinnen». Essstörungen bei Jungen und Männern werden scheinbar wenig wahrgenommen und thematisiert. Dieser Artikel ist ein Versuch, das Bild der Essstörung als «Frauenerkrankung» aufzubrechen: Es wird ein Licht auf die Selbst- und Fremdstigmatisierung und die Hürden in der ärztlich-psychologischen Diagnostik und Therapie männlicher Betroffener geworfen, die durch den jahrzehntelangen Fokus auf Frauen entstanden sind.

Essstörungen bei Mann und Frau

Das Geschlechterverhältnis bezüglich Essstörungsprävalenzen erklärt, weshalb diese im Zusammenhang mit Jungen und Männern wenig Beachtung finden. Das Verhältnis von Frauen zu Männern beträgt für Anorexia nervosa (AN) 10:1 und für Bulimia nervosa (BN) etwa 20:1(Jacobi & de Zwaan, 2011). Da Essstörungen bei männlichen Patienten unterdiagnostiziert werden, ist aber davon auszugehen, dass diese Zahlen deren Anzahl unterschätzen (Murray et al., 2017; Raevuori, Keski-Rahkonen, & Hoek, 2014). Einzig von der Binge-Eating-Störung (BES) sind Frauen «nur» etwa 1.5-mal häufiger betroffen als Männer (Jacobi & de Zwaan, 2011). In Bezug auf subklinisch auffälliges Essverhalten scheint der Geschlechtsunterschied sogar fast gänzlich zu verschwinden (National Eating Disorder Association [NEDA], 2018).

Auf die Symptomatik der AN, BN und BES wird im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen. In Bezug auf die Kernsymptome scheint es aber zwischen den Geschlechtern keine bedeutenden Unterschiede zu geben (Woodside et al., 2001). Einige geschlechtsspezifische Merkmale seien dennoch erwähnt. Eine endokrine Störung, die bei AN aufgrund des Untergewichts entstehen kann, äussert sich bei Frauen zum Beispiel durch Ausbleiben der Menstruation. Das männliche Pendant ist der Libido- und Potenzverlust (Dechene, 2008). Im Unterschied zu Frauen scheinen sich anorektische Männer zudem weniger am tiefen Gewicht zu orientieren als an der Form der Figur, wobei betonte Muskeln bei einem gleichzeitig schlanken Körper eine zentrale Rolle spielen (Murray et al., 2017; Strober et al., 2006).

Im Schatten der Frau

Bereits vor 100 Jahren wurden rapide Gewichtsabnahmen und restriktives Essverhalten bei Männern in medizinischen Werken festgehalten. Gestörtes Essverhalten wurde jedoch anderen psychiatrischen Störungen untergeordnet (Murray et al., 2017). Anders als bei Frauen wurde die Körperschemastörung – die Wahrnehmung, zu dick zu sein – bei Männern lange im Kontext wahnhaften Verhaltens eingeordnet, womit Patienten, die eigentlich an einer Essstörung litten, als schizophren diagnostiziert wurden (Mangweth-Matzek, 2015). In einer Zeitperiode, in der sich Diagnostik und Behandlungsmodalitäten rapide weiterentwickelten, führte dies ausserdem dazu, dass sich klinische Studien vorwiegend an Frauen ausrichteten (Murray et al., 2017). Weniger als ein Prozent der wissenschaftlichen Publikationen zu AN sind laut Murrary, Griffiths und Mond (2016) dem männlichen Geschlecht gewidmet.

Prominente Beispiele von Essstörungen bei Männern

Zu den Männern mit Bekanntheitsgrad, die unter einer Essstörung litten, gehören beispielsweise Elton John (Sänger) und John Prescott (ehemaliger britischer Vizepremierminister). Letzterer gab in seiner Biografie an, den Stress seines Amtes jahrelang mit Essanfällen und Erbrechen bewältigt zu haben (Zeit, 2008). Caleb Followill, Lead-Sänger der Band Kings of Leon, kämpfte zum Ende seiner Adoleszenz mit Magersucht (The Irish Times, 2014). Essstörungen sind auch im Leistungssport nicht wegzudenken, insbesondere in Sportarten, in denen ein niedriges Gewicht von Vorteil sein kann wie im Eiskunstlauf und Skispringen. Bahne Rabe, Olympia-Sieger im Ruder-Achter, verstarb 2001 an den Folgen seiner Magersucht und der Skispringer Stephan Zünd «ernährte» sich vor seinem Rücktritt zugunsten einer Therapie nur noch von Wasser (Schweizer Radio Fernsehen, 2015).

Der einseitige Fokus auf Frauen hat für betroffene Männer weitreichende Konsequenzen. Die Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung ist bei Betroffenen mit Essstörungen allgemein gering, aber noch geringer bei Männern (Murray et al., 2017). Es besteht diesbezüglich die Annahme, dass Männer einem «doppelten» Stigma ausgesetzt sind: einerseits durch das Leiden an einer psychischen Erkrankung und andererseits durch die Charakterisierung der Essstörung als «weiblich» oder «schwul» (NEDA, 2018). In einer Studie in Grossbritannien gaben männliche Essstörungspatienten an, durch die Fehlvorstellung, nur «fragile jugendliche Mädchen» litten an Essstörungen, ihre Symptome nicht als essgestört erkannt zu haben (Räisänen & Hunt, 2014). Die Stereotypisierung der Essstörung verzögert die Inanspruchnahme ärztlich-psychologischer Hilfe und lässt das Fortschreiten der Symptomatik gewähren, was sich wiederum negativ auf den Störungsverlauf und das Behandlungsergebnis auswirken kann (Griffiths et al., 2015).

«[…] men with eating disorders are underdiagnosed, undertreated, and misunderstood by many clinicians who encounter them.»

Strother, Lemberg, Stanford, & Turberville, 2012, S. 346

Überwindet ein Betroffener die Hürde, sich an eine Fachperson zu wenden, bestehen weitere Schwierigkeiten in der Diagnostik. Das fehlende Bewusstsein für die Präsenz von Essstörungen in männlichen Patientenpopulationen fördert nicht nur bei den Betroffenen und deren Umfeld das Verkennen der Symptomatik. Dies kann auch bei Fachpersonen zum späten Erkennen der Essstörung beziehungsweise zu Fehldiagnosen führen (Räisänen & Hunt, 2014). Ein zusätzlicher Grund, weshalb die Symptomatik bei Männern unterschätzt wird, könnte darin liegen, dass ein Grossteil der Diagnostikinstrumente für Essstörungen (zum Beispiel strukturierte Interviews) auf Frauen ausgerichtet ist (Mangweth-Matzek, 2015). Männer erzielen tendenziell tiefere Werte auf Essstörungsskalen, obwohl sie sich in der Kernsymptomatik kaum von Frauen unterscheiden (Raevuori et al., 2014).

Vom Schatten ins Licht

Die Schulung von Fachpersonen, insbesondere von Hausärzten|innen als Ansprechpersonen, zur Früherkennung von Essstörungen bei Jungen und Männern, ist ein notwendiger Schritt zur effizienten Behandlung Betroffener. In der Diagnostik wurden bereits Fortschritte erzielt. Die Kriterien für eine AN im DSM-5 wurden geschlechtsneutral formuliert, was die Diagnosestellung bei Männern erleichtert (APA, 2013; Raevuori et al., 2014). Räisanen und Hunt (2014) schlagen zudem eine Hervorhebung der männlichen Patientenpopulation in den internationalen, klinischen Leitlinien vor. Fachpersonen können so im Behandlungsprozess «männlicher» Essstörungen besser angeleitet werden. Trotz geringer Unterschiede in der Kernsymptomatik bei Männern und Frauen wird empfohlen, in der Therapie auch geschlechtsspezifische Themen aufzugreifen. Das Verständnis darüber, wie sich körperbezogene Ideale und Sorgen zwischen Essstörungspatienten und -patientinnen unterscheiden birgt beispielsweise für die Behandlung der Körperschemastörung bei männlichen Patienten grosse Vorteile (Strother et al., 2012).

«Although 100 percent of such programs in the United States accept females, only about 20 percent also accept males with a much smaller subset offering male-only treatment groups.»

Goldstein, Alinsky, & Medeiros, 2016, S. 371

In Behandlungsinstitutionen lässt sich erwartungsgemäss eine Überzahl an Frauen finden. Dies kann bei männlichen Patienten das «kulturelle Stigma» ihrer Essstörung verstärken. Es empfiehlt sich folglich ein therapeutisches Umfeld (zum Beispiel eine Gruppentherapie) mit Betroffenen gleichen Geschlechts (NEDA, 2018), was aber noch kaum angeboten wird (siehe Goldstein et al., 2016). Rücken männliche Betroffene mehr ins Licht, kann dies den Anstoss dafür geben, auf Männer zugeschnittene Diagnostikinstrumente zu entwickeln und Behandlungssettings anzubieten. Nur wenn die Psychiatrie dieser vernachlässigten Patientenpopulation gerecht wird, vermag sich auch in der Gesellschaft der Mythos der Essstörung als «Frauenerkrankung» auflösen.


Zum Weiterlesen

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

Literatur

American Psychiatric Association [APA]. (2013). Feeding and Eating Disorders. Abgerufen auf https://www.psychiatry.org/…/APA_DSM-5-Eating-Disorders.pdf [16. Juni 2018]

Dechene, M. (2008). Essstörungen bei Männern. Blickpunkt der Mann, 6(3), 20–22.

Jacobi, C., & de Zwaan, M. (2011). Essstörungen. In Klinische Psychologie & Psychotherapie (Wittchen, H.-U., & Hoyer, J., Hrsg). Heidelberg: Springer.

Goldstein, M. A., Alinsky, R., & Medeiros, C. (2016). Males with restrictive eating disorders: Barriers to their care. Journal of Adolescent Health, 59, 371–372.

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

National Eating Disorders Association [NEDA]. (2018). Eating Disorders in Men and Boys. Abgerufen auf https://www.nationaleatingdisorders.org/learn/general-information/research-on-males [15. Juni 2018]

Räisänen, U., & Hunt, K. (2014). The role of gendered constructions of eating disorders in delayed help-seeking in men: a qualitative interview study. BMJ Open, 4(4), 1–8.

Schweizer Radio Fernsehen. (2015). Mehr Training, weniger Essen – Magersucht bei Sportlern. Abgerufen auf https://www.srf.ch/sendungen/puls/psyche/mehr-training-weniger-essen-magersucht-bei-sportlern [15. Juni 2018]

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355.

The Irish Times. (2014). The hidden problem of male anorexia. Abgerufen auf https://www.irishtimes.com/life-and-style/health-family/the-hidden-problem-of-male-anorexia-1.1753391 [11. Juli 2018]

Woodside, D. B., Garfinkel, P. E., Lin, E., Goering, P., Kaplan, A. S., Goldbloom, D. S., & Kennedy, S. H. (2001). Comparisons of men with full or partial eating disorders, without eating disorders, and women with eating disorders in the community. American Journal of Psychiatry, 158, 570–574.

Zeit. (2008). Gestanden. Abgerufen auf https://www.zeit.de/2008/18/Gestanden [15. Juni 2018]

Papa geht es nicht gut

Warum sich die Forschung zu wenig mit paternaler Depression auseinandersetzt

Väter, die nach der Geburt ihres Kindes an einer depressiven Störung leiden, werden in der Forschung kaum thematisiert – im Gegensatz zu Müttern. Aber warum eigentlich? Und was sind die Folgen dieser Forschungslücke für die Väter und für ihre Familien?

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Rebekka Stähli

Nach der Geburt ihres Kindes stehen Eltern vor vorhergesehenen und unvorhergesehenen Herausforderungen. Weltweit leiden unter anderem deswegen bis zu 13 Prozent der schwangeren Frauen und frischgebackenen Mütter an psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen (World Health Organisation, n.d.) – Dabei spricht man von einer maternalen Depression. Kein Wunder also, dass die WHO (n.d.) maternale, psychische Störungen als eines der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit bezeichnet. Doch während maternale Depression einigen ein Begriff ist, sind vermutlich viele nicht mit der paternalen Depression vertraut. Diese bezeichnet eine Depressivität bei werdenden oder neu gewordenen Vätern (American Academy of Pediatrics, 2018).

Papa leidet auch

Nach der Geburt ihres Kindes stehen auch Männer vor einer herausfordernden Zeit. Genauso wie ihre Partner*innen werden sie mit dem wichtigen Übergang zur Elternschaft und allen damit verbundenen, praktischen und psychischen Herausforderungen konfrontiert (Psouni & Eichbichler, 2019). Zusätzlich wird oft von ihnen erwartet, dass sie ihr berufliches Engagement beibehalten und persönliche Bedürfnisse zurückstellen. Diese Belastung führt zu einer hohen Vulnerabilität (Psouni et al., 2017; Rominov et al., 2018), die sich in der postnatalen Zeit in Form von depressiven Symptomen manifestieren kann (Cameron et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).

«Most of the reviewed studies suffer from methodological limitations, including the small sample, the lack of a structured psychiatric diagnosis, and inclusion bias. Despite such limitations, paternal depression seems to be associated with an increased risk of developmental and behavioural problems and even psychiatric disorders in offspring.»

Gentile & Fusco, 2017, p. 325

Zu wenig Forschung

Obwohl die Vulnerabilität und die damit verbundene, potenzielle depressive Störung bestätigt sind, ist die paternale Depression an sich, wie auch deren Auswirkungen wenig untersucht (Paulson et al., 2006). Eine kurze Suche mit Hilfe von Google Scholar bestätigt die Behauptung von Paulson und Kollegen (2006), dass es wenige Studien zu diesem Thema gibt. Wird der Begriff maternal depression gesucht, werden etwa 744‘000 Treffer erzeugt. Im Vergleich dazu führt die Suche mit paternal depression nur zu circa 53’500 Treffern (Stand: 12. März 2020). Dieser massive Unterschied ist leider kein Relikt vergangener Zeit. Schränkt man die Suche durch einen aktuelleren Zeitraum ein, ist immer noch das gleiche Muster erkennbar. Interessanterweise existiert diese Diskrepanz nur in Bezug auf parentale Depression. Es gibt kaum Unterschiede in der Anzahl Treffer zwischen den Begriffen female depression und male depression. Das heisst, dass nur Männer in der Rolle als Väter und nicht Männer im Allgemeinen in der Forschung zu Depressionen vernachlässigt werden.

Die Frage nach dem Warum

Doch was sind die Gründe für diese Diskrepanz? Insgesamt kann man vier Umstände beschreiben, die als Erklärungen für die Unterschiede dienen können. Erstens haben gewisse Männer zum Teil die Neigung, ihre depressive Symptomatik als weniger stark anzugeben, als sie eigentlich ist (Seidler et al., 2016). Die Symptome werden also entweder als zu schwach oder als nicht vorhanden eingeschätzt. Dies könnte zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Männer nicht oder in geringerem Maße als Frauen an elterlichen Depressionen leiden, so dass es weniger dringlich scheint, dieses Thema spezifisch zu untersuchen.

Zweitens verspüren und zeigen Männer im Vergleich zu Frauen oftmals andere Symptome. Häufig drücken Männer Depressionen durch externalisierendes Verhalten aus (Rutz, 1996), wie Wutanfälle, Drogenmissbrauch und Risikoverhalten, oder sie zeigen stärkere körperliche Belastung durch eine Somatisierung (Danielsson & Johansson, 2005; Kim & Swain, 2007; Martin et al., 2013; Rodgers et al., 2014; Schumacher et al., 2008). Diese externalisierenden Verhaltensweisen werden von medizinischem Fachpersonal nicht immer als depressive Symptome erkannt (Rutz, 1996), so dass eine korrekte Diagnostizierung dieser Männer unwahrscheinlich ist. Zudem leiden einige Männer an weiteren, weniger offensichtlichen depressiven Symptomen, was vermehrt zu Fehldiagnosen führen kann (Psouni et al., 2017).

Risikofaktoren für paternale Depression (American Academy of Pediatrics, 2018):

  • Schwierigkeiten eine Bindung mit dem eigenen Kind aufzubauen
  • Das Fehlen eines guten männlichen Vorbildes
  • Das Fehlen von sozialer Hilfe und Unterstützung
  • Veränderungen in der Beziehung zum*r Ehepartner*in
  • Gefühle wie Eifersucht oder Exklusion aufgrund der Beziehung zwischen Ehepartner*in und Kind
  • Maternale Depression
  • Stress aufgrund von Finanzen oder Arbeit
  • Tiefes Level an Testosteron

Der dritte Grund für die Diskrepanz im aktuellen Forschungsstand bezüglich maternaler und paternaler Depression ist eng mit den erwähnten Unterschieden in der Symptomatik verknüpft. Die Messinstrumente zur Beurteilung der paternalen Depression sind nicht an die externalisierenden Symptome angepasst (Rice et al., 2013). Dadurch wird die Symptomatik nicht vollständig erfasst. Zudem werden die verfügbaren Skalen selten mit ausreichend großen Stichproben getestet und die psychometrische Entwicklung der Fragebögen sind oftmals fehlerhaft (Rice et al., 2013). Dies führt unter anderem zu stark variierenden Prävalenzraten bei väterlichen Depressionen (Cameron et al., 2016), dadurch erscheint die Notwendigkeit umfassender Forschung als zu gering.

Der letzte mögliche Grund für die Diskrepanz ist, dass Väter, im Vergleich zu Müttern, in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt an parentaler Depression erkranken (Edward et al., 2015; Psouni et al., 2017). Während maternale Depression in der Regel während der Schwangerschaftszeit oder innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes auftritt, hat die Prävalenzrate der paternalen Depression ihren Höhepunkt 12 Monate nach der Geburt des Kindes (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011). Verheerend ist hier, dass die meisten Studien zur parentalen Depressionen ihre Teilnehmer*innen nur innerhalb des ersten postnatalen Jahres untersuchen (Psouni et al., 2017). Väter werden also während ihrer kritischen Phase in vielen Studien gar nicht erst erfasst. Es ist immer noch unklar, wie eine paternale Depression nach dem ersten Jahr nach der Geburt des Kindes verläuft.

Folgen der Vernachlässigung

Was sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Unterschiede und dem Mangel an Forschung bei parentaler Depression? Wie bereits erwähnt, scheint die depressive Symptomatik bei Männern im Vergleich zu Frauen weniger oft als solche erkannt zu werden.

Zusätzlich suchen Männer seltener Hilfe auf. In einer Studie gab weniger als die Hälfte der männlichen Teilnehmer mit depressiven Symptomen an, dass sie bereit wären, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Massoudi, 2013). Gewisse Stigmata oder Geschlechternormen könnten es Männern erschweren, als Schwächen wahrgenommene Erlebens- oder Verhaltensmuster einzugestehen(Lohan et al., 2014; Strother et al., 2012). Die daraus resultierende Behandlungslücke könnte durch den Mangel an Forschung zum Thema paternalen Depression verstärkt werden. Weniger Wissen über Verlauf und Risiken der paternalen Depression gehen vermutlich mit einem Mangel an Präventionsmöglichkeiten und spezifischen Interventionen einher. Generell gibt es weniger Interventionen, die spezifisch für Männer entwickelt wurden im Vergleich zu Frauen (Doley et al., 2020). All das kann zu einer Versorgungslücke führen, die einen noch schwerwiegenderen Eindruck hinterlässt, wenn man sich die Folgen einer paternalen Depression vor Augen führt.

Folgende Hilfsstellen können Vätern (und Müttern) helfen oder sie an die richtigen Stellen weiterleiten:

Neben zahlreichen Büchern liefern folgende Websites Informationen rund um das Thema Vater werden und sein:

Eine depressive Störung des einen Elternteils beeinflusst auch den Gemütszustand des anderen. Paternale postnatale Depression korreliert stark mit maternaler postnataler Depression (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011; Goodman, 2004; Ramchandani et al., 2011). Daher erhöht die Depression eines Elternteils das Risiko, dass ein Kind, mit zwei depressiven Eltern aufwächst (Letourneau et al., 2011). Dies führt zu einer höheren Vulnerabilität des Kindes (Brennan et al., 2002; Letourneau et al., 2011; Mezulis et al., 2004). Ausserdem leidet es eher unter multiplen entwicklungsschädigenden Folgen, wie weniger positiv bereicherten Aktivitäten beispielsweise das Vorlesen von Kinderbüchern (Paulson et al., 2006) oder stärker externalisierenden Verhaltensproblemen (Ramchandani et al., 2013). Daher ist zentral, dass die Forschung sich auch auf Väter konzentriert. Denn auch dem Papa sollte es gut gehen.


Zum Weiterlesen

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Literatur

American Academy of Pediatrics (Ed.). (2018). Dads Can Get Depression During and After Pregnancy, Too. https://www.healthychildren.org/English/ages-stages/prenatal/delivery-beyond/Pages/Dads-Can-Get-Postpartum-Depression-Too.aspx

Brennan, P. A., Hammen, C., Katz, A. R., & Le Brocque, R. M. (2002). Maternal depression, paternal psychopathology, and adolescent diagnostic outcomes. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70(5), 1075–1085. https://doi.org/10.1037/0022-006X.70.5.1075

Cameron, E. E., Sedov, I. D., & Tomfohr-Madsen, L. M. (2016). Prevalence of paternal depression in pregnancy and the postpartum: An updated meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 206, 189–203. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.07.044

Danielsson, U., & Johansson, E. E. (2005). Beyond weeping and crying: A gender analysis of expressions of depression. Scandinavian Journal of Primary Health Care, 23(3), 171–177. https://doi.org/10.1080/02813430510031315

Doley, J. R., McLean, S. A., Griffiths, S., & Yager, Z. (2020). Study protocol for Goodform: A classroombased intervention to enhance body image and prevent doping and supplement use in adolescent boys. BMC Public Health, 20(1), 59. https://doi.org/10.1186/s12889-020-8166-2

Edward, K.‑l., Castle, D., Mills, C., Davis, L., & Casey, J. (2015). An integrative review of paternal depression. American Journal of Men’s Health, 9(1), 26–34. https://doi.org/10.1177/1557988314526614

Escribà-Agüir, V., & Artazcoz, L. (2011). Gender differences in postpartum depression: A longitudinal cohort study. Journal of Epidemiology and Community Health, 65(4), 320–326. https://doi.org/10.1136/jech.2008.085894

Gentile, S., & Fusco, M. L. (2017). Untreated perinatal paternal depression: Effects on offspring. Psychiatry Research, 252, 325–332. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.02.064

Goodman, J. H. (2004). Paternal postpartum depression, its relationship to maternal postpartum depression, and implications for family health. Journal of Advanced Nursing, 45(1), 26–35. https://doi.org/10.1046/j.1365-2648.2003.02857.x

Kim, P., & Swain, J. E. (2007). Sad dads: paternal postpartum depression. Psychiatry, 4(2), 35–47.

Letourneau, N., Duffett-Leger, L., Dennis, C., Stewart, M., & Tryphonopoulos, P. D. (2011). Identifying the support needs of fathers affected by postpartum depression: A pilot study. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 18, 41–47.

Lohan, M., Aventin, A., Maguire, L., Clarke, M., Linden, M., & McDaid, L. (2014). Feasibility trial of a film-based educational intervention for increasing boys‘ and girls‘ intentions to avoid teenage pregnancy: Study protocol. International Journal of Educational Research, 68, 35–45. https://doi.org/10.1016/j.ijer.2014.08.003

Martin, L. A., Neighbors, H. W., & Griffith, D. M. (2013). The experience of symptoms of depression in men vs women: Analysis of the National Comorbidity Survey Replication. JAMA Psychiatry, 70(10), 1100–1106. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2013.1985

Massoudi, P. (2013). Depression and distress in Swedish fathers in the postnatal period: prevalence, correlates, identification, and support [Dissertation]. University of Gothenburg, Gothenburg. https://gupea.ub.gu.se/bitstream/2077/32509/1/gupea_2077_32509_1.pdf

Mezulis, A. H., Hyde, J. S., & Clark, R. (2004). Father involvement moderates the effect of maternal depression during a child’s infancy on child behavior problems in kindergarten. Journal of Family Psychology, 18(4), 575–588. https://doi.org/10.1037/0893-3200.18.4.575

Paulson, J. F., & Bazemore, S. D. (2010). Prenatal and postpartum depression in fathers and its association with maternal depression: A meta-analysis. JAMA, 303(19), 1961–1969. https://doi.org/10.1001/jama.2010.605

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Psouni, E., & Eichbichler, A. (2019). Feelings of restriction and incompetence in parenting mediate the link between attachment anxiety and paternal postnatal depression. Psychology of Men & Masculinities. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/men0000233

Ramchandani, P. G., Domoney, J., Sethna, V., Psychogiou, L., Vlachos, H., & Murray, L. (2013). Do early father-infant interactions predict the onset of externalising behaviours in young children? Findings from a longitudinal cohort study. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 54(1), 56–64. https://doi.org/10.1111/j.1469-7610.2012.02583.x

Ramchandani, P. G., Psychogiou, L., Vlachos, H., Iles, J., Sethna, V., Netsi, E., & Lodder, A. (2011). Paternal depression: An examination of its links with father, child and family functioning in the postnatal period. Depression and Anxiety, 28(6), 471–477. https://doi.org/10.1002/da.20814

Rice, S. M., Fallon, B. J., Aucote, H. M., & Möller-Leimkühler, A. M. (2013). Development and preliminary validation of the male depression risk scale: Furthering the assessment of depression in men. Journal of Affective Disorders, 151(3), 950–958. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.08.013

Rodgers, S., Grosse Holtforth, M., Müller, M., Hengartner, M. P., Rössler, W., & Ajdacic-Gross, V. (2014). Symptom-based subtypes of depression and their psychosocial correlates: A person-centered approach focusing on the influence of sex. Journal of Affective Disorders, 156, 92–103. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.11.021

Rominov, H., Giallo, R., Pilkington, P. D., & Whelan, T. A. (2018). Getting help for yourself is a way of helping your baby: Fathers’ experiences of support for mental health and parenting in the perinatal period. Psychology of Men & Masculinity, 19(3), 457–468. https://doi.org/10.1037/men0000103

Rutz, W. (1996). Prevention of suicide and depression. Nordic Journal of Psychiatry, 50(37), 61–67. https://doi.org/10.3109/08039489609099732

Schumacher, M., Zubaran, C., & White, G. (2008). Bringing birth-related paternal depression to the fore. Women and Birth, 21(2), 65–70. https://doi.org/10.1016/j.wombi.2008.03.008

Seidler, Z. E., Dawes, A. J., Rice, S. M., Oliffe, J. L., & Dhillon, H. M. (2016). The role of masculinity in men’s help-seeking for depression: A systematic review. Clinical Psychology Review, 49, 106–118. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2016.09.002

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355. https://doi.org/10.1080/10640266.2012.715512

World Health Organisation. (n.d.). Maternal mental health. https://www.who.int/mental_health/maternal-child/maternal_mental_health/en/

Mehr gemeinsam, weniger einsam

Angehörigenarbeit als zentraler Faden im Versorgungsnetz psychisch erkrankter Menschen

Psychische Störungen bergen Leid, in dessen Schatten häufig die Angehörigen stehen. Die Angehörigenarbeit beschäftigt sich damit, diese versteckten Belastungen des Umfelds anzugehen. Verschiedene Studien weisen auf theoretisch fundierte Ansätze und deren praktische Präsenz und Wirksamkeit hin.

Von Hannah Löw
Lektoriert von Vera Meier und Zoé Dolder 
Illustriert von Hannah Löw

«Es hat sich viel geändert seit der Ersterkrankung meiner Tochter vor 22 Jahren. Damals wurde uns beiden gesagt, sie werde niemals mehr ein ‹normales› Leben führen können. Eine Schizophrenieerkrankung mache das unmöglich […]. Ich hätte gerne gewusst, wie lange die Behandlung in etwa dauern würde und was ich als ihre Mutter dazu beitragen kann, damit sie schneller wieder gesund wird. […] Stattdessen wurde mir etliche Male gesagt, es sei nicht gut, wenn ich meine Tochter so oft besuchen würde, schlimmer noch: Dass man zuerst herausfinden müsse, ob ich ihr guttue oder eher nicht. […]. Ich fühlte mich in dieser Zeit sehr alleine, unverstanden, schuldig gesprochen, immer und immer wieder, und zwar vom ganzen Umfeld.»

Weibel, 2019, S. 9

Die Alltagslast der Angehörigen

Mit siebzehn Jahren erfüllte die Tochter von Franca Weibel erstmals die Diagnosekriterien einer Schizophrenie. In ihrem Beitrag für das Fachmagazin für psychiatrisch Tätige des Vereins Netzwerk für Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) gibt sie einen Einblick in ihren persönlichen Leidensdruck als Angehörige. Obwohl sie sich während den ersten akuten schizophrenen Episoden ihrer Tochter nach eigenem Bericht einsam gefühlt hat, steht sie mit der Last als Angehörige eines psychisch erkrankten Menschen nicht alleine da (NAP, 2019). Das Bundesamt für Gesundheit (2019) stellt fest, «psychische Krankheiten erschweren den Alltag vielseitig. Sie belasten die Angehörigen» und hebt damit in der Einführung seines Beitrags über psychische Erkrankungen die weit verbreitete Belastung von Angehörigen psychisch erkrankter Personen hervor. Daraus lässt sich schliessen, dass eine Unterstützung im psychiatrischen und psychotherapeutischen Rahmen über den*die Patient*in hinaus gehen und die Angehörigen ebenfalls abholen sollte. Nicht nur für die Angehörigen selbst ist die Einbettung in den Therapieprozess wichtig, sondern auch für die erkrankte Person bedeutet dies eine erhöhte Chance, dass eine Behandlung ihre gewünschte Wirkung zeigt (Troxler, 2005).
In Bezug auf das Versorgungsnetz von Patient*innen mit Essstörungen beispielsweise begründen Zitarosa und Kolleg*innen (2012) die Wichtigkeit des Einbezugs der Angehörigen darin, dass die Patient*innen einen Grossteil ihrer Zeit im privaten Umfeld verbringen und nicht in stationären psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kliniken. Somit ruht ein beträchtlicher Teil der Krankheitslast nicht auf professionellen Schultern, sondern auf jenen der Angehörigen der Patient*innen. Weiter sind auch Angehörige von Menschen mit einer Alkoholkonsumstörung grossen Belastungen ausgesetzt; sie werden auch als «Ko-Problemträger*innen» bezeichnet (Spohn, 2014). Auch in Bezug auf die Behandlung von Patient*innen einer Störung des schizophrenen Spektrums wird die Wichtigkeit einer frühen Integration der Angehörigen hervorgehoben (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020).

Verschiedene Autor*innen sind sich also dahingehend einig, dass die Angehörigen von Personen mit verschiedenen psychischen Krankheiten in ihrem Alltag hohen Belastungen ausgesetzt sind. Doch inwiefern können psychiatrische und psychotherapeutische Kliniken neben den Patient*innen auch die Angehörigen praktisch unterstützen und einbeziehen?

Eine Lücke im System?

In einer etwas weiter zurückliegenden Studie an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg, Deutschland, untersuchten Schmid, Spiessl und Klein (2006) die praktisch durchgeführte Angehörigenarbeit und setzten diese in einen Vergleich mit den Vorgaben der dort geltenden Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) in den Behandlungsbereichen A1-A6 [siehe Kästchen 3]. Die Autor*innen befragten acht Psycholog*innen und 25 Assistenzärzt*innen mittels Fragebögen. Lediglich 52.3% der Angehörigen der am Erhebungstag behandelten 390 Patient*innen führten ein Gespräch mit den behandelnden Fachpersonen. Die restlichen 47.7% der Angehörigen erhielten zum Erhebungszeitpunkt der Studie keine gesprächsbasierte Unterstützung und wurden nicht in die Behandlung miteinbezogen. Schmid, Spiessl und Klein (2006) schlussfolgern daraus, dass eine unzureichende Versorgung der Angehörigen vorliege. Die Ursache dieser Lücke in der Angehörigenarbeit scheint ein Zeitmangel zu sein; auf Kosten der adäquaten Angehörigenarbeit und des direkten Patientenkontakts wird zunehmend mehr Zeit für Dokumentations- und Administrationsarbeiten aufgewendet (Schmid, Spiessl & Klein, 2006).

Auch die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern erwähnen in ihrem Konzept für die Angehörigenarbeit Mängel in der praktischen Durchführung der Angehörigenarbeit; diese Lücken im System gelten nach den UPD sowohl für den akutpsychiatrisch-stationären Bereich als auch für ambulante Behandlungen in der Schweiz (Troxler, 2005).

Dreizehn Jahre später berichtet der Verein NAP von einer wachsenden Wichtigkeit der Angehörigenarbeit in verschiedenen nationalen psychiatrischen Institutionen (Scherer, 2020). Lampert (2018) berichtete in einem Vortrag am ersten nationalen Patientenkongress in Bern, dass im Jahr 2017 durch den Verein NAP 1’887 Beratungen mit Angehörigen psychisch erkrankter Menschen stattgefunden haben. Im Vergleich zu den Jahren davor zeigt sich eine steigende Tendenz der vollzogenen Beratungsgespräche mit Angehörigen (Lampert, 2018). Worin sich die hier aufgeführten Autor*innen einig sind, ist die zentrale Rolle und Notwendigkeit der Angehörigenarbeit in der Behandlung von Menschen, welche die Diagnosekriterien einer psychischen Störung erfüllen.

«Jede Anstrengung, Angehörige respektvoll in die Hilfe einzubeziehen, ist begrüssenswert. Mit dem Einbezug […] kann eine psychiatrische Behandlung als eine Dienstleistung am ‹System› verstanden werden.»

Lampert, 2018, S. 37

Der Verein NAP zeigt in seinem Magazin für psychiatrisch Tätige, dass die Angehörigenarbeit in der Schweiz durchaus besteht und angewandt wird (Scherer, 2020). Die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) haben zum Beispiel eine eigens für Angehörige eingerichtete Fachstelle und bieten dadurch Eltern, Kindern und ganzen Familien verschiedene kostenlose Beratungsangebote. Damit Angehörige die Dienste nutzen können muss die betroffene Person, die an einer psychischen Störung erkrankt ist, nicht einmal bei den PDAG in Behandlung sein (Scherer, 2020). Die Kontaktinformationen zu diesem Angebot sind im Infokästchen 1 zu finden.

Das Ziel des Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP)

Der Verein bezweckt die Vernetzung von in der Angehörigenarbeit tätigen Fachleuten und Professionalisierung der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung.

Die Aufgaben des Vereins sind unter anderem:

  • Erhöhung des Stellenwertes der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung und Förderung des Wissens unter Fachpersonen
  • Formulierung und Verbreitung von erfahrungsbasierten Empfehlungen für qualitativ gute Angehörigenarbeit

Wurzeln und Flügel der Angehörigenarbeit

Troxler (2005) ordnet den Beginn der Angehörigenarbeit in die 1980er Jahre ein. Das erklärte Ziel dieser Arbeit war bereits damals der Einbezug von Angehörigen der Patient*innen im klinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich und in diesem Zusammenhang auch die Senkung der Rezidivrate der Patient*innen.

Zur Erreichung dieses Ziels kommt der Psychoedukation eine wichtige Bedeutung zu. Sie beinhaltet nach Bäuml und Pitschel-Walz (2020) die Weiterbildung im Wissen über psychische Störungen und somit das Herausführen aus einer vorhandenen Informationslücke. Hierbei gilt in Bezug auf das Vermitteln von Wissen an Angehörige, dass es einen «Brückenschlag zwischen dem professionellen ‹Know-how› und dem subjektiven ‹So now?› der Betroffenen» bildet (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020, S. 113). Weiter dient auch das sogenannte Trialog-Vorgehen, wobei Patienten*innen, Angehörige und behandelnde Fachpersonen gemeinsam im Austausch stehen, als Mittel zur Integration der Angehörigen in die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung der Patient*innen (Troxler, 2005).

Ein klassisches Setting der Angehörigenarbeit bildet die Familientherapie. Diese kann zu multiplen Familientherapiegruppen erweitert werden, in denen die Patient*innen selbst nicht zwingend anwesend sein müssen. Die Angehörigenarbeit kann also in An- aber auch in Abwesenheit der*des betreffenden Patient*in erfolgen.

Die PsychPV ist eine im Jahr 1991 eingeführte Verordnung in Deutschland, die Richtlinien für den stationären Behandlungsbedarf psychisch erkrankter Menschen im volljährigen Alter vorgibt. A1 bis A6 bilden verschiedene Behandlungsbereiche innerhalb der PsychPV (Schmid, Spiessl und Klein, 2006).

Eine mögliche Behandlungsmodalität bei Krankheiten aus dem schizophrenen Spektrum bildet die bifokale Gruppenarbeit, wobei eine Angehörigengruppe und parallel dazu eine psychoedukative Patient*innengruppe angeleitet wird (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020).

Bei Essstörungen scheint die Angehörigeninterventionstudie (ANGIS) von Zitarosa und Kolleg*innen (2012) ein vielversprechendes, psychoedukatives Setting für Angehörige von Menschen mit Essstörungen zu bieten. In fünf Sitzungen lernen die Teilnehmenden des ANGIS-Programms kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken kennen, die zum einen Informationen rund um die spezifische Essproblematik bieten und zum anderen auch sogenannte Skills für den Alltag vermitteln. So lernen Angehörige von Menschen mit Essstörungen bestimmte störungsbedingte Situationen besser einzuordnen und wie sie diese konstruktiver überwinden können. Zudem beinhaltet das ANGIS-Programm auch ein Kommunikationstraining, das einen konfliktfreieren Umgang zwischen Angehörigen und den Betroffenen einer Essstörung ermöglichen soll. Zitarosa und Kolleg*innen (2012) berichteten nach Abschluss der ANGIS-Studie, dass das Interventionsprogramm bei den Angehörigen grossen Anklang gefunden hat und Hinweise auf eine Reduktion der Belastungen der Angehörigen zu erkennen waren. Besonders im Bereich der sogenannten «high expressed emotions (HEE)» [Erklärung folgt im nächsten Unterkapitel] zeigten sich gemäss den Autor*innen positive Wirkungen des Programms.

«Wir haben viel über Kommunikation gelernt und verstehen jetzt besser, warum manche Sätze bei unserer Tochter falsch ankommen.»

Angehörige im ANGIS-Programm, Zitarosa et al., 2012, S. 10

Expressed Emotions

Nicht nur für Angehörige von Menschen mit Essstörungen stellen die sogenannten expressed emotions (EE) einen bedeutsamen Faktor für die Angehörigenarbeit dar, sondern auch für Angehörige von Schizophreniepatient*innen (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020) und Betroffene einer Alkoholkonsumstörung (Spohn, 2014).

EE stellen nach Zitarosa und Kolleg*innen (2012) sämtliche emotionale Reaktionen der Angehörigen im Umgang mit den Patient*innen dar. Insbesondere vor erfolgter Angehörigenarbeit sind diese EE häufig stark ausgeprägt, aufgrund eines Wissensmangels über die betreffende Störung und den damit einhergehenden, dysfunktionalen Bewältigungsstrategien für Konfliktsituationen zwischen Angehörigen und Betroffenen. In diesem Fall wird von verschiedenen Autor*innen auch der Begriff der high expressed emotions (HEE) verwendet. HEE werden definiert als «ein übermässig kritisches Verhalten, Feindseligkeit oder auch Überbehütung und überhöhtes emotionales Engagement der Angehörigen dem erkrankten Familienmitglied gegenüber.» (Zitarosa et al., 2012, S. 392).

Die Angehörigenarbeit kann zu einer willkommenen Veränderung in EE, beziehungsweise HEE führen. Bei Schizophrenie-Spektrum-Störungen zeigt die Angehörigenarbeit insbesondere eine Senkung von Kritik und emotionalem Überengagement bei den Angehörigen (Bäuml & Pitschel-Walz, 2020). Im Bereich der Alkoholkonsumstörungen wirkt Angehörigenarbeit als Mittel zur Verminderung rechthaberischer Kommentare (Spohn, 2014). Auch bei Patient*innen, welche die Diagnosekriterien einer Essstörung erfüllen, wird eine Reduktion der kritischen Stimmen der Angehörigen wahrgenommen und eine grundlegend bessere Beziehung festgestellt (Zitarosa et al., 2012).

Zusammenfassend lässt sich aus den oben aufgeführten Arbeiten schliessen, dass Angehörigenarbeit nicht nur theoretisch eine zentrale Rolle in der zwischenmenschlichen Beziehungskommunikation spielt, sondern auch praktisch zu einem erhöhten Wohlbefinden der Angehörigen und Patient*innen beiträgt (Zitarosa et al., 2012). Auch wenn weiter zurückliegende Studien die Umsetzung der Angehörigenarbeit kritisierten (Schmid et al.,2006), erscheint die Angehörigenarbeit in den letzten Jahren bei verschiedenen Autoren in einem positiven Licht, da sie sich im klinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontext immer mehr als Interventionsmethode festigt (Lampert, 2018).

Angehörigenarbeit der PDAG

Fachstelle für Angehörige

Hauptstandort Brugg-Windisch
Areal Königsfelden

Nicole Friedrich
Virginia Ulrich

056 462 24 61
angehoerige@pdag.ch


Zum Weiterlesen

Website des Vereins Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP): https://www.angehoerige.ch/

Scherer, E. & Lampert, T. (2017). Basiswissen: Angehörige in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH.

Albermann, K. (2016). Wenn Kinder aus der Reihe tanzen. Psychische Entwicklungsstörungen von Kindern und Jugendlichen erkennen und behandeln. Ringier Axel Springer Schweiz AG.

Fessel, K.-S. & Kull, H. (2018). Nebeltage, Glitzertage – Kindern bipolare Störungen erklären. BALANCE Buch + Medien Verlag.

Literatur

Bäuml, J. & Pitschel-Walz, G. (2020). Psychoedukation und Angehörigenarbeit bei Schizophrenie. PSYCH up2date 2020, 14(2), 111-127. http://doi.org/10.1055/a-0748-8998

Bundesamt für Gesundheit. (2019). Psychische Störungen und Gesundheit.  https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/psychische-erkrankungen-und-gesundheit.html#-426547683

Troxler, M. (2005, 08. Dezember). Projekt Erwachsenenpsychiatrie, Teilprojekt Psychologische, Soziale und Therapeutische Dienste, Arbeit mit Angehörigen:

 Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) – Konzepte. https://www.angehoerige.ch/informationfachleute/konzepte/

Scherer, E. (2019). Gute Angehörigenarbeit in der Behandlung. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2019-1, 12. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2019_1.pdf

Scherer, E. (2020). In eigener Sache – Angehörigenberatungsstellen. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2020-1, 9–10. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2020_1_web_compressed.pdf

Lampert, T. (2018). Gemeinsam den Herausforderungen begegnen – Angehörige in der Psychiatrie. Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP). http://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/referate/andere_tagungen/Patientenkongress_2018_Bern_Thomas_Lampert.pdf

Schmid, R., Spiessl, H. & Klein, H. E. (2006). «Theorie und Praxis» der Angehörigenarbeit auf allgemein psychiatrischen Stationen. Krankenhauspsychiatrie. 17 (4), 139-142. http://doi.org/10.1055/s-2006-944293

Spohn, A. (2014). Komorbidität in der Angehörigenarbeit. SuchtMagazin, 40(1), 42-44. http://doi.org/10.5169/seals-800088

Weibel, F. (2019). Gute Angehörigenarbeit – Die Sicht einer Angehörigen. ich du wir Ein Magazin für psychiatrisch Tätige, 2019-1, 9–10. https://www.angehoerige.ch/fileadmin/angehoerige/pdf/informationen_fachleute/Fachmagazin/2019_1.pdf

Zitarosa, D., de Zwaan, M., Pfeffer, M. & Graap, H. (2012). Angehörigenarbeit bei essgestörten Patientinnen. PPmP-Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 62(9/10), 390-399. http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1316335

Borderline

Wenn es zwischen leidenschaftlich und destruktiv keine Distanz mehr gibt

Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, bei welcher Betroffene intensive Emotionen und instabile Identitäten aushalten müssen. Aber was ist eine Persönlichkeitsstörung genau? Was bedeutet Borderline für interpersonelle Beziehungen? Und wie kann man die Störung behandeln? Eine Übersicht.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Marie Reinecke und Jovana Vicanovic
Illustriert von Hannah Löw

Kathrin, die Protagonistin des Dokumentarfilms Diagnose Borderline (2019) läuft barfuss durch den Wald. Hier kann sie sich entspannen. Das habe sie früher nicht gekonnt. Ihre Emotionen seien übermächtig gewesen, sie habe sich selber verletzt, sei gemein zu ihrer Mutter gewesen. Schon mit 13 Jahren hat sie gewusst, dass etwas nicht mit ihr stimmen würde. Dann kam die Diagnose: Persönlichkeitsstörung, Borderline. Aber was bedeutet das?

Störung der Persönlichkeit

Nach dem ICD-11 kennzeichnen sich Persönlichkeitsstörungen durch Probleme mit dem eigenen Selbst oder durch Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen (World Health Organisation, 2019). Betroffene Personen können zum Beispiel Mühe mit der eigenen Identität haben oder es nicht schaffen, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Ihre Erlebens- und Verhaltensmuster bestehen für mindestens zwei Jahre und betreffen Kognition, Affekt und Verhalten (World Health Organisation, 2019). Dabei gibt es allgemeine und spezifische Kriterien (Petermann, Maercker, Lutz, & Stangier, 2011). So muss beispielsweise das charakteristische und andauernde innere Muster des Erlebens und Verhaltens eindeutig von der kulturellen Norm abweichen und über unterschiedliche Situationen hinweg unflexibel sein. Ausserdem erfährt die betroffene Person oder ihre Umwelt einen Leidensdruck (Petermann et al., 2011). Nach dem ICD-11 wird als Erstes festgestellt, ob und wie schwer eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (World Health Organisation, 2019). Es wird zwischen leichtem, mittlerem, schwerem und nicht bestimmbarem Schweregrad unterschieden. Erst danach kann eine Diagnose bezüglich der Art der Persönlichkeitsstörung gestellt werden (World Health Organisation, 2019). Die sechs dominierenden Persönlichkeitseigenschaften und -Muster sind negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit und Borderline.

«[Die Gefühle sind] so unaushaltbar, dass man das Gefühl hat, […] der Körper ist zu eng, das ist alles zu klein für diese ganzen bombastischen Emotionen, die da einfach kommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Schneiden, um sich selber zu spüren

Personen, die an Borderline leiden wie Kathrin, erleben oft intensive Angst, Wut, Trauer und ein chronisches Gefühl der inneren Leere (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Sie sind teilweise von einer intensiven Angst verlassen zu werden beherrscht (Petermann et al., 2011). Dies resultiert in einem übertriebenen Bemühen, den*die Partner*in an sich zu binden. Häufig zeigen sie eine Neigung für instabile, konflikthafte und intensive Beziehungen (Petermann et al., 2011). Die betroffene Person idealisiert und entwertet den*die Partner*in (Bolton & Mueser, 2009). Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind demnach instabil, genauso wie ihr Selbstbild und ihre Affekte (Petermann et al., 2011). Die Betroffenen zeigen eine deutliche Impulsivität. Beispielsweise gehen sie unbesonnen mit ihrem Geld um, trinken extrem viel Alkohol oder überessen sich (Bolton & Mueser, 2009). Hinzu kommen Androhungen oder Handlungen der Selbstverletzung wie Verbrennungen oder Schneiden (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Häufig schneiden sich die betroffenen Personen am Unterarm. Leichtes Ritzen wie auch tiefe Schnitte lösen ein kurzes Gefühl der Erleichterung der erlebten inneren Spannung aus oder lassen sie sich wieder selbst spüren (Petermann et al., 2011). Die Anzahl der Suizidversuche und die Einweisungen in Krankenhäuser von Betroffenen der Störung sind hoch (Bolton & Mueser, 2009). Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, werden überzufällig häufig auch mit Depressionen (Galione & Oltmanns, 2013), bipolaren Störungen (Fornaro et al., 2016), posttraumatischer Belastungsstörungen (Frías & Palma, 2015) oder Essstörungen wie Anorexie und Bulimie (Martinussen et al., 2017) diagnostiziert. Auch Kindheitstraumata werden vermehrt bei den Betroffenen festgestellt (MacIntosh, Godbout, & Dubash, 2015).

Häufige Remission, häufiger Rückfall

Etwa 1,5 Prozent der Menschen leiden an einer Borderlinestörung, wobei die Zahl je nach Studie unterschiedlich hoch ausfällt (Fiedler, 2018). In einer internationalen Studie der WHO wurde bei einer psychiatrischen Stichprobe Borderline bei fast 15 Prozent der Patienten diagnostiziert. Somit zeigt die Diagnose Borderline die höchste Prävalenzrate in fast allen Ländern (Fiedler, 2018). Nur in Indien konnte die Persönlichkeitsstörung nicht festgestellt werden. In der Übersichtsarbeit von Fiedler (2018) konnte die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit oder in der Jungend beginnen und sich anschliessend im Erwachsenenalter manifestieren, nicht bestätigt werden. Viele Patienten wurden im Verlaufe ihres Lebens nicht mehr diagnostiziert, vor allem im höheren Lebensalter. Eine Chronifizierung kommt nur in seltenen Fällen vor (Fiedler, 2018). Eine längsschnittliche Studie fand, dass 16 Jahre nach der erstmaligen Vergabe der Diagnose Borderline fast alle Versuchspersonen in Remission waren (Zanarini, Frankenburg, Hennen, Reich, & Silk, 2005). Dennoch hatten nur etwa 40 bis 60 Prozent der Versuchspersonen ein gesundes Funktionsniveau erreicht. Im Vergleich zu Versuchspersonen mit anderen Persönlichkeitsstörungen waren die Patienten*innen mit einer Borderlinestörung häufiger und schneller von einem Rückfall betroffen (Zanarini et al., 2005). In den letzten Jahrzenten haben sich jedoch die spezifischen Therapieprogramme erfolgsversprechend verbessert (Petermann et al., 2011). Es ist also gut möglich, dass sich die hohe Rückfallquote in den letzten 15 Jahren zu Gunsten der Betroffenen verändert hat.

Therapie nach Schema

Psychopharmaka scheinen die Schwere der Persönlichkeitsstörung nicht verringern zu können (Lieb, Zanarini, Schmahl, Linehan, & Bohus, 2004). Jedoch können Psychotherapien Erfolge verzeichnen. Vor allem spezialisierte Therapien können effektiv und allumfassend den Schwergrad und die Selbstverletzungstendenz reduzieren (Oud, Arntz, Hermens, Verhoef, & Kendall, 2018). Zudem scheinen sie von den Patienten besser akzeptiert zu werden: weniger brechen die Therapie ab (Oud et al., 2018). Zu den spezialisierten Therapien gehören unter anderem die dialektische Verhaltenstherapie, die übertragungsfokussierte Psychotherapie oder die Schematherapie (Oud et al., 2018). Gemeinsam haben diese Therapien, dass sie auf Theorien über die Entstehung und Erhaltung von Borderline basieren. Zudem veröffentlichen sie detaillierte Protokolle über die Behandlung und therapeutische Techniken. Ausserdem ist die therapeutische Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in bei allen Therapien bedeutsam (Oud et al., 2018). Im folgenden Abschnitt wird die Schematherapie stellvertretend für alle spezialisierten Therapieformen genauer erläutert.

«Ich fand das so amüsant, wenn die Leute schockiert waren, wenn ich irgendwie mit einem blutendem Arm da sass oder so. Ich fand das irgendwie amüsant. Bis ich dann festgestellt habe, dass ich es gar nicht mehr kontrollieren kann und dann habe ich Angst bekommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Die Schematherapie beinhaltet vier sogenannte heilende Mechanismen (Kellogg & Young, 2006). Bei der begrenzten Nachbeelterung versuchen die Therapeuten die Defizite der Elternerziehung durch ein warmes und empathisches Auftreten zu kompensieren. Die emotionsfokussierte Arbeit als zweiter Mechanismus verwendet vor allem Vorstellungen, Dialoge und das Briefschreiben (Kellogg & Young, 2006). Bei der kognitiven Restrukturierung und Bildung wird thematisiert, was normale Bedürfnisse und Emotionen sind. Beim vierten und letzten Mechanismus, in welchem es um das Brechen von Verhaltensmustern geht, kommt es zu einer Generalisierung des Erlernten in der Therapie auf Beziehungen ausserhalb (Kellogg & Young, 2006). Diese Strategien sollten der Person helfen, eine emotionale Stabilität zu erhalten, zielorientiert zu handeln, beidseitig positive Beziehungen zu führen und sich generell gut zu fühlen.

Kathrin hat eine Therapie erfolgreich bewältigt. Heute ist sie selber Psychotherapeutin und kann auch durch ihre eigenen Erfahrungen anderen helfen. Sie ist zwar noch leidenschaftlich, aber nicht mehr destruktiv.

Weniger Borderline bei Männern? Einige Studien fanden ein Geschlechterverhältnis von 1:3 oder 1:4 bei mit Borderline diagnostizierten Personen, während andere keine signifikanten Unterschiede fanden (Bayes & Parker, 2017). Auffallend ist, dass vor allem Untersuchungen mit klinischen Versuchspersonen ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fanden. Da vermutet wird, dass Männer weniger häufig klinische Hilfe aufsuchen, sind sie in diesen Studien oft unterrepräsentiert, was zum vermeintlichen Fehlschluss führte, dass Männer weniger von Borderline betroffen sind (Bayes & Parker, 2017). Ein weiterer Grund ist, dass es bei Männern vermehrt zu einer Fehldiagnose kommt, wie beispielsweise der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Männer zeigen oft andere Ausprägungen der Störung (Bayes & Parker, 2017). So ist ihr Verhalten mehr externalisierend, sie fügen sich gewalttätigere Selbstverletzungen zu und zeigen dissoziale Verhaltensmuster und Substanzmissbrauch.


Zum Weiterlesen

Fiedler, P. (2018). Epidemiologie und Verlauf von Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66(2), 85–94. doi: 10.1024/1661-4747/a000344

World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Literatur

Fornaro, M., Orsolini, L., Marini, S., Berardis, D. de, Perna, G., Valchera, A., . . . Stubbs, B. (2016). The prevalence and predictors of bipolar and borderline personality disorders comorbidity: Systematic review and meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 195, 105–118. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.01.040

Frías, Á., & Palma, C. (2015). Comorbidity between post-traumatic stress disorder and borderline personality disorder: A review. Psychopathology, 48(1), 1–10. https://doi.org/10.1159/000363145

Galione, J. N., & Oltmanns, T. F. (2013). The relationship between borderline personality disorder and major depression in later life: Acute versus temperamental symptoms. The American Journal of Geriatric Psychiatry : Official Journal of the American Association for Geriatric Psychiatry, 21(8), 747–756. https://doi.org/10.1016/j.jagp.2013.01.026

Kellogg, S. H., & Young, J. E. (2006). Schema therapy for borderline personality disorder. Journal of Clinical Psychology, 62(4), 445–458. https://doi.org/10.1002/jclp.20240

Lieb, K., Zanarini, M. C., Schmahl, C., Linehan, M. M., & Bohus, M. (2004). Borderline personality disorder. Lancet. (364), 453–461.

MacIntosh, H. B., Godbout, N., & Dubash, N. (2015). Borderline personality disorder: Disorder of trauma or personality, a review of the empirical literature. Canadian Psychology/Psychologie canadienne, 56(2), 227–241. https://doi.org/10.1037/cap0000028

Martinussen, M., Friborg, O., Schmierer, P., Kaiser, S., Øvergård, K. T., Neunhoeffer, A.-L., . . . Rosenvinge, J. H. (2017). The comorbidity of personality disorders in eating disorders: A meta-analysis. Eating and Weight Disorders : EWD, 22(2), 201–209. https://doi.org/10.1007/s40519-016-0345-x

Oud, M., Arntz, A., Hermens, M. L., Verhoef, R., & Kendall, T. (2018). Specialized psychotherapies for adults with borderline personality disorder: A systematic review and meta-analysis. The Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 52(10), 949–961. https://doi.org/10.1177/0004867418791257

Petermann, F., Maercker, A., Lutz, W., & Stangier, U. (2011). Klinische Psychologie: Grundlagen. Göttingen: Hogrefe Verlag.

WDR Fernsehen (Producer). (2019). Diagnose Borderline. Das Leben neu gestalten: WDR Fernsehen. Retrieved from https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdmOTJlNjc1LWI0MjQtNDlhZi04ZDFlLTUzMDU2M2U2YTRjOA/

World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Zanarini, M. C., Frankenburg, F. R., Hennen, J., Reich, D. B., & Silk, K. R. (2005). Psychosocial Functioning of Borderline Patients and Axis II Comparison Subjects Followed Prospectively for Six Years. Journal of Personality Disorders, 19(1), 19–29.