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Mit ‘Rezension’ getaggte Beiträge

Vom Privileg Mensch zu sein

Filmrezension zu Himmel über Berlin

Im Film geht es um zwei Engel, die Menschen helfen und sie um ihre Sinnlichkeiten beneiden. Sie sind ewige Beobachter einer durch die Berliner Mauer separierten Welt. Eine Bandbreite an Themen wird angesprochen: Krieg, Realität und was Menschlichkeit bedeutet. Es ist ein Film, der im Gedächtnis bleibt.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Andrea Bruggmann

Zwei Engel schweben über den Berliner Himmel. Sie beobachten die Menschen, lauschen ihren Gedanken und bieten durch sanfte Berührungen Trost. Nur Kinder können sie sehen, für alle anderen sind sie unsichtbar. Damiel und Cassian, die beiden Engel, erzählen sich von den kleinen Dingen, die sie beobachtet haben. Es sind die kleinen Momente, die sie faszinieren, beispielsweise wie jemand den Regenschirm schliesst, um den Regen zu spüren oder jemand die Socken auszieht, um die Zehen nach einem langen Arbeitstag zu strecken. Oft tun sie so, als ob sie Teil vom Geschehen wären. Doch Damiel will mehr, er will Mensch sein und sich der Endlosigkeit seines Daseins entziehen. Zudem fühlt er sich zu der Trapezkünstlerin Marion hingezogen. Im Todesstreifen der Berliner Mauer findet er seine Sterblichkeit und macht sich auf die Suche nach Marion. Cassian hingegen versucht einem älteren Mann zu helfen und beobachtet vermehrt ein Filmset.

Der Schwarzweissfilm von Wim Wenders im Jahr 1987 spielt etwa derselben Zeit in Berlin. Die Mauer voller Graffiti und halbzerstörte Gebäude prägen die Stimmung des Films. Die Geschichte wird langsam und gemächlich erzählt. In der ersten Stunde scheint es kaum Handlung geben. Dies widerspiegelt jedoch die beobachtende Natur der Engel, die selten eingreifen und wenn, dann so subtil, dass man es kaum bemerkt. Oft wird durch die Kameraführung der Blickwinkel der Engel auf die Welt hinab gezeigt. Es gibt einige versteckte lustige Momente – dennoch ist der Film an manchen Stellen etwas zäh. Der Film erhielt 19 internationale Preise wie bester Regisseur im Cannes Film Festival, beste Kamera der deutschen Filmpreise oder bester ausländischer Film beim French Syndicate of Cinema Critics sowie zahlreiche Nominierungen (imdb, k.A.).

«Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?»

Wenders, 1987, 9:24

Mensch sein

Durch die Aussenperspektive von nicht-menschlichen Wesen auf den Menschen wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen, was denn Mensch sein überhaupt bedeutet. Anfangs scheint die Versklavung durch die eigenen trübseligen Gedanken und die Eintönigkeit des Alltags die Antwort zu sein. Dem Gegenüber stellt sich die Freude der Engel über die kleinen alltäglichen Dinge, nach denen sie sich sehnen. Ähnlich wie Kinder, die eine wichtige Rolle im Film spielen, erkennen sie die Schönheit im Alltag und in der Vergänglichkeit. Aber auch Sinnlichkeiten, Unwissenheit und Irrtümer sehen sie als bemerkenswerte menschliche Eigenschaften an. Anders als die Menschen sind die Engel oft unberührt und zeigen kaum Emotionen. Sie scheinen alles hinzunehmen, nur selten kommt es zu Gefühlsausbrüchen. Wie die Menschen haben sie eine beinahe depressive Grundstimmung. Aber während sich die Personen im Film durch grübelnde Gedanken auszeichnen, sind die Engel einfach zu losgelöst vom Geschehen, um Emotionen zu verspüren. Es ist das Los der ewig Beobachtenden. Im Umkehrschluss wird das Mensch sein im Film auch durch die Fähigkeit, zu handeln und sein eigenes Dasein zu kreieren bestimmt.

Im Film wird immer wieder das Gedicht Lied vom Kindsein eingespielt (für Ausschnitte siehe Zitate). Dieses besteht aus vier Strophen, die meiner Meinung nach, folgende Themen beinhalten: Im ersten Teil geht es um die Reinheit und Unbeschwertheit des Kindes. Dieses wird im zweiten Teil durch das Stellen von Fragen über Realität und Identität abgelöst. Das Kind wird erwachsen, vollzieht einen Wandel und erhält neue Sichtweisen. Im vierten Teil wird aber klar, dass das Kind im Erwachsenen noch immer vorhanden ist. Es wird angedeutet, dass gewisse Taten oder Gefühle des Kindseins auf ewig Bestand haben.

Was ist wirklich?

Der Film spielt mit dem Konzept von Realität. Während man immer wieder an die Hinterlassenschaften des zweiten Weltkriegs in der Stadt erinnert wird, spielt ein Teil der Handlung auf einem Filmset über den zweiten Weltkrieg. Auch sieht man die Erinnerungen der Menschen über die Kriegszeit, wie eingestürzte Gebäude oder Leichen auf der Strasse. Die Vergangenheit ist im Film der Gegenwart verdächtig nah.

Einige wenige Menschen scheinen sich der Engel bewusst zu sein. Kinder sehen die Engel und interagieren mit ihnen. Doch auch ein erwachsener Mann kann sie erkennen. Er spricht sogar mit Damiel und Cassian. Während er von seiner Umgebung als merkwürdig angesehen wird, ist er der Einzige, der die Realität erkennt.

Hinzukommt, dass im Film immer wieder ein Gedicht eingespielt wird (siehe Kästchen). Darin wird unter anderem der Zweifel an der Realität direkt angesprochen. Sind unsere Wahrnehmungen tatsächlich wirklich? Wieso bin ich das, was ich bin? Was bestimmt Zeit und Raum?

Auch die Realität über die Bedeutsamkeit der eigenen Gedanken wird in Frage gestellt. Die Engel lauschen den Überlegungen der Menschen, die sich immer wieder vermischen und trennen. Kaum einer dieser Gedanken ist nicht selbstfokussiert oder grüblerisch. Von aussen scheinen sie sogar zumeist belanglos und dümmlich zu sein – vor allem wenn man sie in Beziehung zur Realität stellt. Vielleicht möchte der Film uns somit mitteilen, dass wir unsere eigenen Grübeleien weniger ernst nehmen sollen.

Krieg

Die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs sind im Film omnipräsent. Die Mauer, die Menschen trennt, der Todesstreifen und die Erinnerungen der Menschen an Tod und Zerstörung wird immer wieder gezeigt. Aber auch die Engel scheinen einen Krieg zu führen: Sie kämpfen gegen das Trübsal der Menschen. Ihre einzigen Waffen sind hierbei sanfte Berührungen, die ihrem Empfangenden Wohlbefinden und Trost spenden. Manchmal können sie helfen, oft scheint es aber lächerlich wirkungslos zu sein – als würde man ein viel zu kleines Pflaster über eine Wunde kleben. Dennoch können sie in bestimmten Momenten den Menschen helfen und Unterstützung leisten, bis andere Hilfe naht.

«Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?»

Wenders, 1987, 9:55

Ein Film für ruhige Stunden

Insgesamt ist der Film sehr schön und poetisch. Dennoch erlebte ich ihn besonders in der ersten Stunde etwas zäh. Es gibt kaum Konflikte und Handlungen, obwohl es die Geschichte an sich anbietet. Die Dialoge wirken gestellt und sind in einer unnatürlichen Sprache verfasst. Dennoch bleibt einem der Film positiv im Gedächtnis, vielleicht weil man sich wünscht, dass es tatsächlich Engel gibt, die sich um uns kümmern. Er hallt aussergewöhnlich lange nach. Je länger man über ihn nachdenkt, desto mehr zieht er einen in Bann. Es ist ein Film für ruhige Stunden, in denen man entspannen und philosophieren möchte. Er erinnert an vergangene Zeiten und an das Privileg, Mensch zu sein.


Zum Ansehen

Wenders, W. (Regisseur). (1987). Der Himmel über Berlin [Film]. Deutschland, Frankreich: Road Movies Filmproduktion, Argos Films & Westdeutscher Rundfunk.

Literatur

Lied vom Kindsein. (k.A.). http://www.reverse-angle.com/deutsch/filme/katalog/timeline/ww-1/wingsofdesire/wod-song-of-childhood-german.htm

Wenders, W. (Regisseur). (1987). Der Himmel über Berlin [Film]. Road Movies Filmproduktion, Argos Films & Westdeutscher Rundfunk.

Wings of Desire Awards. (k.A.). https://www.imdb.com/title/tt0093191/awards

Familie und Karriere als Frau

Eine Diskussion zum Buch Professorin werden

Die dreifache Mutter Regula Kyburz-Graber schildert im Buch Professorin werden ihren herausfordernden Karriereweg. Die Geschichte handelt von enttäuschender Forschung, veralteten Rollenbildern genauso wie von Sinnhaftigkeit, Hartnäckigkeit, einem fortschrittlichen Betreuungsmodell und grossen Chancen. Den roten Faden bildet die Frage «Wie wird man Professorin?».

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Alba Lopez

Als junge angehende Wissenschaftlerin fühlte ich mich vom Buch direkt angesprochen. Nur zu gut konnte ich mich in die ambitionierte Studentin hineinversetzen, die an die Forschung den Anspruch der Sinnhaftigkeit stellt. Die überzeugt ist, mindestens genauso viel leisten zu können wie ein Mann und die Karriere und Familie nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Bereicherung versteht. So fieberte ich auf knapp 200 Seiten mit ihr mit und nahm an ihrer persönlichen Entwicklung teil. Fühlte mich beim Lesen in die Anfänge meines Studiums zurückversetzt, schwelgte in Erinnerungen an meine Erlebnisse an der Universität Zürich (UZH) und malte mir meine eigene berufliche Zukunft aus. Trotz Parallelen wurde mir schnell bewusst, dass die Welt, in die mich Regula Kyburz-Graber entführte, nicht der heutigen, nicht der meinen entspricht. Vieles, das ich als selbstverständlich annehme, war zur Zeit ihres Karriereweges noch nicht gegeben – vieles, das ihren Weg erleichtert hätte.

«Die Frauen waren die Eindringlinge in diese wohlabgeschirmte akademische Welt, sie mussten sich anzupassen wissen.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 114

Eine besondere Zeit, eine besondere Frau

Als Regula Kyburz-Graber 1970 volljährig wurde, war Frauen das Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz noch verwehrt. Die Forderung nach Gleichberechtigung war für sie stets eine Selbstverständlichkeit. Bewusst wählte sie mit Biologie an der ETH einen für Frauen untypischen Studiengang, um zu beweisen, dass Frauen genau so gut wie Männer ein naturwissenschaftliches Studium bewältigen können. Während des Studiums lernte sie Peter kennen, den sie noch vor ihrem Abschluss heiratete. Als Konkubinatspaar in Zürich eine Wohnung zu bekommen, wäre damals unmöglich gewesen. Da sie ihren Familiennamen Graber und damit ihre Herkunft und Identität nicht verlieren wollte, nutzte sie fortan den rechtlich nicht verbindlichen Doppelnamen Kyburz-Graber. Um neben dem Studium Geld zu verdienen, bewarb sie sich – obwohl sie keinerlei Erfahrung besass – erfolgreich als Lehrerin an der Bezirksschule Baden.

Enttäuscht von der Forschung

Ihre Diplomarbeit schrieb Regula Kyburz-Graber im Bereich der Molekulargenetik. Die Atmosphäre im Labor – unter all den Männern – beschreibt sie als gedämpft, trostlos und kompetitiv. Über Ängste oder Zweifel wurde nicht gesprochen und Spott gehörte zur Gesprächskultur. Ihre anfängliche Begeisterung für die Forschung schwand und der Gang zum Labor fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.

«Bis die einst glorifizierte Forschungswelt für mich einstürzte und ich mir schliesslich eines Tages eingestehen musste: So will ich nicht Forschung betreiben.» Kyburz-Graber, 2020, S. 32

Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage, so kämpfte sich sie sich durch. Trotz der enttäuschenden Erfahrung liess sie auch nach dem Abschluss des Studiums 1973 der Wunsch nicht mehr los, in der wissenschaftlichen Forschung berufliche Erfüllung zu finden.

«Aber Sinn musste die Forschung machen, einen bedeutsamen Beitrag für die Gesellschaft leisten, so malte ich mir gute Forschung in meinem jugendlichen Idealismus aus.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 33

Ihr eigener Weg, eine Sackgasse?

Die Suche von Regula Kyburz-Graber nach sinnhafter Forschung endete in der Überzeugung, dass Unterrichtsforschung ihr neues Forschungsgebiet werden sollte. Vorbilder fand sie für dieses Vorhaben keine, betont aber, dass sie sich noch nie an Vorbildern orientiert habe. Schon immer wollte sie ihren eigenen Weg gehen und liess sich selten helfen – so auch in der Forschung. Die Arbeit an der Dissertation musste sie durch Unterrichten querfinanzieren. Zu dieser Zeit dachte sie noch nicht an eine akademische Karriere. Ihr prioritäres Ziel war es, das Verständnis für ökologische Zusammenhänge bei Jugendlichen zu untersuchen und so den Ökologieunterricht voranzubringen.

«Da sass ich nun, eine 26-jährige, erwartungsvolle Wissenschaftlerin voller Tatendrang. Und niemand schien auf mich gewartet zu haben. Niemand interessierte sich für meine wissenschaftlichen Erkenntnisse.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 41

Nach ihrer Dissertation erlebte Regula Kyburz-Graber eine Durststrecke. Ihre Bewerbungen im Bereich der Lehre waren erfolglos. Vermutlich wurden Männer mit langjähriger Erfahrung und keine jungen Wissenschaftlerinnen gesucht. Sie fragte sich, ob all die Investitionen umsonst gewesen waren, und versank in Selbstmitleid, Wut, Angst und Trauer darüber, trotz bester Qualifikation ignoriert zu werden.

Türen öffnen sich

Das Blatt wendete sich, als Regula Kyburz-Graber 1977 ein Nachwuchsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds erhielt. Ein Jahr lang forschte sie an der Universität Kiel zum Thema «Schülerzentrierter Biologieunterricht». Sie nahm an wissenschaftlichen Debatten teil, erlebte eine gute Forschungsatmosphäre und lernte Autor*innen von Fachliteratur kennen. So brachte sie neue Ideen, Forschungswissen und Zuversicht nach Hause. Nach ihrem Forschungsjahr öffnete sich eine Tür nach der anderen. Unter anderem erhielt sie einen Lehrauftrag für Biologiedidaktik an der ETH, war Oberassistentin an der ETH und der UZH für Umweltlehre, leitete die Lehrplankommission «Integrierte Naturlehre», entwickelte Lehrmittel und vertrat die Schweiz an zahlreichen internationalen Konferenzen zur Umweltbildung. Nicht selten war sie dabei die Einzige oder eine der einzigen Frauen. In den Jahren darauf war sie in der Forschung an der ETH sowie in nationalen und internationalen Kooperationen tätig, Projektleiterin der Schweiz im internationalen OECD Projekt «Environment and School Initiatives» und Gastprofessorin an der Deakin University in Australien.

«Ich fühlte mich nun beflügelt und war getragen vom Gefühl, dass ich meinen Platz in der Berufswelt gefunden hatte.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 56

Ehefrau, Mutter und Wissenschaftlerin

Als Regula Kyburz-Graber heiratete, wusste sie bereits, dass sie keine traditionelle Hausfrauenrolle übernehmen würde. Peter und sie, beide wollten einer interessanten Karriere nachgehen und beide hatten einen Kinderwunsch. Mit dem Beginn der Familiengründung vereinbarten sie, die Familienarbeit partnerschaftlich zu teilen. Peter reduzierte sein Pensum zuerst auf 90 und dann auf 80 Prozent – in einer Zeit, in der dies alles andere als üblich war. Mit der Geburt von Tochter Andrea 1979 stand das Kind an erster Stelle und gab den Takt sowie die Tagesstruktur vor. Mit der Zeit lernte Regula Kyburz-Graber ihre Tätigkeiten an die Bedürfnisse von Andrea anzupassen. Schlief Andrea, erledigte sie Aufgaben, die viel Konzentration benötigten, wollte Andrea herumgetragen werden, machte sie gleichzeitig Hausarbeiten, übernahm Peter die Betreuung, kümmerte sie sich um Termine ausserhalb. Sie pendelte zwischen der Betreuung des Kindes und ihren beruflichen Tätigkeiten. Ständig fühlte sie sich unter Zeitdruck.

«Es fühlte sich an, als hätte ich gestutzte Flügel. Flügel hatte ich zweifellos, nur das Abheben gelang nicht mehr.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 72

An manchen Tagen fragte sie sich, ob sie je wieder im Beruf aufholen könne und ob das Ohnmachtsgefühl, etwas zu verpassen, normal sei. Zugleich empfand sie Neid gegenüber den jungen Vätern, die wie bisher weiterarbeiten konnten und von der neuen Vaterrolle – die Stabilität und Verlässlichkeit verkörperte – sogar noch profitierten.

Logische Konsequenz der Gleichberechtigung

1982 kam Tochter Denise und zwei Jahre später Sohn Stephan zur Welt. Die Doppelbelastung und das Gefühl, den beruflichen Anschluss verloren zu haben sowie die Karriere zu vernachlässigen, stieg. Als Stephan drei Jahre alt war, spürte Regula Kyburz-Graber, dass sich etwas ändern müsse. Als sie dies unter Tränen der Wut und Enttäuschung ihrem Mann mitteilte, bot dieser an, sein Arbeitspensum auf 60 Prozent zu reduzieren. Regula Kyburz-Graber beschreibt dies als neue Freiheit, die sie sich gegenseitig gegeben hatten, aus Sicht der Gleichberechtigung sei es aber lediglich die logische Konsequenz. Die Reduktion des Beschäftigungsgrades führte dazu, dass Peter nicht mehr Teil der Geschäftsleitung sein konnte. Trotz dessen erarbeitete er sich eine Position als schweizweit anerkannter Spezialist für Kooperationen in der Landwirtschaft.

Frau Professorin

Eines Tages entdeckte Regula Kyburz-Graber ein Inserat der Philosophischen Fakultät der UZH, das wie auf sie zugeschnitten war. Es handelte sich um ein halbes Extraordinariat für Gymnasialpädagogik. Als nach langem Warten ihr erster Platz bestätigt wurde, war sie endlos glücklich und erleichtert. So wurde Regula Kyburz-Graber 1998 die erste Professorin an einem Höheren Lehramt in der Schweiz und die erste Professorin in der Pädagogik an der UZH. Sie baute ein interdisziplinäres Lehrstuhlteam auf, an dem unter anderem auch Psycholog*innen arbeiteten. 2004 wird sie Prodekanin für Ressourcen an der Philosophischen Fakultät, ein Jahr später ordentliche Professorin und 2007 auf eigene Initiative die neue Direktorin des Instituts für Gymnasial- und Berufspädagogik der UZH.

Forderung nach Gleichstellung

Um das Jahr 2000 wurde an der UZH die Forderung nach der Berufung von Frauen immer lauter. Um dem gerecht zu werden, wurde bei Ausschreibungen das Anstreben eines höheren Frauenanteils angegeben. Regula Kyburz-Graber war der Meinung, dass es diesen Satz nicht bräuchte, wenn Frauen in der frühen Karrierephase angemessen gefördert würden. Zudem beobachtete sie, dass Angaben zur privaten Lebenssituation für Frauen hinderlicher waren als für Männer. Waren Frauen unverheiratet, so wurde befürchtet, dass ihnen die emotionale Unterstützung fehle. Hatten sie keine Kinder, wurden Fragen zur Situation des Mannes gestellt, hatten sie Kinder, wurde ihre Verfügbarkeit und Belastbarkeit bezweifelt.

Obwohl aktuell 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, beträgt der Frauenanteil unter den Professor*innen lediglich 23 Prozent (Schärer, 2021). Stets arbeitet die UZH an der Chancengleichheit, beispielsweise werden zunehmend Teilzeitprofessuren angeboten (Gull, 2020). Mehr dazu unter http://www.gleichstellung.uzh.ch.

Als Regula Kyburz-Graber 1998 Professorin wurde – 30 Jahre nach der Berufung der ersten Professorin an die UZH – waren lediglich sieben Prozent der Professor*innen Frauen und dies, obwohl der Frauenanteil unter den Studierenden bei knapp 50 Prozent lag. Professorinnen mit Kindern gab es laut Regula Kyburz-Graber nur ganz selten. Zudem beschreibt sie, dass die Professorinnen keinen besonderen Kontakt untereinander pflegten und sich daher Solidarität unter Frauen kaum entwickelte. Jede ging ihren eigenen Weg.

Steinig, aber lohnend

Regula Kyburz-Graber verdeutlicht in ihrem Buch «Professorin werden», dass sie es als Frau und Mutter auf dem akademischen Karriereweg nicht immer einfach hatte und bestimmt schwerer als Männer mit ähnlichen Qualifikationen. Das Buch ist voller lebhafter Anekdoten, die diese Schwierigkeiten veranschaulichen. Gleichzeitig macht sie den Leser*innen klar, dass sich dieser Weg für sie gelohnt hat, und sie glücklich auf ihn zurückblickt. Sie zeigt auf, wie viel sich seit ihrem Karrierebeginn geändert hat, aber auch, wie viel sich noch ändern muss. Veraltete Rollenbilder, Vorurteile und strukturelle Hürden. Auf subtile Weise hält sie den Leser*innen den Spiegel vor und regt sie zum Nachdenken an. Habt ihr je (innerlich) einen Vortragenden für seine Kleidung kritisiert? Und eine Vortragende? Habt ihr je Defizite in der Lehre eines Professors mit hoher Fachkompetenz entschuldigt? Habt ihr je darüber nachgedacht, dass Frauen ohne Militärerfahrung einen Karrierenachteil haben, aufgrund fehlender Führungserfahrung und verpasster Chance, ein Netzwerk aufzubauen?

Trotz zahlreicher Einblicke in das Leben von Regula Kyburz-Graber bleibt ihre Gefühlswelt den Leser*innen in vielen Situationen verwehrt. Was hat sie wohl empfunden, als ihr Mann zum wiederholten Mal als Herr Professor angesprochen und sie als die treu besorgte Ehefrau angenommen wurde? Auch lässt sie die Leser*innen leider nicht daran teilhaben, wie sie den Stress der Doppelbelastung und der Unsicherheit bewältigte und ihre psychische Gesundheit schützte.

Mutmacher für junge Wissenschaftler*innen?

Trotz vielen Herausforderungen haben Regula Kyburz-Graber und ihr Mann ihr Ziel erreicht. Beide übten eine berufliche Tätigkeit aus, die sie erfüllte und konnten parallel die Entwicklung ihrer Kinder unterstützen. Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: «Wenn es damals ohne unterstützende gesellschaftliche Rahmenbedingungen möglich war, dann heute erst recht!». Ferner beschreibt sie, wie ihre Familie ihre Karriere positiv beeinflusste. Sie habe dank der Familie gelernt, flexibel zu sein, sich zu organisieren, genau zuzuhören, gemeinsam nach geeigneten Lösungen zu suchen sowie Entscheide, wenn nötig, zu revidieren. Überdies demonstriert sie, dass sinnhafte Forschung es wert ist, sich dafür einzusetzen und, dass auch scheinbar zerstückelte Biografien am Ende zusammenpassen sowie wenig gradlinige Karrierewege erfolgreich sein können. Diese Ausführungen können junge Wissenschaftler*innen im Hinblick auf ihre Karriere zuversichtlich stimmen.

Manche Leser*innen mögen die vielen Hürden, denen Regula Kyburz-Graber auf ihrem Karriereweg begegnete, vielleicht eher abschrecken. So erzählt sie, dass ihre drei Kinder ihre akademische Karriere aufgrund der riesigen Doppelbelastung und der Unsicherheiten als nicht nachahmenswert empfinden.

Ratgeber für junge Wissenschaftler*innen?

Regula Kyburz-Graber macht mehr als klar, wie wichtig es für ihre Karriere war, die Familienarbeit mit ihrem Mann zu teilen. Dieses partnerschaftliche Familienmodell ist gemäss ihr der Schlüssel zur Karriere als Frau und damit zur Gleichstellung. Wenn Männer nicht die gleiche Verantwortung in der Familie übernähmen, würde die grosse Arbeitslast mit Berufs- und Familienarbeit weiterhin einseitig bei den Frauen liegen, schreibt sie. Damit dies möglich ist, müssen beide Partner*innen bereit sein, ihren Beschäftigungsgrad zu reduzieren und die Arbeitgeber*innen müssen solche Teilzeitstellen zur Verfügung stellen.

Auch weitere Ratschläge lassen sich dem Buch entnehmen. So beschreibt Regula Kyburz-Graber beispielsweise, wie wichtig es ist, sich immer wieder über seine kurz- und langfristigen Ziele bewusst zu werden. Sie teilt mit, dass man seinen eigenen – für sich sinnhaften – Weg gehen soll und betont, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. Zudem empfiehlt sie an Diskussionen aktiv teilzunehmen, um Kontakte zu knüpfen sowie Impulse zu erhalten. Auch das Verbinden von Empathie und Selbstbewusstsein, einen interdisziplinären Forschungsansatz und ein hohes Mass an Flexibilität gibt sie als bedeutsam an.

Dankbarkeit

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, verspürte ich Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber Regula Kyburz-Graber und allen anderen Frauen, die den Weg für zukünftige Generationen ebneten. Die einerseits bewiesen, dass Frauen erfolgreich akademische Karrieren einschlagen können und anderseits, dass sich diese mit dem Gründen einer Familie verbinden lässt. Dankbarkeit für all die Entwicklungen der letzten Jahre, die das Kombinieren von Karriere und Familie erleichterten und den Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung antrieben. Besser denn je verstand ich nun die Wichtigkeit von kleinen und grossen strukturellen Veränderungen wie Blockzeiten, Mittagstischen, Homeoffice und Teilzeitarbeit auf der einen Seite, und Entwicklungen in der Einstellung der Gesellschaft, wie verständnisvollen Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen, von Frauenförderung sowie partnerschaftlichen Familienmodellen auf der anderen. Das Ziel der Gleichstellung ist noch nicht erreicht, aber es wird besser. Wenn ich heute durch die Gänge der UZH laufe, fühle ich mich nicht als Eindringling in diese akademische Welt, sondern als Teil davon.


Zum Weiterlesen

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt.

Literatur

Gull, T. (2020). Buchvernissage Professorin werden. Universität Zürich. https://www.news.uzh.ch/de/articles/2020/buchvernissage_professorin_werden.html

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt. Schärer, A. (2021). Gleichstellung und Diversität. Universität Zürich. https://www.gleichstellung.uzh.ch/de/gleichstellungsmonitoring

Vincent will meer

Ein Film über Zwänge, Freundschaft und Tourette

Die deutsche Komödie Vincent will meer (2010) dreht sich um einen jungen Mann, der am Tourette-Syndrom leidet. Er begibt sich auf eine Reise nach Italien, die ihn und alle anderen verändert.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Julia Küher und Marina Reist

«F*tze» schreit Vincent während der Beerdigung seiner Mutter. Sein Vater blickt ihn vorwurfsvoll an, die anderen Trauernden tuscheln schockiert. Wütend stürmt Vincent hinaus und flucht weiter. In der Kirche stimmen die Anwesenden ein geistliches Lied an und versuchen weiterhin den Schein zu wahren. Mit dieser Szene beginnt der Film Vincent will meer.

Vincent ist 27 Jahre alt, ist traumatisiert vom Tod seiner alkoholkranken Mutter und leidet an Tourette. Sein Vater schiebt Vincent kurzerhand in eine Klinik ab, in der vergeblichen Hoffnung, Vincent könnte von seiner «Behinderung» geheilt werden. Die Beziehung zwischen Vincent und seinem Vater ist überaus dysfunktional. Nicht nur ein gegenseitiges Unverständnis herrscht vor, sondern auch eine ganze Menge Vorwürfe, unerfüllte Erwartungen über Vincents Zukunft und ein Mangel an Bereitschaft, sich mit ihrer Beziehung auseinander zu setzen. In der Klinik trifft Vincent auf Alex, der an einer Zwangsstörung leidet, und auf Marie, die anorektisch ist. Bereits nach kurzer Zeit flieht das ungleiche Trio mit dem Auto der Therapeutin Dr. Rose aus der Klinik. Ihr Ziel ist das Meer, wo Vincent die Asche seiner Mutter hinbringen möchte. Eine dramatische Reise beginnt, auf welcher sich alle drei Charaktere gegenseitig unterstützen, aber auch manipulieren und beleidigen. Zeitgleich machen sich Dr. Rose und Vincents Vater auf, um die Ausreisser wieder einzufangen. Auch sie müssen sich im Verlauf der Reise ihren Dämonen stellen. Für alle fünf Charaktere wird der Weg zum eigentlichen Ziel.

Der Zwang

Eines der interessanten Themen, die der Film aufgreift, ist das des Zwangs. Vincent, Marie und Alex leiden alle an einer psychischen Störung, die sie zwingt, gewisse Dinge zu tun oder nicht zu tun. So muss Alex permanent putzen, Vincent kämpft gegen seine Ticks und seine aggressiven Ausbrüche und Marie isst nichts. Hinzu kommt der Zwang, gesund zu werden und in eine Gesellschaft hineinzupassen, in welcher sie alle hauptsächlich auf Unverständnis oder Abneigung stossen. Aber auch Dr. Rose und Vincents Vater leiden unter einem Zwang. Dr. Rose ist sehr um Marie besorgt und verkrampft sich darauf, eine gute Therapeutin zu sein. Der Vater von Vincent lässt sich sein Leben durch die permanenten Arbeitsanrufe diktieren. Während sich bei den jüngeren Figuren diese Zwänge durch die Freiheit ihrer Reise und die Beziehung untereinander zum Teil lösen, müssen Dr. Rose und der Vater von Vincent zuerst einen Verlust erleiden, bevor sie frei werden. So verliert der Vater sein Handy und Dr. Rose ihre Patientin, bevor die Entwicklung der Figuren einsetzt. Doch auch sie verhelfen einander durch Gespräche zur Einsicht. Aber nicht alle schaffen es, ihre Zwänge zu überwinden.

«Ich hab’n Clown im Kopf, der mir ständig zwischen die Synapsen scheisst!»

Huettner, 2010

Die Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit

Einige Inhalte werden im Film nicht korrekt dargestellt. So mag es einem beispielsweise schleierhaft sein, wie jemand mit Tourette-Syndrom einen Platz in einer Klinik erhält oder wie jemand mit schwerer Anorexie die Initiative für sexuelle Handlungen ergreift. Eine der Hauptfragen, die man sich als Zuschauer*in stellen mag, ist, was Komödien alles dürfen. Ist es wirklich okay, sich über die Ticks von Vincent oder die Putzzwänge von Alex zu amüsieren? Da der grosse Leidensdruck der drei jungen Charaktere kaum bis gar nicht thematisiert wird, mag die Antwort auf diese Frage verzerrt sein. Allgemein werden die negativen Seiten der psychischen Störungen kaum thematisiert, was den Film leichter verdaulich macht, aber auch etwas oberflächlich wirken lässt. Hinzu kommt, dass die Figuren mit eher gesellschaftlich akzeptierten Diagnosen behaftet sind. Die Balance zwischen der Leichtigkeit einer Komödie und der Ernsthaftigkeit psychischer Störungen zu finden, mag schwer zu erreichen sein. Der Film hätte provokativer sein dürfen. Dennoch ist er sehenswert.


Zum Weitersehen

Huettner, R. (Director). (2010). Vincent will meer [Motion Picture]. Constantin Film.