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Mit ‘Kinder’ getaggte Beiträge

Kinder in der Pandemie 

Erlebnisse und Gedanken eines Kinderarztes 

Welchen Preis haben Kinder in der Pandemie bezahlt? Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? Diese und weitere Fragen beantwortete uns Dr. Bruno Knöpfli – Kinderarzt und delegierender Psychotherapeut mit langjähriger Erfahrung. 

Von Sebastian Junghans und Charlotte Baldenweg 
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Berit Barthelmes
Illustriert von Shaumya Sankar

Folgendes Interview fand am 22. Juli 2021 statt. Das Interview wurde im Original auf Schweizerdeutsch geführt und anschliessend auf Hochdeutsch übersetzt. Dr. Bruno Knöpfli äusserte dabei seine freie Meinung. Seine Aussagen sind unabhängig von der Meinung der Redaktionsmitglieder des awares. 

Wie hat sich dein Job verändert durch die Pandemie? 

Ich war in der glücklichen Situation, eine grossräumige Praxis zu haben. Die grossen Behandlungszimmer waren schon immer auch Warteräumlichkeiten. Damit hatte ich eine optimal coronataugliche Praxis zur Verfügung. Niemand traf den anderen, die Patienten und Patientinnen liessen sich separieren. Der Betrieb war in diesem Sinne nicht beeinträchtigt. Im Gegensatz zu vielen aus meiner Kollegschaft, erfuhren wir sogar eine Umsatzsteigerung um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, was sehr viel ist. Erschwerend sind mehrere komplizierte Prozesse dazugekommen, welche den Aufwand erhöht haben. Für die Praxis als wirtschaftliches Unternehmen resultierte eine Steigerung. 

Aus Patientensicht ergab sich die Situation, dass viele in anderen Praxen keinen Termin bekamen. Wahrscheinlich war das der Ausdruck einer Hilflosigkeit in dem Sinne, dass viele zu ihren Hausärzten und -ärztinnen wollten, wegen den komplexeren Betriebsabläufen aber keine Termine erhalten haben. 

«Ich führte Telefonate, welche neu waren: Gespräche mit Kindern, die man überzeugen musste, sich in die Praxis zu wagen. Kinder beruhigen, die nicht mehr in die Schule gehen wollten.» 

Knöpfli, 2021 

Wie nehmen Kinder die Maske bei dir als Arzt wahr? Hat sich dieser Umgang im Laufe der Pandemie verändert? 

Für mich selbst hat das äussere Auftreten eine untergeordnete Bedeutung, wie es auch bei den meisten Kindern der Fall ist. Die Kinder können sich auch relativ gut an geänderte Bedingungen und neue Situationen anpassen. Aber natürlich lassen theoretische Überlegungen Schwierigkeiten vermuten. Ein Kind schaut zuerst auf die Augen und den Mund. Dieses Dreieck wird durch die Maske verhüllt. Es müsste einen Einfluss auf den Umgang der Kinder mit uns haben. Vielleicht gab es bei uns keinen Effekt, da ich die meisten Kinder schon vor Corona kannte. Bei Fremden könnte das durchaus anders sein.  

Auch bei Säuglingen konnte ich nichts Spezielles beobachten. Ich habe keinen Unterschied zu vergangenen Untersuchungen festgestellt. Aber ich achte auch darauf, Säuglinge bei der Untersuchung wenig zu bedrängen, in den meisten Fällen hängen die Kleinen an der Mutter, während ich untersuche. Das ist sogar essenziell für die Beurteilung. Ein Kind geringen Alters, das nicht die Mutter als Schutzort sucht, lässt eine Auffälligkeit in der Mutter-Kind-Beziehung vermuten. 

Haben neben den Besuchen aufgrund von Grippe und Erkältungssymptomen auch andere Konsultationsgründe abgenommen bzw. zugenommen? 

Ich habe tatsächlich eine Steigerung von Patienten und Patientinnen mit Husten feststellen müssen. Husten ist aber ein Symptom mit breitem ursächlichem Spektrum; er kann beispielsweise durch Asthma oder Infektionen entstehen. Die reinen Infektionen haben abgenommen. Wir hatten diesen Winter sehr viel weniger banale Infektionen als zuvor. Diese scheinen jetzt aber aufzuholen, sodass sie lediglich verspätet auftreten. So hatten wir im Frühling und Frühsommer extrem viele Patienten und Patientinnen mit Infektionen. Darüber gibt es auch Aufzeichnungen des Zürcher Kindesspitals, die zeigen, wie stark erhöht die Infektanfälligkeit in dieser untypischen Zeit geworden ist. Die Grippe selbst war vergangenes Jahr weniger stark im Vergleich zu früheren Jahren. Allerdings haben wir diesbezüglich auch wenig getestet, sondern vermehrt bezüglich Corona. 

Viele, die Atembeschwerden oder Atemstörungen haben, zeigten auch ungewöhnliche Ängste. Darin begründete Konsultationen haben massiv zugenommen. Die Kinder und vor allem deren Eltern entwickelten Ängste, dass ernsthafte Probleme entstünden. Allerdings ist es nicht so, dass bei Kindern, die Komorbiditäten oder Vorerkrankungen aufwiesen, diese auch als Risikofaktor für einen schweren Verlauf gelten; Kinder sind grundsätzlich keine Risikopatienten in dieser Pandemie. Selbst bei schwer kranken Kindern spricht man nicht von Risikopatienten. Genau diese Patienten und Patientinnen hatten aber grosse Angst. 

Ist ein Kind vorerkrankt, dann löst das auch bei anderen Familienmitgliedern eine riesige Verunsicherung aus. Es wird probiert, das betroffene Kind vor jeglichen möglichen Ansteckungsquellen fernzuhalten. Insbesondere Familien mit Asthmatikern und Asthmatikerinnen oder auch Frühgeborenen, die beatmet werden mussten, waren besonders verunsichert. Bei Patienten und Patientinnen mit Immundefiziten war diese Reaktion nachvollziehbarer; man wusste lange nicht, wie solche Patienten und Patientinnen auf eine Coronainfektion reagieren würden. Glücklicherweise sind auch diese Kinder nicht stark gefährdet. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich ungewöhnlich viele Angststörungen als Komorbidität diagnostizieren musste; unabhängig vom Verlauf ihrer Krankheiten war die Angst immens. 

Welche Symptome psychischer Erkrankungen haben bei Kindern zugenommen? Internalisiert oder externalisiert? Die Angststörungen weisen eher auf internalisierte Symptome hin. 

Ich würde das so unterschreiben. Aber jede Erkrankung ist schlimmer geworden durch Corona. Es war eine Zusatzbelastung. Und für Kranke ist eine Zusatzbelastung ein Problem, wenn sie sowieso schon am Limit sind. Dann kommt noch etwas dazu und das Fass läuft über. 

Wir werden vermutlich noch länger mit Corona leben müssen – Was kann man tun, um Kinder in ihrem Alltag mit Corona zu unterstützen? 

Ich verstehe nicht, weshalb diese Fragestellung seit dem Ausbruch von Corona derart fundamental stets von Neuem gestellt wird. Wir haben eine Tradition sowie gute Evidenz, auf Grund dessen wir eigentlich wissen sollten, wie wir mit Kindern umzugehen haben. Ausserdem haben wir eine Bundesverfassung, die besagt, dass ein Kind ein Recht auf Schulung, körperliche Aktivität und gesellschaftliche Kontakte oder Interaktionen auf einer persönlichen Ebene hat. Dass derart elementare Aspekte in Zusammenhang mit der Entwicklung von jungen Menschen in Frage gestellt werden, verstehe ich nicht und habe ich nie verstanden. Auch eine Population zu schützen, um dadurch eine andere Population in ihren Grundrechten einzuschränken, trifft bei mir auf Unverständnis. Wir müssen zurückkommen zu unseren Wertvorstellungen, die wir über Jahrzehnte sinnvoll und differenziert entwickelt haben und diese nicht einfach in einer ad hoc Reaktion über Bord werfen. Medizinisch gesehen ist das unseriös und widerspricht den heute geltenden Kriterien nach massvoller und evidenzbasierter Handlungsweise. Dies gilt auch für die Anfangsphase, als man die Gefahr noch nicht einschätzen konnte. Die Medizin basiert auf dem Prinzip, dass man bei einer Intervention abwägen muss, was das Potenzial sowohl auf der Wirkungs- wie auch auf der Nebenwirkungsseite ist. Wenn man die Nebenwirkungen nicht abschätzen kann, darf man sie nicht durchführen. Macht man sie trotzdem, ist das unethisch, sie verkommt zu einem Versuch, bei dem man nicht weiss, wie gross die Kosten sind und wer sie zu tragen hat. Jedes ethische Komitee hätte für eine Nichtdurchführung entschieden. Jetzt wurde politisch entschieden. 

«Kinder mussten drei Grundrechte aufgeben, um andere zu schützen.» 

Knöpfli, 2021 

Eltern haben ein stressiges Jahr hinter sich. Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? 

Es gibt gute wissenschaftliche Studien, welche das belastendste Alter von Menschen in der heutigen Gesellschaft untersuchten. Dabei ergab sich, dass die tragende und am massivsten belastete Bevölkerungsschicht die 30 – 50-jährigen sind. Das ist natürlich auch die Population, in der es viele Eltern von Kindern gibt. Eltern haben massive Belastungen durch Corona erfahren. Einerseits hatten sie oft keinen Job mehr; ihre Existenz war bedroht. Andererseits erlebten sie eine Doppelbelastung, weil die Kinder nicht in der Schule betreut wurden und sie sie zu Hause betreuen mussten. Zusätzlich konnten sie nicht planen. Selbst wenn Eltern in der Lage waren, sich zu organisieren, dann war die Planungsunsicherheit derart gross, dass man am nächsten Tag oft wieder vor einer anderen Situation stand. So konnten selbst die agilsten Leute sich nicht mehr auf diese Zusatzbelastungen einstellen. 

Wenn man schaut, wie das jetzt weitergeht, sehe ich kein Ende. Die Risikopopulation ist jetzt geimpft; das ist ein Privileg und sicherlich angenehm für diese Population. Andere Länder sind eine andere Strategie gefahren, wobei zuerst die Übertragenden geimpft wurden und die Risikopopulation dazu instruiert wurde, sich möglichst nicht anzustecken. Theoretisch hätte man so den Infekt schneller im Griff gehabt. Wir haben jetzt zuerst die Risikopopulation geimpft und dann die Übertragenden. Wer überhaupt noch nicht drangekommen ist, sind die Kinder. Das heisst, dass Eltern ungeimpfter Kinder nun dauerhaft am Testen sind, damit sie wenigstens ein bisschen Bewegungsfreiheit haben. Sie müssen sich umständlich organisieren, um an gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen zu können oder in die Ferien zu gehen; anderenfalls bleiben sie isoliert. 

Je jünger ein Kind ist, desto stärker hängt dessen Gedeihen von der Gesundheit der Eltern ab. Kinder, die gesunde und belastbare Eltern haben, sind meist selbst gesund und belastbar. Es gibt Kinder, die Betreuungsaufgaben übernehmen, zum Beispiel von kranken oder ausgebrannten Eltern. Diese Kinder sind natürlich massiv und inadäquat belastet. Die Auswirkungen davon sieht man meist nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit bis in ein paar Jahren. Ausserdem kann dies ein entwicklungshemmender Faktor sein. Anstatt dass die Kinder betreut werden, müssen sie selbst betreuen und werden zu Care-Givern. 

Es wird berichtet, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien ausgelastet seien. Therapieplätze für Kinder zu finden hat sich schon vor der Pandemie schwierig gestaltet. Haben die Überweisungen für Psychotherapien zugenommen? Was müsste dahingehend verbessert werden? 

Wir haben eine spezielle Situation, weil ich eine psychologische Abteilung in der Praxis habe. Das ist aber eine Ausnahmesituation. Die meisten Praxen haben das nicht. Von der Kollegschaft hört man, dass sie riesige Probleme mit psychologischen Überweisungen haben. Wir hatten zahlreiche Anfragen mehr zu übernehmen. 

Die Gesundheitspolitik befindet sich dahingehend in einem Umsturz. Die delegierende Psychotherapie und die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Psychologie wird nun eher aufgehoben und es geht in Richtung wie bei den Physiotherapeuten und -therapeutinnen. Der Doktor macht eine Verordnung und dann kann ein Patient oder eine Patientin zum Psychotherapeuten, zur Psychotherapeutin. Wenn das so laufen wird wie mit der Physiotherapie, dann ist das eine Erleichterung für die Allgemeinheit wegen der höheren Verfügbarkeit und Einfachheit. Aber so wie ich die Bundesbehörden kenne, ist wie bei anderen medizinischen Dienstleistungen der Preis ein wichtiger, wenn nicht ein dominierender Faktor. Es könnte schwieriger werden, einen Therapieplatz zu bekommen, weil es um Versicherungsgelder geht. Ob sich das insgesamt positiv auswirken wird, steht in den Sternen. 

Welchen Preis haben Kinder deiner Meinung nach in der Pandemie bezahlt? 

Kinder mussten drei Grundrechte respektive erwiesene entwicklungs-fördernde Aspekte aufgeben/einschränken, um andere zu schützen. Die drei Grundrechte sind der Anspruch auf Bildung, der Anspruch auf körperliche Aktivität und Bewegung und der Anspruch auf soziale Kontakte. Sie selbst haben kaum Profit von den massiven Einschränkungen. Kinder als Population sollten in diesem Sinne nicht mit derartig einschneidenden Coronaeinschränkungen belastet und in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden. In Diskussionsforen am Fernsehen wird aber entgegen diesen Fakten davon gesprochen, dass Kinder ohne jegliche Einschränkungen diese Massnahmen hinnehmen/überstehen können. 

Kinder erlebten Isolation, weniger Austausch mit Gleichaltrigen und Sorgen um Angehörige. Was könnten langfristige Folgen dieser speziellen Situation sein? 

Bezüglich Bildung werden wir ganz sicher einen Bildungsrückstand erfahren. Es gibt dazu Untersuchungen, bei denen Medizinstudierende ihre erste Propädeutikumprüfung absolvierten. Normalerweise sind dort 5 Prozent durchgefallen; jetzt sind es 50 Prozent. Das heisst bei der reinen Wissensvermittlung ist ganz sicher ein Defizit vorhanden. 

Bildung hat aber nicht nur ein Wissensvermittlungsauftrag, sondern auch den Auftrag, ein soziales Netzwerk zu erstellen. Im Berufsleben ist ein gutes soziales Netzwerk sehr wichtig, wenn die eigenen Grenzen ausgelotet sind. Ein intaktes Netzwerk respektive eine gute Kollegschaft kann dabei meist helfen. Wer diese Kollegen und Kolleginnen im Studium nicht kennenlernt, hat weniger Möglichkeiten. Der häufigste Kennenlernort ist nach wie vor die Schule und das Studium.  

Wenn das Studium so aussieht, dass Erstsemestrige erzählen, dass sie noch nie in einer Vorlesung waren, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Sie müssen im «Lichthof» andere Kollegen und Kolleginnen treffen und sich austauschen; sie müssen Karriereinteressen, Vertiefungsrichtungen und so weiter voneinander erfahren. Nur auf diese Weise weiss man, wen man fragen kann, wenn man ein gröberes Problem zu lösen hat. Wenn man diese Personen wirklich kennt, sind der Zugang und die Auskunft anders als bei Unbekannten. 

Als «alter Arzt», der den Nutzen von Wissen gegenüber dem des sozialen Netzwerkes abschätzen kann, schätze ich die Wichtigkeit des sozialen Netzwerkes grösser ein als die des reinen Wissens, insbesondere in einer Leitungsfunktion. 

Die grosse Frage ist, was bleibt? An was gewöhnen wir uns? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wenn soziale Kontakte nun ins Internet verlagert werden, verändert sich etwas. Ob das gut oder schlecht ist, wird sich noch zeigen. Aber ich würde meinen, um Vertrauen zu gewinnen, um einen Menschen so zu erleben, dass man genügend vertraut ist, ihn anzurufen/anzusprechen, muss man ihn wahrscheinlich persönlich gesehen haben. Eine reine Internetbeziehung zu haben langt nicht. 

«Wenn das Studium sich so gestaltet, dass Erstsemestrige sagen, sie seien noch nie in einer Vorlesung gewesen, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Das Studium dient nicht nur der Wissensvermittlung, sondern auch dem Networking, wozu persönliche Kontakte unabdingbar sind.» 

Knöpfli, 2021 

Möchtest du uns Psychologiestudierenden noch etwas auf den Weg geben? 

An psychologischen Fortbildungen treffe ich oft auf eine Vorgehensweise, bei der verschiedene psychologische Techniken besprochen werden. Es gibt ganze Kongresse über psychotherapeutische Analysen, über verhaltenstherapeutische Ansätze etc. Die Kongresse werden so geführt, dass man über ein System redet, aber nicht über die Patienten und Patientinnen. Man spricht über die Güte eines Systems, unabhängig von den zu Behandelnden. Vielleicht ist das eine Gegenbewegung zu dem, was die Medizin macht. Mediziner und Medizinerinnen beurteilen die Patienten und Patientinnen, indem sie eine Diagnostik machen und auf die Diagnostik beziehungsweise auf dem damit verbundenen «Stempel», den der Patient oder die Patientin trägt, wird die Therapie ausgerichtet. Das drehen viele Psychologen und Psychologinnen aus meiner Sicht extrem um. Eine Diagnose ist verpönt, man will nicht «stempeln» und man sieht das Ganze viel offener. Dadurch geht aber vielfach der diagnostische Ansatz verloren. Man wendet dann generelle Prinzipien auf jeden an. Man darf den Patienten als Individuum nicht vergessen. 

Ein zweiter Aspekt, den ich Psychologiestudierenden gerne auf den Weg geben würde: Wenn ein Arzt oder eine Ärztin einen Patienten betreut, dann geht er davon aus, dass er seine Informationen anderen Kollegen oder Kolleginnen im Interesse des Patienten weitergeben kann/muss. Das birgt sicher eine Datenschutzproblematik in sich. Ich meine aber, dass auch dieser Punkt in der Psychologie etwas fest verschoben ist. Das Geheimnis, das man mit dem Patienten oder der Patientin teilt, muss in der Sitzung bleiben und damit bleibt es innerhalb dieser Zweierbeziehung. Wenn man das für einen gesamtheitlicheren Aspekt von Gesundheit im Sinne einer mehr interdisziplinären Betreuung öffnen würde, würden meiner Meinung nach Patienten und Patientinnen mehr von Behandlungen profitieren; die Auflösung dieser Zweierbeziehung hinzu einer grösseren und offeneren Struktur von Betreuung und involvierten Personen wäre nützlich. 

Dr. med. Bruno Knöpfli ist seit 2011 in einer Zürcher Praxis für Kinder- und Jugend-Medizin tätig. Im Rahmen dieser Arbeit bietet er ambulante pädiatrische Grund- und Notfallversorgung an und ist in den Bereichen der pädiatrischen Pneumologie und pädiatrischen Sportmedizin tätig. Des Weiteren ist er delegierender Psychotherapeut. Dr. med. Bruno Knöpfli studierte von 1977 bis 1985 Medizin an der Universität Zürich und promovierte 1986. Er sammelte internationale Erfahrung und war unter anderem Chefarzt und Direktor der Alpinen Kinderklinik Davos. 

Schulpsychologie

Seiltanz mal anders

Für viele von uns verlief die Schulzeit ohne grosse Probleme. Während sich die meisten wohlfühlten und mit allen Anforderungen umgehen konnten, wurden andere aufgrund von schulischen Schwierigkeiten von ihren Eltern oder einer Lehrperson beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) angemeldet.

Von Sara Aeschlimann
Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler
Illustriert von Sara Aeschlimann

Eine Mutter wendet sich an den SPD und erklärt, sie sei ratlos und mit ihren Nerven am Ende. Seit einigen Wochen klage ihre Tochter Samantha* (11 J.)morgens vor Schulbeginn über Bauchschmerzen und weigere sich teilweise sogar, in die Schule zu gehen. Ein Arztbesuch blieb allerdings ohne Befund. Besonders problematisch erlebe die Mutter die Hausaufgabensituation: Sie müsse mit Samantha erst lange Diskussionen führen, bevor sie endlich mit den Hausaufgaben beginne. Die Aufgaben müsse sie dann mit ihr zusammen lösen und sie andauernd zu mehr Ausdauer und Selbständigkeit ermutigen. Dabei wünsche sich die Mutter doch gerade jetzt, wo es um den Übertritt ans Gymnasium gehe, mehr Einsatz von Samantha. Sie sei sehr klug und könnte es – aber sie sei eben eine Minimalistin.

Ein Lehrer meldet seinen Schüler Mateo* (9 J.) in Absprache mit dessen Eltern beim SPD an. Seit einigen Monaten falle Mateo in der Klasse immer wieder durch störendes Verhalten auf, was auch die Mitschüler vom Unterrichtsverlauf ablenke. Besonders dann, wenn es laut und stressig werde und er schon eine ganze Weile habe aufpassen müssen, falle es ihm schwer, seine Impulse zu kontrollieren. Er sei dann jeweils stark ablenkbar und zapple auf seinem Stuhl herum. Wiederholt sei es auch zu Wutanfällen gekommen, von denen er sich alleine nur sehr schwer wieder habe beruhigen können. Im Schulstoff verpasse er immer mehr den Anschluss, was sich in grossen Leistungseinbussen, insbesondere im Fach Rechnen, widerspiegelt. Mateos Eltern, seit Kurzem getrennt, erkennen ihn in den Schilderungen des Lehrers nicht wieder. Sie erleben Mateo zuhause als zurückhaltenden, angepassten Jungen.

«Schulpsycholog*innen balancieren wie Seiltänzer zwischen schulpolitischen Rahmenbedingungen, auseinanderdriftenden oder unrealistischen Erwartungen von Eltern und Lehrpersonen und eigenen Grenzen und Unsicherheiten.»

Sara Aeschlimann, 2020

Der besorgte Vater von Lina* (10 J.) nimmt Kontakt mit dem SPD auf. Bereits seit der ersten Klasse falle den Eltern auf, dass Lina Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben habe. Beim gemeinsamen Lesen beobachten sie, dass Lina deutlich langsamer liest, häufig stockt und schnell müde wird. Dabei verstehe sie oft auch gar nicht, worum es im Text überhaupt gehe. Beim Schreiben lasse sie einfach Buchstaben weg oder schreibe Wörter nicht vollständig aus. Ihr falle dann beispielsweise gar nicht auf, dass sie «Löw» anstatt «Löwe» geschrieben habe. Dabei bringe Lina in den übrigen Fächern gute Noten nachhause und erziele gemäss der Lehrerin auch mündlich gute Leistungen. Die Eltern beobachten bei Lina auch schon eine zunehmende Schulunlust.

Wie Kinder sich (mehr oder weniger) entwickeln

Jedes einzelne Kind zeichnet sich durch ein unverwechselbares Profil von Begabungen und Kompetenzen aus. Die obigen Fallbeispiele lassen erahnen, wie vielfältig die Zusammensetzung aus Stärken und Schwächen sein kann. Während sich bei Lina beispielsweise eine Schwäche im Lesen und Schreiben abzeichnet, ist sie womöglich im logischen Denken, im räumlichen Vorstellungsvermögen und im mündlichen Sprachverständnis sehr begabt. Demgegenüber liegt Mateos Stärke vielleicht im motorischen Bereich verborgen. Die bei ihm beobachteten Schwierigkeiten in der Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle könnten etwa auf eine nicht altersentsprechende Denkentwicklung, ADHS, eine schwache Sozialkompetenz oder auf belastende Erfahrungen (z. B. die Trennung seiner Eltern) zurückzuführen sein. Diese Vielfalt in den Fähigkeitsprofilen wird neben der Anlage massgeblich durch die soziale und kulturelle Umwelt mitbestimmt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Eltern und Lehrpersonen des Kindes. Sie geben die Rahmenbedingungen vor, damit ein Kind Erfahrungen machen kann, die es für seine Entwicklung braucht und es in seinem Lernen unterstützen (Largo & Beglinger, 2009). Die Lehrperson gibt dem Kind beispielsweise eine Aufgabe, die genau auf seine Kompetenz abgestimmt ist und ein Erfolgserlebnis ermöglicht. Eltern dienen selbst als Vorbilder für zu erlernende Fertigkeiten, indem sie etwa beim gemeinsamen Einkaufen laut ausrechnen, wieviel die Einkäufe kosten und Rechnen damit als etwas Sinnvolles erlebbar machen. Aber auch unter Idealbedingungen kann ein Kind «nur» sein jeweiliges Entwicklungspotenzial entfalten bzw. seine Begabungen und Kompetenzen durchsetzen. Genauso können Kinder in ihrem Umfeld Erfahrungen machen, die sie in ihrer Entwicklung hemmen (Largo & Beglinger, 2009). Samantha hat womöglich gelernt, dass sich ihre vielbeschäftigte Mama insbesondere für sie Zeit nimmt, sobald es um die Schule geht und Samantha durch unselbständiges Arbeiten mehr Zeit mit ihr verbringen kann. Die Entwicklungs- und Leistungsunterschiede zwischen Kindern werden im Laufe der Kindheit immer grösser. Eltern und Lehrpersonen stehen angesichts dieser Vielfalt vor der schwierigen Aufgabe, sich auf jedes Kind, je nach Kompetenz und Situation, individuell auszurichten. In der Schule fallen die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe durch den direkten Vergleich mit Gleichaltrigen oftmals besonders auf. Während ein*e Schüler*in in der zweiten Klasse schon Bücher lesen kann, kennt ein*e andere*r noch gar nicht alle Buchstaben. Generell ist festzustellen, dass Klassen – gerade im Kanton Zürich – heterogen (vgl. Moser, Stamm, Hollenweger, 2005; vgl. Moser, Buff, Angelone & Hollenweger, 2011a; Moser & Angelone, 2011b) und die Anforderungen an die Individualisierung des Unterrichts hoch sind (z. B. Reusser et al., 2013). Im Kanton Zürich ist diese Verschiedenartigkeit der Klassen neben soziodemografischen, sozioökonomischen und politischen Faktoren auch mit dem neuen Volksschulgesetz des Kantons Zürich zu erklären (Kantonsrat Zürich, 2005). Dieses sieht vor, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen möglichst in Regelklassen unterrichtet werden und führt damit einen Paradigmenwechsel von der Separation hin zur Integration herbei (ebd., §33). Wenn ein Kind im Unterricht nicht gemäss seinem individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand lernen kann, ist es zwangsläufig über- bzw. unterfordert (Largo & Beglinger, 2009). Dadurch kann es keine Erfolgserlebnisse mehr erleben, was die Lust am Lernen raubt und häufig auch entmutigt (ebd.). Lina hat angesichts der vielen Enttäuschungen im Fach Deutsch womöglich die Überzeugung aufgebaut, dass sie «einfach zu dumm zum Lesen und Schreiben ist und es sich nicht lohnt, im Unterricht aufzupassen oder auf eine Prüfung zu lernen». Diese negativen Gedanken könnten sie daran hindern, sich auf den Unterricht einzulassen.

Wie die Schulpsychologie der Vielfalt unter Kindern (mehr oder weniger) gerecht wird

Wenn es in der Schule oder beim Lernen nicht rund läuft und/oder Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen, können sich Lehrpersonen, mit dem Einverständnis der Eltern, oder auch Eltern direkt, beim SPD melden. Die Aufgabe des SPDs besteht dann darin, die Situation gründlich abzuklären und auf dieser Basis gemeinsam mit den Beteiligten geeignete Massnahmen zu erarbeiten. Kein Kind und keine Situation kommen zweimal vor. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, sich in jeden neuen Fall hineinzuversetzen und eine Beziehung zu den Beteiligten herzustellen. Ihre Anliegen gestalten sich entsprechend vielfältig. Im Fall von Lina könnte beispielsweise eine Überprüfung einer möglichen Lese-Rechtschreib-Störung erwünscht sein, die allenfalls einen therapeutischen Bedarf und einen schulischen Nachteilsausgleich indizieren würde. Bei Mateo könnte es vorgängig um eine Einschätzung des kognitiven Potenzials gehen, um abzuklären, inwiefern seine Verhaltens- und Konzentrationsschwierigkeiten mit kognitiven Einschränkungen zu erklären sind. Bei Samantha hingegen könnte eher eine Stärkung der Erziehungskompetenzen im Rahmen einer Elternberatung ein zentrales Interesse darstellen. Der gemeinsame Nenner der Anliegen ist stets die bestmögliche Entwicklung des Kindes. Eine Leitfrage dabei ist, welcher schulische und ausserschulische Rahmen für die Bedürfnisse des Kindes adäquat ist. Aus schulischer Sicht wird daher auch oft der Frage nachgegangen, ob ein Kind in der Regelklasse – im Rahmen der möglichen Individualisierungsmassnahmen – genügend gefördert werden kann bzw. ob (im Falle einer Behinderung oder einer sozialen, körperlichen, gesundheitlichen oder sensorischen Beeinträchtigung) ein sonderschulisches Setting sinnvoll ist.

Bei Schulpsychologischen Diensten handelt es sich um öffentliche Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche vom Kindergartenalter bis Ende Sekundarstufe I mit Lern- und Leistungsbesonderheiten, sowie psychischen oder psychosozialen Schwierigkeiten, die sich im schulischen Umfeld manifestieren oder sich darauf auswirken.

Das Angebot steht Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung.

Die schulpsychologischen Tätigkeitsfelder lassen sich grob in die Bereiche Beurteilung, Beratung und Begleitung einteilen. Im Hinblick auf die Beurteilung werden zur Klärung der Leistungs-, Lern- und Verhaltensschwierigkeiten verschiedene Befunde erhoben. In einem ersten Schritt wird mit der Familie ein persönliches Gespräch beim SPD vereinbart. Dabei wird erfragt, wie sich das Kind bisher entwickelt hat, wie die schulische und familiäre Situation aussieht und wie das aktuelle Befinden des Kindes ist. Häufig folgen darauf psychodiagnostische Abklärungen, die weitere Puzzleteile zu inter- und intraindividuellen Stärken und Schwächen des Kindes in verschiedenen Entwicklungsbereichen (z. B. kognitiv, psychomotorisch, emotional) ans Licht bringen. Bei Lina würde man zur Überprüfung einer möglichen Lese-Rechtschreib-Störung ihre individuellen Lese- und Schreib-Fähigkeiten mit den Leistungen der Stufennorm und ihrer individuellen Intelligenzleistung vergleichen. Darüber hinaus kann eine Verhaltensbeobachtung auf einem Schulbesuch Aufschluss über die Gesamtdynamik in der Klasse bringen. Dies bietet sich beispielsweise bei Mateo an, da die störenden Verhaltensweisen nur im spezifischen Klassensetting beobachtet werden können. Mit dem Einverständnis der Eltern werden in weiteren Gesprächen die Sichtweisen der Lehrperson und anderer involvierter Fachpersonen (z. B. Logopäd*in, Klassenassistenz, Schulheilpadägog*in) einbezogen. Gestützt auf die umfassenden Ergebnisse der Beurteilung wird im Rahmen einer Beratung gemeinsam mit allen Beteiligten erarbeitet, welche Bedingungen für eine gute Entwicklung des Kindes nötig sind. Dabei werden Entwicklungsziele festgelegt und geeignete Massnahmen erarbeitet. In Samanthas Fall könnte ein Entwicklungsziel darin bestehen, ihre Selbständigkeit mit gezielten Strategien, die mit ihrer Mutter erarbeitet werden, zu fördern. Zum Beispiel könnten Mutter und Tochter selbständig aber nebeneinander im Arbeitszimmer oder am Küchentisch ihren jeweiligen Arbeiten nachgehen oder die Mutter könnte Zeit für Mutter-Tochter-Aktivitäten als Belohnung für selbständiges Arbeiten in Aussicht stellen. Wenn die Befunde bei Mateo eine Lernbeeinträchtigung nahelegen, könnte die Einrichtung individueller Lernziele und heilpädagogischer Unterstützung sinnvoll sein, um Mateo zu entlasten und ihm gezielt Fortschritte und Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Die vereinbarten Ziele und Massnahmen können schliesslich im Rahmen der Begleitung gemeinsam überprüft und gegebenenfalls angepasst oder weiterentwickelt werden.

«Was ist dein zweitliebster Dinosaurier?»

m, 7 Jahre

Mein Seiltanz in der Schulpsychologie

Meinen Weg zur Schulpsychologie habe ich während eines viermonatigen Praktikums beim SPD in Aarau gefunden. In dieser Zeit erhielt ich die Möglichkeit, den Kontext des Arbeitens kennenzulernen und die schulpsychologische Tätigkeit – mehr noch aus der Aussenperspektive, teils auch schon aktiv daran teilnehmend – zu beobachten. Während Verhaltensbeobachtungen in verschiedenen Bildungsinstitutionen, der Teilnahme an Expertenrunden und vielfältigen Gesprächen mit Eltern, Lehrpersonen und Schulleitungen konnte ich mir einen lebhaften Überblick über das Schulsystem und die Abläufe der schulpsychologischen Tätigkeit verschaffen. Ich durfte ein offenes und freundliches Team aus 13 Schulpsycholog*innen bei ihren Terminen begleiten und so eine grosse Vielfalt an Arbeitsstilen erleben. Ein Stück weit konnte ich mich bereits selbst in dieser neuen Rolle ausprobieren, indem ich verschiedene Testverfahren durchgeführt, ausgewertet und deren Abklärungsergebnisse an die Beteiligten rückgemeldet habe. Neben der Abklärungsarbeit mit Kindern erhielt ich ausserdem die Gelegenheit, Erstgespräche mit den Familien zu führen. Dank dieser und weiterer wertvollen Erfahrungen konnte ich meine Erwartungen an die schulpsychologische Praxis überprüfen und mein Interesse festigen. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, diesen Weg nach Praktikumsabschluss weiterzuverfolgen. In Kürze trete ich eine Assistenzstelle und den Master of Advanced Studies in Schulpsychologie an der Universität Zürich an.

Ich erlebe die Schulpsychologie als eine sehr sinnstiftende Arbeit. Schwierigkeiten in der Schule sind oft Indikatoren für grössere Probleme und/oder gehen sichtbaren psychischen Problemen voran. Als niederschwellige Institution hat die Schulpsychologie das Potenzial, früh im Leben eines Kindes – idealerweise bevor sich ein Problem manifestiert hat – Weichen zu stellen. Wenn es gelingt, alle Beteiligten in ein Boot zu holen, um sich gemeinsam für eine gute Entwicklung des Kindes einzusetzen, können wirksame und nachhaltige Veränderungen stattfinden. Selten kommen in diesem Berufsalltag die Paradebeispiele vor, die ich an der Uni gelernt habe und noch seltener gibt es auf ein Problem eine einzige, geschweige denn die ideale, Lösung. Nach der magischen Formel sucht man in dieser Arbeit vergeblich. Es ist eine grosse Herausforderung, sich auf jedes System und die darin wirkenden Kräfte einzulassen. Schulpsycholog*innen balancieren in ihrem Bestreben nach günstigen Entwicklungsbedingungen für das Kind wie Seiltänzer zwischen schulpolitischen Rahmenbedingungen («Ist in dieser Sonderschule noch ein Platz frei?», «Ist die Anmeldefrist noch offen?»), auseinanderdriftenden oder unrealistischen Erwartungen von Eltern und Lehrpersonen («Ich will auf keinen Fall, dass mein Sohn in eine Sonderschule kommt.», «Ich kann dieses Kind in meiner Klasse nicht länger tragen.») und eigenen Grenzen und Unsicherheiten («Wo endet meine Verantwortung?»). Man muss sich dabei vom utopischen Anspruch einer perfekten Lösung, die alle Beteiligten zufrieden stellt, lösen und stattdessen gemeinsam mit den Beteiligten erarbeiten, was unter den gegebenen Umständen sinnvoll und machbar ist («Hinter welcher Massnahme kann die Familie stehen?», «Welche Ressourcen zur Unterstützung und Entlastung sind im System vorhanden?»). Man muss viel Unsicherheit aushalten können, weil oft nicht klar ist, was richtig ist und es dann nach bestem Wissen und Gewissen auszuprobieren gilt. Dieser Balanceakt gelingt mal mehr, mal weniger.

*Alle Namen und zentralen Bezüge sind verändert, sodass die Anonymität gewahrt bleibt.


Zum Weiterlesen

Berufsverband Schweizer Kinder- und Jugendpsycholog*innen: https://www.skjp.ch

Vereinigung Schulpsychologie Schweiz – Interkantonale Leitungskonferenz: https://www.schulpsychologie.ch

Berufsverband deutscher Psycholog*innen: https://www.praxis-schulpsychologie.de (Tipp: Newsletter abonnieren)

Seifried, K., Drewes, S. & Hasselhorn, M. (Hrsg.) (2016). Handbuch Schulpsychologie: Psychologie für die Schule. Verlag W. Kohlhammer.

Literatur

Kantonsrat Zürich (2005). Volksschulgesetz (VSG). Abgerufen am 26. August 2020 von: http://www2.zhlex.zh.ch/appl/zhlex_r.nsf/0/B6DFC1347AA5482FC12575C1003D4B7F/$file/412.100_7.2.05_65.pdf

Largo, R. H. & Beglinger, M. (2009). Schülerjahre: wie Kinder besser lernen. München: Piper.

Moser, U., Stamm, M. & Hollenweger, J. (Hrsg.). (2005). Für die Schule bereit? Lesen, Wortschatz, Mathematik und soziale Kompetenzen beim Schuleintritt. Oberentfelden: Sauerländer.

Moser, U., Buff, A., Angelone, D. & Hollenweger, J. (2011a). Nach sechs Jahren Primarschule. Deutsch, Mathematik und motivational-emotionales Befinden am Ende der 6. Klasse. Zürich: Bildungsdirektion.

Moser, U. & Angelone, D. (2011b). PISA 2009: Porträt des Kantons Zürich. Zürich: Universität Zürich. Reusser, K., Stebler, R., Mandel, D. & Eckstein, B. (2013). Erfolgreicher Unterricht in heterogenen Lerngruppen auf der Volksschulstufe des Kantons Zürich: wissenschaftlicher Bericht. Zürich: Bildungsdirekti

Stigmatisierung

Auswirkungen von Stigmata auf Kinder und Erwachsene mit Depressionen und ADHS 

Depressionen und ADHS gehören zu den in der Kindheit am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Obwohl ADHS oft als reine Kinderkrankheit angesehen wird, bleiben beide Störungen oft über die Kindheit hinaus bestehen. Beide werden stark stigmatisiert, was sich erheblich auf Betroffene auswirkt.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Sarah Ihn und Lisa Makowski
Illustriert von Kerry Willimann

Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind die beiden meistdiagnostizierten emotionalen und verhaltensbezogenen Störungen im Kindesalter. Sie werden zudem extrem stigmatisiert, wobei sich gängige Stereotypen auf Gefährlichkeit, Inkompetenz und Störverhalten beziehen (Mukolo, Heflinger, & Wallston, 2010). In Übereinstimmung damit nehmen Jugendliche depressive Peers als gefährlicher wahr (Walker, Coleman, Lee, Squire, & Friesen, 2008). Vergleichsweise werden Peers mit ADHS als Faulenzer gesehen und als anfälliger dafür, in Schwierigkeiten zu geraten (Wiener et al., 2012). Zwar werden lebenslange Störungen wie ADHS im Allgemeinen eher stigmatisiert als temporäre, jedoch zeigt sich bei Depressionen eine stärkere Stigmatisierung als bei ADHS (Walker et al., 2008).

Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen

In einer Studie, in der die Ansichten von Kindern bezüglich Ursachen von Depressionen und ADHS untersucht wurden, waren 25-33 Prozent der teilnehmenden Kinder der Meinung, dass «sich nicht genug anstrengen» eine Ursache für eine kindliche Störungen sei (Coleman, Walker, Lee, Friesen, & Squire, 2009).

«[…] for a child with depression or ADHD, at least one in four peers believes the child is to blame for the condition.» Coleman et al., 2009

Da störendes Verhalten von Kindern generell weniger toleriert wird als das von Erwachsenen, ist es leider keine Überraschung, dass Depressionen bei Kindern negativer bewertet werden als Depressionen bei Erwachsenen, wobei jüngere Kinder einer stärkeren Stigmatisierung ausgesetzt sind als ältere Kinder (Walker et al., 2008; Mukolo et al., 2010).

ADHS-Symptome werden von Erwachsenen vielfach grundsätzlich stigmatisiert. Zusätzlich gibt es eine generelle Skepsis gegenüber ADHS-Medikamenten, basierend auf der Behauptung, dass die Erkrankung überdiagnostiziert werde (Wiener et al., 2012). Typische Argumente von Skeptikern beinhalten, dass ADHS eine Folge schlechter Erziehung oder zu vielen Videospielen sei, oder gänzlich von der Pharmaindustrie erfunden wurde (Masuch, Bea, Alm, Deibler, & Sobanski, 2018). Darüber hinaus werden die Symptome von ADHS-Kindern oft fälschlicherweise als kontrollierbar angesehen, was bei Eltern, Lehrern und Peers Wut und Frustration auslösen kann. Dies kann wiederum zu Strafreaktionen von Lehrern führen, die glauben, dass das Verhalten an Klassenzimmerstandards angepasst werden könnte (Wiener et al., 2012). Vielen Lehrern fehlen akkurate Informationen über die Vielfalt von ADHS-Symptomen, da sie sich auf das Fernsehen, Zeitschriften oder Freunde und Verwandte als primäre Wissensquellen über die Störung verlassen (Bell, Long, Garvan, & Bussing, 2010).

Insgesamt werden psychische Störungen bei Kindern gleichermassen gnadenlos stigmatisiert wie bei Erwachsenen. Dies zeigt sich in negativen Reaktionen der Gesellschaft wie etwa vermehrten strafenden Reaktionen von Erwachsenen gegenüber Kindern mit psychischen Erkrankungen. Nicht selten wird die Familie für die Probleme des Kindes verantwortlich gemacht, und aussenstehende Erwachsene beschreiben eine Präferenz für soziale Distanz zum Kind und seiner Familie sowie eine Vorliebe für striktere Behandlungsmethoden, einschliesslich der Behandlung in restriktiven Settings, wie beispielsweise stationäre Therapien (Mukolo et al., 2010).

Direkte Folgen von Stigmatisierung

Laut Wiener et al. (2012) fühlen sich Kinder mit ADHS aufgrund ihres Verhaltens oft anders behandelt. Sie spüren die mit ihrer Diagnose verbundenen Stigmata und schämen sich – ein Gefühl, das ihre Eltern oft teilen. Negative elterliche Reaktionen auf Depressionen und ADHS können sich nachteilig auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken (Mukolo et al., 2010). Die von Betroffenen wahrgenommene Stigmatisierung ist mit geringerem Selbstwertgefühl und höherem Risiko für soziale Ablehnung verbunden (Wiener et al., 2012). Wichtiger noch, Kinder verinnerlichen bereitwillig negative Auffassungen anderer und haben daher eher stigmatisierende Ansichten bezüglich ihres eigenen psychischen Zustandes – ein Umstand, dem sich Therapeuten und Angehörige bewusst sein sollten (Coleman, 2009). Der Zusammenhang von internalisierten Stigmata und niedrigerem Selbstwert bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen (Masuch et al., 2018).

Stigmatisierung per Assoziation und Behandlungszugang

Obwohl Depression die häufigste emotionale Störung in der Kindheit ist, bleiben 75 Prozent der jugendlichen Betroffenen undiagnostiziert. Darüber hinaus werden nur 70 Prozent der mit Depressionen und 50 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Kinder tatsächlich therapeutisch unterstützt (Pescosolido et al., 2008). Dies ist zum Teil auf die starke Stigmatisierung der beiden Störungsbilder zurückzuführen, welche sich massgeblich darauf auswirkt, wie die Eltern auf kindliche Probleme reagieren. Dies beeinflusst sowohl den Zugang des Kindes zu psychologischen Hilfsangeboten, sowie deren Inanspruchnahme (Mukolo et al., 2010). Kinder sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, um professionelle Unterstützung zu erhalten, was zu verschiedenen Problemen führen kann (Mukolo et al., 2010). Zum einen erleben Familienmitglieder eines Kindes mit einer psychischen Erkrankung oft eine Stigmatisierung per Assoziation (Wiener et al., 2012). Dies führt dazu, dass Eltern sich sorgen, für die Probleme ihres Kindes verantwortlich gemacht zu werden, sollten Menschen in ihrem sozialen Umfeld herausfinden, dass ihr Kind psychologische Hilfe benötigt. Des Weiteren äussern Eltern Besorgnis darüber, marginalisiert zu werden, falls die Diagnose ihres Kindes publik würde. Darüber hinaus unterliegen auch Psychotherapeuten selbst einer Stigmatisierung, was ein weiteres Hindernis für die Inanspruchnahme psychologischer Dienste darstellt (Mukolo et al., 2010).

Ein- und Aufrechterhaltung der Behandlung

Wissensmangel, Misstrauen und uninformierte Urteile begünstigen Stigmatisierung und machen damit die (Un-)Fähigkeit der Gesellschaft, psychische Erkrankungen zu erkennen und verstehen, zu einer Determinante für die Entstehung von Stigmata. Dementsprechend ist die Fähigkeit zur Symptomerkennung der Eltern und deren Wissen über Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung ob professionelle Hilfe gesucht wird oder nicht (Pescosolido et al., 2008). Bedauerlicherweise kann die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern auch nach dem Überwinden all dieser Hindernisse von Stigmata beeinträchtigt werden. So werden z.B. Zielsetzungen und Methoden, die nicht mit elterlichen Überzeugungen übereinstimmen, behindert oder gänzlich abgelehnt. Infolgedessen stellt die Beteiligung der Familie für Therapeuten oft eine Herausforderung dar (Pescosolido et al., 2008).

Ein besonders stigmatisierter Aspekt der Therapie sind Psychopharmaka. Jugendliche mit einer psychiatrischen Diagnose schämen sich oft für ihren Zustand und den daraus resultierenden Medikationsbedarf. Sie tendieren dazu, sowohl ihre Diagnose als auch ihren Medikamentengebrauch geheim zu halten, was zu einer Reduktion von Interaktionen mit Peers führen kann, denen sie nicht vollständig vertrauen (Kranke, Floersch, Townsend, & Munson, 2010).

Spezifische Stigmata gegen ADHS bei Erwachsenen

Während die Validität von ADHS als psychische Störung im Allgemeinen bezweifelt wird, sind Erwachsene mit ADHS mit besonders ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert, da ADHS allgemein als Störung des Kindesalters gilt. Da ADHS angeblich «bei Erwachsenen nicht existiert», wird ihnen häufig vorgeworfen ihre Symptome zu fingieren, um an Stimulanzien zu gelangen (Masuch et al., 2018). Während viele Stereotypen aus dem Kindesalter bestehen bleiben, beinhalten die Attributionsüberzeugungen über ADHS bei Erwachsenen zusätzlich auch Drogenmissbrauch als vermeintliche Ursache für die Störung (Masuch et al., 2018).

Hürden bei der Hilfesuche für Erwachsene

Während Diskriminierung am häufigsten im Arbeits- und Bildungskontext antizipiert wird, befürchten viele Erwachsene mit ADHS auch, von medizinischen Fachkräften diskriminiert zu werden (Masuch et al., 2018). Die aktive Verleugnung von ADHS bei Erwachsenen durch bestimmte Ärzte verstärkt diese Angst und könnte eine mögliche Erklärung für den signifikanten Unterschied zwischen administrativer und epidemiologischer Prävalenz von ADHS sein (Masuch et al., 2018).

Bei erwachsenen Patienten mit Depression sind Selbststigmata ein wichtiger Faktor für die Suche nach psychologischer Hilfe (Barney, Griffiths, Jorm, & Christensen, 2006). Schamgefühle wegen der Einholung professioneller Hilfe sowie erwartete negative Reaktionen aus dem Umfeld sind bei depressiven Patienten weit verbreitet und können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, mit der um professionelle Unterstützung gebeten wird (Barney et al., 2006). Wahrgenommene Stigmatisierung zu Beginn der Therapie hängt signifikant mit dem späteren Behandlungsverhalten der Patienten zusammen (Sirey et al., 2001).

Ein Stigma kann definiert werden als die Ansicht, dass eine bestimmte Abweichung von der Norm bezüglich physikalischer Eigenschaften, Verhalten oder Charakter unerwünscht ist und ein negatives Gesamtergebnis darstellt. Es kann unterschieden werden zwischen öffentlichem Stigma, das sich in der Regel durch Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ausdrückt, und Selbststigmatisierung, die auftritt, wenn das stigmatisierte Individuum beginnt, diese verzerrten Ansichten zu akzeptieren. Öffentliche Stigmata variiert je nach Art der psychischen Störung, bleiben aber auch dann bestehen, wenn bekannt ist, dass eine Behandlung wirksam oder unnötig ist.


Zum Weiterlesen

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry49(2), 92–103. doi:10.1016/j.iaac.2009.10.011

Bowers, E. (2012, August 15). Countering the Social Stigma of Depression [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.everydayhealth.com/hs/major-depression/facing-social-stigma-of-depression/

Tartakovsky, M. (2018, July 8). Breaking the Silence of ADHD Stigma [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://psychcentral.com/blog/breaking-the-silence-of-adhd-stigma/

Literatur

Barney, L. J., Griffiths, K. M., Jorm, A. F., & Christensen, H. (2006). Stigma about depression and its impact on help-seeking intentions. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry40(1), 51–54. doi: 10.1080/j.1440-1614.2006.01741.x

Bell, L., Long, S., Garvan, C., & Bussing, R. (2010). The impact of teacher credentials on ADHD stigma perceptions. Psychology in the Schools48(2), 184–197. doi: 10.1002/pits.20536

Coleman, D., Walker, J. S., Lee, J., Friesen, B. J., & Squire, P. N. (2009). Children’s beliefs about causes of childhood depression and ADHD: A study of stigmatization. Psychiatric Services60(7), 950–957. doi: 10.1176/ps.2009.60.7.950

Kranke, D., Floersch, J., Townsend, L., & Munson, M. (2010). Stigma experience among adolescents taking psychiatric medication. Children and Youth Services Review32(4), 496–505. doi: https://doi.org/10.1016/j.childyouth.2009.11.002

Masuch, T. V., Bea, M., Alm, B., Deibler, P., & Sobanski, E. (2018). Internalized stigma, anticipated discrimination and perceived public stigma in adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders. doi: 10.1007/s12402-018-0274-9

Moses, T. (2010). Being treated differently: Stigma experiences with family, peers, and school staff among adolescents with mental health disorders.Social Science & Medicine70(7), 985–993. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.12.022

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,49(2), 92–103. doi: https://doi.org/10.1016/j.jaac.2009.10.011

Pescosolido, B. A., Jensen, P. S., Martin, J. K., Perry, B. L., Olafsdottir, S., & Fettes, D. (2008). Public knowledge and assessment of child mental health problems: Findings from the national stigma study-children.Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry47(3), 339–349. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318160e3a0

Sirey, J. A., Bruce, M. L., Alexopoulos, G. S., Perlick, D. A., Raue, P., Friedman, S. J., & Meyers, B. S. (2001). Perceived stigma as a predictor of treatment discontinuation in young and older outpatients with depression. American Journal of Psychiatry158(3), 479–481. doi: 10.1176/appi.ajp.158.3.479

Walker, J. S., Coleman, D., Lee, J., Squire, P. N., & Friesen, B. J. (2008). Children’s stigmatization of childhood depression and ADHD: Magnitude and demographic variation in a national sample. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,47(8), 912–920. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318179961a

Wiener, J., Malone, M., Varma, A., Markel, C., Biondic, D., Tannock, R., & Humphries, T. (2012). Childrens perceptions of their ADHD symptoms. Canadian Journal of School Psychology27(3), 217–242. doi: 10. 1177/0829573512451972