Gesammelt von Noémie Lushaj und Julia J. Schmid Illustriert von Janice Lienhard
Isabelle Bartholomä, Ressort Lektor*innen
Ich höre und lese gerne Geschichten, wie sich Menschen beruflich und sozial hochgearbeitet haben. Ihre Willenskraft und ihr Durchhaltevermögen faszinieren mich. Obwohl sie nicht wissen, wo sie mal stehen werden, und ob sich der ganze Aufwand lohnt, bleiben sie stark und geben nicht auf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ähnliches leisten könnte. Es ist nicht mein erklärtes Ziel, «nach oben» zu kommen, was auch immer das bedeutet. Im Moment setze ich so gut wie möglich einen Fuss vor den anderen, teils natürlich auch die Treppe hoch. Umso gespannter bin ich darauf, wo ich mich irgendwann wiederfinde und welchen Höhen und Tiefen ich auf meinem Lebensweg begegne.
Berit Barthelmes, Ressort Autor*innen
Nach oben wollen wir alle hin und wieder. Im Aufzug, in der Karriere, am liebsten ins All. Doch was erwartet uns, wenn wir ganz oben angekommen sind? Ein Stockwerk wie jedes andere, Alleinsein der Karriere willen und ein lebensfeindlicher Planet. Auf der anderen Seite erwarten uns, eine neue Ebene zum Erkunden, Erfolg und der Willen, privat und beruflich voll dabei zu sein und ein noch unbekannter, spannender, noch formbarer Ort. Was wir von oben sehen, hängt davon ab, wie wir es sehen wollen.
Arianna Pagani, Ressort Marketing und Ressort Layout
Ich finde, dass unsere Gesellschaft das Wort «Oben» mit dem Positiven assoziiert. Wir wachsen mit der Aufforderung auf, in der Schule hohe Noten anzustreben, im Sport höher zu springen, durchzuatmen und nach oben zu schauen, um die Angst zu besiegen. Für mich bedeutet «nach oben», dass ich jeden Tag versuche, einen Schritt weiterzukommen und gleichzeitig mich zu verbessern, um die persönliche Erfolgsleiter zu erklimmen.
Janice Lienhard, Ressort Illustrator*innen
Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich Höhenangst habe. Wir haben alle Angst vor dem Fallen, das ist ja auch nur adaptiv. Aber ich glaube, da dies andere Leute eher nicht zu stören scheint, habe ich doch vermutlich Höhenangst. Die Menschen wollen klettern, Fallschirmspringen, auf den höchsten Turm und Gipfel hinauf. Sie wollen auf diese blöden Glasböden stehen, weit über irgendwelchen Dächern, scheinbar nur um das Adrenalin zu spüren, welches kommt, wenn man seine Füsse in der Luft anschaut. Vielleicht habe ich doch eine durchschnittliche Höhenangst und dafür ein unterdurchschnittliches Interesse, diese Angst zu spüren.
Julia J. Schmid, Präsidium
Klar will ich nach oben. Der Drang nach Selbstoptimierung ist nicht nur in unserer Gesellschaft verankert, sondern auch in mir. Individuell bleibt, was «Oben» für uns bedeutet. Eine höhere berufliche Position, mehr Zeit mit der Familie oder doch ein besseres Gesundheitsverhalten? Nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb eines Menschen kann die Definition variieren. An manchen Tag strebe ich danach, effizienter zu arbeiten, an anderen möchte ich mehr Zeit für mich selbst nehmen. Nach oben zu wollen, bedeutet für mich, ein Ziel vor Augen zu haben. Und manchmal – manchmal besteht dieses Ziel darin, anerkennen zu können, dass das Leben und man selbst, so wie es jetzt gerade ist, keiner Veränderung bedarf.
Warum Gutes mit oben assoziiert wird und wie räumliche Metaphern unser Denken prägen
Wer glücklich ist oder Erfolg hat, befindet sich auf einem Höhenflug. Wer bedrückt ist, der ist am Boden, die Stimmung kann geradezu unterirdisch schlecht sein. Bereits bei der Wortwahl assoziieren wir Gutes mit der Orientierung nach oben, Schlechtes mit unten. Doch kommt wirklich alles Gute von oben?
Von Belinda Lamatsch Lektoriert von Ladina Hummel und Isabelle Bartholomä Illustriert von Belinda Lamatsch
Bist du gerade auf einem Hoch oder schwebst du im Moment gar auf Wolke sieben? Oder ist deine Stimmungslage eher ein ständiges auf und ab? In unserem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir viele Metaphern für unsere Gefühle. Um unser Inneres zum Ausdruck zu bringen, fehlen uns oft die treffenden Worte und wir greifen auf Umschreibungen und Sinnbilder zurück. Auffällig ist dabei, dass positive Affekte vielmals mit einer Aufwärtsbewegung in Verbindung gebracht werden, negative hingegen richten sich tendenziell nach unten. Das Paradies als Allegorie für das Gute befindet sich im Himmel und wird oben angesiedelt. Derjenige, der Schlechtes tut, wird nach unten in die Hölle verbannt. Ausgehend vom neutralen Bewerten können wir einen Sachverhalt abwerten oder aufwerten. Verzeichnen wir berufliche Erfolge, so klettern wir auf der Karriereleiter nach oben.
Der Zusammenhang zwischen Affekt und räumlicher Lage
Haben diese Zuschreibungen einen Effekt auf unsere Einschätzung der jeweiligen Emotion oder der damit verbundenen Situation? Dieser Frage haben sich die Autoren Meier und Robinson gestellt. Dafür haben sie drei Studien durchgeführt (Meier & Robinson, 2004).
Bereits 1993 stellten Stepper und Strack in einer Studie eine Verbindung zwischen räumlicher Positionierung und Emotionen fest. Das Gefühl von Stolz wird verstärkt, wenn wir uns in einer aufrechten Haltung befinden. Auf der anderen Seite hingegen wird es abgeschwächt, wenn wir zusammengesackt und in nach unten gebeugter Körperhaltung verweilen (Stepper & Strack, 1993). Diese Wechselwirkung von Emotionen und körperlichen Parametern stellt bis heute eine zentrale Frage in der Emotionsforschung dar.
In einem ersten Versuch sollten die Teilnehmenden ihre Aufmerksamkeit auf einen Bildschirm richten, auf dem nacheinander verschiedene Wörter erschienen (Meier & Robinson, 2004). Diese Wörter sollten sie auf einer Skala von eins = positiv bis fünf = negativ bewerten. Ein Beispiel für ein positives Wort könnte Held sein, ein negatives wäre Lügner. Nachdem zuerst einige Wörter in der Mitte des Bildschirms erschienen waren, wurden die darauffolgenden Begriffe entweder oberhalb dieser ersten Referenzbegriffe oder im Bildschirmbereich darunter eingeblendet (Meier & Robinson, 2004). Gemessen wurde nicht nur, ob die Wörter richtig bewertet wurden, sondern vor allem, wie schnell die Wörter korrekterweise der entsprechenden Bedeutung zugeordnet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Evaluation positiver Begriffe schneller und treffsicherer erfolgte, wenn diese in der oberen Hälfte des Bildschirms eingeblendet wurden. Negative Wörter hingegen wurden schneller als solche erkannt, wenn sie weiter unten positioniert waren. Ist die vertikale Positionierung eines Stimulus kongruent mit seiner Bedeutung, fällt uns die Verarbeitung dementsprechend leichter (Meier & Robinson, 2004).
«Participants were faster to evaluate positive words when presented at the top of the screen, whereas they were faster to evaluate negative words when presented at the bottom.»
Meier & Robinson, 2004, S. 245
Den Untersuchungen von Meier und Robinson (2004) sind bereits Studien von Wapner, Werner und Krus aus dem Jahre 1957 vorangegangen. Schüler*innen, die gerade eine gute Note erhalten hatten, unterlagen einem «Upward Bias», als sie kurz darauf aufgefordert wurden, ein Quadrat in zwei gleich grosse Hälften zu teilen (Wapner et al., 1957). Das heisst, wer gerade eine gute Note erhalten hatte und somit in euphorischer Stimmungslage war, tendierte dazu, eine Verzerrung nach oben zu zeigen und setzte beim Einzeichnen der gefragten Mittellinie weiter oben an, als sie tatsächlich zu verorten wäre. Schüler*innen, die hingegen ein Testresultat mit einer ungenügenden Note ausgehändigt bekommen hatten, zeigten beim Zweiteilen der geometrischen Figur eine Tendenz nach unten (Wapner et al., 1957).
Eine mögliche Erklärung
In ihrer Erklärung für die Resultate berufen sich die Autoren auf den Entwicklungspsychologen Piaget und sein Stufenmodell (Piaget, 1929). Die menschliche Kognition bildet sich ausgehend von sensomotorischen Erfahrungen. Wir lernen zuerst Konkretes, indem wir die physische Welt über unsere Sinne wahrnehmen. Kleine Kinder berühren Gegenstände, nehmen sie in den Mund oder beobachten, welche Geräusche ein Objekt macht. Sie schaffen sich zunächst ein Weltbild aufgrund von Sinneseindrücken. Erst später können wir Abstraktes verarbeiten (Inhelder & Piaget, 1958). Nachdem wir die Welt mit all ihren handfesten Gegenständen erkundet haben, entwickeln wir ein Verständnis für theoretische Konstrukte oder lernen Symbole in ihrer stellvertretenden Funktion zu verwenden (Inhelder & Piaget, 1958). Um abstrakte Gedanken in Worte zu fassen, um unseren Mitmenschen – manchmal auch uns selbst – unser Innenleben zu veranschaulichen, greifen wir auch später wieder auf Vergleiche mit physischen Phänomenen zurück, um unsere Ideen zu konkretisieren und verständlich zu machen (Lakoff & Johnson, 1999). Auch die anfangs genannten Metaphern nutzen Begriffe, die sinnbildlich für ein Gefühl oder eine Erregung stehen. Die Gefühle, die wir mithilfe solcher Umschreibungen auszudrücken versuchen, stellen wiederum etwas Gegenstandsloses dar. Die physischen Metaphern erlauben es uns, solche komplexen Vorgänge zu beschreiben (Lakoff & Johnson, 1999).
Die Tendenz, unsere Arme als Reaktion auf Erfolg nach oben zu reissen, ist angeboren. In einer Studie haben Tracy und Matsumoto im Jahre 2008 Athlet*innen der Olympischen Spiele und der Paralympics beobachtet und dabei festgestellt, dass auch blindgeborene Menschen als Ausdruck von Stolz intuitiv die Faust in die Luft strecken. Scham oder Erniedrigung wird hingegen bei olympischen wie paralympischen Athlet*innen durch geduckte Körperhaltung ausgedrückt (Tracy & Matsumoto, 2008).
Wie durch die im vorherigen Abschnitt präsentierten Studien gezeigt wird, aktiviert unsere Bewertung eines Stimulus räumliche Metaphern, die damit verbunden sind. Die Verarbeitung fällt uns leichter, wenn die beiden Faktoren – also die vertikale Lokalisation und die tatsächliche positive oder negative Bedeutung – übereinstimmen (Meier & Robinson, 2004). Andersrum fällt uns die Bewertung schwerer, wenn die beiden Komponenten nicht kongruent sind und eine Diskrepanz zwischen der lokalen Verortung und dem Affekt besteht. In Meier und Robinsons Studie (2004) äusserte sich dies durch eine leicht verzögerte Reaktionszeit.
Die Ergebnisse von Meier und Robinson zeigen, dass unser Denken von Metaphern geprägt ist. Aber auch, dass abstrakten Gefühlen und den dafür verwendeten Beschreibungen konkrete und greifbare Bilder zugrunde liegen, die wir aus gesammelten Erfahrungen ableiten (Meier & Robinson, 2004).
Die Verknüpfung von gut mit oben und schlecht mit unten geschieht automatisch und ohne, dass wir uns dessen bewusst sind. Denn die Metaphern, mit denen wir Affekte räumlich verorten, sind so stark in unsere alltägliche Ausdrucksweise integriert, dass wir sie ganz unbewusst verwenden.
Wenn du also das nächste Mal ein lustiges Video mit einem Daumen nach oben bewertest oder jemandem ein High Five gibst, dann ist das, weil dieser positive Affekt direkt mit der räumlichen Assoziation einhergeht.
Stepper, S., & Strack, F. (1993). Proprioceptive determinants of emotional and nonemotional feelings. Journal of Personality and Social Psychology, 64(2), 211–220. https://doi.org/10.1037/0022-3514.64.2.211
Tracy, J. L., & Matsumoto, D. (2008). The spontaneous expression of pride and shame: Evidence for biologically innate nonverbal displays. PNAS.https://doi.org/10.1073/pnas.0802686105
Der Einfluss des Dopaminsystems auf unser Befinden
Von Janice Lienhard
Am liebsten würden wir uns ständig glücklich fühlen, obwohl wir kaum eine Person getroffen haben, bei der dies tatsächlich zutrifft. Trotzdem kennzeichnet uns das Streben nach konstantem Glück als Menschen. Zur Erklärung unserer Glücksfluktuationen wird hier die Theorie der «Pain-Pleasure-Scale» vorgestellt.
Von Engji Blickensdorfer Lektoriert von Julia Küher und Anja Blaser Illustriert von Janice Lienhard und Darius Hell
Jede Person weiss, wie es sich anfühlt, einen guten Tag zu haben. Manchmal beginnt es schon am Morgen im Bett, wenn sich das Aufstehen nicht mühsam, sondern erholsam und süss anfühlt. Beim Frühstücken schmeckt das Croissant besonders knusprig und ein Cappuccino dazu rundet die Geschmackspalette ab. Alles läuft rund. Der Sport macht Spass, die To-Do’s erledigen sich wie von selbst und am liebsten würde man jede Person anlächeln, die einem begegnet, weil man sich so gut fühlt. Wie schön wäre es, wenn jeder Moment unseres Lebens so aussehen würde? Bloss aber, dass wir als menschliche Wesen geboren wurden. In dieser komplexen Körperhülle existierend, sind wir mit Mechanismen ausgestattet, die ständig nach Balance suchen, so auch bei unserer Stimmung (Billman, 2020).
Streben nach Glück
Intuitiv ist es uns schon bewusst, dass wir uns nicht durchgehend glücklich und «high» fühlen können. Aber warum ist das so? Oftmals habe ich mich selbst gefragt: «Wieso geht es mir oft schlecht nach einem Tag mit sehr vielen Glücksmomenten? Warum habe ich mich innerlich leer gefühlt, unmittelbar nachdem ich mit der allerletzten Prüfung meines Bachelors in Psychologie fertig war? Warum fährt meine Laune nach unten, nachdem ich einen tollen Nachmittag mit meinen Freunden verbracht habe?» Dieses Jahr bekam ich unerwarteterweise eine Antwort auf diese Fragen, und zwar von einer Professorin von der Stanford University. Prof. Dr. Lembke untersucht seit mehreren Jahrzehnten das Thema «Sucht» und stellte im Rahmen ihrer Recherchen die Theorie der «Pain-Pleasure-Scale» auf (Lembke, 2021). Diese Theorie ist in der Lage, viele Phänomene zu erklären, darunter auch, warum es Personen nicht die ganze Zeit über gut gehen kann und wie es geschafft werden kann, die eigene Stimmung zu verbessern (Lembke, 2021). Die «Pain-Pleasure-Scale»bezieht sich hauptsächlich auf den Neurotransmitter Dopamin und deckt dessen Rolle im alltäglichen Verhalten auf (Lembke, 2021).
Dopamin in Kürze
Von Darius Hell
Dopamin ist ein Molekül bzw. ein Neurotransmitter, welches mit dem Erleben von Freude bzw. Lust korreliert (Jäncke, 2017). Noch dazu korreliert Dopamin mit Hochstimmung, Motivation und Zielstrebigkeit (Huberman, 2021). Lange waren Wissenschaftler*innen der Meinung, dass Dopamin als Reaktion auf für uns angenehme Stimuli ausgeschüttet wird. Jedoch wurde entdeckt, dass die Dopaminausschüttung eigentlich nicht die Konsequenz des angenehmen Stimulus an sich ist, sondern eine Reaktion darauf, dass der Stimulus antizipiert bzw. begehrt wird (Lieberman & Long, 2018). Wenn eine Person beispielsweise Eiscreme mag, wird Dopamin nicht wegen der Eiscreme an sich ausgeschüttet, sondern weil sie die Eiscreme haben möchte. Immer, wenn Ziele verfolgt werden, wird Dopamin ausgeschüttet (Huberman, 2021). Jede Person hat eine andere Dopaminbaseline und es wird vermutet, dass dies auf unterschiedliche Umwelt- und Genetikfaktoren zurückzuführen ist (Huberman, 2021). Dopamin ist mit vielen menschlichen Zuständen assoziiert. Beispielsweise wird das Burnout-Syndrom mit einem Dopaminmangel in Verbindung gebracht (Tops et al., 2007). Eine starke Dopaminausschüttung ist ebenfalls zuständig für die ausgeprägte Hochstimmung in der ersten Phase einer Liebesbeziehung (Lieberman & Long, 2018). Das Gefühl der Verliebtheit zum Partner dauert laut Anthropologin Helen Fischer 12 bis 18 Monate, weil die neue Beziehung in dieser Zeit neue Möglichkeit antizipieren lässt (Fisher, 2004). Dementsprechend wird sehr viel Dopamin ausgeschüttet, was für ein gutes Gefühl sorgt (Fischer, 2004). Des Weiteren ist eine Dopamindysfunktion bzw. Unterfunktion mit Symptomen von Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert (Dawei et al., 2006).
«Pain-Pleasure-Skala»
Nach der obigen Ausführung, was Dopamin ist, lässt sich nun die Einbettung in die «Pain-Pleasure-Scale» besser verstehen. Prof. Lembke (2021) schreibt in ihrem Buch Dopamine nation, dass beim Streben nach oder beim Erleben von etwas, das für uns angenehm ist, ein bestimmtes Mass an Dopamin ausgeschüttet wird. Es wird ein Peak an Dopamin erlebt und sich gut gefühlt. Damit die Balance wiederhergestellt wird, bewegt sich die «Skala» unmittelbar nach dem Peak in die Gegenrichtung, was als «Schmerz» empfunden wird (Lembke, 2021). Dieser Schmerz ist jedoch nicht als ein echter physiologischer Schmerz zu verstehen, sondern als ein unangenehmes Gefühl, was infolge des jetzigen Mangels bzw. der Senkung an Dopamin entsteht. Am Beispiel der Eiscreme wird der «Schmerz» als ein Craving nach mehr Eiscreme sichtbar, wenn die Eiscreme aufgegessen ist. Wenn wir etwas Aufregendes erleben, macht es dieser Theorie nach Sinn, dass Schmerz in Form von Langeweile sichtbar wird. Die Anwesenheit einer schlechteren Stimmung infolge einer früheren guten Stimmung erscheint im Lichte dieser Theorie ebenfalls logisch. Dieses Phänomen ist nach Prof. Lembke ein normales alltägliches Phänomen, welches unser Sterben nach Balance widerspiegelt. Es beginnt uns dann sehr schlecht zu gehen, wenn wir die «Pain-Pleasure-Skala» zu sehr an das eine Extrem bringen, und zwar, wenn unser Hirn zu viel Dopamin ausschüttet (Lembke, 2021). Dies ist unter anderen in zwei Situationen der Fall: Beim Drogenkonsum und bei einer konstanten Anhäufung mehrerer dopaminausschüttenden Stimuli (Huberman, 2021).
«Pleasure and pain are processed in the same parts of the brain, and the brain tries hard to keep them in balance.»
Lembke, 2021, S. 1
Drogenkonsum
Bei den meisten Menschen gibt es eher selten Anlässe für eine sehr grosse Dopaminausschüttung, ausser beim Konsum von Drogen (Huberman, 2021). Prof. Huberman erklärt, dass beim Konsum von Drogen (z. B. Kokain) eine grosse Menge an Dopamin ausgeschüttet wird, was normalerweise mit viel «Pleasure» gleichzusetzen ist. Gemäss der Theorie wird nach jeder Dopaminausschüttung das gleiche Ausmass an Schmerz unmittelbar danach ausgelöst. Bei Drogenkonsument*innen wird der Abfall des Dopamins viel intensiver sein, und zwar im Verhältnis zum vorherigen Anstieg. Weil der «Schmerz» bzw. der Mangel an Dopamin für sie äusserst unangenehm und kaum aushaltbar ist, nehmen diese Personen mit grosser Wahrscheinlichkeit immer mehr Drogen zu sich, damit noch mehr Dopamin freigesetzt wird. Dieser Vorgang läuft unbewusst ab. Laut Prof. Huberman ist das Düstere an Drogen aber, dass sie eine graduelle Senkung der normalen Dopaminbaseline bewirken, sodass die Betroffenen insgesamt weniger «Pleasure» erleben (auch von anderen Stimuli) und sie durch das erfolglose Versuchen, den Dopaminspiegel wieder hochzubringen, die verfügbaren Dopaminvesikel in den Präsynapsen weiter erschöpfen (Huberman, 2021). Im Grunde genommen geht es ihnen schlecht, weil sie so fest versuchen, sich wieder gut zu fühlen.
Fehldiagnose ADHS
In seiner Vorlesung zu «Dopamin und Süchten» stellt Prof. Huberman (2021) das Beispiel eines Bekannten vor, bei welchem mit 14 Jahren eine ADHS-Diagnose vermutet worden sei. Er sei süchtig nach Videospielen und den sozialen Medien gewesen, weshalb er sich zusammen mit seinen Eltern dazu entschlossen habe, eine 30-tägige Handypause sowie eine Abstinenz von den sozialen Medien und Videospielen zu machen. Bis zum 14. Tag sei ihm dies äusserst schwergefallen, weil er seine vorhandenen Dopaminvesikel komplett erschöpft habe. Erst ab dem 14. Tag hätten sich neue Dopaminvesikel zu bilden begonnen, was dazu geführt habe, dass er sich graduell besser gefühlt habe. Am Ende habe der Junge keine ADHS-Symptome mehr gezeigt (Huberman, 2021).
Leistungsgesellschaft
Bei einer Anhäufung dopaminausschüttender Aktivitäten sind gesunde Menschen ebenfalls gefährdet, einen graduellen und sehr subtilen Abfall der Dopaminbaseline zu erleben (Huberman, 2021). In einer Leistungsgesellschaft ist dies oftmals der Fall, besonders wenn Druck verspürt wird, konstant leisten zu müssen, ohne gut abschalten zu können (Kuchel & Kuchel, 1991). Wie oft passiert es uns im Alltag, dass wir unsere Aufmerksamkeit sehr vielen Beschäftigungen zeitgleich widmen? Heute musste ich beispielsweise zwei Vorlesungen anschauen, diese zusammenfassen, emotional anspruchsvolle Sitzungen mit meinen Proband*innen im Praktikum durchführen, in Whatsappchats zurückschreiben, Einkaufen gehen, Zeit mit Freunden verbringen, etc. Menschen sind ständig von sehr vielen Stimuli umgeben, die die Aufmerksamkeit bzw. Dopamin beanspruchen, sodass es nicht überraschend ist, dass die Dopaminbaseline unmerklich ständig sinkt (Huberman, 2021).
Ich erinnere mich noch explizit an eine Vorlesung zu «Exekutiven Funktionen» von Prof. Dr. Lutz Jäncke im Jahre 2020, in welcher er uns auf Folgendes hinwies: «Wenn das Hirn sich daran gewöhnt hat, in einer gewissen Zeiteinheit mit Informationen bombardiert zu werden und es gleichzeitig nicht gelernt hat, diesen Reizen entgegenzuwirken bzw. sie gut zu verarbeiten, gibt es die Kontrolle gegenüber all den Reizen auf. Somit wird das Hirn von den Reizen getrieben und wird schliesslich zu deren Sklave». Ich nahm damals diese Informationen irgendwo im Gedächtnis auf, jedoch verstand ich deren Bedeutung erst im Jahr 2021, als ich mehrmals das Gefühl hatte, dass ich von meinem Alltag überwältigt werde und mich ausgebrannt fühlte. Als ich mein Verhalten im Rahmen der «Pain-Pleasure-Scale» zu analysieren begann, realisierte ich schnell, dass sich mehrere anspruchsvolle Aktivitäten zusammengehäuft hatten, was dazu führte, dass ich mein Dopaminsystem stark beanspruchte und der Dopaminabfall dementsprechend grösser war. Dies kann so weit gehen, dass es sich am Ende so anfühlt, als könnte kaum noch Freude an irgendetwas empfunden werden, was dem Zustand einer süchtigen Person ähnelt (Huberman, 2021).
«When we do something we enjoy—like playing videogames—the brain releases a little bit of dopamine and we feel good. But one of the most important discoveries in the field of neuroscience in the past 75 years is that pleasure and pain are processed in the same parts of the brain and that the brain tries hard to keep them in balance.»
Lembke, 2021, S. 1
Wie bringe ich meine Stimmung wieder hoch?
Wie können wir aber tatsächlich unsere Stimmung verbessern und dafür sorgen, dass es uns wieder gut geht? Gemäss der Theorie von «Pain-Pleasure» geht es nicht darum, etwas aktiv zu machen, um die Stimmung zu verbessern (Huberman, 2021). Dies würde vielmehr dazu führen, dass die Dopaminbaseline noch weiter sinkt. Erst wenn der Dopaminmangelzustand bewusst wird und dieser trotz des Schmerzes, Cravings und der Langeweile akzeptiert wird, wird verstanden, dass der Schmerz ein vorübergehender Zustand ist (Huberman, 2021). Mit dem Wissen, dass der Schmerz, wie auch immer er sich manifestieren mag (z. B. als Craving, Langeweile, schlechtere Stimmung) nur vorübergehend ist, kann sich selbst nach einer Woche mit anspruchsvollen Erlebnissen einen Tag geben werden, in dem bewusst nichts gemacht wird. Somit kann das Hirn neue Dopaminvesikel bilden und die Dopaminbaseline langsam erhöht werden, damit später wieder mehr Freude empfunden werden kann (Huberman, 2021).
Dank der Interpretation meiner Stimmung als Abhängige von Dopamin, bin ich noch bewusster darin geworden, wie ich meine Woche plane und wie ich meine Erlebnisse verteile. Es gelingt mir jetzt besser, anspruchsvolle Aktivitäten an unterschiedlichen Tagen zu verteilen, sofern das möglich ist. Wenn das nicht geht, nehme ich mir mindestens einen halben Tag zur Erholung, an dem ich nichts mache. Wenn ich mit den Wellen meiner Stimmung fliesse, statt sie zu meiner «perfekten» Vorstellung hinzubewegen, hat sie vielmehr die Tendenz, sich automatisch nach oben zu bewegen und auch dort länger zu verweilen.
Zum Weiterlesen
Lembke, A. (2021). Dopamine nation: Finding balance in the age of indulgence. Dutton.
Literatur
Billman, G. E. (2020). Homeostasis: The underappreciated and far too often ignored central organizing principle of physiology. Frontiers in Physiology, 11(200). https://doi.org/10.3389/fphys.2020.00200
Fischer, H. (2004). Why we love: The nature and chemistry of romantic love. Macmillan.
Jäncke, L. (2017). Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften (2. Aufl.). Hogrefe AG.
Kuchel, O. G., & Kuchel, G. A. (1991). Peripheral dopamine in pathophysiology of hypertension. Interaction with aging and lifestyle. Hypertension, 18(6), 709–721. https://doi.org/10.1161/01.hyp.18.6.709
Lembke, A. (2021). Dopamine nation: Finding balance in the age of indulgence. Dutton.
Lembke, A. (2021). Digital addictions are drowning us in dopamine. The Wall Street Journal.
Li, D., Sham, P. C., Owen, M. J. & He, L. (2006). Meta-analysis shows significant association between dopamine system genes and attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). Human Molecular Genetics, 15(14), 2276–2284. https://doi.org/10.1093/hmg/ddl152
Lieberman, D. Z. & Long, M. E. (2018). The molecule of more. Benbella Books Inc.
Tops, M., Boksem, M. A. S., Wijers, A. A., van Duinen, H., Den Boer, J. A., Meijman, T. F., & Korf, J. (2007). The psychobiology of burnout: Are there two different syndromes? Neuropsychobiology, 55. 143–150. https://doi.org/10.1159/000106056