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Mit ‘Persönlichkeit’ getaggte Beiträge

Alltäglicher Sadismus

Eine Übersicht zu dem Vergnügen über das Leiden anderer

Die Forschung zum Thema alltäglicher Sadismus scheint noch in den Kinderschuhen zu stecken. Erst seit einer Dekade wird das Persönlichkeitsmerkmal eigenständig untersucht (Foulkes, 2019; Paulhus et al., 2020). Eine Zusammenfassung.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Jovana Vicanovic
Illustriert von Anja Blaser

Vor kurzer Zeit zeigte mir ein Freund ein Video von sich selbst in Zeitlupe, wie er sich beim Skateboarden die Bänder riss. Auch wenn man die deutlich schmerzhafte Krümmung des Fussgelenks gut sehen konnte, musste ich mir eine grosse Faszination des ansonsten eher unspektakulären Videos eingestehen. Vermutlich bin ich nicht allein damit. Im Internet gibt es eine riesige Bandbreite an Bild- oder Videomaterial, wie sich Personen verletzen. Dass man dabei eine Spannung oder sogar ein Vergnügen erlebt, ist anhand der Theorie des alltäglichen Sadismus ganz natürlich.

Vergnüglich und antisozial

Der alltägliche Sadismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches das Vergnügen, andere Personen leiden zu sehen oder sie leiden zu lassen, beschreibt (Buckels et al., 2013; Paulhus et al., 2020; Paulhus & Dutton, 2016). Was der Grund für das Ergötzen am Leiden anderer ist, wird immer noch diskutiert. Anstelle von Vergnügen könnte auch der Ausdruck der eigenen Dominanz und Macht der Beweggrund für das charakteristische antisoziale Verhalten sein (Foulkes, 2019; O’Meara et al., 2011; Plouffe et al., 2017). Nach Foulkes (2019) muss das eine das andere jedoch nicht ausschliessen. Dass der alltägliche Sadismus mit antisozialen Verhalten in Verbindung zum Leiden anderer zusammenhängt, steht ausser Frage (Foulkes, 2019). So gibt es Zusammenhänge zu Trolling (Buckels, 2018), Cybermobbing (van Geel et al., 2017), Cyberstalking (Smoker & March, 2017), Bestrafung von kooperativen Verhalten (Pfattheicher et al., 2017), Aggression (Chester et al., 2019) oder Vandalismus (Pfattheicher et al., 2019). Generell haben eher Männer, besser gebildete Menschen und Person in höheren beruflichen Positionen eine stärkere Ausprägung (Góis et al., 2020).

Sexueller Sadismus

Erst seit 2011 wird der alltägliche Sadismus losgelöst vom forensischen Setting diskutiert (Foulkes, 2019). Daher muss das Persönlichkeitsmerkmal sich von den extremen Formen wie des sexuellen oder kriminellen Sadismus abgegrenzt werden (Paulhus & Dutton, 2016). Besonders dominant in den Köpfen der Menschen scheint nach Paulhus und Dutton (2016) der sexuelle Sadismus zu sein. Anhand des sexuellen Sadismus wird das sexuelle Vergnügen, welches man beim Quälen von anderen Personen verspürt, beschrieben (Paulhus & Dutton, 2016). Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Donatien Francois de Sade, besser bekannt als Marquis de Sade. De Sade schrieb im 18. Jahrhundert in Frankreich Bücher unter anderem zu Pädophilie, Sodomie und Sadomasochismus, was schlussendlich zu einer Inhaftierung in der Bastille und seinem Tod führten (Buckels, 2018; Paulhus & Dutton, 2016). Seine Bücher wie Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung oder Justine oder Die Leiden der Tugend können heute noch erworben werden. Jedoch warnen zahlreiche Leserkommentare auf beispielsweise orellfüssli.ch vor deren Inhalt. Nur schon die Leseprobe, welche auf der Website zum Buch Die 120 Tage von Sodom zur Verfügung gestellt wird, ist bereits beim Überfliegen sehr befremdlich und abstossend. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel von de Sades Buch ist folgendes:

«Er beschäftigte mehrere Frauen, die für ihn Tag und Nacht in Dachkammern und Dachböden nach dem suchten, was das tiefste Elend bieten konnte. Und unter dem Vorwand, ihnen zu helfen, vergiftete er sie entweder, was ihm eine der köstlichsten Zeitvertreibe schien, oder er ließ sie zu sich führen und opferte sie persönlich seinen perversen Launen.»

de Sade, 2006, S. 18

Schriften wie die von Erich Fromm (1973) schlagen eine Loslösung der sexuellen und kriminellen Komponenten vom Sadismus vor. Neben der sexuellen gäbe es auch die physische und die mentale Komponente des Sadismus, welche aufgrund von Unsicherheit oder sozialer Impotenz entsteht (Buckels, 2018). Sadismus sei ein natürlicher Aspekt der menschlichen Natur (Fromm, 1973). Auch die heutige Forschung ist der Überzeugung, dass der alltägliche Sadismus angeboren ist.

Sadist*innen von Geburt an

Die extremen Formen des Sadismus ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit: Kriege und Kriegsverbrechen, Mord und öffentliche Hinrichtungen sind hier nur einige Beispiele. Besonders wird das Foltern von beispielsweise feindlichen Personen zu Kriegszeiten erwähnt, da dies über Zeit und Ort hinweg immer wieder vorkam (Paulhus & Dutton, 2016). In der heutigen Zeit wurden aufgrund von technischen Fortschritten das Ausleben von Sadismus in einem legalen Rahmen ermöglicht. So werden gewalttätigen Videospiele wie Egoshooter, das Foltern von virtuellen Figuren oder grausige Bilder im Internet als Ausdruck von sadistischen Zügen angesehen (Paulhus & Dutton, 2016). Aber auch gewalttätige Sportarten wie Mixed Martial Arts oder Eishockey gehören dazu.

Aufgrund der scheinbaren Allgegenwärtigkeit von Sadismus scheint sich das Merkmal nicht durch soziales Lernen zu entwickeln, sondern es werden evolutionäre Wurzeln propagiert (Paulhus & Dutton, 2016). Forschende gehen von einem evolutionären Vorteil von Personen mit sadistischen Zügen aus. Grausamkeit sei adaptiv, da es beim Kämpfen und Jagen unterstützt (Buckels, 2018). Zudem konnten Studien bei Tieren zeigen, dass es ein neuronales Belohungssystem für räuberische Aggression gibt, welches unabhängig von anderen Formen der Aggression existiert (Fuchs et al., 1981; McEllistrem, 2004; Shaikh et al., 1991). Wir verspüren also eine Belohnung für sadistisches Verhalten.

Alltäglicher Sadismus in der Forschung

Seit letztem Jahr ist der alltägliche Sadismus Bestandteil des Fragebogens zu der dunklen Triade (Psychopathie, Machiavellismus und Narzissmus) (Paulhus et al., 2020). Die neue dunkle Tetrade zeichnet sich durch eine ausgeprägte Kaltherzigkeit aus (Paulhus et al., 2020). Daneben gibt es auch Fragebögen, welche den alltäglichen Sadismus alleinig erfassen. Gemeinsam haben sie eine Einteilung in mindestens zwei Faktoren: die direkte und die stellvertretende Form des alltäglichen Sadismus (Paulhus & Dutton, 2016). Es wird also unterschieden, ob die Person Vergnügen dabei verspürt, selbst jemanden zu verletzen oder beim Beobachten davon. Ein Beispiel für letzteres ist das zu Beginn erwähnte Video mit dem Bänderriss. Die beiden Faktoren sind distinkt, aber gleichzeitig hoch miteinander korreliert (Paulhus & Dutton, 2016). Eine Unterscheidung der direkten Form des alltäglichen Sadismus in verbale und physische Verletzungen lassen einen Genderunterschied erkennen. Während Frauen in der Dimension mit verbalen Verletzungen höhere Werte aufzeigen, haben Männer bei dem physischen Verletzen und der stellvertretenden Form eine stärkere Ausprägung (Buckels & Paulhus, 2013 nach Paulhus & Dutton, 2016).

Zur Erhebung von alltäglichem Sadismus kann beispielsweise der Short Dark Tetrad (SD4; Paulhus et al., 2020) verwendet werden. Anhand dieses Instruments werden auch Psychopathie, Machiavellismus und Narzissmus erhoben. Anhand folgender Items und einer fünfstufigen Likert-Skala wird der alltägliche Sadismus erfasst:

1. Watching a fist fight excites me.

2. I really enjoy violent films and video games.

3. It’s funny when idiots fall flat on their face.

4. I enjoy watching violent sports.

5. Some people deserve to suffer.

6. Just for kicks, I’ve said mean things on social media.

7. I know how to hurt someone with words alone.

Wie kann man nun aber das Vergnügen des Quälens von Personen im Labor untersuchen, ohne dabei unethische Forschung zu betreiben? Hierzu haben sich Buckels und Kolleg*innen (2013) mit ihrer Grundlagenforschung eine Studie einfallen lassen. In der Untersuchung mussten die Versuchspersonen sich zwischen vier unliebsamen Aufgaben entscheiden: Entweder sie tauchten ihre Hand in Eiswasser, putzten eine Toilette, töteten ein Käfer oder assistierten beim Töten des Käfers. Diejenigen, die eine der Käfer-Aufgaben wählten, wurden zu einer Tötungsmaschine geführt (Buckels et al., 2013). Sie mussten sich für einen der drei Käfer mit den lieblichen Namen Muffin, Tootsie oder Ike entscheiden und ihn in die Maschine einführen. Trotz knirschender Geräusche der Maschine, wurde keiner der drei Käfer getötet oder verletzt (Buckels et al., 2013). Personen mit hohen Werten im alltäglichen Sadismus töteten eher die Käfer und berichteten von einem höheren Vergnügen dabei.

Die noch sehr junge Theorie des alltäglichen Sadismus wird vermutlich durch die Einbindung in die dunkle Tetrade in den nächsten Jahren mehr Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten. Es bleibt also spannend, was wir in Zukunft noch alles über unser Vergnügen, andere Leiden zu sehen und zu lassen, noch erfahren werden. Im Übrigen ist mein Freund mit dem Bänderriss wieder gesund – und fährt wieder Skateboard.


Zum Weiterlesen

Buckels, E. E., Jones, D. N., & Paulhus, D. L. (2013). Behavioral confirmation of everyday sadism. Psychological Science, 24(11), 2201–2209. https://doi.org/10.1177/0956797613490749

Paulhus, D. L., & Dutton, D. G. (2016). Everyday sadism. In V. Zeigler-Hill & D. K. Marcus (Eds.), The dark side of personality: Science and practice in social, personality, and clinical psychology (pp. 109–120). American Psychological Association.

Literatur

References

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Buckels, E. E., Jones, D. N., & Paulhus, D. L. (2013). Behavioral confirmation of everyday sadism. Psychological Science, 24(11), 2201–2209. https://doi.org/10.1177/0956797613490749

Chester, D. S., DeWall, C. N., & Enjaian, B. (2019). Sadism and aggressive behavior: Inflicting pain to feel pleasure. Personality & Social Psychology Bulletin, 45(8), 1252–1268. https://doi.org/10.1177/0146167218816327

de Sade, M. (2006). Die 120 Tage von Sodom: Oder Die Schule der Ausschweifung. Anaconda Verlag.

Foulkes, L. (2019). Sadism: Review of an elusive construct. Personality and Individual Differences, 151, 109500. https://doi.org/10.1016/j.paid.2019.07.010

Fromm, E. (1973). The anatomy of human destructiveness. Fawcett Crest.

Fuchs, S. A. G., Dalsass, M., Siegel, H. E., & Siegel, A. (1981). The neural pathways mediating quiet-biting attack behavior from the hypothalamus in the cat: A functional autoradiographic study. Aggressive Behavior, 7(1), 51–67. https://doi.org/10.1002/1098-2337(1981)7:1<51::AID-AB2480070107>3.0.CO;2-F

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McEllistrem, J. E. (2004). Affective and predatory violence: A bimodal classification system of human aggression and violence. Aggression and Violent Behavior, 10(1), 1–30. https://doi.org/10.1016/j.avb.2003.06.002

O’Meara, A., Davies, J., & Hammond, S. (2011). The psychometric properties and utility of the short sadistic impulse scale (ssis). Psychological Assessment, 23(2), 523–531. https://doi.org/10.1037/a0022400

Paulhus, D. L., Buckels, E. E., Trapnell, P. D., & Jones, D. N. (2020). Screening for dark personalities. European Journal of Psychological Assessment, 37(3), 208–222. https://doi.org/10.1027/1015-5759/a000602

Paulhus, D. L., & Dutton, D. G. (2016). Everyday sadism. In V. Zeigler-Hill & D. K. Marcus (Eds.), The dark side of personality: Science and practice in social, personality, and clinical psychology (pp. 109–120). American Psychological Association.

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Pfattheicher, S., Keller, J., & Knezevic, G. (2019). Destroying things for pleasure: On the relation of sadism and vandalism. Personality and Individual Differences, 140, 52–56. https://doi.org/10.1016/j.paid.2018.03.049

Plouffe, R. A., Saklofske, D. H., & Smith, M. M. (2017). The assessment of sadistic personality: Preliminary psychometric evidence for a new measure. Personality and Individual Differences, 104, 166–171. https://doi.org/10.1016/j.paid.2016.07.043

Shaikh, M. B., Lu, C.‑L., MacGregor, M., & Siegel, A. (1991). Dopaminergic regulation of quiet biting attack behavior in the cat. Brain Research Bulletin, 27(5), 725–730. https://doi.org/10.1016/0361-9230(91)90053-M

Smoker, M., & March, E. (2017). Predicting perpetration of intimate partner cyberstalking: Gender and the dark tetrad. Computers in Human Behavior, 72, 390–396. https://doi.org/10.1016/j.chb.2017.03.012

van Geel, M., Goemans, A., Toprak, F., & Vedder, P. (2017). Which personality traits are related to traditional bullying and cyberbullying? A study with the big five, dark triad and sadism. Personality and Individual Differences, 106, 231–235. https://doi.org/10.1016/j.paid.2016.10.063

Borderline

Wenn es zwischen leidenschaftlich und destruktiv keine Distanz mehr gibt

Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, bei welcher Betroffene intensive Emotionen und instabile Identitäten aushalten müssen. Aber was ist eine Persönlichkeitsstörung genau? Was bedeutet Borderline für interpersonelle Beziehungen? Und wie kann man die Störung behandeln? Eine Übersicht.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Marie Reinecke und Jovana Vicanovic
Illustriert von Hannah Löw

Kathrin, die Protagonistin des Dokumentarfilms Diagnose Borderline (2019) läuft barfuss durch den Wald. Hier kann sie sich entspannen. Das habe sie früher nicht gekonnt. Ihre Emotionen seien übermächtig gewesen, sie habe sich selber verletzt, sei gemein zu ihrer Mutter gewesen. Schon mit 13 Jahren hat sie gewusst, dass etwas nicht mit ihr stimmen würde. Dann kam die Diagnose: Persönlichkeitsstörung, Borderline. Aber was bedeutet das?

Störung der Persönlichkeit

Nach dem ICD-11 kennzeichnen sich Persönlichkeitsstörungen durch Probleme mit dem eigenen Selbst oder durch Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen (World Health Organisation, 2019). Betroffene Personen können zum Beispiel Mühe mit der eigenen Identität haben oder es nicht schaffen, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Ihre Erlebens- und Verhaltensmuster bestehen für mindestens zwei Jahre und betreffen Kognition, Affekt und Verhalten (World Health Organisation, 2019). Dabei gibt es allgemeine und spezifische Kriterien (Petermann, Maercker, Lutz, & Stangier, 2011). So muss beispielsweise das charakteristische und andauernde innere Muster des Erlebens und Verhaltens eindeutig von der kulturellen Norm abweichen und über unterschiedliche Situationen hinweg unflexibel sein. Ausserdem erfährt die betroffene Person oder ihre Umwelt einen Leidensdruck (Petermann et al., 2011). Nach dem ICD-11 wird als Erstes festgestellt, ob und wie schwer eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (World Health Organisation, 2019). Es wird zwischen leichtem, mittlerem, schwerem und nicht bestimmbarem Schweregrad unterschieden. Erst danach kann eine Diagnose bezüglich der Art der Persönlichkeitsstörung gestellt werden (World Health Organisation, 2019). Die sechs dominierenden Persönlichkeitseigenschaften und -Muster sind negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit und Borderline.

«[Die Gefühle sind] so unaushaltbar, dass man das Gefühl hat, […] der Körper ist zu eng, das ist alles zu klein für diese ganzen bombastischen Emotionen, die da einfach kommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Schneiden, um sich selber zu spüren

Personen, die an Borderline leiden wie Kathrin, erleben oft intensive Angst, Wut, Trauer und ein chronisches Gefühl der inneren Leere (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Sie sind teilweise von einer intensiven Angst verlassen zu werden beherrscht (Petermann et al., 2011). Dies resultiert in einem übertriebenen Bemühen, den*die Partner*in an sich zu binden. Häufig zeigen sie eine Neigung für instabile, konflikthafte und intensive Beziehungen (Petermann et al., 2011). Die betroffene Person idealisiert und entwertet den*die Partner*in (Bolton & Mueser, 2009). Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind demnach instabil, genauso wie ihr Selbstbild und ihre Affekte (Petermann et al., 2011). Die Betroffenen zeigen eine deutliche Impulsivität. Beispielsweise gehen sie unbesonnen mit ihrem Geld um, trinken extrem viel Alkohol oder überessen sich (Bolton & Mueser, 2009). Hinzu kommen Androhungen oder Handlungen der Selbstverletzung wie Verbrennungen oder Schneiden (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Häufig schneiden sich die betroffenen Personen am Unterarm. Leichtes Ritzen wie auch tiefe Schnitte lösen ein kurzes Gefühl der Erleichterung der erlebten inneren Spannung aus oder lassen sie sich wieder selbst spüren (Petermann et al., 2011). Die Anzahl der Suizidversuche und die Einweisungen in Krankenhäuser von Betroffenen der Störung sind hoch (Bolton & Mueser, 2009). Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, werden überzufällig häufig auch mit Depressionen (Galione & Oltmanns, 2013), bipolaren Störungen (Fornaro et al., 2016), posttraumatischer Belastungsstörungen (Frías & Palma, 2015) oder Essstörungen wie Anorexie und Bulimie (Martinussen et al., 2017) diagnostiziert. Auch Kindheitstraumata werden vermehrt bei den Betroffenen festgestellt (MacIntosh, Godbout, & Dubash, 2015).

Häufige Remission, häufiger Rückfall

Etwa 1,5 Prozent der Menschen leiden an einer Borderlinestörung, wobei die Zahl je nach Studie unterschiedlich hoch ausfällt (Fiedler, 2018). In einer internationalen Studie der WHO wurde bei einer psychiatrischen Stichprobe Borderline bei fast 15 Prozent der Patienten diagnostiziert. Somit zeigt die Diagnose Borderline die höchste Prävalenzrate in fast allen Ländern (Fiedler, 2018). Nur in Indien konnte die Persönlichkeitsstörung nicht festgestellt werden. In der Übersichtsarbeit von Fiedler (2018) konnte die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit oder in der Jungend beginnen und sich anschliessend im Erwachsenenalter manifestieren, nicht bestätigt werden. Viele Patienten wurden im Verlaufe ihres Lebens nicht mehr diagnostiziert, vor allem im höheren Lebensalter. Eine Chronifizierung kommt nur in seltenen Fällen vor (Fiedler, 2018). Eine längsschnittliche Studie fand, dass 16 Jahre nach der erstmaligen Vergabe der Diagnose Borderline fast alle Versuchspersonen in Remission waren (Zanarini, Frankenburg, Hennen, Reich, & Silk, 2005). Dennoch hatten nur etwa 40 bis 60 Prozent der Versuchspersonen ein gesundes Funktionsniveau erreicht. Im Vergleich zu Versuchspersonen mit anderen Persönlichkeitsstörungen waren die Patienten*innen mit einer Borderlinestörung häufiger und schneller von einem Rückfall betroffen (Zanarini et al., 2005). In den letzten Jahrzenten haben sich jedoch die spezifischen Therapieprogramme erfolgsversprechend verbessert (Petermann et al., 2011). Es ist also gut möglich, dass sich die hohe Rückfallquote in den letzten 15 Jahren zu Gunsten der Betroffenen verändert hat.

Therapie nach Schema

Psychopharmaka scheinen die Schwere der Persönlichkeitsstörung nicht verringern zu können (Lieb, Zanarini, Schmahl, Linehan, & Bohus, 2004). Jedoch können Psychotherapien Erfolge verzeichnen. Vor allem spezialisierte Therapien können effektiv und allumfassend den Schwergrad und die Selbstverletzungstendenz reduzieren (Oud, Arntz, Hermens, Verhoef, & Kendall, 2018). Zudem scheinen sie von den Patienten besser akzeptiert zu werden: weniger brechen die Therapie ab (Oud et al., 2018). Zu den spezialisierten Therapien gehören unter anderem die dialektische Verhaltenstherapie, die übertragungsfokussierte Psychotherapie oder die Schematherapie (Oud et al., 2018). Gemeinsam haben diese Therapien, dass sie auf Theorien über die Entstehung und Erhaltung von Borderline basieren. Zudem veröffentlichen sie detaillierte Protokolle über die Behandlung und therapeutische Techniken. Ausserdem ist die therapeutische Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in bei allen Therapien bedeutsam (Oud et al., 2018). Im folgenden Abschnitt wird die Schematherapie stellvertretend für alle spezialisierten Therapieformen genauer erläutert.

«Ich fand das so amüsant, wenn die Leute schockiert waren, wenn ich irgendwie mit einem blutendem Arm da sass oder so. Ich fand das irgendwie amüsant. Bis ich dann festgestellt habe, dass ich es gar nicht mehr kontrollieren kann und dann habe ich Angst bekommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Die Schematherapie beinhaltet vier sogenannte heilende Mechanismen (Kellogg & Young, 2006). Bei der begrenzten Nachbeelterung versuchen die Therapeuten die Defizite der Elternerziehung durch ein warmes und empathisches Auftreten zu kompensieren. Die emotionsfokussierte Arbeit als zweiter Mechanismus verwendet vor allem Vorstellungen, Dialoge und das Briefschreiben (Kellogg & Young, 2006). Bei der kognitiven Restrukturierung und Bildung wird thematisiert, was normale Bedürfnisse und Emotionen sind. Beim vierten und letzten Mechanismus, in welchem es um das Brechen von Verhaltensmustern geht, kommt es zu einer Generalisierung des Erlernten in der Therapie auf Beziehungen ausserhalb (Kellogg & Young, 2006). Diese Strategien sollten der Person helfen, eine emotionale Stabilität zu erhalten, zielorientiert zu handeln, beidseitig positive Beziehungen zu führen und sich generell gut zu fühlen.

Kathrin hat eine Therapie erfolgreich bewältigt. Heute ist sie selber Psychotherapeutin und kann auch durch ihre eigenen Erfahrungen anderen helfen. Sie ist zwar noch leidenschaftlich, aber nicht mehr destruktiv.

Weniger Borderline bei Männern? Einige Studien fanden ein Geschlechterverhältnis von 1:3 oder 1:4 bei mit Borderline diagnostizierten Personen, während andere keine signifikanten Unterschiede fanden (Bayes & Parker, 2017). Auffallend ist, dass vor allem Untersuchungen mit klinischen Versuchspersonen ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fanden. Da vermutet wird, dass Männer weniger häufig klinische Hilfe aufsuchen, sind sie in diesen Studien oft unterrepräsentiert, was zum vermeintlichen Fehlschluss führte, dass Männer weniger von Borderline betroffen sind (Bayes & Parker, 2017). Ein weiterer Grund ist, dass es bei Männern vermehrt zu einer Fehldiagnose kommt, wie beispielsweise der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Männer zeigen oft andere Ausprägungen der Störung (Bayes & Parker, 2017). So ist ihr Verhalten mehr externalisierend, sie fügen sich gewalttätigere Selbstverletzungen zu und zeigen dissoziale Verhaltensmuster und Substanzmissbrauch.


Zum Weiterlesen

Fiedler, P. (2018). Epidemiologie und Verlauf von Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66(2), 85–94. doi: 10.1024/1661-4747/a000344

World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Literatur

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Oud, M., Arntz, A., Hermens, M. L., Verhoef, R., & Kendall, T. (2018). Specialized psychotherapies for adults with borderline personality disorder: A systematic review and meta-analysis. The Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 52(10), 949–961. https://doi.org/10.1177/0004867418791257

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