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Mit ‘LGBTQ’ getaggte Beiträge

Stress durch Diskriminierung

Wie sich Diskriminierungserfahrungen auf die psychische Gesundheit auswirken –mit Fokus auf die Schweizer LGBTQ+ Community

Erst letzten September hat die schweizerische Bevölkerung darüber abgestimmt, dass homosexuelle Paare heiraten dürfen. Diese im Vergleich zu Nachbarländern späte Entscheidung wirft Fragen auf. Welchem psychischen Druck war und ist die LGBTQ+ Community bis heute in unserer Gesellschaft ausgesetzt? Macht andauernde Diskriminierung krank?

Von Berit Barthelmes
Lektoriert von Michelle Regli und Marina Reist
Illustriert von Shaumya Sankar 

Das Schweizer Parlament hat am 18. Dezember 2020 mit grosser Mehrheit entschieden, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. Diese Gesetzesänderung – die Ehe für alle – war ein wichtiger und längst überfälliger Schritt in Richtung Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit heterosexuellen Paaren in der Schweiz. Am 26. September 2021 haben auch die Stimmbürger*innen mit einem deutlichen JA die Ehe für alle angenommen. Zudem wird Frauenpaaren der Zugang zur professionellen Samenspende in der Schweiz ermöglicht, wobei beide Mütter ab Geburt als rechtliche Eltern anerkannt werden.

Partnerschaft und Ehe

Um einen Blick auf Möglichkeiten der Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren zu werfen, ist es wichtig, sich der Neuerungen durch das oben genannte Gesetz bewusst zu sein. Die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Partnerschaft und der nun auch für gleichgeschlechtlichen Paare möglichen Ehe beziehen sich auf fünf (rechtliche) Aspekte: Vermögensrecht, Einbürgerung, Adoption, Zugang zur Samenspende und Hinterlassenenrente. Ab dem 01. Juli 2022 ist es möglich, mit Hilfe einer «einfachen Erklärung» auf dem Standesamt die Umwandlung von Partnerschaft zu Ehe zu beantragen. Wie dieses Verfahren genau abläuft, unterscheidet sich kantonal (Bundesamt für Justiz, 2022).

Freuen wir uns über die Neuigkeiten zum positiven Entscheid der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, lesen wir zugleich auch von dem Hass, der Gewalt und der Diskriminierung gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans und Queere Personen (LGBTQ). Diese Formen des Umgangs nehmen in der Schweiz zu: Die LGBT-Helpline verzeichnete im vergangenen Jahr 92 Meldungen zu so genannten «Hate Crimes» (LGBT-Helpline Schweiz, 2022). Das sind 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Insbesondere die Zahl an transfeindlichen Übergriffen sei gegenüber den Vorjahren stark gestiegen.

Die LGBT-Helpline Schweiz

Die LGBT+ Helpline (https://www.lgbt-helpline.ch) existiert seit 2016 und nimmt Meldungen zu LGBTQ-feindlichen «Hate Crimes» entgegen. Die Meldestelle hat das Ziel, die Situation in der Schweiz sicht- und messbar zu machen, da es fast keine offiziellen Erhebungen gibt. Einzig in der Stadt Zürich und im Kanton Freiburg werden seit 2021 Übergriffe regional erfasst.

45 Prozent der Betroffenen gaben bei der LGBT-Helpline an, dass sie aufgrund ihres Geschlechtsausdrucks diskriminiert worden seien. Zudem meldeten sich viele junge Menschen – auffällig sei die Häufung von Meldungen von Personen unter 22 Jahren. Mehr als die Hälfte erklärte, psychisch unter dem Vorfall zu leiden. Zwar fanden die meisten Übergriffe in der Öffentlichkeit statt, dennoch schaute die Zivilgesellschaft meistens weg und nur die wenigsten der gemeldeten «Hate Crimes» wurden angezeigt oder der Polizei gemeldet, wie es weiter heisst.

Hilfreiche Definitionen

«Hate speeches», zu Deutsch «Hassreden» beziehen sich auf die Aufstachelung und Ermutigung zu Hass, Diskriminierung oder Feindseligkeit gegenüber einer Person, die durch Vorurteile gegenüber dieser Person aufgrund eines bestimmten Merkmals, z. B. ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität, motiviert sind.

«Hate Crimes», zu Deutsch «Hassverbrechen» beziehen sich auf einen physischen oder verbalen Angriff auf eine Person, der durch Vorurteile gegenüber dieser Person aufgrund eines bestimmten Merkmals, z. B. ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität, motiviert ist.

«Homophobie» ist die irrationale Angst vor einer Person, weil diese lesbisch, schwul oder bisexuell ist.

«Transphobie» ist die irrationale Furcht vor einer Person, weil sie ein anderes als das ihr bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zum Ausdruck bringt, z. B. durch Hormonbehandlung, Operationen, Kleidung oder Kosmetika.

«Ja, und für mich ist auch noch mal der Punkt, dass die Umwelt so wenig darüber weiß, also dass eben, das ist ja jetzt wirklich ein relativ junges Phänomen noch, dass es öffentlich überhaupt die ersten Informationen gibt, ja, dass einfach diese Tabuisierung noch unglaublich hoch ist, wenig Wissenslage, wenig Infrastruktur, wenig Unterstützungsmodelle, viel im Selbsthilfebereich.»

Zitat aus dem Abschlussbericht zu Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland. Deutsches Jugendinstitut, 2013, Seite 47

In diesem Zitat beschreibt ein trans/transidenter Jugendlicher oder junger Erwachsener im «Abschlussbericht zu Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland» des Deutschen Jugendinstituts (2013) die Situation und Erfahrung mit der Reaktion der Aussenwelt. Zu der eigenen Unsicherheit, der Selbstfindung und Verbalisierung der eigenen Vorstellungen von Körperlichkeit, Geschlecht und sexuellen Interessen kommt eine unausgeglichene Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft zu Tage. Das Individuum scheint die Konsequenzen (bspw. Hass oder Diskriminierung) für die relative Untätigkeit oder Behäbigkeit der Gesellschaft zu tragen. Eine unsichere Gesellschaft fängt diesen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen nicht auf, der Jugendliche oder junge Erwachsene tritt in die Leere einer Gesellschaft, die noch nicht «so weit» ist und verweist auf den Bereich der Selbsthilfe.

Absichtlich wurde hier ein Zitat gewählt, das bald 10 Jahre alt ist. Bis heute sind Stigmatisierung und Unwissen in der Gesellschaft gross, jedoch gibt es bei weitem mehr Stellen, an die sich gewandt werden kann. Hier seien nur «Du-bist-du», «InterAction Suisse» oder der «Dachverband Regenbogenfamilien» in der Schweiz genannt.

Krank durch Ausgrenzung

Es lässt sich in Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Personen aus der LGBTQ+ Community festhalten, dass Forschung zu psychischer Gesundheit, zu Folgen von Ausgrenzung und offen gezeigtem Hass weiter intensiv betrieben werden. Die Forschung mit Proband*innen aus der LGBTQ+ Community betrifft zahlreiche Bereiche des täglichen Lebens, wie den Arbeitsplatz (Ozeren und Aydin, 2016), konservativere Kulturen (Foong et al., 2020), öffentliche Räume (Robinson, 2016) und den Gesundheitsbereich (Smith et al., 2021). Bezogen auf die Schweiz finden sich unter anderem Artikel zur Situation von Asylsuchenden und dem Fehlen von LGBTQ+-spezifischen Fluchtgründen im Gesetz (Garcia, 2014) und zur Diversität und Inklusion in Schweizer Grossunternehmen (Bucher & Gurtner, 2017).

Diskriminierung auf Basis von Ethnie, sexueller Orientierung oder der Geschlechtsidentität wurde in bisheriger Forschung mit zahlreichen negativen psychologischen und physischen Gesundheitsfolgen in Verbindung gebracht. Dazu zählen vermehrte Selbstmordgedanken (Sutter, 2016). Lesbische, schwule, bisexuelle und trans Menschen zeigen gegenüber heterosexuellen Vergleichsgruppen ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten (Bundesamt für Gesundheit et al., 2016, S. 15). So beschreiben Wang und Kollegen (2012) bei homo- und bisexuellen Jugendlichen in der Schweiz eine fünf Mal höhere Suizidversuchsrate als bei heterosexuellen Teenagern. Das erhöhte Risiko für suizidales Verhalten komme indirekt durch verschiedene Faktoren (z. B. Schikanen oder Bullying, fehlende Akzeptanz durch die Familie oder geringe Selbstakzeptanz), nicht aufgrund der sexuellen Orientierung selbst zu Stande. Als protektive Faktoren werden in der Literatur vor allem ein unterstützendes Schulklima und akzeptierende und unterstützende Familien genannt (Bryan & Mayock, 2017). Diese protektiven Faktoren dienen als Ausgangspunkt für die Entwicklung von entsprechenden Präventionsmassnahmen (O’Brien et al., 2016).

Die gesundheitlichen Ungleichheiten und Unterschiede von sexuellen Minderheiten, insbesondere im Bereich der psychischen Gesundheit, sind zumindest für westliche Staaten wie die USA intensiv dokumentiert (Bostwick, 2014). Zahlreiche Studien zeigen, dass die Prävalenz von Depressionen und Angststörungen bei Lesben, Schwulen und Bisexuellen im Vergleich zu Heterosexuellen erhöht ist (Darren, 2014; Smart, 2020; Fletcher, 2022). Einige Autor*innen vermuten, dass diese Unterschiede auf den Stress zurückzuführen sind, den Vorurteile und wahrgenommene Diskriminierung verursachen können (Ong et al., 2009; Berger & Sarnyai, 2015; Goosby et al., 2018).

Sichtbarkeit und Coping

Die vorhandenen Ergebnisse deuten darauf hin, dass verschiedene Arten von Diskriminierung in unterschiedlichem Masse mit Störungen der psychischen Gesundheit verbunden sein können. Zugleich zeigten Berjot und Gillet bereits 2011 eindrücklich, wie vorhandene psychologische Modelle, wie das der Transaktionalen Stresstheorie von Lazarus und Folkman (1984) genutzt werden können, um Zusammenhänge zwischen Diskriminierungserfahrungen und Stress herzustellen, aber auch mögliche um Copingstrategien zu entwickeln.

Unter anderem Drake (2013) attestiert unserer Gesellschaft, grundsätzlich offener für Vielfalt zu sein als noch vor einigen Jahren. Dies könnte zu einem geringeren Druck, weniger Hass und Diskriminierung gegenüber der LGBTQ+ Community führen. In der Schweiz zeigte sich auf dem diesjährigen Zürich Pride Festival, das bereits seit 1994 (damals und bis 2009 noch als CSD Zürich) durchgeführt wurde, ein weiteres Mal, wie wichtig gelebte Inklusion und Vielfalt für die Schweizer Bevölkerung zu sein scheint. Allein dieses Jahr wurde das Festival von über 40.000 Menschen besucht und bunt gefeiert. Je sichtbarer, desto besser – trotzdem muss weiter an der Sicherheitslage und dem Schutz vor Diskriminierungen gearbeitet werden.


Zum Weiterlesen

http://www.humanrights.ch

http://www.pinkcross.ch

Bostwick, W. B., Boyd, C. J., Hughes, T. L., West, B. T., & McCabe, S. E. (2014). Discrimination and mental health among lesbian, gay, and bisexual adults in the United States. Am J Orthopsychiatry, 84(1), 35-45. https://doi.org/10.1037/h0098851

Literatur

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Berger, S., & Sarnyai, Z. (2015). “More than skin deep”: stress neurobiology and mental health consequences of racial discrimination. Stress, 18(1), 1-10. https://doi.org/10.3109/10253890.2014.989204

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Fletcher, J. B., & Reback, C. J. (2022). Associations Between Gender Identity Control, Gender Identity Non-Verification, and Health Risks among Trans Women of Color Living with HIV. https://doi.org/10.1007/s10508-021-02264-6

Foong, A. L. S., Liow, J. W., Nalliah, S. et al. (2020). Attitudes of Future Doctors Towards LGBT Patients in Conservative Malaysian Society. Sexuality & Culture, 24,1358–1375. https://doi.org/10.1007/s12119-019-09685-5

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Ong, A. D., Fuller-Rowell, T., & Burrow, A. L. (2009). Racial discrimination and the stress process. J Pers Soc Psychol. https://doi.org/10.1037/a0015335

Smart, B. D., Mann-Jackson, L., Alonzo, J., Tanner, A. E., Garcia M., Refugio Aviles, L., & Rhodes, S. D. (2020). Transgender women of color in the U.S. South: A qualitative study of social determinants of health and healthcare perspectives. Int J Transgend Health. https://doi.org/10.1080/26895269.2020.1848691

Smith, E., Zirnsak, T., Power, J., Lyons, A., & Bigby, C. (2021). Social inclusion of LGBTQ and gender diverse adults with intellectual disability in disability services: A systematic review of the literature. Journal of applied research in intellectual disabilities: JARID. https://doi.org/10.1111/jar.12925

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Sutter, M., & Perrin, P. B. (2016). Discrimination, mental health, and suicidal ideation among LGBTQ people of color. J Couns Psychol. https://doi.org/10.1037/cou0000126

Ozeren, E., & Aydin, E. (2016). „Chapter 7: What does being LGBT mean in the workplace? A comparison of LGBT equality in Turkey and the UK“. In Research Handbook of International and Comparative Perspectives on Diversity Management. Edward Elgar Publishing. Retrieved Aug 4, 2022, from https://www.elgaronline.com/view/edcoll/9781784719685/9781784719685.00012.xml

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Unerfüllter Kinderwunsch

Die psychologischen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches und die Möglichkeiten der assistierten Reproduktion

Weltweit leiden ca. 50 Mio. Paare unter einem unerfüllten Kinderwunsch (Mascarenhas et al., 2012). Für diese Paare gibt es einerseits medizinische Angebote, die sie auf ihrem Weg zu einem leiblichen Kind unterstützen. Die reproduktive Psychologie andererseits ist für die psychische Begleitung der Eltern in dieser herausfordernden Zeit zuständig.

Von Laura Trinkler
Lektoriert von Zoé Dolder und Jovana Vicanovic
Illustriert von Gianna Zorzini

In der Schweiz bleibt jedes sechste Paar ungewollt kinderlos (Klinik für Reproduktions-Endokrinologie, USZ, n.d.). Für diese Paare gibt es viele verschiedene medizinische Hilfeleistungen, wie z. B. Fertilitätsabklärungen oder bei einer bestätigten Unfruchtbarkeit technische Möglichkeiten zur Förderung einer Schwangerschaft. Unfruchtbarkeit ist laut WHO eine Erkrankung des Fortpflanzungssystems, die dadurch definiert ist, dass es einem Paar nach zwölf oder mehr Monaten mit regelmässigem Geschlechtsverkehr ohne Verhütung nicht möglich ist, schwanger zu werden (Zegers-Hochschild et al., 2009). Eine künstliche Befruchtung (IVF oder ICSI, siehe Kästchen) kostet je nach gewähltem Verfahren zwischen 4‘000 und 10‘000 Franken pro Befruchtungszyklus (Fertility.ch, n.d.). Nebst den finanziellen Belastungen müssen Paare zusätzlich auch mit psychischen Belastungen rechnen, welche im nächsten Abschnitt aufgegriffen werden.

Psychologische Unterstützung

Nach einer Unfruchtbarkeitsdiagnose und einer eventuell folgenden künstlichen Befruchtung oder anderen Verfahren assistierter Reproduktion sind die werdenden Eltern oftmals mit Emotionen wie Scham, Trauer, Hilflosigkeit, Wut oder Neid konfrontiert. Ebenso kann ein Gefühl des Verlusts der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit aufkommen (Strauss et al., 2004). Insbesondere Scham, Gefühle des Unverstandenseins und Stigmatisierung können zu sozialem Rückzug führen, wodurch wiederum die zuvor genannten Emotionen verstärkt werden können. An dieser Stelle ist es wichtig, dass den werdenden Eltern auch psychologische Hilfe angeboten wird (Strauss et al., 2004).

«People need support (…). (…) in their daily lives when they just see pregnant people all around them, it can feel very isolating and feel very difficult in terms of finding support.»

Dr. Julie Bindeman in Calkins, 2019, [6:12]

In der Schweiz gibt es Gynäkolog*innen mit einer psychotherapeutischen Weiterbildung oder Psychotherapeut*innen mit einer Weiterbildung in gynäkologischer Sozialmedizin und Psychosomatik, die diesen Paaren Unterstützung anbieten können. Auch unter dem Stichwort Gynäkopsychologie finden sich ausgebildete Psychotherapeut*innen mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet des unerfüllten Kinderwunsches (Klaus-Grawe-Institut für psychologische Therapie, n.d.).

Das Berufsfeld der reproduktiven Psychologie

Für die Arbeit als reproduktive*r Psycholog*in bzw. Gynäkopsycholog*in gibt es in der Schweiz noch keinen spezifischen Weiterbildungslehrgang. Die Fachpersonen auf diesem Gebiet sind ausgebildete Psychotherapeut*innen, welche sich ihr Wissen in Bezug auf den unerfüllten Kinderwunsch oder andere gynäkopsychologische Themen während ihrer Arbeit in einer Frauenklinik oder verwandten Institutionen selbst erarbeitet haben.

Die deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKiD) bietet eine explizite Fortbildung im Bereich des unerfüllten Kinderwunsches an. Mit den entsprechenden Voraussetzungen kann dies auch in einer Zertifizierung münden, in der Schweiz ist diese jedoch nicht anerkannt.

In den Vereinigten Staaten wird dieser spezielle Bereich der Gesundheitspsychologie Reproductive Psychology genannt. Die darin spezialisierten Psycholog*innen, Berater*innen und Sozialarbeiter*innen befassen sich nebst der psychologischen Belastung durch Unfruchtbarkeit und künstlicher Befruchtung auch mit Themen wie dem Umgang mit einer traumatischen Geburt, Fehlgeburten, Totgeburten, sowie auch postpartalen Stimmungskrisen wie der postnatalen Depression (Center for Reproductive Psychology, n.d.; Calkins, 2019).

Auch LGBTQ+-Paare finden in der reproduktiven Psychologie Unterstützung, sei es bei einer Befruchtung durch Verfahren der assistierten Reproduktion, Informationen rund um Samen- bzw. Eizellenspenden oder deren psychischen Implikationen für das Kind und die werdenden Eltern (Holley und Pasch, 2015). Auch Abklärungen zur Eignung von Leihmüttern oder Adoptionsprozessen werden in den Vereinigten Staaten durch die Reproductive Psychologists durchgeführt (Integrative Therapy of Greater Washington, n.d.).

Assistierte Reproduktive Technologien (ART)

Es gibt verschiedene Arten der assistierten Reproduktion, die einem Paar zur Verfügung stehen. Eine Auswahl der in der Schweiz zugelassenen, assistierten reproduktiven Technologien (ART) wird auf der Webseite fertility.ch (n.d.) wie folgt beschrieben:

  • Intrauterine Insemination (IUI): Bei der IUI wird das Sperma des Mannes mithilfe eines Katheters in die Gebärmutter der Frau eingeführt.
  • In-vitro-Fertilisation (IVF): Nach einer hormonellen Stimulation der Frau werden ihr mehrere Eizellen entnommen. Diese werden anschliessend in vitro, das heisst im Glas, mit den Spermien des Mannes befruchtet. Nach einer zwei- bis dreitägigen Kultivierung werden maximal drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutter eingesetzt.
  • Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Die ICSI gilt als Ergänzung zur IVF. Dabei wird die Samenzelle des Mannes direkt in die Eizelle injiziert, was insbesondere bei schwacher Spermienqualität ein besseres Ergebnis verspricht.

Patientenorientierte Betreuung vs. psychologische Beratung

Laut den «Guidelines for Counselling in Infertility» unterscheidet man zwischen zwei Arten von Unterstützungsansätzen während einer Fruchtbarkeitsbehandlung (Appleton et al., 1999). Einerseits wird von der patientenorientierten Betreuung gesprochen, andererseits von der psychologischen Beratung.

Die patientenorientierte Betreuung konzentriert sich auf die psychosoziale Betreuung durch das gesamte, an der Fruchtbarkeitsbehandlung beteiligte Personal – also nicht nur Psycholog*innen, sondern insbesondere auch Ärzt*innen, Pflegende und Sozialarbeiter*innen. Bei der patientenorientierten Betreuung geht es vor allem darum, dass den werdenden Eltern alle Fragen rund um den Verlauf der Behandlung beantwortet und sie nach einer schmerzlichen Erfahrung, wie z. B. einer Fehlgeburt oder einem negativen Schwangerschaftstest, unterstützt werden. Eine weitere Aufgabe der patientenorientierten Betreuung ist die Herausgabe von weiteren Informationen, die die Patient*innen bei der emotionalen Verarbeitung und der Aufklärung des Umfeldes unterstützen (Appleton et al., 1999).

Im Unterschied dazu wird die psychologische Beratung nur durch psychotherapeutisch ausgebildete Fachpersonen durchgeführt. Sie ist nicht für alle Patient*innen notwendig und der Inhalt der Beratung ist sehr individuell und abhängig von der gewählten Behandlungsform der Reproduktionsförderung. In der Beratung kann sichergestellt werden, dass die werdenden Eltern bestmöglich informiert und auf die möglichen psychischen Schwierigkeiten vorbereitet sind, die durch die Behandlung ausgelöst werden können. Ein weiterer therapeutischer Aspekt der Behandlung konzentriert sich oft auf die emotionalen Konsequenzen der Ungewissheit bezüglich des Behandlungserfolges oder auch die Begleitung in ein kinderloses Leben (Appleton et al., 1999).

Wie geht es weiter?

Auch mit aller medizinischer und psychologischer Unterstützung ist es nicht möglich, jedem Paar seinen Wunsch nach einem biologischen Kind zu erfüllen. Kommt es trotz assistierter Reproduktion zu keiner Schwangerschaft, kann dies für Paare das Ende eines Lebensprojekts bedeuten und zu Veränderungen ihrer sozialen Rollen führen (Dyer et al., 2002). Kurz nach dem Abbruch einer erfolglosen künstlichen Befruchtung leiden Frauen generell mehr unter der erfolglosen Behandlung als Männer. Frauen haben, zusätzlich zu den psychologischen Problemen mit denen auch Männer zu kämpfen haben, auch Probleme mit dem Selbstbild und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit. Bleiben Frauen nach einer erfolglosen Fruchtbarkeitsbehandlung kinderlos, sind sie weniger zufrieden mit ihrem Leben und es zeigen sich erhöhte Level von Ängstlichkeit, Stress und Depressionen im Vergleich zu Frauen, die durch eine Adoption Mütter geworden sind (Filetto & Makuch, 2005). Egal, ob es um die psychologische Unterstützung bei diesen psychischen Problemen oder das Finden einer neuen Lebensaufgabe geht – es gibt viele Herausforderungen, bei denen die reproduktive Psychologie die Paare unterstützen kann.

In Anbetracht des steigenden Alters von Erstgebärenden (Nolte, 2019) kann davon ausgegangen werden, dass die assistierte Reproduktion in Zukunft noch öfters zum Einsatz kommen wird. Daraus lässt sich schliessen, dass eine einheitliche Weiterbildung im Bereich der reproduktiven Psychologie wünschenswert wäre, damit diese hoffnungsvollen Paare auf ihrem Weg zu einer Familie von spezialisierten Fachkräften optimal begleitet werden können.


Zum Weiterlesen

Van den Akker, O. (2012). Reproductive health psychology. Wiley-Blackwell.

Limiñana-Gras, R. (2017). Reproductive psychology and infertility. Acta Psychopathologica, 3, 1-3. https://doi.org/10.4172/2469-6676.100155

Calkins, H. (Producer). (2019, May 3). Finding a niche: Reproductive psychology [Audio podcast]. In Progress Notes: Keeping Tabs on the Practice of Psychology. American Psychological Association. https://www.apaservices.org/practice/business/podcasts/reproductive-psychology

Literatur

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