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Mit ‘Psychiatrie’ getaggte Beiträge

Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie

Fürsorgerische Unterbringung und Co. – darf man das?  

Unter welchen Umständen darf ein Mensch gegen seinen Willen in eine Psychiatrie eingewiesen werden? Öffentliche Sicherheit, ärztliche Behandlungspflicht und Patientenautonomie stehen im Entscheidungsprozess für oder gegen Zwangsmassnahmen oftmals in Konflikt. Fest steht, dass Zwangsmassnahmen für alle Beteiligten einschneidend sind und als letztes Mittel gewählt werden sollten. Aber wie kann Zwang reduziert werden?  

Von Vera Meier
Lektoriert von Jan Nussbaumer und Michelle Donzallaz
Illustriert von Sara Aeschlimann

Nach versuchtem Suizid, in wahnhaftem Zustand oder unter starker Drogenintoxikation zwangsmässig eingewiesen. Im Anschluss in ein Isolierzimmer gebracht und danach über längere Zeit gegen den eigenen Willen psychiatrisch behandelt. Solche Massnahmen greifen in die physische und psychische Integrität des betroffenen Menschen ein (Meier-Allmendinger, 2009). Für Patienten|innen stellen Zwangsmassnahmen eine prägende, negative Erfahrung dar, die oft mit Gefühlen wie Demütigung, Kränkung, Angst, Wut, Trauer, Hilflosigkeit und Verzweiflung verbunden ist (Armgart et al., 2013; Braunmiller, 2013; Frajo-Apor, Stippler, & Meise, 2011; Meier-Allmendinger, 2009; Steinert, Birk, Flammer, & Bergk, 2013). Auch für Entscheidungsträger|innen und Behandlungspersonen stellen Zwangsmassnahmen, die bis heute noch weitgehend einer Evidenzbasierung bezüglich ihres Nutzens bedürfen, oftmals eine professionelle und emotionale Belastung dar (Langer, 2015; Meier-Allmendinger, 2009; Moran, Cocoman, Matthews, & Staniuliene, 2009).   

Europaweit existieren grosse Unterschiede in der Häufigkeit von Zwangsmassnahmen. Dies liegt hauptsächlich an unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen und Behandlungstraditionen (Dressing & Salize, 2004; Martin & Steinert, 2007). Die Schweiz weist seit längerer Zeit im europäischen Vergleich eine relativ hohe Zahl an Zwangseinweisungen auf (Riecher-Rössler & Rössler, 1993). Im Jahr 2014 gab es schweizweit 11’000 fürsorgerische Unterbringungen (Schuler, Tuch, Buscher, Camenzind, & Schuler, 2016). Der Anteil von Patienten|innen, die per fürsorgerische Unterbringung in eine Psychiatrie eingewiesen werden, sank zwischen 2002 und 2014 kontinuierlich von über 20 auf rund 12 Prozent (Schuler et al., 2016). Das bedeutet, dass mindestens jede|r Zehnte gegen den eigenen Willen in die Klinik gebracht wird. Gerade aufgrund dieser hohen Fallzahlen scheinen Zwangsmassnahmen ein omnipräsentes, emotionales und in der Öffentlichkeit stark umstrittenes Thema zu sein. Aber wovon sprechen wir genau?  

Das weite Spektrum von Zwangsmassnahmen 

Eine Zwangsmassnahme ist eine Massnahme, die durchgeführt wird, obwohl die davon betroffene Person kundtut oder zu einem früheren Zeitpunkt kundgetan hat, dass sie damit nicht einverstanden ist (Salathé, 2017; Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2017). Zwang kann in der medizinischen Praxis verschiedene Formen annehmen. In der Psychiatrie wird zwischen formellen und informellen Zwangsmassnahmen unterschieden: Zu den formellen Formen von Zwang zählt zunächst die rsorgerische Unterbringung. Damit wird die Einweisung in eine geeignete Institution, in der eine Person gegen ihren Willen behandelt und betreut wird, bezeichnet. Weiter werden Freiheitseinschränkende Massnahmen (auch Bewegungseinschränkende Massnahmen) als formelle Zwangsformen verstanden. Dazu zählen Isolation, Fixation oder Festhalten sowie die Verabreichung von Medikamenten unter körperlichem Zwang. Abschliessend zählt auch die eigentliche Zwangsbehandlung zu den formellen Zwangsformen. Sie wird, im Gegensatz zu den freiheitseinschränkenden Massnahmen, unabhängig von einer akuten Notfallsituation und meist über einen längeren Zeitraum, zur Behandlung einer psychischen Krankheit durchgeführt. Sie umfasst unter anderem Medikation, Ernährung, Körperpflege oder diverse längerfristige Psychotherapien gegen den Willen von Patienten|innen. Zu den informellen Formen von Zwang gehören Überredung, Überzeugung, Manipulation, Täuschung und Druckausübung. Dabei können Strafandrohungen zum Zuge kommen, falls ärztliche Anweisungen nicht befolgt werden (Olszewski & Jäger, 2015; Salathé, 2017; Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2017). Was aber sind die Risikofaktoren für das Erleben einer Zwangseinweisung? 

Risikofaktoren für eine Zwangseinweisung 

Es gibt verschiedene Faktoren und Umstände, welche die Wahrscheinlichkeit, einmal fürsorgerisch in einer Psychiatrie untergebracht zu werden, erhöhen. In dieser Hinsicht hat die Forschung verschiedene soziodemographische und psychiatrische Risikofaktoren identifizieren können. So werden Personen mit einer schlechteren Schulbildung, Arbeitslose, Männer im Gegensatz zu Frauen und Personen die an einer Psychose leiden häufiger unter Zwang eingewiesen (Christen & Christen, 2005; Steinert, 2007). Von allen Patienten|innen, die in der Schweiz per fürsorgerischer Unterbringung (FU) in die stationäre Psychiatrie eingewiesen werden, weist rund ein Drittel eine Schizophrenie oder eine andere wahnhafte Erkrankung auf (Gesundheitsdirektion Kanton Zürich, 2015). Ein weiterer bedeutender Risikofaktor für Zwangseinweisungen in der Schweiz ist der Herkunftskanton der Patienten|innen. Vorreiter scheint dabei Zürich zu sein (Christen & Christen, 2005): Im Kanton Zürich wird rund ein Viertel der psychiatrischen Patienten|innen per FU in die Psychiatrie eingewiesen. Diese vergleichsweise hohe Zahl mag mitunter darauf zurückzuführen sein, dass in Zürich eine FU-Einweisung von jedem zugelassenen Arzt und jeder zugelassenen Ärztin angeordnet werden kann – dabei werden lediglich ein Drittel der Patienten|innen von Psychiatern|innen eingewiesen. Zu zwei Dritteln erfolgt die FU auf Anordnung von Ärzten|innen ohne psychiatrische Ausbildung (Gesundheitsdirektion Kanton Zürich, 2015; King, 2016).  

Die Entscheidung für oder gegen Zwang – ein tripolares Spannungsfeld 

Das Handlungsfeld, in dem solche Anordnungen erfolgen, wird oftmals als enorm spannungsreich beschrieben. Dieses Spannungsfeld, in dem Entscheidungen rund um Zwangsmassnahmen getroffen werden, wird von verschiedenen Autoren|innen unterschiedlich beschrieben. Zusammengefasst kann ein tripolares Spannungsfeld skizziert werden, um die Dilemmata, in denen sich Entscheidungsträger|innen und behandelnde Personen befinden, aufzuzeigen. Einen ersten Pol des Spannungsverhältnisses stellt das öffentliche Sicherheitsinteresse dar. Zwangseinweisungen werden nicht selten angeordnet, um den Schutz Dritter zu gewährleisten. Als zweiter Pol ist das Recht der kranken Personen auf Behandlung ihrer Erkrankung (auch bei fehlender Urteilsfähigkeit über die Behandlungsbedürftigkeit) zu nennen. Damit einhergehend ist an diesem Pol auch die ärztliche Behandlungs- oder Fürsorgepflicht im Sinne des medizinethischen Prinzips der Schadensvermeidung und der Wahrung des Patientenwohls zu erwähnen. Am dritten Pol des Spannungsverhältnisses steht das Recht auf Autonomie der Patienten|innen (Beauchamp & Childress, 2008; Dressing & Salize, 2004; Meier-Allmendinger, 2009). Die Abwägung, welcher dieser Pole in einem Entscheidungsprozess am stärksten zu gewichten ist, stellt die zentrale Herausforderung dar (Meier-Allmendinger, 2009). Dem medizinethischen Prinzip der Patientenautonomie wurde in den letzten Jahrzehnten auch auf Gesetzesebene zunehmend Beachtung geschenkt (Pro Mente Sana, 2014; Salathé, 2017). Hoff (2015) merkt jedoch an, dass die Wahrung Patientenautonomie kein ausreichendes Argument gegen eine Zwangsmassnahme sei. Es bedarf gemäss Hoff einer Adaptation auf die konkrete Situation der betroffenen Person, wobei das Ziel eine «assistierte Autonomie» sein sollte; die kranke Person soll also in der Ausübung ihrer Autonomie von medizinischen Fachpersonen unterstützt werden (Hoff, 2015). Maio (2015) betont dahingehend, dass die Durchführung von Zwangsmassnahmen, und somit ein Hinwegsetzen über die Patientenautonomie, ausschliesslich dann legitim ist, wenn die Verweigerung des|r Patienten|in ein Produkt der eigenen Krankheit ist. Entspricht die Abwehr aber tatsächlich der persönlichen Lebensauffassung des|r Patienten|in, ist jegliche Form von Zwang laut Maio ungerechtfertigt. Zwangsmassnahmen, die gegen den ausdrücklichen Willen einer Person durchgeführt werden, sollten stets das letzte Mittel in der psychiatrischen Praxis sein. In jedem Fall bedürfen solche Massnahmen einer klaren gesetzlichen Rechtfertigung (Meier-Allmendinger, 2009). 

«Das einzige Kriterium zur Legitimierung von Zwangsmassnahmen ist die Frage, ob die verweigernde Haltung des Patienten seiner ureigenen Lebensauffassung entspricht oder aber nur ein Produkt seiner Krankheit ist.» 

Maio, 2015, S. 3  

Gesetzliche Grundlagen 

Die Grundrechte, die durch die Schweizerische Bundesverfassung (BV) und durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert werden, bilden die zentrale gesetzliche Rahmenbedingung, unter der die Durchführung von Zwangsmassnahmen in der Schweiz betrachtet werden muss. Insbesondere sind die Garantie der Menschenwürde (Art. 7 BV), das Recht auf Leben und persönliche Freiheit (Art. 10 BV) sowie das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) relevant (Moser, 2017).  

Einschränkungen in diesen Grundrechten sind mitunter nur dann zulässig, wenn eine andere gesetzliche Grundlage vorhanden ist, die eine solche Einschränkung rechtfertigt (Art. 36 BV). Entsprechende gesetzliche Grundlagen können in Hinblick auf Zwangsmassnahmen die folgenden Gesetzestexte aus dem Zivilgesetzbuch (ZGB) sein: Fürsorgerische Unterbringung (Art. 426 – 432 ZGB), Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Art. 438 ZGB) oder Zwangsbehandlung (Art. 434 ZGB). 

«Die geltenden Gesetze (…) setzen die in der Gesellschaft als gültig angesehenen ethischen Prinzipien in Rechtsvorschriften um, die aber notwendigerweise einen teilweise erheblichen Ermessensspielraum im Einzelfall offenlassen.» 

Steinert, 2007, S. 186 

An dieser Stelle soll speziell auf die Fürsorgerische Unterbringung (Art. 426 ZGB) eingegangen werden. Hierfür muss grundsätzlich eine psychische Störung und im Rahmen derselben eine Selbst- oder Fremdgefährdung sowie eine fehlende Einsichts- oder Einwilligungsfähigkeit feststellbar sein (Olszewski & Jäger, 2015). Im entsprechenden Gesetzestext heisst es einleitend: 

  1. Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. 
  1. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen. 
  1. Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind. 
  1. Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann jederzeit um Entlassung ersuchen. Über dieses Gesuch ist ohne Verzug zu entscheiden. 

Diese gesetzlichen Bestimmungen beziehen sich nur auf die Voraussetzungen für einen Aufenthalt in einer geeigneten Institution. Sie genügen nicht der Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung im engeren Sinne (Medikation, Ernährung, Körperpflege oder diverse längerfristige Psychotherapien) (Meier-Allmendinger, 2009). Die Regelung einer Zwangsbehandlung selbst obliegt kantonalen Gesetzen (Meier-Allmendinger, 2009; Moser, 2017).  

Eine ärztlich veranlasste FU ist auf maximal sechs Wochen beschränkt. Ganz anders ist der zeitliche Horizont im Rahmen einer Anordnung durch eine Erwachsenenschutzbehörde: In einem solchen Fall ist eine FU grundsätzlich unbefristet. Auch in diesem Fall muss aber spätestens nach sechs Monaten und anschliessend so oft wie nötig und mindestens einmal jährlich geprüft werden, ob die Voraussetzungen für die entsprechende Unterbringung noch erfüllt sind (Tag, 2015).  

Bei jeder Zwangsmassnahme haben die einweisenden Behörden oder Ärzte|innen im Rahmen der geltenden rechtlichen Grundsätze einen Ermessensspielraum (Meier-Allmendinger, 2009; Tag, 2015). Die Entscheidung zum Vorgehen sollte neben dem Befolgen der gesetzlichen Vorgaben unbedingt auch nach den Kriterien der Vermeidbarkeit, der Voraussagbarkeit sowie der Verhältnismässigkeit getroffen werden (Meier-Allmendinger, 2009). Auch wenn beispielsweise Selbst- oder Fremdgefährdung gut voraussagbar erscheinen, bleibt die Frage nach der Verhältnismässigkeit in vielen Fällen bestehen. Als verhältnismässig gilt eine FU gemäss Art. 426 ZGB nur dann, wenn durch sie das angestrebte Ziel (meist die Wiedererlangung der Selbständigkeit und der Eigenverantwortung von Patienten|innen) erreicht werden kann. Oft finden sich die entscheidungsbefugten Personen dabei in einer ethischen Konfliktsituation wieder (Martin et al., 2007; Meier-Allmendinger, 2009). Die Gesetzestexte allein genügen als Handlungsanweisung im Umgang mit Zwangsmassnahmen scheinbar nicht.  

Ethische Richtlinien  

Eine hilfreiche Leitlinie zur Entscheidungsfindung bei der Umsetzung von Zwangsmassnahmen ist die Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) «Zwangsmassnahmen in der Medizin» (Olszewski & Jäger, 2015; Salathé, 2017; Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2017). Als Grundsätze für den Umgang mit Zwangsmassnahmen werden die Respektierung der Selbstbestimmung betroffener Patienten|innen, die Eignung des Umfeldes sowie eine effiziente, klare und offene Kommunikation im Team und mit der betroffenen Person genannt (Hoff, 2015). Inhaltlich werden unter anderem die folgenden Fragen ausführlich beantwortet: Unter welchen ethischen Voraussetzungen sind Zwangsmassnahmen als unumgänglich und vertretbar zu erachten? Wie muss die Kommunikation über eine Zwangsmassnahme mit der betroffenen Person oder ihren Vertrauenspersonen gestaltet werden? Was ist zu tun, damit angeordnete Zwangsmassnahmen so wenig traumatisierende Folgen wie möglich verursachen (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2017)?  

Massnahmen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen 

Laut schweizerischem Gesetz soll eine FU nur in ultima ratio, also als letztes Mittel, erfolgen (Art. 426, ZGB). In jedem Fall soll, wie bereits erwähnt, nach dem Prinzip der Vermeidbarkeit gehandelt werden (Meier-Allmendinger, 2009). Verschiedene Autoren|innen beschreiben Strategien zur Vermeidung von (fortdauernden) Zwangsmassnahmen, die von psychiatrischen Einrichtungen umgesetzt werden können. Dazu gehören Trainingsmassnahmen für Mitarbeitende in den Psychiatrien, wie Aggressionsmanagement, Deeskalationskurse und Abwehrtechniken. Zudem sollten psychiatrieinterne Fortbildungskurse zu psychischen Krankheiten und die Bildung von Fokusgruppen, in denen die Haltung gegenüber Zwangsmassnahmen gemeinsam reflektiert wird, angeboten werden. Auch für Patienten|innen können Schulungen zum Management eigener Aggressionen sinnvoll sein (Olszewski & Jäger, 2015). Es ist weiter angezeigt, Abteilungen mit Rückzugsmöglichkeiten anzubieten. Eine Konzentration schwer kranker Patienten|innen auf engem Raum ist ungünstig (Pro Mente Sana, 2014). Zudem können Tätigkeiten, welche die Interaktion und Kommunikation fördern, hilfreich sein. Dies kann in Form einer aktiven Beteiligung an der eigenen Behandlung oder durch Gespräche mit Vertrauenspersonen erfolgen (Heumann et al., 2017). Auch die Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen mit den Betroffenen und|oder den Angehörigen sowie die gemeinsame Erarbeitung von Krisenplänen können dazu beitragen, dass weitere Zwangsmassnahmen verhindert werden können (Olszewski & Jäger, 2015; Pro Mente Sana, 2014).  

Viele der genannten Massnahmen werden bereits umgesetzt und von Patienten|innen als hilfreich erachtet. Die Weiterentwicklung und Erforschung von zwangsreduzierenden Massnahmen sollte künftig einen höheren Stellenwert erhalten. Dabei muss die Sicht der Patienten|innen, die sich oft nicht mit der Perspektive der Ärzte|innen zu decken scheint, unbedingt stärker miteinbezogen werden (Heumann et al., 2017). 

Ein Fallbeispiel 

Ein 22-jähriger, leicht verwahrloster Mann wird von der Polizei unter Zwang in die örtliche Psychiatrie gebracht. Die Begründung vorerst: Er sei in der Öffentlichkeit verbal ausfällig geworden und habe Passanten|innen angegriffen. Bei akuter Fremdgefährdung wird er nun vor, dem Hintergrund eines Verdachts auf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, gegen seinen Willen in der psychiatrischen Klinik untergebracht. Als dem Patienten im Eintrittsgespräche seine rechtliche Situation erklärt wird beginnt er das medizinische Personal bedrohlich anzuschreien und zerschlägt einen Stuhl an der Wand. In dieser akuten Gefährdungssituation wird der junge Mann von den anwesenden Pflegekräften unter starker Gegenwehr in ein Isolierzimmer gebracht. Nachdem er die angebotene orale Medikation vehement abgelehnt hat, erhält er dort auf ärztliche Anordnung ein antipsychotisches Medikament intramuskulär injiziert. An den folgenden Tagen auf der Station ereignen sich ohne ersichtlichen Grund weitere aggressive Übergriffe gegen das Pflegepersonal und Mitpatienten|innen. Weil sich der Patient bezüglich seiner Erkrankung uneinsichtig zeigt und seinen Zustand als «absolut normal» versteht, wird bei wiederholter Fremdgefährdung eine Zwangsbehandlung beantragt und richterlich bestätigt (Olszewski & Jäger, 2015).  


Zum Weiterlesen und -schauen

Meier-Allmendinger, D. (2009). Die ärztliche Einweisung – eine Zwangsmaßnahme in  

der Medizin. Therapeutische Umschau66(8), 595–599.  

Olszewski, K., & Jäger, M. (2015). Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. InFo  

Neurologie & Psychiatrie17(7–8), 55–62.  

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. (2017).  

Zwangsmassnahmen in der Medizin. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW. Bern, Schweiz. 

Braunmiller, H. (2013). Vom Notruf bis zur Notaufnahme: So läuft eine Zwangseinweisung ab. Switzerland: SRF Puls. 

Literatur

Armgart, C., Schaub, M., Hoffmann, K., Illes, F., Emons, B., Jendreyschak, J., … Haußleiter, I. S. (2013). Negative Emotionen und Verständnis – Zwangsmaßnahmen aus Patientensicht. Psychiatrische Praxis40(5), 278–284.  

Beauchamp, T. L., & Childress, J. F. (2008). Principles of Biomedical Ethics (6th ed.). Oxford: Oxford University Press. 

Braunmiller, H. (2013). Vom Notruf bis zur Notaufnahme: So läuft eine Zwangseinweisung ab. Switzerland: SRF Puls. 

Christen, L., & Christen, S. (2005). Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken der Schweiz. Neuchâtel. 

Dressing, H., & Salize, H. J. (2004). Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Psychiatrische Praxis31(1), 34–39.  

Frajo-Apor, B., Stippler, M., & Meise, U. (2011). „Etwas Erniedrigenderes kann dir eigentlich in der Psychiatrie nicht passieren “. Psychiatrische Praxis38(6), 293–299.  

Gesundheitsdirektion Kanton Zürich. (2015). Gesundheitsversorgung 2015. Zürich. 

Heumann, K., Bock, T., Lincoln, T. M., & Heumann, K. (2017). Bitte macht ( irgend ) was ! Eine bundesweite Online-Befragung Psychiatrieerfahrener zum Einsatz milderer Maßnahmen zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen. Psychiatrische Praxis44(2), 85–92.  

Hoff, P. (2015). Zwangsmassnahmen in der Medizin: Eckwerte der neuen medizin-ethischen Richtlinien der SAMW. In Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (Ed.), Klinische Ethikstrukturen in der Schweiz: Update und Herausforderungen (pp. 1–22). Bern: SAMW. 

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Langer, U. (2015). Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie – verwerflich oder unvermeidbar. In G. Hänggi (Ed.), Strukturelle und therapeutisch-inhaltliche Möglichkeiten, Zwang zu reduzieren (pp. 5–6). Zürich: Sanatorium Kilchberg. 

Maio, G. (2015). Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie – verwerflich oder unvermeidbar. In G. Hänggi (Ed.), Gewalt als Fürsorge? Ethische Grundreflexionen zum Zwang in der Psychiatrie (pp. 3–5). Zürich: Sanatorium Kilchberg. 

Martin, V., Kuster, W., Baur, M., Bohnet, U., Hermelink, G., Knopp, M., … Steinert, T. (2007). Die Inzidenz von Zwangsmaßnahmen als Qualitätsindikator in psychiatrischen Kliniken. Probleme der Datenerfassung und − verarbeitung und erste Ergebnisse. Psychiatrische Praxis34(1), 26–33.  

Martin, V., & Steinert, T. (2007). Ein Vergleich von schweizer und deutschen Kliniken in Bezug auf die Anwendung von Fixierung und Isolierung. Psychiatrische Praxis34(Supplement 2), 212–217.  

Meier-Allmendinger, D. (2009). Die ärztliche Einweisung – eine Zwangsmaßnahme in der Medizin. Therapeutische Umschau66(8), 595–599.  

Moran, A., Cocoman, A., Matthews, A., & Staniuliene, V. (2009). Restraint and seclusion : a distressing treatment option ? Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing16(7), 599–605.  

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Riecher-Rössler, A., & Rössler, W. (1993). Compulsory admission of psychiatric patients – an international comparison. Acta Psychiatrica Scandinavica87(4), 231–236.  

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Steinert, T. (2007). Ethische Einstellungen zu Zwangsunterbringung und − behandlung schizophrener Patienten. Psychiatrische Praxis34(Supplement 2), 186–190.  

Steinert, T., Birk, M., Flammer, E., & Bergk, J. (2013). Subjective Distress After Seclusion or Mechanical Restraint: One-Year Follow-Up of a Randomized Controlled Study. Psychiatric Services;64(10), 1012–1017. 

Tag, B. (2015). Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie – verwerflich oder unvermeidbartle. In G. Hänggi (Ed.), Zwangsmassnahmen aus juristischer Sicht (pp. 6–8). Zürich: Sanatorium Kilchberg. 

Psychiatrie – Endhaltestelle oder Zwischenstopp?

Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK)

Von den Langzeittherapien im Burghölzli um 1870 bis zur Tagesklinik im Zentrum für Soziale Psychiatrie 2018 blickt die PUK auf bald 150 Jahre bewegte Geschichte zurück. Was hat sich getan in den Bereichen des Selbstverständnisses der Psychiatrie als Institution, der therapeutischen Möglichkeiten, der Erwartungen sowie bisweilen auch Ängsten und Vorurteilen von Patient|innen und Gesellschaft?

Von Jennifer Bebié
Lektoriert von Laura Bechtiger und Franziska Hasler
Illustriert von Eigenillu

Geöffnete Fenster verbinden ein hochsommerliches Zürich mit dem hellen, hohen Raum des Info-Kaffees im Zentrum für Soziale Psychiatrie. Wenig erinnert hier an die Bilder, welche mir beim Wort «Psychiatrie» durch den Kopf gehen. Anstelle von verriegelten Toren und Wärtern in weissen Kitteln, umgeben mich Kaffeetischchen, Tageszeitungen und ein buntes Cafeteria-Angebot. An den Wänden stehen verteilt einige Zimmerpflanzen. Eine junge Frau bestellt einen Kaffee mit Milch und Zucker. Ob sie ihr Getränk hier als Angestellte oder als Patientin entgegennimmt, bleibt für mich verborgen. Ich warte auf Anke Maatz, Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PUK. Von ihr möchte ich mehr dazu erfahren, wie sich die Klinik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Um Veränderungsprozesse neueren Datums nachvollziehen und einordnen zu können, soll im Folgenden aber nicht nur den aktuellsten Fragen und Problemstellungen Rechnung getragen werden. Es gilt die Entwicklungsgeschichte der PUK als Ganzes im Blick zu halten. Wie wurde aus dem Burghölzli die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich? Wo steht die Klinik heute zwischen Langzeitbetreuung und Not-Halt für Menschen in Krisensituationen?

Um die Jahrhundertwende gab es in Zürich die Heilanstalt, das war das Burghölzli und dann die Pflegeanstalt in der Rheinau. Es gab auch vor über hundert Jahren schon den Anspruch zu heilen und auch das Verständnis, dass psychische Erkrankungen nicht unbedingt chronisch verlaufen, sondern es zu einer Heilung kommen kann.

Dr. med. Anke Maatz im Gespräch mit Jennifer Bebié, 30. Juli 2018

Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli

«Irre sind heilbar» (Schott, 2006, S.270). Unter diesem Leitsatz distanzierten sich europäische Psychiater im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker von der bis dahin verbreiteten Praxis, die als unheilbar angesehenen Geisteskranken in sogenannten Tobhäusern zu versorgen (Luchsinger, 2016) oder sie zusammen mit Kriminellen, körperlich Behinderten, sowie Alten und Bedürftigen unterzubringen (Danuser & Rössler, 2013). Psychisch Kranke galten nun als behandelbar. Die Behandlung in den frühen psychiatrischen Anstalten kam jedoch noch nicht ohne gewaltsame Massnahmen aus. Zwangsjacken, Fixiergurte, Einzelzellen, kalte Wassergüsse und Einweisungen, meist gegen den ausdrücklichen Willen der Patient|innen, prägten die ambivalente Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Psychiatrie (Danuser & Rössler, 2013).

Um 1860 begann sich auch in der Schweizer Psychiatrie der Standard des No-restraint durchzusetzen (Danuser & Rössler, 2013). Mitten in dieser Zeit des Umdenkens beginnt auch die Geschichte der PUK. 1870 als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli eröffnet, stand die Klinik im Zeichen einer Psychiatrie, die sich im Wandel befand. In Folge wurden beispielsweise arbeitstherapeutische Angebote im Burghölzli etabliert (Luchsinger, 2016). Der arbeitstherapeutische Ansatz stand einer Vielzahl anderer Praktiken der damaligen Anstaltspsychiatrie entgegen. Anstelle der Isolierung und Bettbehandlung «unruhiger» Kranker, trat die verstärkte Einbindung in Alltagsaktivitäten (Tölle & Schott, 2006).

Die Klinik als einen Ort reibungsloser Fortschrittsbewegung zu verstehen, greift jedoch zu kurz. Noch im 19. Jahrhundert musste erkannt werden, dass nur sehr begrenzte Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen und dass ein «nicht unwesentlicher Anteil der Kranken» nicht oder nicht innert absehbarer Frist geheilt werden konnte. Lang- und teilweise Lebenszeitplätze für chronisch Kranke gehörten nach wie vor zum Bild des Burghölzli (Tölle & Schott, 2006, S. 270). Trotz einer Umbenennung in Kantonale Heilanstalt (Danuser & Rössler, 2013) bot das Burghölzli weiterhin Raum für jahrelange Aufenthalte und wurde ferner für einzelne seiner Patienten zur Endstation.

Ausbau der Behandlungsmöglichkeiten

Das Spektrum psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten weitete sich jäh, als in den 1950er Jahre mit Chlorpromazin und Imipramin erste Neuroleptika und Antidepressiva für therapeutische Zwecke zur Verfügung standen. Die anfänglich noch ausgesprochen optimistische Hoffnung endlich ein unproblematisches Heilmittel, gar eine kausale Behandlungsmöglichkeit psychiatrischer Erkrankungen gefunden zu haben, vermochten die neuen Substanzen nicht zu erfüllen (Baer, 1998).

Da fand sicherlich ein Umdenken statt. In den psychiatrischen Pflegeanstalten (…) ging es wirklich um langjährige Aufbewahrung, jetzt sehr negativ formuliert, aber positiver gesagt auch einfach um das Schaffen von Lebensraum. Heutzutage versucht man stationäre Aufenthalte kurz zu halten.

Maatz, 2018

Die Vorteile, welche eine psychopharmakologische Therapie mit sich bringen konnte, waren dennoch nicht mehr aus der Klinik wegzudenken. Kranke, die zuvor unerreichbar in sich gefangen schienen, die in hoffnungsloser Apathie versunken verharrten oder die aufgrund ihrer Unruhe unter Zwang ruhiggestellt worden waren, konnten durch medikamentöse Unterstützung erhebliche Besserung ihrer Symptomatik erfahren (Baer, 1998). Das Behandlungsangebot der 60er Jahre ergänzten Beschäftigungs-, Musik-, Kunst- und Psychotherapie (Danuser & Rössler, 2013).

Psychiatrische Erkrankungen hatten nahezu auf einen Schlag erheblich an Endgültigkeit eingebüsst. Auch wenn das Selbstverständnis der Psychiatrischen Klinik im Wandel begriffen war, ausserhalb der Klinik hielten sich Vorurteile hartnäckig. Eine Umbenennung der Kantonalen Heilanstalt Burghölzli in Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (Danuser & Rössler, 2013) zeigte sich weit weniger einflussreich als Schlagworte wie «Pillenkeule» und «chemische Zwangsjacke» (Schott & Tölle, 2006, S. 488).

Natürlich gibt es weiterhin Vorurteile. Ich glaube, das muss man so festhalten. (…) Ich mache aber immer wieder die Erfahrung, dass Menschen überrascht sind darüber, wie Psychiatrie heutzutage funktioniert. Und zwar positiv überrascht.

Maatz, 2018

Das Stigma bleibt?

Die sommerlich gekleidete junge Frau mit dem offenen Lachen, die mich im Info-Kaffee abholt, hat so ganz und gar nichts gemein mit dem Bild des strengen Anstaltsarztes im weissen Kittel. Im Gespräch mit Anke Maatz werden dann auch die tiefgreifenden Veränderungen deutlich, welche die PUK innerhalb der letzten 50 Jahre durchlaufen hat. Die sozialpsychiatrische Wende der 70er Jahre weitete den Blick für soziale Ursachen psychischer Krankheiten (Baer, 1998). Heute arbeitet die PUK mit dem bio-psycho-sozialen Modell, nachdem Erkrankungen multifaktoriell verstanden und behandelt werden. Patient|innen erhalten zwar weiterhin pharmakologische Unterstützung, doch betont Anke Maatz die Bedeutung nonverbaler Verfahren wie Musik-, Kunst-, Ergo-, Tanz- und Bewegungstherapie. Auch die Psychotherapie sei in der heutigen Psychiatrie zentral. «Ich glaube, es ist tatsächlich eine Entwicklung der letzten Jahre, dass auch in einer akuten Erkrankungsphase, damit auch im stationären Behandlungssetting, verstärkt versucht wird, psychotherapeutisch zu arbeiten; dass also auch immer mehr Psychotherapie auf Akutstationen angeboten wird. Da ist tatsächlich ein Umdenken festzustellen, das sich ganz unmittelbar auch im therapeutischen Angebot niederschlägt» (Maatz, 2018).

PUK Zürich: Historische Eckdaten

1864: Baubeschluss

1870: Eröffnung der Klinik als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli

1885: Etablierung arbeitstherapeutischer Angebote

1915: Umbenennung von Irrenheilanstalt in Kantonale Heilanstalt

1920er bis 40er Jahre: Schaffung und Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, allgemeiner Aus- und Umbau

1966: Umbenennung in Psychiatrische Universitätsklinik

1967: Einführung der Psychotherapie

1967-68: Einreissen der Klinikmauern

1970: Etablierung des sozialpsychiatrischen Dienstes

1984: Erwerb und Umbau des Gebäudes an der Militärstrasse für den sozialpsychiatrischen Dienst

2011: Integration des Psychiatriezentrums Rheinau als Zentrum für integrative Psychiatrie

2018: Neue Organisationsform als öffentlich-rechtliche Anstalt

(Danuser & Rössler, 2013)

Die PUK, die mir im Gespräch mit Anke Maatz begegnet, gewinnt zusehends an Distanz von langfristigen stationären Behandlungsformen. Es gilt das Prinzip «ambulant vor teilstationär vor stationär». Wo immer möglich soll versucht werden, Patient|innen in ihrem Lebensumfeld zu therapieren. Kranke können vermehrt von ambulanten und tagesklinischen Angeboten Gebrauch machen. Das Kriseninterventionszentrum bietet schnelle Hilfe für Menschen in Akutsituationen. Aufsuchende psychiatrische Behandlung findet sich im Home-Treatment Programm. Von der Haltung, psychiatrische Krankheiten grundsätzlich heilen zu müssen, sei man im Klinikalltag abgekommen. Den Fokus sieht Anke Maatz viel stärker bei der Unterstützung der Patient|innen, einen Umgang mit ihrer Symptomatik zu finden, um ein möglichst zufriedenes und erfülltes Leben führen zu können.

Die PUK ist in Bewegung und doch bleibt das Stigma bestehen? Schon Arenz (2003) sowie Schott und Tölle (2006) zeigten den grundlegenden Konflikt auf. Der medizinische Auftrag, Patient|innenleid zu lindern, steht einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Sicherheit und sozialer Kontrolle gegenüber. Anke Maatz differenziert weiter: «Also ich glaube schon, dass die Vorstellung, dass eine psychische Erkrankung in den meisten Fällen chronisch verläuft sich eher aufweicht. Trotzdem ist die[se Vorstellung] in vielen Köpfen noch sehr verankert; nicht nur bei Patient|innen und Angehörigen, sondern durchaus auch immer wieder bei Behandlern. Es gibt leider immer wieder Geschichten, dass Behandler explizit Hoffnung auf Besserung verneinen. Aber eine moderne Psychiatrie verschreibt sich heutzutage dem sogenannten Recovery-Paradigma in dem ein ganz wichtiger Ansatz ist, dass es immer Grund zu Hoffnung gibt und dass immer eine Besserung, Heilung eintreten kann. Dazu gehört sicherlich auch die Einbeziehung von Peer-Mitarbeitern, Menschen mit Erfahrung psychischer Erkrankung. Daran versuchen wir uns zu orientieren und daraufhin zu arbeiten und diese Hoffnung auch zu vermitteln» (Maatz, 2018).

Ein gesellschaftlich stark verankertes Stigma lässt sich kaum einfach beseitigen, auch wenn damit nicht nur der Psychiatrie als Institution, sondern auch Betroffenen gedient wäre. Wie verstrickt die Faktoren zu verstehen sind, welche eine solche Stigmatisierung mitbeeinflussen, verdeutlicht Anke Maatz: «[Es gibt] natürlich nach wie vor Aspekte, die massgeblich zur Stigmatisierung beitragen (….), wie Zwangsbehandlungen, geschlossene Türen. (…) Es ist falsch zu meinen, dass die Psychiatrie ganz ohne das könnte. Aber es gibt ganz viel Bewegung in dem Bereich. Es gibt viel Bemühung Zwangsbehandlung zu reduzieren, und ich denke, ein Stückchen weit kommt davon doch auch was in der Gesellschaft an. Trotzdem bleibt, dass die Psychiatrie ja wie gefangen ist, in diesem Doppelmandat; (…) dass die Psychiatrie gleichzeitig den gesellschaftlichen Auftrag hat zu sichern und individuell zur Heilung beizutragen; und das gerät manchmal in Konflikt. Das Bedürfnis nach Sicherheit, das es in der Gesellschaft gibt, ist teilweise auch hinderlich für psychiatrisches Arbeiten, so dass die Psychiatrie auch immer wieder missbraucht wird, letztendlich ordnungspolitische Funktionen zu übernehmen, die einfach nicht in den medizinischen Auftrag fallen. Das ist so ein bisschen eine Stigmatisierungsfalle. Einerseits stigmatisiert die Gesellschaft die Psychiatrie, aber sie erteilt auch Aufträge oder delegiert unliebe Aufgaben (…), die wiederum zur Stigmatisierung beitragen und damit sind wir ständig konfrontiert» (Maatz, 2018).

Die komplexen Interaktionen unterschiedlicher Ansprüche, Haltungen und Erwartungen, lassen sich nicht schnell oder einfach auflösen. Resignation schwingt in unserem Gespräch dennoch wenig mit. Zwar benennt Anke Maatz die gegenwärtige Situation klar und mit Nachdruck, der Grundton bleibt, nichtsdestotrotz, veränderungsorientiert. «Ich glaube, was vielleicht am meisten helfen könnte, ist offener Austausch zwischen Gesellschaft, Psychiatrie und allen Stakeholdern, auch der Austausch darüber, dass Psychiatrie ganz ohne Zwang wohl nicht möglich ist und man trotzdem alles tun sollte, um Zwang gering zu halten. (…) Ich glaube, da muss die Psychiatrie selber aktiv werden und mehr zu sich stehen; mit allen Konflikten, die dazu gehören» (Maatz, 2018).

Nach dem Gespräch mit Anke Maatz, mache ich mich wieder auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof. Meine Gedanken kreisen noch eine Weile um das Bild einer äusserst komplexen Psychiatrie, einer Institution, die sich am beständigsten durch stetigen Wandel auszeichnet. Ein Wandel, der sich sowohl im psychiatrischen Selbstverständnis als auch in der Arbeit mit Betroffenen und Öffentlichkeit vollzieht. Von einer Endhaltestelle ist die heutige PUK jedenfalls weit entfernt.

Ich steige in einen S-Bahnwagen. Nach kurzer Verzögerung, aufgrund einer technischen Störung an der Türschliessanlage, setzt sich der Zug in Bewegung. Meine Entfernung zum Hauptbahnhof, zum Zentrum für Soziale Psychiatrie, nimmt zu. Die psychiatrische Universitätsklinik war auch für mich heute nur Zwischenstopp.


Zum Weiterlesen

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli: Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Trösch, K. et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Literatur

Arenz, D. (2003). Dämonen, Wahn, Psychose: Exkursion durch die Psychiatriegeschichte. Köln: Viavital Verlag GmbH.

Baer, R. (Ed.). (1998). Themen der Psychiatriegeschichte. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Luchsinger, K. (2016). Die Vergessenskurve: Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie. Zürich: Chronos Verlag.

Schott, H., & Tölle R. (Eds.). (2006). Geschichte der Psychiatrie: Krankheistlehren, Irrwege, Behandlungsformen. München: Verlag C.H. Beck.

Trösch, Kurt et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.