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Mit ‘Sozial’ getaggte Beiträge

Konflikte

Win-Win oder gemeinsam in den Abgrund?

Konflikte begegnen uns alltäglich: In den Nachrichten, auf der Arbeit sowie im Privaten erleben wir Unvereinbarkeiten, und welch unangenehmen Folgen sie haben können. Doch was genau sind Konflikte und wie lassen sie sich differenzieren? Was führt zur Eskalation eines ursprünglich einfach definierbaren Streitpunktes?

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Jovana Vicanovic
Illustriert von Kerry Willimann

Was ist ein sozialer Konflikt?

In Glasls (2011) Buch zu Konfliktmanagement sind der Frage, was ein sozialer Konflikt ist, gleich viele Seiten gewidmet, wie der Frage, was kein sozialer Konflikt ist. Definitionen sind vorsichtig zu formulieren, da zwischen Unvereinbarkeiten in einzelnen Subaspekten von Konflikten und wahrhaften Konflikten unterschieden werden muss (Glasl, 2011). Glasl definiert einen sozialen Konflikt als «eine Interaktion

  • zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen, usw.)
  • wobei wenigstens ein Aktor
  • eine Differenz bzw. Unvereinbarkeit

im Wahrnehmen

und im Denken bzw. Vorstellen

und im Fühlen

und im Wollen

  • mit dem anderen Aktor in der Art erlebt,
  • dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will eine Beeinträchtigung
  • durch einen anderen Aktor erfolge» (Glasl, 2011, S.17)

Zusammengefasst spricht man von einem sozialen Konflikt, wenn mindestens eine Partei, welche in Interaktion mit der Konfliktpartei steht, eine Differenz oder Unvereinbarkeit in der Wahrnehmung, im Denken, im Fühlen und im Wollen (alle müssen erfüllt sein) hinsichtlich eines Ziels verspürt. Betont sei dabei, dass es um das Erleben geht – es ist also irrelevant, ob tatsächlich Differenzen vorherrschen. Die Verhinderung der Zielerreichung wird dabei der Konfliktpartei zugeschrieben. Es fällt auf, dass es sich bei den Kriterien um innere Prozesse handelt. Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Wollen sind nicht mit dem Verhalten gleichzusetzen. Daher muss es auch Teil der Definition sein, dass lediglich das Erleben einer Partei zur Konflikterklärung reicht, da dies nicht unbedingt mit einem konfliktstereotypischen Handeln einhergeht (Glasl, 2011).

Was ist kein sozialer Konflikt?

Unvereinbarkeiten können im Wahrnehmen, im Denken, im Fühlen, im Wollen und Handeln auftreten, ohne dass es sich dabei direkt um einen Konflikt handelt. Zum Beispiel wäre eine erlebte Unvereinbarkeit im Wahrnehmen und Denken ein Missverständnis – dabei muss keine Differenz im Fühlen und Wollen vorliegen. Wird die eigene Wahrnehmung und das eigene Denken der anderen Partei kommuniziert, kann das Missverständnis aufgedeckt werden. Ein weiteres Beispiel wäre ein logischer Widerspruch. Die Differenz liegt nur im Denken der beiden Parteien. Einzelne Unvereinbarkeiten, wie Spannungen oder Meinungsdifferenzen können sich allerdings zu wahrhaften Konflikten entwickeln, wenn sie nicht frühzeitig erkannt und Gegenmassnahmen ergriffen werden (Glasl, 2011).

Der Mensch im Konflikt – Gefangene unseres Innenlebens

Wer schon mal einen Konflikt austrug, hat womöglich im Nachhinein über sich selbst und das eigene Verhalten gestaunt. Konflikte können sehr belastend sein und verändern Wahrnehmungsfähigkeit, Denk- und Vorstellungsvermögen, wie auch die Gefühlswelt Betroffener. Diese Veränderungen äussern sich beispielsweise in einer geschmälerten, verzerrten und einseitigen Sicht der Dinge, ohne dass man sich dessen bewusst wäre. Konflikte sind von Gegensätzen geprägt – so verspüren auch Individuen eine Zerrissenheit zwischen Verständnis und Unverständnis sowie Sympathie und Antipathie (Glasl, 2011).

Konflikte können so stark sein, dass sie in Extremfällen zu Hass, Gewalt oder auch Krieg führen können. Die Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle und der Wille beeinflussen dabei das Verhalten, welches sich in Worten, Taten und nonverbalen Botschaften äussert. In Konflikten wird das Verhalten des Gegenübers nach seinen subjektiven und objektiven Effekten beurteilt, wobei diese Beurteilung wiederum verzerrt sein kann. So kann sich je nach Gegenreaktion eine Eskalation (griechisch σκάλα (skala), «Leiter»; französisch escalier, «Treppe») des Konfliktes ergeben, wodurch es schwieriger wird, zu einer für beide Seiten passenden Lösung zu gelangen.

«Gemeinsam in den Abgrund. Vernichtung zum Preis der Selbstvernichtung, Lust am Selbstmord, wenn auch der Feind zugrunde geht!»

Glasl, 2011, S. 237

Doch warum eskalieren Konflikte bei gleichbleibender Problematik? Glasl (2011) führt dafür fünf Gründe an. Konfliktparteien neigen dazu, die Gegenseite als Ursache aller Probleme und Frustrationen zu sehen. Gleichzeitig tritt durch unbeherrschte Aktionen auch Selbstfrustration ein. Des Weiteren bleibt die Problematik nicht die Gleiche, da immer mehr Punkte in den Konflikt miteinbezogen werden und die bereits vorhandenen Punkte komplexer und umfangreicher werden. Die Steigerung der Komplexität geht mit einer Simplifizierung der Sachlage und Ursachenanalyse einher. Zudem entfernen sich die Konfliktparteien zunehmend voneinander – es wird weniger von Angesicht zu Angesicht kommuniziert. Zu guter Letzt befeuern Konfliktparteien eine Eskalation durch falsches Handeln. Durch Erhöhung der Androhungen und der Ressourcen will man die Gegenseite zum Nachgeben bewegen und erreicht das Gegenteil. Die Abschreckung wirkt provozierend und beschleunigt die Eskalation in der Gegenreaktion.

Konfliktrahmen

Konflikte unterscheiden sich in ihrem Rahmen, je nachdem wie viele Leute daran beteiligt sind, also beispielsweise, ob Gruppen und Organisationen als Konfliktpartei fungieren oder ob es sich um Einzelpersonen handelt. Konflikte zwischen Einzelpersonen oder innerhalb von kleinen Gruppen spielen sich in einem mikro-sozialen Rahmen ab. Man kennt sein Gegenüber, es kann zu Face-to-Face Interaktionen kommen und die Beziehungen sind direkt (Glasl, 2011). Man stelle sich beispielsweise eine Geschäftsdirektion vor, bestehend aus fünf Menschen, die sich über die strategische Ausrichtung für das kommende Geschäftsjahr nicht einig wird. Auch persönliche Konflikte innerhalb eines Arbeitsteams bewegen sich in diesem Rahmen.

Konflikte im meso-sozialen Rahmen spielen sich zwischen Gruppen ab. Zumeist ist kein direkter Austausch mehr möglich – die Gruppen wählen Sprecher*innen, welche die Kommunikation übernehmen (Glasl, 2011). Im Vergleich zu im mikro-sozialen stattfindenden Konflikten sind Konflikte im meso-sozialen Rahmen komplexer, da die sich gegenüberstehenden Gruppen aus mikro-sozialen Einheiten bestehen. Das schafft weiteres Konfliktpotenzial durch Profilierungsversuche, aufwendiger gruppeninterner Kommunikation und weiterer eingebrachter Interessen, welche sich nicht auf den ursprünglichen Konflikt beziehen. Als Beispiel führt Glasl (2011) sich entgegenstehende Gruppen innerhalb von Institutionen und Organisationen an.

Die höchste Komplexität weisen Konflikte im makro-sozialen Rahmen auf. Sie spielen sich innerhalb von Bevölkerungsgruppen oder Gruppen mit gesamtgesellschaftlichen Status ab (Glasl, 2011). Die Kommunikation wird dabei zusätzlich über Medien vollführt, mehrere Stakeholder sind involviert und oft müssen zentrale Figuren für mehrere Interessensgruppen agieren (zum Beispiel Partei und Wirtschaftsverband). Mit steigender Komplexität werden auch Interventionen zur Auflösung des Konfliktes schwieriger.

Konflikttypen

Konflikte können aufgrund verschiedener Uneinigkeiten entstehen. Folgend werden vier Konflikttypen, welche in Organisationen auftreten können, nach Rüttinger und Sauer (2016) vorgestellt.

  • Beziehungskonflikte entstehen, wenn sich eine Person durch das Verhalten ihrer Interaktionspartner abgewertet oder abgelehnt fühlt. Zentral ist dabei die Kränkung des Selbstwertes. Dies kann sich beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz, Exklusion von Projekten oder durch Nicht-Wertschätzung der Arbeit äussern.
  • Beurteilungskonflikte beschreiben eine Uneinigkeit über das «Wie». Wenn zwei Parteien zwar dasselbe Ziel verfolgen, sich aber nicht einig werden, welches die beste Massnahme zur Erreichung dieses Zieles ist, liegt ein Beurteilungskonflikt vor. Zum Beispiel kann ein Unternehmen das Ziel verfolgen, rentabler zu werden. Dies kann entweder durch einen Sparkurs oder einen Investitionsschub erreicht werden.
  • Bewertungskonflikte liegen vor, wenn zwei Parteien unvereinbare Handlungspläne verfolgen wollen, weil sie das Ergebnis ihrer Handlungspläne unterschiedlich bewerten. So können sich zwei Parteien zum Beispiel einig sein, dass die Umstellung von kostenfreiem auf kostenpflichtigen Kaffee Kosten senken, aber auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden schmälern würde. Der Konflikt besteht darin, dass eine Partei mehr Wert auf Kostenersparnisse legt, während die andere Partei die Zufriedenheit der Belegschaft priorisiert.
  • Verteilungskonflikte sind geprägt von Aufteilungs- und Verteilungsproblemen. Wenn zwei Parteien den Wert eines Ereignisses gleich hoch einschätzen, es aber nicht von beiden realisiert werden kann (meistens handelt es sich um unteilbare Ressourcen) entsteht ein Verteilungskonflikt. Als Beispiel wird in der Literatur eine freie Stelle mit mehreren internen Bewerber*innen angeführt. Alle Bewerbenden wollen die Stelle, nur eine*r kann sie bekommen. Ein weiteres Beispiel wäre das OK für eine Neueinstellung, welche aber von zwei Abteilungen benötigt wird.

Alternativ unterteilen Jehn und Beversky (2003) Konflikte in Aufgaben-, Prozess- und Beziehungskonflikte, wobei sie bei Beziehungskonflikten auch jene dazuzählen, die aufgrund von

  • Persönlichkeitsinkompabilität
  • Unterschieden in politischen oder religiösen Ansichten
  • Verschiedenen Ansichten bezüglich alltäglicher Dinge, wie Mode

auftreten. Hierbei können sowohl Beziehungskonflikte als auch Aufgabenkonflikte stark emotional oder auch rational geführt werden. Aufgabenkonflikte beziehen sich rein auf Aufgaben, zum Beispiel die unterschiedliche Interpretation wissenschaftlicher Daten oder die Auswahl einer Strategie. Bei Prozesskonflikten ist das Ziel der Parteien zwar dasselbe, aber darüber, wie es erreicht werden soll, besteht Uneinigkeit.

Bei Konfliktinterventionen wird zwischen vier prinzipiellen Richtungen unterschieden. Eine Konfliktintervention kann de-eskalierend oder eskalierend gestaltet werden und wird entweder präventiv oder kurativ vorgenommen. Bei einem präventiven Vorgehen können de-eskalierend Kommunikationsmethoden trainiert werden während eskalierend Sorgen, Ängste und Unterstellungen in Anwesenheit einer moderierenden Person angesprochen werden, um eine Eskalationsstufe, in der nicht mehr kommuniziert wird zu verhindern. Kurativ kann im Sinne der De-Eskalation der Konfliktverlauf rekonstruiert werden und Sichtweisen aufgedeckt werden. Bei einer Kombination von kurativem und eskalierendem Ansatz werden bestehende Konflikte beispielsweise durch Rollenspiele überspitzt und dramatisiert (Glasl, 2011).

Am Ende des Konflikts

Je nach dem in welcher Phase ein Konflikt gelöst wird, spricht man von einer Win-Win, Win-Lose oder Lose-Lose Situation. Die ersten drei Phasen, in denen ein Konfliktende einer Win-Win Situation gleichkäme, nennen sich «Verhärtung», «Debatte/Polemik» und «Taten statt Worte» (Glasl, 2011, S. 237). Die Namen sind selbsterklärend, zu Anfang eines Konfliktes verhärten sich Standpunkte, in einer zweiten Phase werden die Gespräche hitziger und in der dritten Phase wird nicht mehr miteinander geredet, sondern gehandelt. Löst sich ein Konflikt in einer dieser drei Phasen, ist noch für keine Partei ein solch grosser Schaden entstanden, dass man von einem Loss reden würde. Vielmehr überwiegt der Gewinn durch die Lösung des Konfliktes auf beiden Seiten.

«Wenn Sympathie und Antipathie nicht gleichzeitig in uns Platz haben, dann muss das eine Gefühl dem anderen weichen.»

Glasl, 2011, S. 43

In Phase vier bis sechs, spricht man von einer Win-Lose Situation. Das heisst eine Partei gewinnt, die andere verliert. Glasl (2011, S. 237) nennt diese Phasen «Images und Koalitionen», «Gesichtsverlust» und «Drohstrategien und Erpressung». Gesichtsmerkmale dieser Phasen lassen sich dadurch erklären, dass es den Parteien einerseits um den eigenen Sieg, andererseits um die Niederlage der gegnerischen Konfliktpartei geht. Die Benennung der Phasen lässt sich durch das Werben für die eigene Partei (Image), eine grundlegende Revidierung des Identitätsbildes des Feindes und Gewalthandlungen, mit denen man den Gegner zum Aufgeben bewegen will, erklären.

Die drei letzten Stufen fallen unter den Begriff Lose-Lose: Die Stufen tragen kriegerische Namen, wie «begrenzte Vernichtungsschläge» oder «Paralysieren und Desintegrieren des gegnerischen Systems». Die letzte Stufe benennt Glasl (2011, S. 237) als «Gemeinsam in den Abgrund». Die Zerstörung des Gegners ist dabei so zentral, dass eine Selbstvernichtung zu diesem Zweck in Kauf genommen werden würde. Man bemerke, dass es in diesen Phasen nicht mehr um einen Konfliktpunkt an sich geht, sondern nur um die Zerstörung und Schwächung eines Gegners. Zur Lösung von Konflikten ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass ein Aufgabenkonflikt kein Personenkonflikt ist und es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass mit dem Verlust der Kompromissbereitschaft auch die Möglichkeit für eine Win-Win Situation verloren geht.


Zum Weiterlesen

Glasl, F. (2011). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater (10. Aufl.). Freies Geistesleben.

Literatur

Jehn, K. A. & Bendersky, C. (2003). Intragroup conflict in organizations: A contingency perspective on the conflict-outcome relationship. Research in Organizational Behavior, 25, 187–242. doi: 10.1016/s0191-3085(03)25005-x

Rüttinger, B. & Sauer, J. (2016). Konflikt und Konflikt lösen. Kritische Situationen erkennen und bewältigen (3. Aufl.). Springer Gabler. doi: 10.1007/978-3-658-07812-6

ADHS im sozialen Kontext

Wenn Beziehungen weder halten, noch Halt bieten können

Viele ADHS-Patienten haben Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Impulsivität, emotionale Dysregulation und Unaufmerksamkeit tragen dazu bei, dass sie sich selbst als Außenseiter wahrnehmen – und auch als solche behandelt werden.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Viktoria Zöllner und Madeleine Lanz
Illustriert von Selina Landolt

Soziale Beziehungen geben uns Halt. Sie ermöglichen uns, Erfahrungen zu machen, aus denen wir lernen können, geben uns Sicherheit, wenn etwas schief geht und bieten emotionale Unterstützung, wenn wir uns schlecht fühlen. House, Landis und Umberson (1988) vermuten sogar, dass soziale Isolation einen bedeutenden Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit und Mortalität hat. Doch nicht allen fällt das Aufbauen solcher Beziehungen gleichermassen leicht. Isolation und das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören sind äusserst belastend und führen letztendlich häufig zur Resignation: Man findet ja sowieso keinen Anschluss, warum sollte man es überhaupt noch versuchen?

ADHS-Patienten stellen diesbezüglich eine Risikogruppe dar. Weshalb das so ist, hat vielerlei Gründe, doch es scheint, als ob gerade die Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von sozialen Fertigkeiten haben (Friedman et al., 2003). Selbst wenn es gelingt Freundschaften aufzubauen, so scheitern doch viele an deren Aufrechterhaltung.

Soziale Kompetenzdefizite bei ADHS

ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Die Auswirkungen der drei Leitsymptome von ADHS, Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, beschränken sich keineswegs auf die Konzentrationsfähigkeiten von Schulkindern. Tatsächlich ist die schulische Leistungseinbusse lediglich die Spitze des Eisberges. Organisationsschwierigkeiten, emotionale Dysregulation und impulsive Handlungen stellen auch in sozialen Situationen grosse Hürden dar (Barkley, 1997). Impulsivität und Hyperaktivität führen dazu, dass man vom Gegenüber als unhöflich, nervig oder anstössig angesehen wird. Unaufmerksamkeit in Gesprächen oder das Vergessen von Verabredungen vermittelt dagegen den Eindruck, die andere Person sei einem nicht wichtig genug oder man versuche gar nicht, sich für die Beziehung einzusetzen. Folglich sind Reaktionen aus dem sozialen Umfeld bereits im Kindesalter häufig negativ. Friedman und Kollegen (2003) fanden auch im emotionalen Kompetenzbereich bedeutende Unterschiede zwischen ADHS-Patienten und einer Kontrollgruppe. ADHS-Patienten bewerten dargestellte Emotionen generell als intensiver, wobei Verachtung und Ekel als besonders intensiv herausstechen. Dennoch scheinen ADHS-Patienten wichtige soziale Hinweise zu verpassen. Dies zeigt sich in der Überraschung bei negativen Reaktionen, welche für sie scheinbar aus dem Nichts kommen.

«Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you’re broken.»

Jessica McCabe, 2017

Gemeinsam führen alle diese Faktoren dazu, dass viele ADHS-Patienten sich nie wirklich zugehörig, verstanden oder gemocht fühlen. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sie unbeliebt sind, was wiederum zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor Ablehnung führt (King & Young, 1982). Dieses Gefühl, nicht wirklich hineinzupassen, zieht sich oft bis ins Erwachsenenalter und wird dadurch, dass negative Reaktionen aufgrund vorheriger Erfahrungen erwartet werden, noch weiter verstärkt (Scharf, Oshiri, Eshkol, & Pilowsky, 2014).

Beziehungen aufbauen

Beziehungen aufzubauen kann schwierig sein; schwierig genug, dass viele ADHS-Patienten daran scheitern. Freundschaften zu knüpfen fällt gewissen Leuten leichter als anderen – Faktoren wie Offenheit oder Extraversion spielen dabei eine bedeutende Rolle. Für ADHS-Patienten ist diese Palette an relevanten Faktoren um einiges breiter als für neurotypische Personen. Impulsives Verhalten bedeutet nicht nur, dass man jetzt sofort eine Idee verwirklichen muss, sondern auch, dass man den Gedanken, den man gerade hatte, einfach ausspricht – um dann zu merken, dass er unangebracht oder verletzend ist (Friedman et al., 2003). Dazu kommt, dass Hyperaktivität und plötzliche Stimmungsschwankungen das Umfeld häufig überfordern. Gerade beim Aufbau neuer Bekanntschaften kann das fatal sein; warum sollte man seine Zeit darauf verwenden jemanden zu verstehen, der einen überfordert, wenn man ihn noch gar nicht wirklich kennt? An dieser Haltung ändert sich auch im Erwachsenenalter nur selten etwas.

Definition von ADHS

Die drei Leitsymptome von ADHS sind Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit. Es zeigt sich eine Tendenz häufig von einer Tätigkeit zur nächsten zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen. Mangelnde Impulskontrolle resultiert in einer Neigung zu Unfällen und Regelverletzungen, die eher in Unachtsamkeit als in Vorsätzlichkeit gründen. ADHS-Kinder sind unbeliebt und können isoliert sein, was zu dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl beitragen kann.

Aber was ist mit den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Patienten? Die TagträumerInnen begegnen dem gleichen Problem, auf andere Weise: Sie ecken an. Nicht, weil sie laut oder rüde wären, sondern weil sie abgelenkt sind – inmitten von Unterhaltungen, Unterrichtsstunden oder wenn sie zu einer Verabredung aufbrechen müssten. Verspätungen sind an der Tagesordnung und das erweckt schnell den Eindruck, dass sie sich keine Mühe geben, eine Bekanntschaft besser kennenzulernen. Sogar gewisse Coping-Mechanismen, wie beispielsweise Fidget Toys, die ihnen helfen könnten sich besser zu konzentrieren, werden häufig als unhöflich betrachtet und missbilligt. Die negative Rückmeldung von aussen wird aber keineswegs ignoriert. Im Gegenteil, Ablehnung wird von ADHS-Patienten äusserst heftig empfunden und Defizite in der Emotionsregulation erschweren die Kontrolle dieser Gefühle (Scharf et al., 2014). Auch daran ändert sich mit dem Alter nur selten etwas.

«Anticipating rejection is a self-fulfilling prophecy as exhibited in maladjusted social behavior. […] ADHD symptoms were associated with higher levels of rejection sensitivity, as well as lower levels of social adjustment.»

Scharf et al., 2014

Stattdessen fühlen sich viele ADHS-Patienten zunehmend missverstanden. Negative Reaktionen des Gegenübers scheinen ohne Vorwarnung über sie hereinzubrechen, weil sie offenbar etwas, das für alle anderen sonnenklar ist, nicht verstehen. Diese frühen Erfahrungen mit Ablehnung prägen viele ADHS-Patienten gewaltig. Während die einen mit Wut reagieren, werden andere ängstlich. In beiden Fällen entsteht eine selbsterfüllende Prophezeiung: In der Erwartung abgelehnt zu werden, verhalten sie sich aggressiver oder ziehen sich noch mehr zurück, was wiederum vermehrt zu tatsächlicher Ablehnung führt und ihre Erwartung bestätigt und festigt (Scharf et al., 2014). Je weiter sich die Betroffenen zurückziehen, umso weniger Erfahrung können sie zudem im Umgang mit ihren Mitmenschen sammeln, wodurch sich die Diskrepanz zwischen ihnen und ihrer Altersgruppe weiter verstärkt. Positive Beziehungen zu Gleichaltrigen beeinflussen nicht nur die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, auch akademischer Erfolg und Anpassungsfähigkeit in schulischen Settings profitieren von guten Freundschaften (Ladd, Kochenderfer, & Coleman, 1996). Doch gerade in Bezug auf akademische Situationen gibt es noch einen weiteren Faktor, der das Knüpfen sozialer Beziehungen massiv erschwert: Stigmatisierung. Canu, Newman, Morrow und Pope (2008) entdeckten, dass bereits das Label ADHS ausreicht, damit Studierende die angeblichen ADHS-Patienten im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS negativer bewerteten – obwohl die Zielperson keinerlei ADHS-Symptome zeigte.

Resignation und Akzeptanz gegenüber der subjektiv wahrgenommenen Tatsache, dass sie nie Freunde finden, können das Resultat sein. Glücklicherweise gilt dieses ausweglose Muster nicht für alle ADHS-Patienten.

Beziehungen aufrechterhalten

Tatsächlich sind nur wenige ADHS-Patienten wirklich völlig freundeslos, obwohl die zuvor beschriebenen Mechanismen fast alle Betroffenen beträchtlich beeinträchtigen (Marton, Wiener, Rogers, & Moore, 2015). Dennoch gelingt es vielen, allen Widrigkeiten zum Trotz, dyadische Freundschaften aufzubauen (Normand et al., 2013). Unglücklicherweise ist aber das Vorhandensein von sozialen Beziehungen allein nicht genug. Dieser Halt, den Beziehungen mit sich bringen, hängt beträchtlich von deren Qualität und insbesondere deren Stabilität ab. Obwohl ADHS-Patienten schon im Kindesalter nur selten freundeslos sind, so zeigen sich doch Unterschiede in den Freundschaften von ADHS-Kindern, gegenüber neurotypischen Vergleichsgruppen. Beispielsweise verabreden sich ADHS-Kinder häufiger in der Schule oder auf dem Spielplatz, als bei sich oder ihrem Freund Zuhause (Heiman, 2005). Besonders auffällig ist die durchschnittliche Dauer von Freundschaften, welche für ADHS-Kinder kürzer ist (Marton et al., 2015). Dabei sind die gleichen Faktoren entscheidend, wie beim Knüpfen neuer Kontakte: Defizite bei der Impulskontrolle, Unaufmerksamkeit, das Übersehen von subtilen negativen Rückmeldungen und emotionale Dysregulation senken die Beziehungsqualität über die Zeit (Normand et al., 2013). Zusätzlich scheinen ADHS-Kinder generell weniger Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich weniger in Gesprächen zu engagieren (Newcomb & Bagwell, 1995). Doch gilt all das auch für erwachsene ADHS-Patienten?

Im Jugendalter zeigt sich häufig ein leichter Rückgang der Hyperaktivitätssymptomatik (Harpin, 2005), die Problematiken von Unaufmerksamkeit und Impulsivität verändern sich dagegen kaum. Dennoch gelingt es vielen ADHS-Patienten ab der Pubertät besser, sich bei ihren Mitschülern beliebt zu machen – vorausgesetzt, dass sie bis dahin noch nicht resigniert haben. Nicht wenige werden sogar zu ausserordentlich populären Schülern, Studierenden, Lehrlingen und später Mitarbeitenden. Doch Peer-Akzeptanz ist nicht mit Freundschaft gleichzusetzen. Während Freundschaft eine enge Beziehung zwischen zwei Personen darstellt, welche auf Gegenseitigkeit beruht, ist PeerAkzeptanz nichts weiter, als von der Mehrheit der Gleichaltrigen gemocht und nur von wenigen abgelehnt zu werden (Mikami, 2010). Dennoch sind die beiden Konstrukte miteinander verknüpft. Akzeptanz von Gleichaltrigen hilft niedriges Selbstwertgefühl wieder zu heben, wodurch die Chance positive Beziehungen aufzubauen steigt (Mikami, 2010). Nichtsdestotrotz gibt es durchaus Menschen, die äusserst beliebt sind, aber keine echten Freunde zu haben scheinen. Besonders extravertierte ADHS-Patienten laufen Gefahr in dieses Muster zu verfallen. Neue Bekanntschaften sind interessant und es wird schnell die gesamte Freizeit in diese eine Person oder Gruppe investiert. Solche Freundschaften entwickeln sich rasant und sie reichen oft tiefer als zu erwarten wäre; Vertrauen ist schnell geschenkt und schon nach wenigen Wochen scheinen sie alles übereinander zu wissen. Doch die wenigsten dieser Beziehungen überdauern länger als drei Jahre (Marton et al., 2015).

Woran scheitern solche Freundschaften?

Der häufigste Grund ist so simpel wie tragisch: Über die Zeit verliert man den Kontakt. Natürlich spielen auch im Erwachsenenalter die ADHS-Symptome noch eine grosse Rolle, doch die meisten Beziehungen scheitern nur indirekt am ADHS selbst. Sei es ein voller Terminplan, eine neue Beziehung oder schlicht neue Bekanntschaften, die Zeit beanspruchen: Irgendwann muss in jede Freundschaft aktive Arbeit investiert werden, um sie aufrechtzuerhalten. Obwohl viele ADHS-Patienten als Erwachsene akzeptiert werden, sitzt vergangene Ablehnung tief, wodurch das Bedürfnis nach Bestätigung wächst. Die erhöhte Sensitivität gegenüber Ablehnung (Scharf et al., 2014) lässt Betroffene zögern, wenn sie sich bei ihren Freunden melden wollen, mit dem Gedanken, dass eine Initiative des Gegenübers bestätigen würde, dass sie wirklich gemocht werden. Dadurch wird der Kontakt immer seltener, bis man sich letztendlich aus den Augen verliert.

Stigmatisierung von ADHS gründet in den vielen Mythen, die es über die Störung gibt. Obwohl viele ADHS-Patienten versuchen, ihr Umfeld über ihre Kondition aufzuklären, stossen sie oft auf taube Ohren. Mittlerweile gibt es aber verschiedene Blogs, Websites (z.B. add.org) und YouTube Channels (z.B. How to ADHD), die versuchen die Forschung zu ADHS für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Davon profitieren nicht nur Eltern, Partner|innen und Freunde von ADHS-Patienten, sondern auch die Betroffenen selbst.

Der zweithäufigste Grund dagegen scheint dem stereotypischen Bild von ADHS zu entsprechen: mangelnde Impulskontrolle (Normand et al., 2013). Emotionale Dysregulation wirkt sich nicht nur auf negative Emotionen aus. Übermässige Begeisterung oder gute Laune können ebenso gut wie Wut zu unachtsamen oder beleidigenden Kommentaren führen, die Konflikte verursachen, welche nicht immer gelöst werden können. Meist fühlen sich ADHS-Patienten schuldig, sobald sie merken, dass sie ihr Gegenüber verletzt haben. Aus diesen Schuldgefühlen, die sie ebenso schlecht regulieren können wie andere Emotionen, entstehen häufig Überreaktionen, die von den Betroffenen selbst als unnötig aber unkontrollierbar empfunden werden. Dadurch können eigentlich harmlose Auseinandersetzungen verhängnisvolle Ausmasse annehmen und gute Freundschaften zerstören.

Über die Jahre wird dieses Aufbauen und Verlieren von Freundschaften für viele Betroffene zur Normalität. Anstatt sich ablehnen zu lassen, lassen sie sich vom nächsten Projekt ablenken und sagen sich, dass sie nie wirklich irgendwo dazugehören werden. Und doch finden sie neue Freunde, gehen Beziehungen ein und suchen nach diesem Zugehörigkeitsgefühl, diesem Halt, den sie sich selbst absprechen.


Zum Weiterlesen

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17 (1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship Characteristics of Children With ADHD. Journal of Attention Disorders, 19 (10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971

McCabe, J. (2017). Failing at Normal: An ADHD Success Story | Jessica McCabe | TEDxBratislava [Video file]. Zugriff unter https://www.youtube.com/watch?v=JiwZQNYlGQI

Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84 (2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391

Literatur

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Canu, W. H., Newman, M. L., Morrow, T. L., & Pope, D. L. W. (2007). Social appraisal of adult ADHD. Journal of Attention Disorders, 11(6), 700–710. doi: 10.1177/1087054707305090

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17(1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

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Heiman, T. (2005). An examination of peer relationships of children with and without attention deficit hyperactivity disorder. School Psychology International, 26(3), 330–339. doi: 10.1177/0143034305055977

House, J., Landis, K., & Umberson, D. (1988). Social relationships and health. Science, 241(4865), 540–545. doi: 10.1126/science.3399889

King, C., & Young, R. D. (1982). Attentional deficits with and without hyperactivity: Teacher and peer perceptions. Journal of Abnormal Child Psychology, 10(4), 483–495. doi: 10.1007/BF00920749

Kofler, M. J., Harmon, S. L., Aduen, P. A., Day, T. N., Austin, K. E., Spiegel, J. A., … Sarver, D. E. (2018). Neurocognitive and behavioral predictors of social problems in ADHD: A Bayesian framework. Neuropsychology, 32(3), 344–355. doi: 10.1037/neu0000416

Ladd, G. W., Kochenderfer, B. J., & Coleman, C. C. (1996). Friendship quality as a predictor of young children’s early school adjustment. Child Development, 67(3),1103. doi: 10.2307/1131882

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Newcomb, A. F., & Bagwell, C. L. (1995). Children’s friendship relations: A meta-analytic review. Psychological bulletin, 117(2), 306.

Normand, S., Schneider, B. H., Lee, M. D., Maisonneuve, M.-F., Chupetlovska-Anastasova, A., Kuehn, S. M., & Robaey, P. (2013). Continuities and changes in the friendships of children with and without ADHD: A longitudinal, observational study. Journal of Abnormal Child Psychology, 41(7), 1161–1175. doi: 10.1007/s10802-013-9753-9

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