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Mit ‘Kind’ getaggte Beiträge

Papa geht es nicht gut

Warum sich die Forschung zu wenig mit paternaler Depression auseinandersetzt

Väter, die nach der Geburt ihres Kindes an einer depressiven Störung leiden, werden in der Forschung kaum thematisiert – im Gegensatz zu Müttern. Aber warum eigentlich? Und was sind die Folgen dieser Forschungslücke für die Väter und für ihre Familien?

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Rebekka Stähli

Nach der Geburt ihres Kindes stehen Eltern vor vorhergesehenen und unvorhergesehenen Herausforderungen. Weltweit leiden unter anderem deswegen bis zu 13 Prozent der schwangeren Frauen und frischgebackenen Mütter an psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen (World Health Organisation, n.d.) – Dabei spricht man von einer maternalen Depression. Kein Wunder also, dass die WHO (n.d.) maternale, psychische Störungen als eines der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit bezeichnet. Doch während maternale Depression einigen ein Begriff ist, sind vermutlich viele nicht mit der paternalen Depression vertraut. Diese bezeichnet eine Depressivität bei werdenden oder neu gewordenen Vätern (American Academy of Pediatrics, 2018).

Papa leidet auch

Nach der Geburt ihres Kindes stehen auch Männer vor einer herausfordernden Zeit. Genauso wie ihre Partner*innen werden sie mit dem wichtigen Übergang zur Elternschaft und allen damit verbundenen, praktischen und psychischen Herausforderungen konfrontiert (Psouni & Eichbichler, 2019). Zusätzlich wird oft von ihnen erwartet, dass sie ihr berufliches Engagement beibehalten und persönliche Bedürfnisse zurückstellen. Diese Belastung führt zu einer hohen Vulnerabilität (Psouni et al., 2017; Rominov et al., 2018), die sich in der postnatalen Zeit in Form von depressiven Symptomen manifestieren kann (Cameron et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).

«Most of the reviewed studies suffer from methodological limitations, including the small sample, the lack of a structured psychiatric diagnosis, and inclusion bias. Despite such limitations, paternal depression seems to be associated with an increased risk of developmental and behavioural problems and even psychiatric disorders in offspring.»

Gentile & Fusco, 2017, p. 325

Zu wenig Forschung

Obwohl die Vulnerabilität und die damit verbundene, potenzielle depressive Störung bestätigt sind, ist die paternale Depression an sich, wie auch deren Auswirkungen wenig untersucht (Paulson et al., 2006). Eine kurze Suche mit Hilfe von Google Scholar bestätigt die Behauptung von Paulson und Kollegen (2006), dass es wenige Studien zu diesem Thema gibt. Wird der Begriff maternal depression gesucht, werden etwa 744‘000 Treffer erzeugt. Im Vergleich dazu führt die Suche mit paternal depression nur zu circa 53’500 Treffern (Stand: 12. März 2020). Dieser massive Unterschied ist leider kein Relikt vergangener Zeit. Schränkt man die Suche durch einen aktuelleren Zeitraum ein, ist immer noch das gleiche Muster erkennbar. Interessanterweise existiert diese Diskrepanz nur in Bezug auf parentale Depression. Es gibt kaum Unterschiede in der Anzahl Treffer zwischen den Begriffen female depression und male depression. Das heisst, dass nur Männer in der Rolle als Väter und nicht Männer im Allgemeinen in der Forschung zu Depressionen vernachlässigt werden.

Die Frage nach dem Warum

Doch was sind die Gründe für diese Diskrepanz? Insgesamt kann man vier Umstände beschreiben, die als Erklärungen für die Unterschiede dienen können. Erstens haben gewisse Männer zum Teil die Neigung, ihre depressive Symptomatik als weniger stark anzugeben, als sie eigentlich ist (Seidler et al., 2016). Die Symptome werden also entweder als zu schwach oder als nicht vorhanden eingeschätzt. Dies könnte zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Männer nicht oder in geringerem Maße als Frauen an elterlichen Depressionen leiden, so dass es weniger dringlich scheint, dieses Thema spezifisch zu untersuchen.

Zweitens verspüren und zeigen Männer im Vergleich zu Frauen oftmals andere Symptome. Häufig drücken Männer Depressionen durch externalisierendes Verhalten aus (Rutz, 1996), wie Wutanfälle, Drogenmissbrauch und Risikoverhalten, oder sie zeigen stärkere körperliche Belastung durch eine Somatisierung (Danielsson & Johansson, 2005; Kim & Swain, 2007; Martin et al., 2013; Rodgers et al., 2014; Schumacher et al., 2008). Diese externalisierenden Verhaltensweisen werden von medizinischem Fachpersonal nicht immer als depressive Symptome erkannt (Rutz, 1996), so dass eine korrekte Diagnostizierung dieser Männer unwahrscheinlich ist. Zudem leiden einige Männer an weiteren, weniger offensichtlichen depressiven Symptomen, was vermehrt zu Fehldiagnosen führen kann (Psouni et al., 2017).

Risikofaktoren für paternale Depression (American Academy of Pediatrics, 2018):

  • Schwierigkeiten eine Bindung mit dem eigenen Kind aufzubauen
  • Das Fehlen eines guten männlichen Vorbildes
  • Das Fehlen von sozialer Hilfe und Unterstützung
  • Veränderungen in der Beziehung zum*r Ehepartner*in
  • Gefühle wie Eifersucht oder Exklusion aufgrund der Beziehung zwischen Ehepartner*in und Kind
  • Maternale Depression
  • Stress aufgrund von Finanzen oder Arbeit
  • Tiefes Level an Testosteron

Der dritte Grund für die Diskrepanz im aktuellen Forschungsstand bezüglich maternaler und paternaler Depression ist eng mit den erwähnten Unterschieden in der Symptomatik verknüpft. Die Messinstrumente zur Beurteilung der paternalen Depression sind nicht an die externalisierenden Symptome angepasst (Rice et al., 2013). Dadurch wird die Symptomatik nicht vollständig erfasst. Zudem werden die verfügbaren Skalen selten mit ausreichend großen Stichproben getestet und die psychometrische Entwicklung der Fragebögen sind oftmals fehlerhaft (Rice et al., 2013). Dies führt unter anderem zu stark variierenden Prävalenzraten bei väterlichen Depressionen (Cameron et al., 2016), dadurch erscheint die Notwendigkeit umfassender Forschung als zu gering.

Der letzte mögliche Grund für die Diskrepanz ist, dass Väter, im Vergleich zu Müttern, in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt an parentaler Depression erkranken (Edward et al., 2015; Psouni et al., 2017). Während maternale Depression in der Regel während der Schwangerschaftszeit oder innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes auftritt, hat die Prävalenzrate der paternalen Depression ihren Höhepunkt 12 Monate nach der Geburt des Kindes (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011). Verheerend ist hier, dass die meisten Studien zur parentalen Depressionen ihre Teilnehmer*innen nur innerhalb des ersten postnatalen Jahres untersuchen (Psouni et al., 2017). Väter werden also während ihrer kritischen Phase in vielen Studien gar nicht erst erfasst. Es ist immer noch unklar, wie eine paternale Depression nach dem ersten Jahr nach der Geburt des Kindes verläuft.

Folgen der Vernachlässigung

Was sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Unterschiede und dem Mangel an Forschung bei parentaler Depression? Wie bereits erwähnt, scheint die depressive Symptomatik bei Männern im Vergleich zu Frauen weniger oft als solche erkannt zu werden.

Zusätzlich suchen Männer seltener Hilfe auf. In einer Studie gab weniger als die Hälfte der männlichen Teilnehmer mit depressiven Symptomen an, dass sie bereit wären, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Massoudi, 2013). Gewisse Stigmata oder Geschlechternormen könnten es Männern erschweren, als Schwächen wahrgenommene Erlebens- oder Verhaltensmuster einzugestehen(Lohan et al., 2014; Strother et al., 2012). Die daraus resultierende Behandlungslücke könnte durch den Mangel an Forschung zum Thema paternalen Depression verstärkt werden. Weniger Wissen über Verlauf und Risiken der paternalen Depression gehen vermutlich mit einem Mangel an Präventionsmöglichkeiten und spezifischen Interventionen einher. Generell gibt es weniger Interventionen, die spezifisch für Männer entwickelt wurden im Vergleich zu Frauen (Doley et al., 2020). All das kann zu einer Versorgungslücke führen, die einen noch schwerwiegenderen Eindruck hinterlässt, wenn man sich die Folgen einer paternalen Depression vor Augen führt.

Folgende Hilfsstellen können Vätern (und Müttern) helfen oder sie an die richtigen Stellen weiterleiten:

Neben zahlreichen Büchern liefern folgende Websites Informationen rund um das Thema Vater werden und sein:

Eine depressive Störung des einen Elternteils beeinflusst auch den Gemütszustand des anderen. Paternale postnatale Depression korreliert stark mit maternaler postnataler Depression (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011; Goodman, 2004; Ramchandani et al., 2011). Daher erhöht die Depression eines Elternteils das Risiko, dass ein Kind, mit zwei depressiven Eltern aufwächst (Letourneau et al., 2011). Dies führt zu einer höheren Vulnerabilität des Kindes (Brennan et al., 2002; Letourneau et al., 2011; Mezulis et al., 2004). Ausserdem leidet es eher unter multiplen entwicklungsschädigenden Folgen, wie weniger positiv bereicherten Aktivitäten beispielsweise das Vorlesen von Kinderbüchern (Paulson et al., 2006) oder stärker externalisierenden Verhaltensproblemen (Ramchandani et al., 2013). Daher ist zentral, dass die Forschung sich auch auf Väter konzentriert. Denn auch dem Papa sollte es gut gehen.


Zum Weiterlesen

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Literatur

American Academy of Pediatrics (Ed.). (2018). Dads Can Get Depression During and After Pregnancy, Too. https://www.healthychildren.org/English/ages-stages/prenatal/delivery-beyond/Pages/Dads-Can-Get-Postpartum-Depression-Too.aspx

Brennan, P. A., Hammen, C., Katz, A. R., & Le Brocque, R. M. (2002). Maternal depression, paternal psychopathology, and adolescent diagnostic outcomes. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70(5), 1075–1085. https://doi.org/10.1037/0022-006X.70.5.1075

Cameron, E. E., Sedov, I. D., & Tomfohr-Madsen, L. M. (2016). Prevalence of paternal depression in pregnancy and the postpartum: An updated meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 206, 189–203. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.07.044

Danielsson, U., & Johansson, E. E. (2005). Beyond weeping and crying: A gender analysis of expressions of depression. Scandinavian Journal of Primary Health Care, 23(3), 171–177. https://doi.org/10.1080/02813430510031315

Doley, J. R., McLean, S. A., Griffiths, S., & Yager, Z. (2020). Study protocol for Goodform: A classroombased intervention to enhance body image and prevent doping and supplement use in adolescent boys. BMC Public Health, 20(1), 59. https://doi.org/10.1186/s12889-020-8166-2

Edward, K.‑l., Castle, D., Mills, C., Davis, L., & Casey, J. (2015). An integrative review of paternal depression. American Journal of Men’s Health, 9(1), 26–34. https://doi.org/10.1177/1557988314526614

Escribà-Agüir, V., & Artazcoz, L. (2011). Gender differences in postpartum depression: A longitudinal cohort study. Journal of Epidemiology and Community Health, 65(4), 320–326. https://doi.org/10.1136/jech.2008.085894

Gentile, S., & Fusco, M. L. (2017). Untreated perinatal paternal depression: Effects on offspring. Psychiatry Research, 252, 325–332. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.02.064

Goodman, J. H. (2004). Paternal postpartum depression, its relationship to maternal postpartum depression, and implications for family health. Journal of Advanced Nursing, 45(1), 26–35. https://doi.org/10.1046/j.1365-2648.2003.02857.x

Kim, P., & Swain, J. E. (2007). Sad dads: paternal postpartum depression. Psychiatry, 4(2), 35–47.

Letourneau, N., Duffett-Leger, L., Dennis, C., Stewart, M., & Tryphonopoulos, P. D. (2011). Identifying the support needs of fathers affected by postpartum depression: A pilot study. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 18, 41–47.

Lohan, M., Aventin, A., Maguire, L., Clarke, M., Linden, M., & McDaid, L. (2014). Feasibility trial of a film-based educational intervention for increasing boys‘ and girls‘ intentions to avoid teenage pregnancy: Study protocol. International Journal of Educational Research, 68, 35–45. https://doi.org/10.1016/j.ijer.2014.08.003

Martin, L. A., Neighbors, H. W., & Griffith, D. M. (2013). The experience of symptoms of depression in men vs women: Analysis of the National Comorbidity Survey Replication. JAMA Psychiatry, 70(10), 1100–1106. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2013.1985

Massoudi, P. (2013). Depression and distress in Swedish fathers in the postnatal period: prevalence, correlates, identification, and support [Dissertation]. University of Gothenburg, Gothenburg. https://gupea.ub.gu.se/bitstream/2077/32509/1/gupea_2077_32509_1.pdf

Mezulis, A. H., Hyde, J. S., & Clark, R. (2004). Father involvement moderates the effect of maternal depression during a child’s infancy on child behavior problems in kindergarten. Journal of Family Psychology, 18(4), 575–588. https://doi.org/10.1037/0893-3200.18.4.575

Paulson, J. F., & Bazemore, S. D. (2010). Prenatal and postpartum depression in fathers and its association with maternal depression: A meta-analysis. JAMA, 303(19), 1961–1969. https://doi.org/10.1001/jama.2010.605

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Psouni, E., & Eichbichler, A. (2019). Feelings of restriction and incompetence in parenting mediate the link between attachment anxiety and paternal postnatal depression. Psychology of Men & Masculinities. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/men0000233

Ramchandani, P. G., Domoney, J., Sethna, V., Psychogiou, L., Vlachos, H., & Murray, L. (2013). Do early father-infant interactions predict the onset of externalising behaviours in young children? Findings from a longitudinal cohort study. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 54(1), 56–64. https://doi.org/10.1111/j.1469-7610.2012.02583.x

Ramchandani, P. G., Psychogiou, L., Vlachos, H., Iles, J., Sethna, V., Netsi, E., & Lodder, A. (2011). Paternal depression: An examination of its links with father, child and family functioning in the postnatal period. Depression and Anxiety, 28(6), 471–477. https://doi.org/10.1002/da.20814

Rice, S. M., Fallon, B. J., Aucote, H. M., & Möller-Leimkühler, A. M. (2013). Development and preliminary validation of the male depression risk scale: Furthering the assessment of depression in men. Journal of Affective Disorders, 151(3), 950–958. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.08.013

Rodgers, S., Grosse Holtforth, M., Müller, M., Hengartner, M. P., Rössler, W., & Ajdacic-Gross, V. (2014). Symptom-based subtypes of depression and their psychosocial correlates: A person-centered approach focusing on the influence of sex. Journal of Affective Disorders, 156, 92–103. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.11.021

Rominov, H., Giallo, R., Pilkington, P. D., & Whelan, T. A. (2018). Getting help for yourself is a way of helping your baby: Fathers’ experiences of support for mental health and parenting in the perinatal period. Psychology of Men & Masculinity, 19(3), 457–468. https://doi.org/10.1037/men0000103

Rutz, W. (1996). Prevention of suicide and depression. Nordic Journal of Psychiatry, 50(37), 61–67. https://doi.org/10.3109/08039489609099732

Schumacher, M., Zubaran, C., & White, G. (2008). Bringing birth-related paternal depression to the fore. Women and Birth, 21(2), 65–70. https://doi.org/10.1016/j.wombi.2008.03.008

Seidler, Z. E., Dawes, A. J., Rice, S. M., Oliffe, J. L., & Dhillon, H. M. (2016). The role of masculinity in men’s help-seeking for depression: A systematic review. Clinical Psychology Review, 49, 106–118. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2016.09.002

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355. https://doi.org/10.1080/10640266.2012.715512

World Health Organisation. (n.d.). Maternal mental health. https://www.who.int/mental_health/maternal-child/maternal_mental_health/en/

Unerfüllter Kinderwunsch

Die psychologischen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches und die Möglichkeiten der assistierten Reproduktion

Weltweit leiden ca. 50 Mio. Paare unter einem unerfüllten Kinderwunsch (Mascarenhas et al., 2012). Für diese Paare gibt es einerseits medizinische Angebote, die sie auf ihrem Weg zu einem leiblichen Kind unterstützen. Die reproduktive Psychologie andererseits ist für die psychische Begleitung der Eltern in dieser herausfordernden Zeit zuständig.

Von Laura Trinkler
Lektoriert von Zoé Dolder und Jovana Vicanovic
Illustriert von Gianna Zorzini

In der Schweiz bleibt jedes sechste Paar ungewollt kinderlos (Klinik für Reproduktions-Endokrinologie, USZ, n.d.). Für diese Paare gibt es viele verschiedene medizinische Hilfeleistungen, wie z. B. Fertilitätsabklärungen oder bei einer bestätigten Unfruchtbarkeit technische Möglichkeiten zur Förderung einer Schwangerschaft. Unfruchtbarkeit ist laut WHO eine Erkrankung des Fortpflanzungssystems, die dadurch definiert ist, dass es einem Paar nach zwölf oder mehr Monaten mit regelmässigem Geschlechtsverkehr ohne Verhütung nicht möglich ist, schwanger zu werden (Zegers-Hochschild et al., 2009). Eine künstliche Befruchtung (IVF oder ICSI, siehe Kästchen) kostet je nach gewähltem Verfahren zwischen 4‘000 und 10‘000 Franken pro Befruchtungszyklus (Fertility.ch, n.d.). Nebst den finanziellen Belastungen müssen Paare zusätzlich auch mit psychischen Belastungen rechnen, welche im nächsten Abschnitt aufgegriffen werden.

Psychologische Unterstützung

Nach einer Unfruchtbarkeitsdiagnose und einer eventuell folgenden künstlichen Befruchtung oder anderen Verfahren assistierter Reproduktion sind die werdenden Eltern oftmals mit Emotionen wie Scham, Trauer, Hilflosigkeit, Wut oder Neid konfrontiert. Ebenso kann ein Gefühl des Verlusts der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit aufkommen (Strauss et al., 2004). Insbesondere Scham, Gefühle des Unverstandenseins und Stigmatisierung können zu sozialem Rückzug führen, wodurch wiederum die zuvor genannten Emotionen verstärkt werden können. An dieser Stelle ist es wichtig, dass den werdenden Eltern auch psychologische Hilfe angeboten wird (Strauss et al., 2004).

«People need support (…). (…) in their daily lives when they just see pregnant people all around them, it can feel very isolating and feel very difficult in terms of finding support.»

Dr. Julie Bindeman in Calkins, 2019, [6:12]

In der Schweiz gibt es Gynäkolog*innen mit einer psychotherapeutischen Weiterbildung oder Psychotherapeut*innen mit einer Weiterbildung in gynäkologischer Sozialmedizin und Psychosomatik, die diesen Paaren Unterstützung anbieten können. Auch unter dem Stichwort Gynäkopsychologie finden sich ausgebildete Psychotherapeut*innen mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet des unerfüllten Kinderwunsches (Klaus-Grawe-Institut für psychologische Therapie, n.d.).

Das Berufsfeld der reproduktiven Psychologie

Für die Arbeit als reproduktive*r Psycholog*in bzw. Gynäkopsycholog*in gibt es in der Schweiz noch keinen spezifischen Weiterbildungslehrgang. Die Fachpersonen auf diesem Gebiet sind ausgebildete Psychotherapeut*innen, welche sich ihr Wissen in Bezug auf den unerfüllten Kinderwunsch oder andere gynäkopsychologische Themen während ihrer Arbeit in einer Frauenklinik oder verwandten Institutionen selbst erarbeitet haben.

Die deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKiD) bietet eine explizite Fortbildung im Bereich des unerfüllten Kinderwunsches an. Mit den entsprechenden Voraussetzungen kann dies auch in einer Zertifizierung münden, in der Schweiz ist diese jedoch nicht anerkannt.

In den Vereinigten Staaten wird dieser spezielle Bereich der Gesundheitspsychologie Reproductive Psychology genannt. Die darin spezialisierten Psycholog*innen, Berater*innen und Sozialarbeiter*innen befassen sich nebst der psychologischen Belastung durch Unfruchtbarkeit und künstlicher Befruchtung auch mit Themen wie dem Umgang mit einer traumatischen Geburt, Fehlgeburten, Totgeburten, sowie auch postpartalen Stimmungskrisen wie der postnatalen Depression (Center for Reproductive Psychology, n.d.; Calkins, 2019).

Auch LGBTQ+-Paare finden in der reproduktiven Psychologie Unterstützung, sei es bei einer Befruchtung durch Verfahren der assistierten Reproduktion, Informationen rund um Samen- bzw. Eizellenspenden oder deren psychischen Implikationen für das Kind und die werdenden Eltern (Holley und Pasch, 2015). Auch Abklärungen zur Eignung von Leihmüttern oder Adoptionsprozessen werden in den Vereinigten Staaten durch die Reproductive Psychologists durchgeführt (Integrative Therapy of Greater Washington, n.d.).

Assistierte Reproduktive Technologien (ART)

Es gibt verschiedene Arten der assistierten Reproduktion, die einem Paar zur Verfügung stehen. Eine Auswahl der in der Schweiz zugelassenen, assistierten reproduktiven Technologien (ART) wird auf der Webseite fertility.ch (n.d.) wie folgt beschrieben:

  • Intrauterine Insemination (IUI): Bei der IUI wird das Sperma des Mannes mithilfe eines Katheters in die Gebärmutter der Frau eingeführt.
  • In-vitro-Fertilisation (IVF): Nach einer hormonellen Stimulation der Frau werden ihr mehrere Eizellen entnommen. Diese werden anschliessend in vitro, das heisst im Glas, mit den Spermien des Mannes befruchtet. Nach einer zwei- bis dreitägigen Kultivierung werden maximal drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutter eingesetzt.
  • Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Die ICSI gilt als Ergänzung zur IVF. Dabei wird die Samenzelle des Mannes direkt in die Eizelle injiziert, was insbesondere bei schwacher Spermienqualität ein besseres Ergebnis verspricht.

Patientenorientierte Betreuung vs. psychologische Beratung

Laut den «Guidelines for Counselling in Infertility» unterscheidet man zwischen zwei Arten von Unterstützungsansätzen während einer Fruchtbarkeitsbehandlung (Appleton et al., 1999). Einerseits wird von der patientenorientierten Betreuung gesprochen, andererseits von der psychologischen Beratung.

Die patientenorientierte Betreuung konzentriert sich auf die psychosoziale Betreuung durch das gesamte, an der Fruchtbarkeitsbehandlung beteiligte Personal – also nicht nur Psycholog*innen, sondern insbesondere auch Ärzt*innen, Pflegende und Sozialarbeiter*innen. Bei der patientenorientierten Betreuung geht es vor allem darum, dass den werdenden Eltern alle Fragen rund um den Verlauf der Behandlung beantwortet und sie nach einer schmerzlichen Erfahrung, wie z. B. einer Fehlgeburt oder einem negativen Schwangerschaftstest, unterstützt werden. Eine weitere Aufgabe der patientenorientierten Betreuung ist die Herausgabe von weiteren Informationen, die die Patient*innen bei der emotionalen Verarbeitung und der Aufklärung des Umfeldes unterstützen (Appleton et al., 1999).

Im Unterschied dazu wird die psychologische Beratung nur durch psychotherapeutisch ausgebildete Fachpersonen durchgeführt. Sie ist nicht für alle Patient*innen notwendig und der Inhalt der Beratung ist sehr individuell und abhängig von der gewählten Behandlungsform der Reproduktionsförderung. In der Beratung kann sichergestellt werden, dass die werdenden Eltern bestmöglich informiert und auf die möglichen psychischen Schwierigkeiten vorbereitet sind, die durch die Behandlung ausgelöst werden können. Ein weiterer therapeutischer Aspekt der Behandlung konzentriert sich oft auf die emotionalen Konsequenzen der Ungewissheit bezüglich des Behandlungserfolges oder auch die Begleitung in ein kinderloses Leben (Appleton et al., 1999).

Wie geht es weiter?

Auch mit aller medizinischer und psychologischer Unterstützung ist es nicht möglich, jedem Paar seinen Wunsch nach einem biologischen Kind zu erfüllen. Kommt es trotz assistierter Reproduktion zu keiner Schwangerschaft, kann dies für Paare das Ende eines Lebensprojekts bedeuten und zu Veränderungen ihrer sozialen Rollen führen (Dyer et al., 2002). Kurz nach dem Abbruch einer erfolglosen künstlichen Befruchtung leiden Frauen generell mehr unter der erfolglosen Behandlung als Männer. Frauen haben, zusätzlich zu den psychologischen Problemen mit denen auch Männer zu kämpfen haben, auch Probleme mit dem Selbstbild und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit. Bleiben Frauen nach einer erfolglosen Fruchtbarkeitsbehandlung kinderlos, sind sie weniger zufrieden mit ihrem Leben und es zeigen sich erhöhte Level von Ängstlichkeit, Stress und Depressionen im Vergleich zu Frauen, die durch eine Adoption Mütter geworden sind (Filetto & Makuch, 2005). Egal, ob es um die psychologische Unterstützung bei diesen psychischen Problemen oder das Finden einer neuen Lebensaufgabe geht – es gibt viele Herausforderungen, bei denen die reproduktive Psychologie die Paare unterstützen kann.

In Anbetracht des steigenden Alters von Erstgebärenden (Nolte, 2019) kann davon ausgegangen werden, dass die assistierte Reproduktion in Zukunft noch öfters zum Einsatz kommen wird. Daraus lässt sich schliessen, dass eine einheitliche Weiterbildung im Bereich der reproduktiven Psychologie wünschenswert wäre, damit diese hoffnungsvollen Paare auf ihrem Weg zu einer Familie von spezialisierten Fachkräften optimal begleitet werden können.


Zum Weiterlesen

Van den Akker, O. (2012). Reproductive health psychology. Wiley-Blackwell.

Limiñana-Gras, R. (2017). Reproductive psychology and infertility. Acta Psychopathologica, 3, 1-3. https://doi.org/10.4172/2469-6676.100155

Calkins, H. (Producer). (2019, May 3). Finding a niche: Reproductive psychology [Audio podcast]. In Progress Notes: Keeping Tabs on the Practice of Psychology. American Psychological Association. https://www.apaservices.org/practice/business/podcasts/reproductive-psychology

Literatur

Appleton, T. C., Baetens, P., Baron, J., Bitzer J., Boivin, J., Corrigan, E., Daniels, K. R., Darwish, J., Guerra-Diaz, D., Hammar, M., Kentenich, H., McWhinnie, A., Strauss, B., Thorn, P., & Wischmann, T. (1999). Guidelines for counselling in infertility: Special interest group “psychology and counselling”. https://www.eshre.eu/Specialty-groups/Special-Interest-Groups/Psychology-Counselling/Archive/Guidelines

Bindeman, J. (n.d.). Fertility. https://greaterwashingtontherapy.com/fertility/

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2017, February 23). Kryokonservierung. Familienplanung.de. https://www.familienplanung.de/kinderwunsch/behandlung/kryokonservierung/

Calkins, H. (Producer). (2019, May 3). Finding a niche: Reproductive psychology [Audio podcast]. In Progress Notes: Keeping Tabs on the Practice of Psychology. American Psychological Association. https://www.apaservices.org/practice/business/podcasts/reproductive-psychology

Campagne, D. M. (2006). Should fertilization treatment start with reducing stress? Human Reproduction, 21(7), 1651-1658. https://doi.org/10.1093/humrep/del078

Center for Reproductive Psychology. (n.d.). What We Do. https://www.reproductivepsych.org/services/

Cousineau, T. M. & Domar, A. D. (2007). Psychological impact of infertility. Best Practice & Research Clinical Obstetrics and Gynaecology, 21(2), 293-308. https://doi.org/10.1016/j.bpobgyn.2006.12.003

Dyer, S. J., Abrahams N., Hoffman, M., & van der Spuy, Z. M. (2002). ‘Men leave me as I cannot have children’. Women’s experiences with involuntary childlessness. Human Reproduction 17(6), 1663-1668. https://doi.org/10.1093/humrep/17.6.1663

Fertility.ch. (n.d.). Kinderwunsch-Behandlung. https://www.fertility.com/ch-de/kinderwunsch-behandlung.html

Fertility.ch. (n.d.). Kosten. https://www.fertility.com/ch-de/ivf-behandlung/ivf/kosten.html

Filetto, J. N. & Makuch, M. Y. (2005). Long-term follow-up of women and men after unsuccessful IVF. Reproductive BioMedicine Online, 11(4), 458-463. https://doi.org/10.1016/S1472-6483(10)61141-8

Holley, S. R. & Pasch, L. A. (2015). Counseling lesbian, gay, bisexual and transgender patients. In S. N. Covington (Ed.), Fertility counseling: Clinical guide and case studies (pp. 180-196). Cambridge University Press.

Klaus-Grawe-Institut für psychologische Therapie. (n.d.) Gynäkopsychologie. https://www.klaus-grawe-institut.ch/gynaekopsychologie-und-unerfuellter-kinderwunsch/

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Schulpsychologie

Seiltanz mal anders

Für viele von uns verlief die Schulzeit ohne grosse Probleme. Während sich die meisten wohlfühlten und mit allen Anforderungen umgehen konnten, wurden andere aufgrund von schulischen Schwierigkeiten von ihren Eltern oder einer Lehrperson beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) angemeldet.

Von Sara Aeschlimann
Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler
Illustriert von Sara Aeschlimann

Eine Mutter wendet sich an den SPD und erklärt, sie sei ratlos und mit ihren Nerven am Ende. Seit einigen Wochen klage ihre Tochter Samantha* (11 J.)morgens vor Schulbeginn über Bauchschmerzen und weigere sich teilweise sogar, in die Schule zu gehen. Ein Arztbesuch blieb allerdings ohne Befund. Besonders problematisch erlebe die Mutter die Hausaufgabensituation: Sie müsse mit Samantha erst lange Diskussionen führen, bevor sie endlich mit den Hausaufgaben beginne. Die Aufgaben müsse sie dann mit ihr zusammen lösen und sie andauernd zu mehr Ausdauer und Selbständigkeit ermutigen. Dabei wünsche sich die Mutter doch gerade jetzt, wo es um den Übertritt ans Gymnasium gehe, mehr Einsatz von Samantha. Sie sei sehr klug und könnte es – aber sie sei eben eine Minimalistin.

Ein Lehrer meldet seinen Schüler Mateo* (9 J.) in Absprache mit dessen Eltern beim SPD an. Seit einigen Monaten falle Mateo in der Klasse immer wieder durch störendes Verhalten auf, was auch die Mitschüler vom Unterrichtsverlauf ablenke. Besonders dann, wenn es laut und stressig werde und er schon eine ganze Weile habe aufpassen müssen, falle es ihm schwer, seine Impulse zu kontrollieren. Er sei dann jeweils stark ablenkbar und zapple auf seinem Stuhl herum. Wiederholt sei es auch zu Wutanfällen gekommen, von denen er sich alleine nur sehr schwer wieder habe beruhigen können. Im Schulstoff verpasse er immer mehr den Anschluss, was sich in grossen Leistungseinbussen, insbesondere im Fach Rechnen, widerspiegelt. Mateos Eltern, seit Kurzem getrennt, erkennen ihn in den Schilderungen des Lehrers nicht wieder. Sie erleben Mateo zuhause als zurückhaltenden, angepassten Jungen.

«Schulpsycholog*innen balancieren wie Seiltänzer zwischen schulpolitischen Rahmenbedingungen, auseinanderdriftenden oder unrealistischen Erwartungen von Eltern und Lehrpersonen und eigenen Grenzen und Unsicherheiten.»

Sara Aeschlimann, 2020

Der besorgte Vater von Lina* (10 J.) nimmt Kontakt mit dem SPD auf. Bereits seit der ersten Klasse falle den Eltern auf, dass Lina Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben habe. Beim gemeinsamen Lesen beobachten sie, dass Lina deutlich langsamer liest, häufig stockt und schnell müde wird. Dabei verstehe sie oft auch gar nicht, worum es im Text überhaupt gehe. Beim Schreiben lasse sie einfach Buchstaben weg oder schreibe Wörter nicht vollständig aus. Ihr falle dann beispielsweise gar nicht auf, dass sie «Löw» anstatt «Löwe» geschrieben habe. Dabei bringe Lina in den übrigen Fächern gute Noten nachhause und erziele gemäss der Lehrerin auch mündlich gute Leistungen. Die Eltern beobachten bei Lina auch schon eine zunehmende Schulunlust.

Wie Kinder sich (mehr oder weniger) entwickeln

Jedes einzelne Kind zeichnet sich durch ein unverwechselbares Profil von Begabungen und Kompetenzen aus. Die obigen Fallbeispiele lassen erahnen, wie vielfältig die Zusammensetzung aus Stärken und Schwächen sein kann. Während sich bei Lina beispielsweise eine Schwäche im Lesen und Schreiben abzeichnet, ist sie womöglich im logischen Denken, im räumlichen Vorstellungsvermögen und im mündlichen Sprachverständnis sehr begabt. Demgegenüber liegt Mateos Stärke vielleicht im motorischen Bereich verborgen. Die bei ihm beobachteten Schwierigkeiten in der Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle könnten etwa auf eine nicht altersentsprechende Denkentwicklung, ADHS, eine schwache Sozialkompetenz oder auf belastende Erfahrungen (z. B. die Trennung seiner Eltern) zurückzuführen sein. Diese Vielfalt in den Fähigkeitsprofilen wird neben der Anlage massgeblich durch die soziale und kulturelle Umwelt mitbestimmt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Eltern und Lehrpersonen des Kindes. Sie geben die Rahmenbedingungen vor, damit ein Kind Erfahrungen machen kann, die es für seine Entwicklung braucht und es in seinem Lernen unterstützen (Largo & Beglinger, 2009). Die Lehrperson gibt dem Kind beispielsweise eine Aufgabe, die genau auf seine Kompetenz abgestimmt ist und ein Erfolgserlebnis ermöglicht. Eltern dienen selbst als Vorbilder für zu erlernende Fertigkeiten, indem sie etwa beim gemeinsamen Einkaufen laut ausrechnen, wieviel die Einkäufe kosten und Rechnen damit als etwas Sinnvolles erlebbar machen. Aber auch unter Idealbedingungen kann ein Kind «nur» sein jeweiliges Entwicklungspotenzial entfalten bzw. seine Begabungen und Kompetenzen durchsetzen. Genauso können Kinder in ihrem Umfeld Erfahrungen machen, die sie in ihrer Entwicklung hemmen (Largo & Beglinger, 2009). Samantha hat womöglich gelernt, dass sich ihre vielbeschäftigte Mama insbesondere für sie Zeit nimmt, sobald es um die Schule geht und Samantha durch unselbständiges Arbeiten mehr Zeit mit ihr verbringen kann. Die Entwicklungs- und Leistungsunterschiede zwischen Kindern werden im Laufe der Kindheit immer grösser. Eltern und Lehrpersonen stehen angesichts dieser Vielfalt vor der schwierigen Aufgabe, sich auf jedes Kind, je nach Kompetenz und Situation, individuell auszurichten. In der Schule fallen die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe durch den direkten Vergleich mit Gleichaltrigen oftmals besonders auf. Während ein*e Schüler*in in der zweiten Klasse schon Bücher lesen kann, kennt ein*e andere*r noch gar nicht alle Buchstaben. Generell ist festzustellen, dass Klassen – gerade im Kanton Zürich – heterogen (vgl. Moser, Stamm, Hollenweger, 2005; vgl. Moser, Buff, Angelone & Hollenweger, 2011a; Moser & Angelone, 2011b) und die Anforderungen an die Individualisierung des Unterrichts hoch sind (z. B. Reusser et al., 2013). Im Kanton Zürich ist diese Verschiedenartigkeit der Klassen neben soziodemografischen, sozioökonomischen und politischen Faktoren auch mit dem neuen Volksschulgesetz des Kantons Zürich zu erklären (Kantonsrat Zürich, 2005). Dieses sieht vor, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen möglichst in Regelklassen unterrichtet werden und führt damit einen Paradigmenwechsel von der Separation hin zur Integration herbei (ebd., §33). Wenn ein Kind im Unterricht nicht gemäss seinem individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand lernen kann, ist es zwangsläufig über- bzw. unterfordert (Largo & Beglinger, 2009). Dadurch kann es keine Erfolgserlebnisse mehr erleben, was die Lust am Lernen raubt und häufig auch entmutigt (ebd.). Lina hat angesichts der vielen Enttäuschungen im Fach Deutsch womöglich die Überzeugung aufgebaut, dass sie «einfach zu dumm zum Lesen und Schreiben ist und es sich nicht lohnt, im Unterricht aufzupassen oder auf eine Prüfung zu lernen». Diese negativen Gedanken könnten sie daran hindern, sich auf den Unterricht einzulassen.

Wie die Schulpsychologie der Vielfalt unter Kindern (mehr oder weniger) gerecht wird

Wenn es in der Schule oder beim Lernen nicht rund läuft und/oder Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen, können sich Lehrpersonen, mit dem Einverständnis der Eltern, oder auch Eltern direkt, beim SPD melden. Die Aufgabe des SPDs besteht dann darin, die Situation gründlich abzuklären und auf dieser Basis gemeinsam mit den Beteiligten geeignete Massnahmen zu erarbeiten. Kein Kind und keine Situation kommen zweimal vor. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, sich in jeden neuen Fall hineinzuversetzen und eine Beziehung zu den Beteiligten herzustellen. Ihre Anliegen gestalten sich entsprechend vielfältig. Im Fall von Lina könnte beispielsweise eine Überprüfung einer möglichen Lese-Rechtschreib-Störung erwünscht sein, die allenfalls einen therapeutischen Bedarf und einen schulischen Nachteilsausgleich indizieren würde. Bei Mateo könnte es vorgängig um eine Einschätzung des kognitiven Potenzials gehen, um abzuklären, inwiefern seine Verhaltens- und Konzentrationsschwierigkeiten mit kognitiven Einschränkungen zu erklären sind. Bei Samantha hingegen könnte eher eine Stärkung der Erziehungskompetenzen im Rahmen einer Elternberatung ein zentrales Interesse darstellen. Der gemeinsame Nenner der Anliegen ist stets die bestmögliche Entwicklung des Kindes. Eine Leitfrage dabei ist, welcher schulische und ausserschulische Rahmen für die Bedürfnisse des Kindes adäquat ist. Aus schulischer Sicht wird daher auch oft der Frage nachgegangen, ob ein Kind in der Regelklasse – im Rahmen der möglichen Individualisierungsmassnahmen – genügend gefördert werden kann bzw. ob (im Falle einer Behinderung oder einer sozialen, körperlichen, gesundheitlichen oder sensorischen Beeinträchtigung) ein sonderschulisches Setting sinnvoll ist.

Bei Schulpsychologischen Diensten handelt es sich um öffentliche Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche vom Kindergartenalter bis Ende Sekundarstufe I mit Lern- und Leistungsbesonderheiten, sowie psychischen oder psychosozialen Schwierigkeiten, die sich im schulischen Umfeld manifestieren oder sich darauf auswirken.

Das Angebot steht Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung.

Die schulpsychologischen Tätigkeitsfelder lassen sich grob in die Bereiche Beurteilung, Beratung und Begleitung einteilen. Im Hinblick auf die Beurteilung werden zur Klärung der Leistungs-, Lern- und Verhaltensschwierigkeiten verschiedene Befunde erhoben. In einem ersten Schritt wird mit der Familie ein persönliches Gespräch beim SPD vereinbart. Dabei wird erfragt, wie sich das Kind bisher entwickelt hat, wie die schulische und familiäre Situation aussieht und wie das aktuelle Befinden des Kindes ist. Häufig folgen darauf psychodiagnostische Abklärungen, die weitere Puzzleteile zu inter- und intraindividuellen Stärken und Schwächen des Kindes in verschiedenen Entwicklungsbereichen (z. B. kognitiv, psychomotorisch, emotional) ans Licht bringen. Bei Lina würde man zur Überprüfung einer möglichen Lese-Rechtschreib-Störung ihre individuellen Lese- und Schreib-Fähigkeiten mit den Leistungen der Stufennorm und ihrer individuellen Intelligenzleistung vergleichen. Darüber hinaus kann eine Verhaltensbeobachtung auf einem Schulbesuch Aufschluss über die Gesamtdynamik in der Klasse bringen. Dies bietet sich beispielsweise bei Mateo an, da die störenden Verhaltensweisen nur im spezifischen Klassensetting beobachtet werden können. Mit dem Einverständnis der Eltern werden in weiteren Gesprächen die Sichtweisen der Lehrperson und anderer involvierter Fachpersonen (z. B. Logopäd*in, Klassenassistenz, Schulheilpadägog*in) einbezogen. Gestützt auf die umfassenden Ergebnisse der Beurteilung wird im Rahmen einer Beratung gemeinsam mit allen Beteiligten erarbeitet, welche Bedingungen für eine gute Entwicklung des Kindes nötig sind. Dabei werden Entwicklungsziele festgelegt und geeignete Massnahmen erarbeitet. In Samanthas Fall könnte ein Entwicklungsziel darin bestehen, ihre Selbständigkeit mit gezielten Strategien, die mit ihrer Mutter erarbeitet werden, zu fördern. Zum Beispiel könnten Mutter und Tochter selbständig aber nebeneinander im Arbeitszimmer oder am Küchentisch ihren jeweiligen Arbeiten nachgehen oder die Mutter könnte Zeit für Mutter-Tochter-Aktivitäten als Belohnung für selbständiges Arbeiten in Aussicht stellen. Wenn die Befunde bei Mateo eine Lernbeeinträchtigung nahelegen, könnte die Einrichtung individueller Lernziele und heilpädagogischer Unterstützung sinnvoll sein, um Mateo zu entlasten und ihm gezielt Fortschritte und Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Die vereinbarten Ziele und Massnahmen können schliesslich im Rahmen der Begleitung gemeinsam überprüft und gegebenenfalls angepasst oder weiterentwickelt werden.

«Was ist dein zweitliebster Dinosaurier?»

m, 7 Jahre

Mein Seiltanz in der Schulpsychologie

Meinen Weg zur Schulpsychologie habe ich während eines viermonatigen Praktikums beim SPD in Aarau gefunden. In dieser Zeit erhielt ich die Möglichkeit, den Kontext des Arbeitens kennenzulernen und die schulpsychologische Tätigkeit – mehr noch aus der Aussenperspektive, teils auch schon aktiv daran teilnehmend – zu beobachten. Während Verhaltensbeobachtungen in verschiedenen Bildungsinstitutionen, der Teilnahme an Expertenrunden und vielfältigen Gesprächen mit Eltern, Lehrpersonen und Schulleitungen konnte ich mir einen lebhaften Überblick über das Schulsystem und die Abläufe der schulpsychologischen Tätigkeit verschaffen. Ich durfte ein offenes und freundliches Team aus 13 Schulpsycholog*innen bei ihren Terminen begleiten und so eine grosse Vielfalt an Arbeitsstilen erleben. Ein Stück weit konnte ich mich bereits selbst in dieser neuen Rolle ausprobieren, indem ich verschiedene Testverfahren durchgeführt, ausgewertet und deren Abklärungsergebnisse an die Beteiligten rückgemeldet habe. Neben der Abklärungsarbeit mit Kindern erhielt ich ausserdem die Gelegenheit, Erstgespräche mit den Familien zu führen. Dank dieser und weiterer wertvollen Erfahrungen konnte ich meine Erwartungen an die schulpsychologische Praxis überprüfen und mein Interesse festigen. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, diesen Weg nach Praktikumsabschluss weiterzuverfolgen. In Kürze trete ich eine Assistenzstelle und den Master of Advanced Studies in Schulpsychologie an der Universität Zürich an.

Ich erlebe die Schulpsychologie als eine sehr sinnstiftende Arbeit. Schwierigkeiten in der Schule sind oft Indikatoren für grössere Probleme und/oder gehen sichtbaren psychischen Problemen voran. Als niederschwellige Institution hat die Schulpsychologie das Potenzial, früh im Leben eines Kindes – idealerweise bevor sich ein Problem manifestiert hat – Weichen zu stellen. Wenn es gelingt, alle Beteiligten in ein Boot zu holen, um sich gemeinsam für eine gute Entwicklung des Kindes einzusetzen, können wirksame und nachhaltige Veränderungen stattfinden. Selten kommen in diesem Berufsalltag die Paradebeispiele vor, die ich an der Uni gelernt habe und noch seltener gibt es auf ein Problem eine einzige, geschweige denn die ideale, Lösung. Nach der magischen Formel sucht man in dieser Arbeit vergeblich. Es ist eine grosse Herausforderung, sich auf jedes System und die darin wirkenden Kräfte einzulassen. Schulpsycholog*innen balancieren in ihrem Bestreben nach günstigen Entwicklungsbedingungen für das Kind wie Seiltänzer zwischen schulpolitischen Rahmenbedingungen («Ist in dieser Sonderschule noch ein Platz frei?», «Ist die Anmeldefrist noch offen?»), auseinanderdriftenden oder unrealistischen Erwartungen von Eltern und Lehrpersonen («Ich will auf keinen Fall, dass mein Sohn in eine Sonderschule kommt.», «Ich kann dieses Kind in meiner Klasse nicht länger tragen.») und eigenen Grenzen und Unsicherheiten («Wo endet meine Verantwortung?»). Man muss sich dabei vom utopischen Anspruch einer perfekten Lösung, die alle Beteiligten zufrieden stellt, lösen und stattdessen gemeinsam mit den Beteiligten erarbeiten, was unter den gegebenen Umständen sinnvoll und machbar ist («Hinter welcher Massnahme kann die Familie stehen?», «Welche Ressourcen zur Unterstützung und Entlastung sind im System vorhanden?»). Man muss viel Unsicherheit aushalten können, weil oft nicht klar ist, was richtig ist und es dann nach bestem Wissen und Gewissen auszuprobieren gilt. Dieser Balanceakt gelingt mal mehr, mal weniger.

*Alle Namen und zentralen Bezüge sind verändert, sodass die Anonymität gewahrt bleibt.


Zum Weiterlesen

Berufsverband Schweizer Kinder- und Jugendpsycholog*innen: https://www.skjp.ch

Vereinigung Schulpsychologie Schweiz – Interkantonale Leitungskonferenz: https://www.schulpsychologie.ch

Berufsverband deutscher Psycholog*innen: https://www.praxis-schulpsychologie.de (Tipp: Newsletter abonnieren)

Seifried, K., Drewes, S. & Hasselhorn, M. (Hrsg.) (2016). Handbuch Schulpsychologie: Psychologie für die Schule. Verlag W. Kohlhammer.

Literatur

Kantonsrat Zürich (2005). Volksschulgesetz (VSG). Abgerufen am 26. August 2020 von: http://www2.zhlex.zh.ch/appl/zhlex_r.nsf/0/B6DFC1347AA5482FC12575C1003D4B7F/$file/412.100_7.2.05_65.pdf

Largo, R. H. & Beglinger, M. (2009). Schülerjahre: wie Kinder besser lernen. München: Piper.

Moser, U., Stamm, M. & Hollenweger, J. (Hrsg.). (2005). Für die Schule bereit? Lesen, Wortschatz, Mathematik und soziale Kompetenzen beim Schuleintritt. Oberentfelden: Sauerländer.

Moser, U., Buff, A., Angelone, D. & Hollenweger, J. (2011a). Nach sechs Jahren Primarschule. Deutsch, Mathematik und motivational-emotionales Befinden am Ende der 6. Klasse. Zürich: Bildungsdirektion.

Moser, U. & Angelone, D. (2011b). PISA 2009: Porträt des Kantons Zürich. Zürich: Universität Zürich. Reusser, K., Stebler, R., Mandel, D. & Eckstein, B. (2013). Erfolgreicher Unterricht in heterogenen Lerngruppen auf der Volksschulstufe des Kantons Zürich: wissenschaftlicher Bericht. Zürich: Bildungsdirekti