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Mit ‘Kommunikation’ getaggte Beiträge

Was denkt sich der Affe?

Von der Sprache und der Intelligenz der Primaten

Affen sind die nächsten Verwandten des Menschen und doch unterscheiden sich die Methoden der Kommunikation beträchtlich. Ob sich diese Unterschiede auch im Denken widerspiegeln, ist wegen der Sprachbarriere schwer festzustellen. Dank der Findigkeit des Menschengibt es dennoch einige Kenntnisse dazu.

Von Lea Frischknecht
Lektoriert von Niko Läderach und Michelle Regli
Illustriert von Lea Frischknecht

Mit den frontal ausgerichteten Augen erinnert das Gesicht eines Affen unweigerlich an das eines Menschen. Auch seine Hände, mit denen er seine Familienmitglieder laust oder sich durch die Äste schwingt, ähneln stark den Händen, die über Computertastaturen huschen oder nach einem Treppengeländer greifen. Diese äußerliche Verwandtschaft legt die Vermutung nahe, dass auch kognitive Ähnlichkeiten zum Menschen vorhanden sind. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden alle nichtmenschlichen Primaten als Affen bezeichnet, obwohl sie nur eine Untereinheit der Primaten ausmachen. Einfachheitshalber wird das auch in diesem Artikel so übernommen.

Die Kommunikationsweisen der Affen

Eine Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Kognitionen der Affen zu ziehen, bietet ihre verbale Kommunikation. Diese unterscheidet sich maßgeblich von der menschlichen Sprache und lange Zeit gingen die Forschenden davon aus, dass es den Tieren schon aufgrund ihrer vokalen Anatomie nicht möglich sei, eine derart komplexe Sprache zu benutzen (Bergman et al., 2019). Neuere Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass zumindest einige Primaten, darunter der Rhesusaffe und der Guinea-Pavian, einen sprechfähigen Vokaltrakt besitzen. Insgesamt bedienten sich Primaten trotzdem eines weniger breiten Spektrums an Sprachlauten als der Mensch und nutzten nur einen Bruchteil ihrer Laute, um Lautkombinationen herzustellen (Bergman et al., 2019). Ob neben dem Menschen auch andere Primaten beim Lautkombinieren Regeln anwenden, die einer Syntax ähneln, ist bisher noch nicht vollständig geklärt (Bergman et al., 2019), jedoch konnten Rhesusaffen in einem Experiment statistische Regeln für Reihenfolgen von bis zu acht visuellen Reizen lernen (Heimbauer et al., 2018). Bei Menschen wird diese Fähigkeit für die Syntax und Grammatik der Sprache verwendet und auch Schimpansen kombinierten Rufe, um sowohl über ihre Identität und als auch das Vorhandensein von Futter zu informieren (Leroux et al., 2021).

Affenrechte

Das Great Ape Projekt (GAP) hat zum Ziel, den vier Menschenaffenarten Schimpanse, Bonobos, Gorilla und Orang-Utan das Recht des Lebens und der Freiheit zu verschaffen (Glendinning, 2008). Erste Erfolge wurden in Spanien erreicht, wo seit 2008 keine Versuche mehr an diesen Affenarten durchgeführt werden dürfen (Glendinning, 2008) In Argentinien wurde in einem Gerichtsprozess dem Orang-Utan-Weibchen Sandra das Recht auf bessere Lebensbedingungen zugesprochen (Espanol, 2015). 

Früher galt die Vokalisation der nichtmenschlichen Primaten als angeboren und unflexibel. Dagegen spricht, dass sich bei den jungen Weißbüschelaffen wie bei menschlichen Babys eine Art Brabbeln zeigte (Gultekin & Hage, 2017). Um das erwachsene Rufverhalten zu entwickeln, brauchten sie die Kommunikation mit älteren Tieren. Die richtigen Rufe mussten zumindest teilweise gelernt werden und waren nicht komplett angeboren (Gultekin & Hage, 2017). Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass die soziale und ökologische Umwelt einen Einfluss auf die Verwendung von Lauten haben kann (Cattaneo, 2019) und die Menschenaffen teilweise sogar dazu fähig waren, neue artuntypische Laute zu lernen (Bergman et al., 2019).

Andererseits schienen die Affen im Vergleich zu Menschen wenig bis keine Motivation zu verspüren, Informationen mit ihren Artgenossen zu teilen, die ihnen selbst keinen direkten Vorteil bringen (Burkart et al., 2018). Eine Ausnahme bildeten verschiedene Arten der Krallenaffen, die einen regen Informationsaustausch betrieben und bereitwillig die anderen Tiere ihrer Gruppe über eine Nahrungsquelle informierten, um mit ihnen zu teilen, ohne einen direkten Nutzen für sich selbst daraus zu ziehen.

Gestik, beim Menschen ein sehr wichtiger Bestandteil der Kommunikation, wurde auch bei Affen beobachtet. Erwachsene Schimpansen und ein- bis zweijährige Kinder zeigten bei der Verwendung von absichtlichen Gesten eine Übereinstimmung von fast 90% (Kersken et al., 2019). Die jungen Schimpansen benutzten Gesten am häufigsten beim sozialen Spielen, erwachsene Schimpansen zusätzlich beim Reisen, bei der Fellpflege und bei der Brautwerbung (Kersken et al., 2019).

Die kognitiven Fähigkeiten der Affen

«After decades of research, it remains controversial whether any nonhuman species possess a theory of mind.»

Kano, 2019, S.1

Unter Theory of Mind (ToM) wird das Vermögen verstanden, mithilfe von Kenntnissen über die Absichten, Bedürfnisse und Überzeugungen eines anderen Individuums, dessen Verhalten vorherzusagen (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Eine wichtige Voraussetzung für ToM ist das Wissen, dass Lebewesen unterschiedliche mentale Repräsentationen der physikalischen Realität haben können (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Genau wie Menschen nehmen Primaten von physikalischen Objekten an, dass diese eine feste Existenz haben und sich nicht einfach in Luft auflösen (Drayton & Santos, 2018). Dieses Wissen schreiben sie auch ihren Artgenossen zu und erwarten z.B., dass diese sich an verstecktes Futter erinnern. Jedoch stoßen Primaten wohl an eine Grenze, wenn es darum geht, dass ihr Gegenüber eine falsche Vorstellung von einer Situation hat. Sieht ein Kind, wie Süßigkeiten von einer Dose in eine Schublade umgeräumt werden, kann es ab einem gewissen Alter schlussfolgern, dass sein Geschwister, das diesen Moment verschlafen hat, die Süßigkeiten trotzdem noch in der Dose suchen wird. Bei Affen dagegen ist die Befundlage nicht eindeutig. In vielen Experimenten hatten sie bei Aufgaben dieser Art Schwierigkeiten und schienen nicht vorhersagen zu können, wo eine Person in dieser Situation suchen wird (Drayton & Santos, 2018). Allerdings konnte in einem Experiment bei Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich der Entscheidung einer Person, die eine Veränderung der Position eines Objekts nicht mitbekommen hat, festgestellt werden (Kano et al., 2019).

Auch auf kognitive Flexibilität wurden Affen untersucht. Das Vermögen, bei einer Kartensortieraufgabe die Regeln zu wechseln, entwickelten Kinder mit drei Jahren, wenn die Regeln auf der gleichen Dimension bleiben, z.B.: vom Aussortieren blauer Figuren zum Aussortieren roter Figuren. Ab fünf Jahren konnten Kinder auch bei Metaregeln switchen, also zuerst Figuren nach Farben und danach nach Formen sortieren. Affen konnten beides, auch wenn ihnen das Switchen intradimensionaler Regeln leichter fiel (Fragaszy, 2022).  

Eine mentale Fähigkeit, die zuvor abgesehen vom Menschen erst bei einem einzigen  Graupapagei eindeutig festgestellt werden konnte, ist das Verstehen des Disjunktiven Syllogismus (Ferrigno et al., 2021). Wie bereits erwähnt, nehmen Primaten von realen Gegenständen an, dass diese eine feste Existenz haben und nicht einfach so verschwinden (Drayton & Santos, 2018). In einem Experiment wurden Paviane darauf getestet, ob sie schlussfolgern können, dass Futter, wenn es nicht im aufgedeckten Versteck ist, im einzigen anderen sein muss (Ferrigno et al., 2021). Drei der vier Paviane, die das Experiment durchführten, stellten sich dabei sehr gut an.

Charaktereigenschaften

Um die verschiedenen Primatenarten aufgrund ihrer Persönlichkeit zu vergleichen, wurden Fragebogen wie der Hominoid Personality Questionnaire (HPQ) (Wilson et al., 2018) entwickelt. Damit kann man den Primatenarten unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Beispielsweise erreichen vor allem Neuweltaffen und sozial lebende Menschenaffen hohe Werte in der Dimension Gewissenhaftigkeit (Wilson et al., 2018).

Dass, wie bei Menschen, nicht alle Affen einer Art die gleichen kognitiven Fähigkeiten haben, zeigte sich auch in einem anderen Experiment bei dem nicht alle Schimpansen einer gefangen gehaltenen Gruppe einen neuen, für die Art untypischen Laut lernen konnten (Bergman et al., 2019). Dabei besaßen diejenigen, die dazu fähig waren, einen größeren Anteil grauer Substanz in Bereichen des Frontallappens, die eine wichtige Rolle bei der willentlichen Sprachproduktion spielt (Bergman et al., 2019).

Schlussendlich lässt sich sagen, dass es noch ein weiter Weg ist, bis die kognitiven Fähigkeiten Affen vollständig erforscht sind. Ein wichtiger Bestandteil dieser Forschung wird sein, die Kommunikation und Sprache der Affen besser verstehen zu lernen.


Zum Weiterlesen

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Literatur

Bergman, T. J., Beehner, J. C., Painter, M. C., & Gustison, M. L. (2019). The speech-like properties of nonhuman primate vocalizations. Animal Behaviour, 151, 229–237. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2019.02.015

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Burkart, J., Guerreiro Martins, E., Miss, F., & Zürcher, Y. (2018). From sharing food to sharing information: Cooperative breeding and language evolution. Interaction Studies. Social Behaviour and Communication in Biological and Artificial Systems, 19(1–2), 136–150. https://doi.org/10.1075/is.17026.bur

Cattaneo, C. (2019). Internal and external barriers to energy efficiency: Which role for policy interventions? Energy Efficiency, 12(5), 1293–1311. https://doi.org/10.1007/s12053-019-09775-1

Drayton, L. A., & Santos, L. R. (2018). What do monkeys know about others’ knowledge? Cognition, 170, 201–208. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2017.10.004

Espanol, E. G., Special to CNN. (2015). Orangutan granted controlled freedom by Argentine court. CNN. Abgerufen 2. August 2022, von https://www.cnn.com/2014/12/23/world/americas/feat-orangutan-rights-ruling/index.html

Ferrigno, S., Huang, Y., & Cantlon, J. F. (2021). Reasoning Through the Disjunctive Syllogism in Monkeys. Psychological Science, 32(2), 292–300. https://doi.org/10.1177/0956797620971653

Fragaszy, D. M. (2022). Rules and metarules: Adult cotton-top tamarins (Saguinus oedipus) and 5-year-old children (Homo sapiens) can master both. Journal of Comparative Psychology. https://doi.org/10.1037/com0000324

Glendinning, L. (2008, Juni 26). Spanish parliament approves „human rights“ for apes. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2008/jun/26/humanrights.animalwelfare

Gultekin, Y. B., & Hage, S. R. (2017). Limiting parental feedback disrupts vocal development in marmoset monkeys. Nature Communications, 8(1), 14046. https://doi.org/10.1038/ncomms14046

Heimbauer, L. A., Conway, C. M., Christiansen, M. H., Beran, M. J., & Owren, M. J. (2018). Visual artificial grammar learning by rhesus macaques (Macaca mulatta): Exploring the role of grammar complexity and sequence length. Animal Cognition, 21(2), 267–284. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1164-4

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Kersken, V., Gómez, J.-C., Liszkowski, U., Soldati, A., & Hobaiter, C. (2019). A gestural repertoire of 1- to 2-year-old human children: In search of the ape gestures. Animal Cognition, 22(4), 577–595. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1213-z

Leroux, M., Bosshard, A. B., Chandia, B., Manser, A., Zuberbühler, K., & Townsend, S. W. (2021). Chimpanzees combine pant hoots with food calls into larger structures. Animal Behaviour, 179, 41–50. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2021.06.026

Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie. (2019). https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/theory-of-mind

Watzek, J., & Brosnan, S. F. (2018). (Ir)rational choices of humans, rhesus macaques, and capuchin monkeys in dynamic stochastic environments. Cognition, 178, 109–117. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2018.05.019

Wilson, V. A. D., Inoue-Murayama, M., & Weiss, A. (2018). A comparison of personality in the common and Bolivian squirrel monkey (Saimiri sciureus and Saimiri boliviensis). Journal of Comparative Psychology, 132(1), 24–39. https://doi.org/10.1037/com0000093

Sprache

Wenn Tiere sprechen könnten 

Während wir uns der Sprache bedienen, um zu kommunizieren, geben Tiere Laute von sich. Wir alle unterscheiden uns so voneinander gemäss unserer artspezifischen Gruppe. Aber können Elefanten, See-Elefanten, Sing-Vögel und Delfine mit uns Gespräche führen?  

Von Jan Nussbaumer und Lisa Makowski
Lektoriert von Merrin Chalethu und Stefan Dorner

Tagtäglich kommunizieren wir miteinander. Als Menschen benutzen wir dabei unsere jeweilige Sprache, als Tier artspezifischen Laute (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Wann wir diese einsetzen, scheint evolutionsbedingt auf den ersten Blick sehr ähnlich. Soziale Kontexte und Situationen prägten und prägen den Sprach- beziehungsweise Lautgebrauch (Petkov, Logothetis, & Obleser, 2009). Tiere, wie zum Beispiel die südlichen Grünmeerkatzen, eine Affenunterart, geben Laute von sich, um auf diese Art und Weise ihre Artgenossen vor einem Raubtier zu warnen. Dabei haben sie verschiedene Laute für ihre drei grössten Feinde, nämlich Leoparden, Adler und Schlangen (Fedurek & Slocombe, 2011). Für Menschen scheint dies heute nur noch ein Teilbereich für den Einsatz von Sprache zu sein. In früheren Zeiten war es hingegen denkbar, dass man Sprache hauptsächlich dazu gebrauchte, seine Familienmitglieder vor einer Gefahr zu warnen (Fedurek & Slocombe, 2011). Existentielle Gefahren waren damals allgegenwärtig, die Menschen waren in ihren kleinen Gemeinschaften den Gefahren der Natur ausgeliefert. Gibt es hier also überhaupt einen Unterschied zwischen Mensch und Tier? Kommunizieren wir beide am Ende aufgrund der selben Hintergründe? 

Heutzutage weiss man von 6000 bis 7000 Sprachen, von denen allein nur circa 200 eine eigene Schriftsprache besitzen (Calude & Pagel, 2011). 

Unsere Sprache war zuerst eine reine Gebärdensprache, was sich auch an der engen neuronalen Verbindung des Motorkortex’ und den sprachlichen Regionen ablesen lässt (Simonyan, Ackermann, Chang, & Greenlee, 2016). Auch in unserer heutigen Kommunikation sind Gesten und Gesichtsmimik und vor allem auch nonverbale Kommunikation nicht wegzudenken. Wie sieht dies in der Tierwelt aus? Kommunizieren Tiere auch mit Gesten? Es zeigte sich, dass Makaken-Affen auch reine Mundbewegungen, entsprechend ihrer Laute, formen können (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Der Rhythmus beträgt dabei vier bis zu sieben Hertz (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Es zeigen sich hier Ähnlichkeiten und Parallelen zu dem Rhythmus unserer Sprache. Vielleicht entwickelte sich unsere Sprache also auch aus dem, was die Tiere heute noch tun, nur wir entwickelten uns weiter? Gegen diese gemeinsame Basis spricht, dass bei uns Menschen der motorischen Bewegung und dem Sprechen ein bimodaler Rhythmus zugrunde liegt, den man bei Affen so nicht finden kann (Ghazanfar & Takahashi, 2014). 

Sprache: Eine Definition 

Aber was ist Sprache überhaupt? Es ist dabei sehr wichtig, zwischen Sprache und Kommunikation zu differenzieren. Während Kommunikation auch bei Tieren möglich ist, scheint es sich mit dem Sprechen anders zu verhalten (Fitch, 2000). Kommunikation kann grundsätzlich auch ohne Sprache funktionieren und ist nicht nur auf akustische Reize beschränkt. Sprache dagegen hat ein definiertes Regelsystem und besteht aus einer begrenzten Anzahl Elemente, aus denen man wiederum eine unbegrenzte Anzahl von Phrasen bilden kann (Fitch, 2000). Man sagt auch, dass Sprache die komplexeste Fähigkeit des Menschen darstellt. 

Tiere können zwar auch zwischen akustischen und visuellen Reizen differenzieren. Können sie jedoch auch derart differenziert sprechen, wie es wir Menschen tun? Tiere können unterschiedliche Laute formen und diese auch gegebenenfalls adaptieren, aber nicht grundlegend verändern (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Sie haben nicht genügend neuronale Plastizität, um ihr ursprüngliches Repertoire an Lauten auszubauen. Es zeigte sich zwar, dass es im Tierreich bei den Schimpansen zum Beispiel auch Dialekte gibt (Fedurek & Slocombe, 2011; Petkov et al., 2009). Diese Differenzierung basiert jedoch auf demselben Ursprung. Im Tierreich ist das Kommunikationsrepertoire genetisch festgelegt und nicht sehr ausbaubar. Man kann versuchen, Tieren Sprache beizubringen. Sie lernen dabei allerdings nur, etwas miteinander zu koppeln, können dies aber nicht über längere Zeit behalten oder gar weiterentwickeln. Unterscheiden wir uns also neuronal doch wesentlich in unseren Sprachprozessen? 

Wo und wie findet Sprache statt?  

Wie von Petkov und Kollegen (2009) beschrieben, ging Carl Wernicke davon aus, dass Sprache vor allem in der linken Gehirnhälfte stattfindet (Petkov et al., 2009). Auf diesem Grundgedanken beruht auch das sogenannte Wernicke Areal, welches neben dem Broca Areal lange Zeit als Sprachareal definiert wurde (Petkov et al., 2009). Jedoch zeigten Untersuchungen in den folgenden Jahren, dass man Sprache nicht unilateral betrachten kann (Simonyan et al., 2016). Sprache findet nicht nur links oder rechts statt, sondern ist ein wechselseitiges System, bei dem beide Gehirnhälften involviert sind. Des Weiteren geht man von zwei Strömungen aus: dorsal und ventral (Petkov et al,, 2009). Der dorsale Strom analysiert das Wo und Wie, verläuft parietal vom primären visuellen Kortex über den Okzipitallappen zum Parietallappen (Petkov et al., 2009). Dabei interagiert er mit dem ventralen Strom, dieser analysiert das Was. Er hat wiederum Verbindungen zum medialen Temporallappen, limbischen System und dorsalen Strom. Der ventrale Strom ist dabei sowohl für die Verarbeitung visueller, als auch akustischer Informationen wichtig (Petkov et al., 2009). Er nimmt die Reize auf und formt aus Ihnen dann eine Information, die wir verarbeiten können. Er gibt Phonemen einen semantischen Inhalt (Ghazanfar & Takashi, 2014). Der dorsale Strom hingegen ist für die Sprachwahrnehmung und das Produzieren von Sprache zuständig. Dieser dorsale Strom lässt sich ebenfalls bei Affen nachweisen, der ventrale nicht (Petkov et al., 2009). Man könnte also vermuten, dass sie die Sprache wahrnehmen, aber daraus keinen für sie logischen Inhalt formen können. Dies wiederum spricht dafür, dass Tiere uns aufgrund ihrer Verarbeitung nicht verstehen und unsere Sprache auch nicht erlernen können. 

Des Weiteren hat unsere Sprache einen referentiellen Charakter, der flexibel ist (Fedurek & Slocombe, 2011). Bei Tieren ist Kommunikation an einen bestimmten Kontext gebunden. Sie besitzen dabei spezifische Laute für spezifische Situationen (Fedurek & Slocombe, 2011). Zudem ist es aber bis heute nicht abschliessend geklärt, inwiefern sich auch der Empfänger unterscheidet. Im Tierreich vermutet man meist einen passiven Empfänger, bei uns Menschen ist dieser aktiv und es findet ein direkter Austausch statt (Fedurek & Slocombe, 2011). Ein Austausch kann klar auch bei Tieren stattfinden, aber ob es dabei dem der Menschen entspricht, sieht man eher als unwahrscheinlich an. 

Ein weiterer Unterschied liess sich auch genetisch finden. Menschen besitzen eine spezifische Form des FOXP2-Gens. Dieses haben einige Tiere, insbesondere Affen, zwar auch, aber nicht in derselben Form (Fedurek & Slocombe, 2011; Ocklenburg et al., 2013). Dieses Gen ermöglicht es dem Menschen, eine feinmotorische Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln zu haben und diese im sprachlichen Kontext zu gebrauchen (Fedurek & Slocombe, 2011). 

Auch der ventrale sensomotorische Kortex (vSMC) zeigt, dass es Unterschiede zwischen Menschen und Tieren in der Sprachproduktion gibt (Simonyan et al., 2016). Es zeigte sich, dass, wenn es im vSMC zu Beeinträchtigungen kommt, diese Personen Schwierigkeiten haben, ihre Laute willentlich zu verändern. Sie können also die Tonhöhe, Intensität und Qualität ihrer Laute nicht mehr anpassen. Hingegen bei Tieren, insbesondere Affen, zeigte sich dieser Zusammenhang so nicht (Simonyan et al., 2016). 

Die Auflösung  

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kommunikation von Tier und Mensch durchaus Ähnlichkeiten aufweist, so vor allem der soziale Kontext, einander vor Gefahren warnen und auch ein gewisses Zusammenspiel von Gesten und Lauten. Jedoch, am Ende sind die Vorgänge im Gehirn doch sehr verschieden. 

Tiere können uns vielleicht imitieren, vielleicht auch sporadisch unsere Sprache oder Teile davon erlernen, wie zum Beispiel das Nachplappern beim Papagei. Sie aber differenziert zu gebrauchen oder gar zielgerichtet zu sprechen, scheint aufgrund ihrer Genetik und neuronalen Plastizität nicht möglich (Fedurek & Slocombe, 2011). 

So wird ein direkter Gedankenaustausch mit Worten leider nicht möglich sein, was jedoch nicht ausschliesst, dass wir Menschen lernen, Gesten und Laute der Tiere zu deuten. Das wiederum kann uns je nach Situation auch heute noch vor Gefahren schützen, die die Tiere mit ihren in vielen Bereichen feineren Sinnen eher realisieren als wir Menschen. 

«Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache und wir haben sie, um zu sprechen.» 

Theodor Fontane, In: Goldammer, Erler, Golz, & Jahn, 1973, p. 99  

Elefanten verstehen uns 

Sie haben nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern können uns auch mit ihren grossen Ohren verstehen – oder zumindest sind die Elefanten in der Lage, uns anhand der Sprache auseinander zu halten. Eine Studie mit freilebenden afrikanischen Elefanten legt nahe, dass sie verschiedene Gruppen von Menschen ziemlich gut unterscheiden können (McComb, Shannon, Sayialel, & Moss, 2014). So sind die grossen Rüsseltiere in der Lage zwischen Männern der Massai- und Kamba-Ethnien zu unterscheiden. Dies ist wichtig, da die Massai eine Gefahr für die Elefanten darstellen, die Kamba dagegen nicht. Zudem sind sie in der Lage Männer und Frauen auseinanderzuhalten. Sie verwechseln erwachsenen Männer auch nicht mit ungefährlichen Buben. Dies legt das Fluchtverhalten der Tiere beim Abspielen von Tonbandaufnahmen der verschiedenen Gruppen dar. So bilden die Elefanten vermehrt eine schützende Gruppe, wenn sie Aufnahmen der Massai hören, als wenn sie Aufnahmen der Kamba hören. Oder sie riechen öfters und treten häufiger die Flucht an, wenn die Aufnahme von Massai-Männern, als von Frauen oder Buben zu hören ist. Das zeigt, wie sensitiv diese Tiere – nur anhand der Sprache und der Stimme – zwischen für sie gefährlichen und ungefährlichen Menschen unterscheiden können.  

See-Elefanten erkennen die Stimmen ihrer Rivalen 

Es muss wohl am Namen liegen: See-Elefanten teilen mit ihren Namensverwandten die Fähigkeit, Stimmen gut erkennen zu können. Die See-Elefanten sind nämlich in der Lage, andere See-Elefanten am Rhythmus und an der Frequenz ihrer Stimmen zu erkennen (Mathevon, Casey, Reichmuth, & Charrier, 2017). Dazu spielten die Forscher den männlichen See-Elefanten Audio-Aufnahmen ihrer Kontrahenten ab. Die soziale Ordnung unter den männlichen Tieren wird jeweils zu Beginn der Paarungszeit mit Kämpfen festgelegt. An die dadurch festgelegte Hackordnung wird mittels lauter Vokalisation erinnert, welche für jedes Tier einzigartig ist. Alpha-Männchen verteidigen ihr Harem auf diese Weise vor hierarchisch tieferen Männchen. Wenn einem solchen Männchen die Stimme eines Alpha-Männchens vorgespielt wurde, dann zog es sich zurück. Durch systematische Veränderung der Frequenz und des Rhythmus der Aufnahmen, konnten die Forscher zeigen, dass beide Aspekte der Stimme für die Wiedererkennung der Rivalen wichtig sind. Wenn die Veränderung innerhalb der intra-individuell vorkommenden Variation des Alpha-Männchens lag, dann zeigten sie weiterhin das gleiche Rückzugsverhalten. Wenn die Veränderung der Aufnahme jedoch ausserhalb der natürlichen Variation dieses spezifischen Alpha-Männchens lag – aber noch im Spektrum der Vokalisation von See-Elefanten – dann wurde das Rückzugsverhalten nicht mehr gezeigt. Die See-Elefanten ziehen sich eben nur von stärkeren Rivalen zurück. 

Singvögel sind Grammatik-Experten 

Oft gilt die grammatische Struktur als wichtiges Element, um die menschliche Sprache von der Kommunikation von Tieren zu unterscheiden. Doch so einzigartig, wie lange angenommen, ist sie nicht. Lieder von Singvögel haben hierarchische Strukturen – ähnlich der menschlichen Grammatik – die die Vögel wahrnehmen (Abe & Watanabe, 2011). Die Forscher zeigten, dass der bengalische Fink nicht nur in der Lage ist, die natürlich auftretenden Strukturen in ihren Liedern zu erkennen, sondern auch neue künstlich erzeugte grammatikalische Regeln zu lernen. Danach waren die Vögel in der Lage, neue Audioaufnahmen anhand der zuvor erlernten Grammatik zu unterscheiden. Die Isolation junger Finken von älteren Tieren zeigte, dass sie verschiedenen Liedern anderer Finken ausgesetzt sein müssen, um die grammatikalischen Fähigkeiten richtig zu entwickeln. Somit ist die Kommunikation der fleissigen Piepser der menschlichen Sprache ähnlicher als die Vokalisation von, mit uns näher verwandten Primaten, die mit grammatikalischen Strukturen mehr Mühe haben. 

Delfine stellen sich mit Namen vor 

Es ist üblich, sich neuen Bekanntschaften gegenüber mit seinem Namen vorzustellen. Doch sind wir nicht die einzige Spezies, die das tut. Es zeigte sich, dass Delfine das ähnlich handhaben (King & Janik, 2013). Jeder Delfin hat ein eigenes charakteristisches Pfeifen, das einen Grossteil seiner vokalen Produktion ausmacht: In Isolation nahe 100 Prozent, in freilebenden Gruppen 38 bis 70 Prozent. Es ist, als würden die Delfine ihren eigenen Namen vor sich hin pfeifen. Doch sie können auch das Pfeifen ihrer Artgenossen kopieren und lernen. Wenn sich Delfine im Meer begegnen, tauschen sie ihre charakteristischen Signale aus. Auch wenn das Kopieren des Pfeifens von anderen Delfinen in der freien Wildbahn nicht sehr oft vorkommt, kann es dazu verwendet werden, um diese anzusprechen. Dazu spielten die Forscher den Delfinen künstlich erzeugte Kopien ihrer Namen ab und untersuchten die Reaktionen der grossen Tümmler. Delfine, welchen synthetisierte Versionen ihres eigenen Pfeifens vorgespielt wurde, antworteten mit demselben Signal. Delfine, denen das Pfeifen von vertrauten Delfinen aus der eigenen Gruppe oder von fremden Delfinen abgespielt wurde, kopierten diese hingegen nicht. Dass die Tümmler ihr charakteristisches Pfeifen hauptsächlich selbst verwenden, erlaubt ihren Artgenossen demnach diese gezielt anzupfeifen, indem sie deren charakteristisches Signal kopieren. 


Zum Weiterlesen

Petkov, C. I., Logothetis, N. K., & Obleser, J. (2009). Where Are the Human Speech and Voice Regions, and Do Other Animals Have Anything like them?. The Neuroscientist, 15(5), 419-429. 

Literatur 

Abe, K., & Watanabe, D. (2011). Songbirds possess the spontaneous ability to discriminate syntactic rules. Nature Neuroscience, 14(8), 1067-1074. doi:10.1038/nn.2869 

Calude, A. S., & Pagel, M. (2011). How do we use language? Shared patterns in the frequency of word use across 17 world languages. Philosophical Transactions of the Royal Society of B: Biological Sciences, 366(1567), 1101-1107. doi: 10.1098/rstb.2010.0315 

Fedurek, P., & Slocombe, K. E. (2011). Primate Vocal Communication: A Useful Tool for Understanding Human Speech and Language Evolution?. Human Biology, 83(2), 153-173. doi: 10.3378/027.083.0202 

Fitch, W. T. (2000). The evolution of speech: a comparative review. Trends in Cognitive Science, 4(7), 258-266. doi: 10.1016/S1364-6613(00)01494-7 

Ghazanfar, A. A., & Takahashi, D. Y. (2014). The evolution of speech: vision, rhythm, cooperation. Trends in Cognitive Sciences, 18(10), 543-553. doi: 10.1016/j.ties:2014.06.004 

Goldammer, P. Erler, G. Golz, A., & Jahn, J. (1973). Romane und Erzählungen. Berlin und Weimar. Aufbau. (p. 99)  

King, S. L., & Janik, V. M. (2013). Bottlenose dolphins can use learned vocal labels to address each other. PNAS Proceedings Of The National Academy Of Sciences Of The United States Of America, 110(32), 13216-13221. doi:10.1073/pnas.1304459110 

Mathevon, N., Casey, C., Reichmuth, C., & Charrier, I. (2017). Northern Elephant Seals Memorize the Rhythm and Timbre of Their Rivals‘ Voices. Current Biology: CB, 27(15), 2352-2356.e2. doi:10.1016/j.cub.2017.06.035 

McComb, K., Shannon, G., Sayialel, K. N., & Moss, C. (2014). Elephants can determine ethnicity, gender, and age from acoustic cues in human voices. PNAS Proceedings Of The National Academy Of Sciences Of The United States Of America, 111(14), 5433-5438. doi:10.1073/pnas.1321543111 

Ocklenburg, S., Arning, L., Gerding, W. M., Epplen, J. T., Güntürkün, O., & Beste, C. (2013). FOXP2 variation modulates functioncal hemispheric asymmetries for speech perception. Brain and Language, 126(3), 279-284. doi: 10.1016/j.bandl.2013.07.001 

Petkov, C. I., Logothetis, N. K., & Obleser, J. (2009). Where Are the Human Speech and Voice Regions, and Do Other Animals Have Anything like them?. The Neuroscientist, 15(5), 419-429. doi: 10.1177/1073858408326430 

Simonyan, K., Ackermann, H., Chang, E. F., Greenlee, J. D. (2016). New Developments in Understanding the Complexity of Human Speech Production. The Journal of Neuroscience, 36(45): 11440-11448. doi: 10.1523/JNEUROSCI.2424-16.2016 

Suizid

Wie durch Reden die Distanzierung von Suizidalität gelingen kann 

Der Freitod ist ein Thema unserer Gesellschaft. Nicht immer sichtbar und doch präsent. Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin), Matthias Herren (Stellenleiter Dargebotene Hand ZH) und eine Betroffene erzählen, wie eine offene Kommunikation vor Selbstmord bewahren kann. 

Von Hannah Löw
Lektoriert von Marie Reinecke und Zoé Dolder
Illustriert von Alessia Geisshüsler

Der Tod gehört zum Kreislauf des Lebens. Früher oder später sterben Lebewesen und Neue werden geboren. Doch wenn psychisches Leiden Menschen in den freiwilligen Tod drängt, ist keine Rede mehr von einem natürlichen Tod. Dass Suizid ein Thema unserer Gesellschaft ist, zeigen die Ergebnisse der Untersuchung des Bundesamts für Statistik (BFS): Etwa 1000 Menschen in der Schweiz beendeten im Jahr 2016 selbst ihr Leben (BAG, 2019). Nach der WHO erschwert eine Tabuisierung der Suizidthematik das Erkennen von selbstgefährdeten Menschen (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).  

Gefühlte Datenlage und Daten der Gefühlslage 

Wie oft laufen wir täglich durch die Gegend und begegnen fremden Menschen. Wir blicken in unbekannte Gesichter, schauen schnell weg, nicken kaum merkbar oder es rutscht sogar ein Grüezi über die Lippen. Wir kreuzen für einen kurzen Augenblick den Weg eines anderen und doch bleibt uns vieles dabei verborgen. Wie der Kapitän auf der Titanic, als er die Spitze des Eisberges entdeckte, erhaschen auch wir nur einen Bruchteil des Befindens. Die tieferliegende, emotionale Verfassung bleibt in den Strassen des Alltags meist unerkannt. Bei wie vielen Menschen würden wir einen verborgenen Eisberg an suizidalen Gedanken unter der Oberfläche vermuten? 
In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) erhob das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2017 mittels Fragebogen Daten zu Suizidgedanken und Suizidversuchen in der Schweizer Bevölkerung. Die Prävalenz von Suizidgedanken lag bei ungefähr 7,8 Prozent. «Hochgerechnet auf die gesamte Wohnbevölkerung ab 15 Jahren sind dies rund 541’000 Personen (95%-KI: 508’000–575’000)» (Obsan, 2019, S. 2). Konstruiert das innere Auge diese Zahl zu einem Bild, so könnte die Platzkapazität des Stadions Letzigrund rund 20-mal ausgeschöpft werden mit Menschen, die Suizidgedanken in sich tragen (Stadt Zürich, 2018).  
Die Prävalenz der Suizidversuche lag nach der Datenerhebung der SGB 2017 bei 0,5 Prozent innerhalb der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2016. Auch hier rechnet das SGB diese Zahl hoch auf «rund 33’000 Suizidversuche (95%-KI: 23’000–42’000)» (Obsan, 2019, S. 4–5) schweizweit. 

3,4 Prozent der Befragten haben während ihrer gesamten Lebensspanne bis zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Das bedeutet, dass 214’000 bis 259’000 Menschen, die in der Schweiz leben, zuvor einen Suizidversuch unternommen haben (Obsan, 2019). Zu erwähnen ist hierbei, dass bei der Datenerhebung in der Schweiz lebende Personen ab 15 Jahren befragt worden sind, exklusiv der Personen im Freiheitsentzug, in psychiatrischen Kliniken oder im Asylbereich (Obsan, 2019). 

«Angst. […] ein Drang, weg auf die Strasse zu gehen und zur nächsten Brücke runter. Dann hat mich jemand angesprochen, ein Wildfremder. […] Ich weiss […] nicht, was passiert wäre, wenn er mich nicht angesprochen hätte.» 

Philipp Zürcher – Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich, 2015. 

Wenn ein Suizidversuch misslingt – Rettungssanitäter*innen im Einsatz 

Fast 100 Rettungsdienste versorgen die Schweizer Bevölkerung täglich mit über 1’200 Rettungseinsätzen (Obsan, 2017). In einer Befragung von 245 Rettungsdiensteinsatzkräfte wurde die Häufigkeit der Einsätze aufgrund psychiatrischer Notfälle auf 8,7 Prozent geschätzt (Pajonk et al., 2004). Das würde demnach bedeuten, dass fast jeder zehnte Rettungsdiensteinsatz aufgrund eines psychiatrischen Notfalls erfolgt, zu denen auch Suizidversuche zählen.  
Auch Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin) rückte während ihrer Arbeit beim Rettungsdienst immer wieder aufgrund von Suizidversuchen aus. Elisa gibt für das aware einen Einblick in ihre Erfahrungen. 
«Vor Beginn meines Veterinärmedizinstudiums habe ich als Rettungssanitäterin gearbeitet und so hatte ich auch einige Suizideinsätze. Dabei sind mir vor allem die Selbstmordversuche der gesunden, jungen Menschen in Erinnerung geblieben, weil diese meist „nur“ ein Hilferuf an ihre Umgebung waren. So haben mir ein paar Patienten*innen im Nachhinein erzählt, wie erschrocken sie über ihre eigene Tat gewesen seien. Sie seien sich der Konsequenzen bis dato nicht wirklich bewusst gewesen. Meiner Meinung nach kann man in vielen Fällen eine solche Verzweiflungstat verhindern, indem man diesen Menschen eine Möglichkeit gibt, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen. Prävention und offene Kommunikation sind oftmals schon sehr hilfreich.» 

Die innere Not zu erkennen geben 

«Ich finde es wichtig, dass man Menschen nicht alleine lässt, wenn sie in einer Krise sind und dass man sie vor allem ernst nimmt» (Pro Juventute et al., 2018), äussert sich Elea in der Präventionskampagne Jugendsuizid der Pro Juventute, SBB und weiteren Kampagnenträger*innen. Wachsame Augen entdecken im Winter 2019/2020 in der Stadt Zürich die Plakate von fünf Jugendlichen aus dieser Kampagne. Sie plädieren dafür, dass Betroffene über ihre Suizidgedanken reden. Auch die Kampagne «reden kann retten» der Prävention und Gesundheitsförderung des Kantons Zürich will dem Schweigen über Suizidgedanken entgegenwirken.  
Wie eingangs erwähnt, gehört Tabuisierung der Suizidthematik nach der WHO zu den zentralen Schwierigkeiten in der Suizidprävention. Auch die Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung beeinflussen die Rate der Menschen, die sich Hilfe holen, massgeblich (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).  
Die Schweiz ermöglicht Anlaufstellen, die 24 Stunden betreut werden und die jederzeit Menschen in einer akuten Krise ihre Hilfe anbieten, so beispielsweise das Kriseninterventionszentrum Zürich (KIZ). Die Bettenzahl im KIZ ist zwar beschränkt, doch sind Gespräche rund um die Uhr möglich (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, 2019). Wer keinen persönlichen Kontakt möchte, hat die Option zum Telefon zu greifen. Auch die Dargebotene Hand bietet durch Freiwilligenarbeit ein 24-Stunden-Telefon an. Ausserdem gibt es Online-Chats, in denen Menschen in einer Krise mit Freiwilligen der Dargebotenen Hand oder auch mit der Nightline Zürich ihre Sorgen per Computer besprechen können.  
Matthias Herren, der Stellenleiter der Dargebotenen Hand im Raum Zürich, äussert sich für das aware folgendermassen zum Thema Suizid. 

«Wenn Suizidwillige die Dargebotene Hand am Telefon oder per Chat kontaktieren, gilt das Grundprinzip, dort anzuknüpfen, wo der*die Kontaktsuchende jetzt gerade steht. Dabei gilt es ernst zu nehmen und offen anzusprechen, dass Suizidwillige ihre akute Krisensituation als Sackgasse erleben, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Im Gespräch wird aber beachtet, dass es Suizidwilligen nicht primär darum gehen muss, zu sterben, sondern vor dem Unerträglichen zu fliehen. Möglicherweise gibt es dafür auch einen anderen Weg als den Tod.» 

Sich helfen lassen – im Gespräch mit einer Betroffenen (16.01.20) 

«Die Mutter meines Ex-Freundes hat sich das Leben genommen, als er zehn Jahre alt war. Meine Tante habe ich nie kennengelernt, weil sie sich als junge Erwachsene das Leben genommen hat. In der Primarschule ist eine Schulkollegin von mir eine Zeit lang nicht mehr zum Unterricht erschienen – ihr Vater hatte sich damals das Leben genommen.», berichtet Lena1. Mehr als fünf Personen könne Lena aufzählen, die sie direkt oder indirekt kenne, die Suizid begangen haben. Und mehr als doppelt so viele, die es versucht hätten.  
«Suizidgedanken sind ein ernstzunehmendes Thema. Hinter diesen Gedanken steckt meiner Meinung nach oft ein tieferliegendes Gefühl, das sich im Wunsch nach dem Tod ausdrückt.», sagt die Studentin. Zumindest sei es ihr so ergangen. Auch sie wollte sterben. Dachte sie zumindest. Zweimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Zweimal sei es schief gegangen. Heute ist sie dankbar für ihr Leben.  
Zwei stationäre Klinikaufenthalte folgten auf die beiden Suizidversuche. «In der zweiten Klinik war ich zunächst unter FU-Status, also fürsorgliche Unterbringung. Anders gesagt: Zwangseinweisung. In vielen Gesprächen, Kunsttherapien und Körpertherapien konnte ich dann das Geschehene besser verstehen, den Kern in meinen Suizidgedanken erkennen und mit der Zeit Abstand davon nehmen.» Es sei nicht der Wunsch nach dem Tod für sie gewesen. Es war ihre Verzweiflung, nicht zu wissen, wie sie ihre Emotionen aushalten könne. Nicht zu wissen, wie sie sich selbst helfen könne. «Leider waren die Gedanken nicht einfach verschwunden. Als ich angefangen habe, darüber zu reden, blieb der Drang nach dem Sterben immer noch bestehen», erzählt Lena. Erst als sie es als Symptom der eigenen Überforderung erkannte, konnte sie mit der Zeit anders damit umgehen. Jedes Mal, wenn sie die Müdigkeit des Lebens ergriff, habe sie offene Ohren in der Therapie gesucht. Später habe es gereicht, wenn sie in schwierigen Phasen kurz in den Online-Chat der Nightline Zürich ging oder mit einem*r Freiwilligen der Dargebotenen Hand chattete. Lena denkt: «Wenn jemand keinen Ausweg mehr sieht, kann man diesen Menschen zwar am Leben halten, indem der Suizid verhindert wird, doch kann niemand einen Menschen dazu bringen, wieder wirklich zu leben. Es gehört auch der Wille dazu, sich helfen zu lassen und dem Leben eine neue Chance zu geben.» Trotz Scham und Angst sei das Reden für Lena der Schlüssel zur Ausgangstür aus dem Gedankengefängnis Suizid gewesen.  
«Den Tod kann dir niemand wegnehmen. Doch wer keinen alternativen Weg ausprobiert, verpasst vielleicht die Oase hinter der nächsten Sanddüne des Lebens.» 

Notfalladressen – rund um die Uhr erreichbar: 

Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (KIZ): 044 296 73 10 

Kriseninterventionszentrum der Integrierten Psychiatrie Winterthur (KIZ): 052 224 37 00 

Notfallpsychiatrischer Dienst am Universitätsspital Zürich: 044 255 11 11 

Die Dargebotene Hand: 143 

Pro Juventute (für Kinder- und Jugendliche): 147 

Weitere Adressen für Krisensituationen: 

Psychiatrisch-Psychologische Poliklinik: 044 412 48 00 

Die Dargebotene Hand: Online Chat unter www.143.ch 

Nightline Zürich: Online Chat unter www.nightline.ch 

Pro Mente Sana: 0848 800 858 

Psychologische Beratungsstelle UZH/ETH: 044 634 22 80, pbs@sib.uzh.ch 

Onlinesuche nach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (psychiatrisch und psychologisch): www.therapievermittlung.ch 


Zum Weiterlesen

Suizidprävention Kanton Zürich. (2020). In der Krise: Das hilft. Besorgt um jemanden?: So können Sie helfen. Retrieved from https://www.suizidpraevention-zh.ch 

Coelho, P. (1998). Veronika beschliesst zu sterben. Rio de Janeiro: Editora Objetiva Ltda. 

Söldi, A. (08. April 2013). Wenn Krisen am Studieren hindern. Tages-Anzeiger, 25. http://www.pbs.uzh.ch/medien/WennKrisenamStudierenhindern.pdf 

Forum für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich. (2015). Den Kindern helfen: Wie Sie Kinder nach einem Suizid unterstützen können. Zürich: Verlag Kirche+Jugend. https://www.suizidpraevention-zh.ch/fileadmin/user_upload/Kinder_reden_Broschuere_2015.pdf 

Literatur 

Pajonk, F.G., Gärtner, U., Sittinger, H., von Knobelsdorff, G., Andresen, B. & Moecke, H. (2004). Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall & Rettungsmedizin 7(3): 161-167. https://doi.org/10.1007/s10049-004-0654-x 

Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung (Obsan Bulletin 7/2019). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 

Frey, M., Lobsiger, M. & Trede, I. (2017). Rettungsdienste in der Schweiz: Strukturen, Leistungen und Fachkräfte (Obsan Bulletin 1/2017)Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 

Stiftung Deutsche Depressionshilfe. (2016). Suizidprävention: Eine globale Herausforderung. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/131056/9789241564779-ger.pdf 

Pro Juventute. (2020). Kampagne Suizidprävention. Retrieved from https://www.147.ch/de/suizidpraevention 

Stadt Zürich (2018). Das Stadion Letzigrund in Zahlen und Fakten. Retrieved from https://www.stadionletzigrund.ch/de/zahlenfakten 

Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich. (2015). Warum reden wichtig ist: Momo Christen, Daniel Göring und Philipp Zürcher haben einen Suizidversuch überlebt. Sie berichten in Filmclips über ihre Erfahrungen. Retrieved from https://reden-kann-retten.ch 

So nah und doch so fern

Liebe auf Distanz – Was zeichnet Fernbeziehungen aus und wie funktionieren sie? 

Wir leben in einer globalisierten Welt, sind so vernetzt wie noch nie und Distanz ist kaum noch relevant. Doch wie sieht es mit der Liebe aus, in der Nähe und gemeinsam verbrachte Zeit doch eine vermeintlich essenzielle Rolle spielen?  

Von Selina Landolt
Lektoriert von Zoé Dolder und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Selina Landolt

Wie gross muss die geographische Distanz sein, damit man sich in einer Fernbeziehung (engl. long distance relationship) befindet? Wie viele Kilometer sind notwendig, bis sich zwei Partner*innen nicht mehr «geographisch nahe» nennen dürfen? Forschende – und wohl auch betroffene Paare – sind sich nicht immer einig, wie eine Fernbeziehung zu definieren ist. Vor allem in der neueren Forschung findet sich aber vorwiegend Pistole und Roberts (2011) Auffassung von Fernbeziehungen. Darin zeichnen sich Fernbeziehungen erstens durch eine beträchtliche geographische Distanz zwischen den Partner*innen aus, sodass es praktisch unmöglich wäre, sich jeden Tag zu sehen. Zweitens unterscheiden sich Fernbeziehungen von Beziehungen ohne Distanz durch ihre Kommunikation, von welcher ein Grossteil nicht von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Doch ganz unabhängig von den Kilometern: Wie sehen denn Fernbeziehungen im Alltag aus? 

Emotionale Nähe und geographische Distanz – geht das? 

Das Phänomen Fernbeziehung ist kein seltenes. Vor allem bei jungen Erwachsenen sind Fernbeziehungen nicht ungewöhnlich und werden immer populärer. Gründe dafür sind die sich immer weiterentwickelnde Globalisierung, Flugtickets zu Spottpreisen oder berufliche Karrieren, welche teilweise eine hohe geographische Flexibilität erfordern. Mehr als die Hälfte der Studierenden haben sich in ihrem Leben mindestens einmal in einer Fernbeziehung wiedergefunden (Arnett, 2000; Larsen, Urry & Axhausen, 2006). Betrachtet man nicht nur junge, gebildete Menschen, sondern beobachtet Häufigkeiten über die Gesamtbevölkerung, so findet man, dass etwa 10 Prozent in einer Partnerschaft mit getrennten Haushalten leben. Diese Paare werden mit dem Begriff Living Apart Together betitelt und können, müssen aber nicht einer Fernbeziehung nach Pistole und Roberts (2011) entsprechen (siehe Kästchen) (Asendorpf, 2008). Partnerschaften auf Distanz sind also keine Einzelfälle: Eine nähere Betrachtung der Vor- und Nachteile von Fernbeziehungen scheint sich folglich zu lohnen. 

«I exist in two places, here and where you are.» 

Margaret Atwood

Trotz Schmetterlingen im Bauch sind Fernbeziehungen nicht immer ein Zuckerschlecken. Im Vergleich zu geographisch nahe wohnenden Partner*innen erwähnt Rohlfing (1995) charakteristische Herausforderungen für Personen in Fernbeziehungen. Diese sind a) eine erhöhte finanzielle Belastung zur Aufrechterhaltung der Beziehung, b) die Schwierigkeit, gleichzeitig geographisch nahe Freundschaften zu pflegen, c) die erschwerte Beurteilung des Zustandes einer Beziehung aus der Entfernung und d) hohe Erwartungen an den*die Partner*in sowie an die Qualität der begrenzten, gemeinsamen Zeit.  

Diese Schwierigkeiten können sich bei Einzelpersonen in Form von Stress und Einsamkeit äussern. So kommt der Stress vor allem durch die unausweichlichen, bevorstehenden Trennungen nach jedem Wiedersehen der Partner*innen und den vielen Reisen zustande, die für die Aufrechterhaltung der Beziehung notwendig sind. Gefühle von Einsamkeit dagegen treten vermehrt während der Zeit der räumlichen Trennung auf und sind während dieser sehr belastend für die Partner*innen (Sahlstein, 2004).  

Doch trotz oder dank der erschwerenden Distanz haben Fernbeziehungen auch einzigartige Vorteile gegenüber Beziehungen ohne Distanz. Die seltene, meist gut eingeplante gemeinsam verbrachte Zeit wird von Partner*innen umso mehr wertgeschätzt und ausgeschöpft (Sahlstein, 2004). Langeweile entsteht so vermutlich weniger. Ein weiterer positiver Aspekt kann die für Partner*innen in Fernbeziehungen typische Segmentierung ihrer Zeit sein. Dies bedeutet, dass sie sich in Zeiten geographischer Nähe besonders auf die Beziehung und die gemeinsamen Momente fokussieren, während sie sich in der restlichen Zeit mehr auf die Schule, den Beruf oder Freunde konzentrieren können (Sahlstein, 2004). Das kann wiederum in einem Gefühl von Unabhängigkeit resultieren, welches viele Personen in einer Fernbeziehung geniessen (Stafford, Merolla & Castle, 2006). Eine Fernbeziehung zu führen ist folglich durchaus möglich, sofern man sich mit den Vor- und Nachteilen einer solchen Beziehungsform arrangieren kann.  

Sind Personen in Fernbeziehungen weniger zufrieden? 

Studien, welche die allgemeinen Beziehungszufriedenheit in Fernbeziehungen im Vergleich zu geographisch nahe wohnenden Paaren untersuchten, zeigen gemischte Ergebnisse. Während einige wenige Studien über eine geringere Beziehungszufriedenheit berichten, zeigen andere eine gleich hohe oder sogar höhere Beziehungszufriedenheit in Fernbeziehungen (Du Bois et al., 2016; Kelmer, Rhoades, Stanley &, Markman, 2013). 

Doch zumindest für die Studienergebnisse mit einer besonders hohen Beziehungszufriedenheit hat die psychologische Wissenschaft eine Erklärung. Sie könnten nämlich durch das Phänomen der Idealisierung des*der Partners*in zustande gekommen sein, welches in Fernbeziehungen – im Vergleich zu Paaren mit geringer geographischer Distanz – vermehrt auftaucht (Stafford & Merolla, 2007). Diese Idealisierung kann durch die eingeschränkte Kommunikation sowohl als auch begrenzter Interaktion entstehen und aufrechterhalten werden, da allenfalls fehlerhafte, romantische Vorstellungen über die andere Person nicht korrigiert werden (Stafford & Merolla, 2007). So geben sich Partner*innen in einer Fernbeziehung während ihrer begrenzten gemeinsamen Zeit womöglich mehr Mühe, die getragenen Socken nicht mehrere Tage im Schlafzimmer liegen zu lassen oder die Haare im Waschbecken zu entfernen. Die Idealisierung geht jedoch über nervige Alltagsgewohnheiten hinaus. So berichten Personen in Fernbeziehungen beispielsweise über mehr empfundene Liebe für ihre Partner*innen, mehr Spass mit ihren Partner*innen und eine höhere Kommunikationsqualität (Kelmer et al., 2013). Letzteres ist wohl ein Muss für das Funktionieren von Fernbeziehungen, da man sich körperlich nur begrenzt nahe sein kann und die Kommunikation meist nur über digitale Geräte stattfindet. 

Mögliche Gründe für eine niedrigere Beziehungszufriedenheit können ein höheres allgemeines Stresslevel in Fernbeziehungen aufgrund ihrer charakteristischen Herausforderungen nach Rohlfing (1995) sein (Du Bois et al., 2016). Die über alle Studien hinweg zusammengefassten Ergebnisse von geographisch nahen und fernen Paaren lassen jedoch festhalten, dass die Beziehungszufriedenheit beider Gruppen im Mittel vergleichbar ist (Dargie, Blair, Goldfinger & Pukall, 2015; Du Bois et al., 2016).  

Brücken bauen durch Kommunikation 

Digitale Kommunikation spielt eine wichtige Rolle für die Pflege der Paarbeziehung (Maguire & Connaughton, 2011). Fernbeziehungen sind heute aufgrund von Fortschritten in technologischen und sozialen Medien einfacher aufrechtzuerhalten als zu Zeiten, in denen internationale Telefonate noch teuer waren und Nachrichten per Brief nur mit grosser zeitlicher Verzögerung beim Empfänger ankamen (Oakes & Brown, 2016) – Skype, Facebook, Instagram und Snapchat sei Dank. Auch wenn im Vergleich zur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht einige Informationen, wie die nonverbale Kommunikation, vernachlässigt werden, sind viele der modernen Kommunikationskanäle synchron (d. h. Senden und Empfangen von Nachrichten sind zeitgleich) und erlauben eine unmittelbare Interaktion der Partner*innen (Neustaedter & Greenberg, 2012). Vor allem visuelle und auditive Kommunikationskanäle sind für Paare in einer Fernbeziehung sehr wichtig, da sie Intimität und emotionale Nähe ermöglichen (Janning, Gao & Snyder, 2018; Kolozsvari, 2015). Dies wiederum verringert die Gefahr einer Idealisierung des*der Partner*in (Stafford & Merolla, 2007). 

«In true love the smallest distance is too great and the greatest distance can be bridged.» 

Hans Nouwens 

Eine häufigere Kommunikation geht mit einer höheren Zufriedenheit in Fernbeziehungen einher Dainton & Aylor (2002). Dabei bevorzugen Partner*innen in Fernbeziehungen gewisse Kommunikationskanäle. Skype wird für den gegenseitigen Austausch am häufigsten verwendet und ist mit einer höheren Beziehungs- und Kommunikationszufriedenheit assoziiert. Weiter werden Text-Nachrichten (Empfangen und Senden von Nachrichten beispielsweise über WhatsApp oder iMessage) anderen Kanälen wie Facebook, Twitter und Snapchat vorgezogen (Hampton, Rawlings, Treger & Sprecher, 2018). Letztere gehen teilweise gar mit einer niedrigeren Beziehungszufriedenheit einher und können Konflikte, Spannungen und Eifersucht hervorrufen (Hampton et al., 2018; Hertlein & Ancheta, 2014; Murray & Campbell, 2015; Neustaedter & Greenberg, 2012; Ruppel, 2015; Stewart, Dainton & Goodboy, 2014). 

Trotz fortgeschrittenen digitalen Medien sollte jedoch der Kontakt von Angesicht zu Angesicht nicht vernachlässigt werden. Je weniger digitale Kommunikation, desto geringer ist die empfundene Unsicherheit bezüglich Beziehungsstabilität in Fernbeziehungen (Dainton & Aylor, 2002). Ein weiterer Grund also, sich öfters Besuche abzustatten. 

Und wie steht’s mit der Sexualität? 

Sexualität ist für eine Beziehung sehr entscheidend (z. B. Byers, 2005). Für die sexuelle Interaktion in Fernbeziehungen ist die geographische Distanz jedoch eine Barriere, die besonders schwer zu überwinden ist. Die Sexualität wird vorwiegend online gelebt, beispielsweise mittels Selbstbefriedigung, während man mit dem*der Partner*in über Skype in Kontakt ist (Shaughnessy, Byers & Walsh, 2011). Dies hat zur Folge, dass die sexuelle Interaktion weniger persönlich ist und insgesamt seltener stattfindet als bei Paaren mit geringer Distanz, was wiederum zu Einbussen in der sexuellen Zufriedenheit führen kann (Byers & Wang, 2004). Erstaunlicherweise berichten Paare in Fernbeziehungen allerdings über eine vergleichbare sexuelle Zufriedenheit und sexuelle Kommunikation wie Paare ohne geographische Distanz (Kelmer et al., 2013). Dies lässt sich wohl mit den Möglichkeiten der modernen Technologie erklären, in der zumindest eine eingeschränkte Sexualität möglich ist. Ein weiterer Grund könnte die Idealisierung sein, die sich auch auf den sexuellen Aspekt der Beziehung ausbreiten kann. 

Was die Untreue in Fernbeziehungen betrifft, berichten einige Studien über einer erhöhten Wahrscheinlichkeit sexueller Aktivitäten ausserhalb der Beziehung. Diese finden online, aber auch im persönlichen Kontakt statt (Crystal Jiang & Hancock, 2013). Dabei lässt sich ein Geschlechterunterschied finden: Männer sind öfters untreu als Frauen (Allen & Baucom, 2004; Martins et al., 2016). Andere Ergebnisse wiederum widersprechen Befunden zur Untreue (Goldsmith & Byers, 2018). Zusammenfassend kann wohl gesagt werden, dass die Sexualität in Fernbeziehungen zwar anders, nicht aber besser oder weniger gut funktioniert. Einzig die Häufigkeit sexueller Aktivitäten unterscheidet sich gegenüber Beziehungen ohne geographische Distanz. 

Der Härtetest: Das Zusammenziehen 

Entscheiden sich Partner*innen dazu, zusammenzuziehen, bedeutet dies auch ein neuer Anfang als Paar und kann mit einer Neudefinition der Rollen innerhalb der Beziehung einhergehen (Goldsmith & Byers, 2018). Für einige ist dies aber auch der Anfang vom Ende: Etwa ein Drittel aller Fernbeziehungen werden innerhalb von drei Monaten nach dem Zusammenziehen beendet (Stafford et al., 2006). Häufiger wird dabei die Beziehung von Seiten der Frau beendet. Unabhängig von wem die Trennung ausgeht, gehen Frauen und Männer unterschiedlich mit einer Trennung um. Frauen scheinen sich allgemein besser mit der Beendigung einer Fernbeziehung zurechtzufinden und sehen ein Ende der Beziehung eher voraus (Helgeson, 1994). 

Neben dem Auseinanderbrechen der Beziehung sind Partner*innen allerdings noch weiteren Gefahren beim Zusammenziehen ausgesetzt: Fast alle Partner*innen berichten über einen Verlust der Vorteile einer Fernbeziehung. Schwächen der Partner*innen werden plötzlich offengelegt, die Idealisierung der anderen Person fällt weg und die gegenseitige Abhängigkeit wird grösser. Zudem gewöhnt man sich an die alltägliche Interaktion und die gemeinsame Zeit ist nichts Besonderes mehr, plötzlich fast unbegrenzt verfügbar und wird dementsprechend nicht mehr gleich wertgeschätzt wie noch zu Zeiten der räumlichen Trennung (Stafford et al., 2006). Doch trotz allen Nachteilen des Zusammenziehens – schafft man es, die Beziehung erfolgreich weiterzuführen, kann man sich getrost gemeinsam mit den Schlabberhosen aufs Sofa fläzen, durch Netflix-Serien bingen und muss nicht daran denken, wann man sich von seinem Lieblingsmenschen wieder trennen muss. 

Living Apart Together 

Personen, welche nicht im gleichen Haushalt wohnen, sind nur bedingt solchen in einer Fernbeziehungen gleichzustellen. Verschiedene Gründe können dazu führen, dass Partner*innen an zwei verschiedenen Orten wohnen, wobei sich die verschiedenen Paare grob in drei Gruppen einteilen lassen (Levin, 2004; Reimondos, Evans & Gray, 2011): 

  1. Vorstufe: Eher jugendliche Partnerschaften mit schwacher Verfestigung der Beziehung und hohem Trennungsrisiko (Asendorpf, 2008). 
  1. Berufsbedingte Fernbeziehung: Häufig «Zwei-Karrieren-Partnerschaften» (Peuckert, 2008), es ist von einer Verzögerung der Kohabitation auszugehen. 
  1. Beziehungsideal: Von Partner*innen bewusst gewähltes Arrangement, dass mehr Unabhängigkeit und Distanz sowie individuelle Autonomie erlaubt (Singly, 1994). 

Zum Weiterlesen

Piazza, J. (2018, June 19). How to make a long-distance relationship work, according to experts. TIME. Retrieved from https://time.com/5316307/best-long-distance-relationship-tips-experts/ 

Du Bois, S. N., Sher, T. G., Grotkowski, K., Aizenman, T., Slesinger, N., & Cohen, M. (2016). Going the distance: Health in long-distance versus proximal relationships. The Family Journal24(1), 5–14. doi: 10.1177/1066480715616580 

Literatur

Allen, E. S., & Baucom, D. H. (2004). Adult attachment and patterns of extradyadic involvement. Family Process43(4), 467–488. https://doi.org/10.1111/j.1545-5300.2004.00035.x 

Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist55(5), 469–480. https://doi.org/10.1037/0003-066X.55.5.469 

Asendorpf, J. B. (2008). Living apart together: Alters- und Kohortenabhängigkeit einer heterogenen Lebensform. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie60(4), 749–764. https://doi.org/10.1007/s11577-008-0035-4 

Byers, E. S. (2005). Relationship satisfaction and sexual satisfaction: A longitudinal study of individuals in long‐term relationships. Journal of Sex Research42(2), 113–118. https://doi.org/10.1080/00224490509552264 

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