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Mit ‘Karriere’ getaggte Beiträge

Familie und Karriere als Frau

Eine Diskussion zum Buch Professorin werden

Die dreifache Mutter Regula Kyburz-Graber schildert im Buch Professorin werden ihren herausfordernden Karriereweg. Die Geschichte handelt von enttäuschender Forschung, veralteten Rollenbildern genauso wie von Sinnhaftigkeit, Hartnäckigkeit, einem fortschrittlichen Betreuungsmodell und grossen Chancen. Den roten Faden bildet die Frage «Wie wird man Professorin?».

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Alba Lopez

Als junge angehende Wissenschaftlerin fühlte ich mich vom Buch direkt angesprochen. Nur zu gut konnte ich mich in die ambitionierte Studentin hineinversetzen, die an die Forschung den Anspruch der Sinnhaftigkeit stellt. Die überzeugt ist, mindestens genauso viel leisten zu können wie ein Mann und die Karriere und Familie nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Bereicherung versteht. So fieberte ich auf knapp 200 Seiten mit ihr mit und nahm an ihrer persönlichen Entwicklung teil. Fühlte mich beim Lesen in die Anfänge meines Studiums zurückversetzt, schwelgte in Erinnerungen an meine Erlebnisse an der Universität Zürich (UZH) und malte mir meine eigene berufliche Zukunft aus. Trotz Parallelen wurde mir schnell bewusst, dass die Welt, in die mich Regula Kyburz-Graber entführte, nicht der heutigen, nicht der meinen entspricht. Vieles, das ich als selbstverständlich annehme, war zur Zeit ihres Karriereweges noch nicht gegeben – vieles, das ihren Weg erleichtert hätte.

«Die Frauen waren die Eindringlinge in diese wohlabgeschirmte akademische Welt, sie mussten sich anzupassen wissen.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 114

Eine besondere Zeit, eine besondere Frau

Als Regula Kyburz-Graber 1970 volljährig wurde, war Frauen das Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz noch verwehrt. Die Forderung nach Gleichberechtigung war für sie stets eine Selbstverständlichkeit. Bewusst wählte sie mit Biologie an der ETH einen für Frauen untypischen Studiengang, um zu beweisen, dass Frauen genau so gut wie Männer ein naturwissenschaftliches Studium bewältigen können. Während des Studiums lernte sie Peter kennen, den sie noch vor ihrem Abschluss heiratete. Als Konkubinatspaar in Zürich eine Wohnung zu bekommen, wäre damals unmöglich gewesen. Da sie ihren Familiennamen Graber und damit ihre Herkunft und Identität nicht verlieren wollte, nutzte sie fortan den rechtlich nicht verbindlichen Doppelnamen Kyburz-Graber. Um neben dem Studium Geld zu verdienen, bewarb sie sich – obwohl sie keinerlei Erfahrung besass – erfolgreich als Lehrerin an der Bezirksschule Baden.

Enttäuscht von der Forschung

Ihre Diplomarbeit schrieb Regula Kyburz-Graber im Bereich der Molekulargenetik. Die Atmosphäre im Labor – unter all den Männern – beschreibt sie als gedämpft, trostlos und kompetitiv. Über Ängste oder Zweifel wurde nicht gesprochen und Spott gehörte zur Gesprächskultur. Ihre anfängliche Begeisterung für die Forschung schwand und der Gang zum Labor fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.

«Bis die einst glorifizierte Forschungswelt für mich einstürzte und ich mir schliesslich eines Tages eingestehen musste: So will ich nicht Forschung betreiben.» Kyburz-Graber, 2020, S. 32

Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage, so kämpfte sich sie sich durch. Trotz der enttäuschenden Erfahrung liess sie auch nach dem Abschluss des Studiums 1973 der Wunsch nicht mehr los, in der wissenschaftlichen Forschung berufliche Erfüllung zu finden.

«Aber Sinn musste die Forschung machen, einen bedeutsamen Beitrag für die Gesellschaft leisten, so malte ich mir gute Forschung in meinem jugendlichen Idealismus aus.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 33

Ihr eigener Weg, eine Sackgasse?

Die Suche von Regula Kyburz-Graber nach sinnhafter Forschung endete in der Überzeugung, dass Unterrichtsforschung ihr neues Forschungsgebiet werden sollte. Vorbilder fand sie für dieses Vorhaben keine, betont aber, dass sie sich noch nie an Vorbildern orientiert habe. Schon immer wollte sie ihren eigenen Weg gehen und liess sich selten helfen – so auch in der Forschung. Die Arbeit an der Dissertation musste sie durch Unterrichten querfinanzieren. Zu dieser Zeit dachte sie noch nicht an eine akademische Karriere. Ihr prioritäres Ziel war es, das Verständnis für ökologische Zusammenhänge bei Jugendlichen zu untersuchen und so den Ökologieunterricht voranzubringen.

«Da sass ich nun, eine 26-jährige, erwartungsvolle Wissenschaftlerin voller Tatendrang. Und niemand schien auf mich gewartet zu haben. Niemand interessierte sich für meine wissenschaftlichen Erkenntnisse.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 41

Nach ihrer Dissertation erlebte Regula Kyburz-Graber eine Durststrecke. Ihre Bewerbungen im Bereich der Lehre waren erfolglos. Vermutlich wurden Männer mit langjähriger Erfahrung und keine jungen Wissenschaftlerinnen gesucht. Sie fragte sich, ob all die Investitionen umsonst gewesen waren, und versank in Selbstmitleid, Wut, Angst und Trauer darüber, trotz bester Qualifikation ignoriert zu werden.

Türen öffnen sich

Das Blatt wendete sich, als Regula Kyburz-Graber 1977 ein Nachwuchsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds erhielt. Ein Jahr lang forschte sie an der Universität Kiel zum Thema «Schülerzentrierter Biologieunterricht». Sie nahm an wissenschaftlichen Debatten teil, erlebte eine gute Forschungsatmosphäre und lernte Autor*innen von Fachliteratur kennen. So brachte sie neue Ideen, Forschungswissen und Zuversicht nach Hause. Nach ihrem Forschungsjahr öffnete sich eine Tür nach der anderen. Unter anderem erhielt sie einen Lehrauftrag für Biologiedidaktik an der ETH, war Oberassistentin an der ETH und der UZH für Umweltlehre, leitete die Lehrplankommission «Integrierte Naturlehre», entwickelte Lehrmittel und vertrat die Schweiz an zahlreichen internationalen Konferenzen zur Umweltbildung. Nicht selten war sie dabei die Einzige oder eine der einzigen Frauen. In den Jahren darauf war sie in der Forschung an der ETH sowie in nationalen und internationalen Kooperationen tätig, Projektleiterin der Schweiz im internationalen OECD Projekt «Environment and School Initiatives» und Gastprofessorin an der Deakin University in Australien.

«Ich fühlte mich nun beflügelt und war getragen vom Gefühl, dass ich meinen Platz in der Berufswelt gefunden hatte.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 56

Ehefrau, Mutter und Wissenschaftlerin

Als Regula Kyburz-Graber heiratete, wusste sie bereits, dass sie keine traditionelle Hausfrauenrolle übernehmen würde. Peter und sie, beide wollten einer interessanten Karriere nachgehen und beide hatten einen Kinderwunsch. Mit dem Beginn der Familiengründung vereinbarten sie, die Familienarbeit partnerschaftlich zu teilen. Peter reduzierte sein Pensum zuerst auf 90 und dann auf 80 Prozent – in einer Zeit, in der dies alles andere als üblich war. Mit der Geburt von Tochter Andrea 1979 stand das Kind an erster Stelle und gab den Takt sowie die Tagesstruktur vor. Mit der Zeit lernte Regula Kyburz-Graber ihre Tätigkeiten an die Bedürfnisse von Andrea anzupassen. Schlief Andrea, erledigte sie Aufgaben, die viel Konzentration benötigten, wollte Andrea herumgetragen werden, machte sie gleichzeitig Hausarbeiten, übernahm Peter die Betreuung, kümmerte sie sich um Termine ausserhalb. Sie pendelte zwischen der Betreuung des Kindes und ihren beruflichen Tätigkeiten. Ständig fühlte sie sich unter Zeitdruck.

«Es fühlte sich an, als hätte ich gestutzte Flügel. Flügel hatte ich zweifellos, nur das Abheben gelang nicht mehr.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 72

An manchen Tagen fragte sie sich, ob sie je wieder im Beruf aufholen könne und ob das Ohnmachtsgefühl, etwas zu verpassen, normal sei. Zugleich empfand sie Neid gegenüber den jungen Vätern, die wie bisher weiterarbeiten konnten und von der neuen Vaterrolle – die Stabilität und Verlässlichkeit verkörperte – sogar noch profitierten.

Logische Konsequenz der Gleichberechtigung

1982 kam Tochter Denise und zwei Jahre später Sohn Stephan zur Welt. Die Doppelbelastung und das Gefühl, den beruflichen Anschluss verloren zu haben sowie die Karriere zu vernachlässigen, stieg. Als Stephan drei Jahre alt war, spürte Regula Kyburz-Graber, dass sich etwas ändern müsse. Als sie dies unter Tränen der Wut und Enttäuschung ihrem Mann mitteilte, bot dieser an, sein Arbeitspensum auf 60 Prozent zu reduzieren. Regula Kyburz-Graber beschreibt dies als neue Freiheit, die sie sich gegenseitig gegeben hatten, aus Sicht der Gleichberechtigung sei es aber lediglich die logische Konsequenz. Die Reduktion des Beschäftigungsgrades führte dazu, dass Peter nicht mehr Teil der Geschäftsleitung sein konnte. Trotz dessen erarbeitete er sich eine Position als schweizweit anerkannter Spezialist für Kooperationen in der Landwirtschaft.

Frau Professorin

Eines Tages entdeckte Regula Kyburz-Graber ein Inserat der Philosophischen Fakultät der UZH, das wie auf sie zugeschnitten war. Es handelte sich um ein halbes Extraordinariat für Gymnasialpädagogik. Als nach langem Warten ihr erster Platz bestätigt wurde, war sie endlos glücklich und erleichtert. So wurde Regula Kyburz-Graber 1998 die erste Professorin an einem Höheren Lehramt in der Schweiz und die erste Professorin in der Pädagogik an der UZH. Sie baute ein interdisziplinäres Lehrstuhlteam auf, an dem unter anderem auch Psycholog*innen arbeiteten. 2004 wird sie Prodekanin für Ressourcen an der Philosophischen Fakultät, ein Jahr später ordentliche Professorin und 2007 auf eigene Initiative die neue Direktorin des Instituts für Gymnasial- und Berufspädagogik der UZH.

Forderung nach Gleichstellung

Um das Jahr 2000 wurde an der UZH die Forderung nach der Berufung von Frauen immer lauter. Um dem gerecht zu werden, wurde bei Ausschreibungen das Anstreben eines höheren Frauenanteils angegeben. Regula Kyburz-Graber war der Meinung, dass es diesen Satz nicht bräuchte, wenn Frauen in der frühen Karrierephase angemessen gefördert würden. Zudem beobachtete sie, dass Angaben zur privaten Lebenssituation für Frauen hinderlicher waren als für Männer. Waren Frauen unverheiratet, so wurde befürchtet, dass ihnen die emotionale Unterstützung fehle. Hatten sie keine Kinder, wurden Fragen zur Situation des Mannes gestellt, hatten sie Kinder, wurde ihre Verfügbarkeit und Belastbarkeit bezweifelt.

Obwohl aktuell 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, beträgt der Frauenanteil unter den Professor*innen lediglich 23 Prozent (Schärer, 2021). Stets arbeitet die UZH an der Chancengleichheit, beispielsweise werden zunehmend Teilzeitprofessuren angeboten (Gull, 2020). Mehr dazu unter http://www.gleichstellung.uzh.ch.

Als Regula Kyburz-Graber 1998 Professorin wurde – 30 Jahre nach der Berufung der ersten Professorin an die UZH – waren lediglich sieben Prozent der Professor*innen Frauen und dies, obwohl der Frauenanteil unter den Studierenden bei knapp 50 Prozent lag. Professorinnen mit Kindern gab es laut Regula Kyburz-Graber nur ganz selten. Zudem beschreibt sie, dass die Professorinnen keinen besonderen Kontakt untereinander pflegten und sich daher Solidarität unter Frauen kaum entwickelte. Jede ging ihren eigenen Weg.

Steinig, aber lohnend

Regula Kyburz-Graber verdeutlicht in ihrem Buch «Professorin werden», dass sie es als Frau und Mutter auf dem akademischen Karriereweg nicht immer einfach hatte und bestimmt schwerer als Männer mit ähnlichen Qualifikationen. Das Buch ist voller lebhafter Anekdoten, die diese Schwierigkeiten veranschaulichen. Gleichzeitig macht sie den Leser*innen klar, dass sich dieser Weg für sie gelohnt hat, und sie glücklich auf ihn zurückblickt. Sie zeigt auf, wie viel sich seit ihrem Karrierebeginn geändert hat, aber auch, wie viel sich noch ändern muss. Veraltete Rollenbilder, Vorurteile und strukturelle Hürden. Auf subtile Weise hält sie den Leser*innen den Spiegel vor und regt sie zum Nachdenken an. Habt ihr je (innerlich) einen Vortragenden für seine Kleidung kritisiert? Und eine Vortragende? Habt ihr je Defizite in der Lehre eines Professors mit hoher Fachkompetenz entschuldigt? Habt ihr je darüber nachgedacht, dass Frauen ohne Militärerfahrung einen Karrierenachteil haben, aufgrund fehlender Führungserfahrung und verpasster Chance, ein Netzwerk aufzubauen?

Trotz zahlreicher Einblicke in das Leben von Regula Kyburz-Graber bleibt ihre Gefühlswelt den Leser*innen in vielen Situationen verwehrt. Was hat sie wohl empfunden, als ihr Mann zum wiederholten Mal als Herr Professor angesprochen und sie als die treu besorgte Ehefrau angenommen wurde? Auch lässt sie die Leser*innen leider nicht daran teilhaben, wie sie den Stress der Doppelbelastung und der Unsicherheit bewältigte und ihre psychische Gesundheit schützte.

Mutmacher für junge Wissenschaftler*innen?

Trotz vielen Herausforderungen haben Regula Kyburz-Graber und ihr Mann ihr Ziel erreicht. Beide übten eine berufliche Tätigkeit aus, die sie erfüllte und konnten parallel die Entwicklung ihrer Kinder unterstützen. Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: «Wenn es damals ohne unterstützende gesellschaftliche Rahmenbedingungen möglich war, dann heute erst recht!». Ferner beschreibt sie, wie ihre Familie ihre Karriere positiv beeinflusste. Sie habe dank der Familie gelernt, flexibel zu sein, sich zu organisieren, genau zuzuhören, gemeinsam nach geeigneten Lösungen zu suchen sowie Entscheide, wenn nötig, zu revidieren. Überdies demonstriert sie, dass sinnhafte Forschung es wert ist, sich dafür einzusetzen und, dass auch scheinbar zerstückelte Biografien am Ende zusammenpassen sowie wenig gradlinige Karrierewege erfolgreich sein können. Diese Ausführungen können junge Wissenschaftler*innen im Hinblick auf ihre Karriere zuversichtlich stimmen.

Manche Leser*innen mögen die vielen Hürden, denen Regula Kyburz-Graber auf ihrem Karriereweg begegnete, vielleicht eher abschrecken. So erzählt sie, dass ihre drei Kinder ihre akademische Karriere aufgrund der riesigen Doppelbelastung und der Unsicherheiten als nicht nachahmenswert empfinden.

Ratgeber für junge Wissenschaftler*innen?

Regula Kyburz-Graber macht mehr als klar, wie wichtig es für ihre Karriere war, die Familienarbeit mit ihrem Mann zu teilen. Dieses partnerschaftliche Familienmodell ist gemäss ihr der Schlüssel zur Karriere als Frau und damit zur Gleichstellung. Wenn Männer nicht die gleiche Verantwortung in der Familie übernähmen, würde die grosse Arbeitslast mit Berufs- und Familienarbeit weiterhin einseitig bei den Frauen liegen, schreibt sie. Damit dies möglich ist, müssen beide Partner*innen bereit sein, ihren Beschäftigungsgrad zu reduzieren und die Arbeitgeber*innen müssen solche Teilzeitstellen zur Verfügung stellen.

Auch weitere Ratschläge lassen sich dem Buch entnehmen. So beschreibt Regula Kyburz-Graber beispielsweise, wie wichtig es ist, sich immer wieder über seine kurz- und langfristigen Ziele bewusst zu werden. Sie teilt mit, dass man seinen eigenen – für sich sinnhaften – Weg gehen soll und betont, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. Zudem empfiehlt sie an Diskussionen aktiv teilzunehmen, um Kontakte zu knüpfen sowie Impulse zu erhalten. Auch das Verbinden von Empathie und Selbstbewusstsein, einen interdisziplinären Forschungsansatz und ein hohes Mass an Flexibilität gibt sie als bedeutsam an.

Dankbarkeit

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, verspürte ich Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber Regula Kyburz-Graber und allen anderen Frauen, die den Weg für zukünftige Generationen ebneten. Die einerseits bewiesen, dass Frauen erfolgreich akademische Karrieren einschlagen können und anderseits, dass sich diese mit dem Gründen einer Familie verbinden lässt. Dankbarkeit für all die Entwicklungen der letzten Jahre, die das Kombinieren von Karriere und Familie erleichterten und den Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung antrieben. Besser denn je verstand ich nun die Wichtigkeit von kleinen und grossen strukturellen Veränderungen wie Blockzeiten, Mittagstischen, Homeoffice und Teilzeitarbeit auf der einen Seite, und Entwicklungen in der Einstellung der Gesellschaft, wie verständnisvollen Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen, von Frauenförderung sowie partnerschaftlichen Familienmodellen auf der anderen. Das Ziel der Gleichstellung ist noch nicht erreicht, aber es wird besser. Wenn ich heute durch die Gänge der UZH laufe, fühle ich mich nicht als Eindringling in diese akademische Welt, sondern als Teil davon.


Zum Weiterlesen

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt.

Literatur

Gull, T. (2020). Buchvernissage Professorin werden. Universität Zürich. https://www.news.uzh.ch/de/articles/2020/buchvernissage_professorin_werden.html

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt. Schärer, A. (2021). Gleichstellung und Diversität. Universität Zürich. https://www.gleichstellung.uzh.ch/de/gleichstellungsmonitoring

Ich publiziere, also bin ich

Spannung zwischen Publikationsdruck und guter Wissenschaft

«Veröffentliche oder gehe unter» ist das aktuell vorherrschende Prinzip bei (Nachwuchs-) Wissenschaftler*innen. «Publiziere so viele Studien wie möglich, am besten mit signifikanten Ergebnissen». Was ist problematisch daran und welche Konsequenzen hat das für die Wissenschaft?

Von Madita Schindler
Lektoriert von Anja Blaser und Jovana Vicanovic
Illustriert von Shaumya Sankar

Möchten junge Wissenschaftler*innen eine Karriere in der Forschung einschlagen, werden aktuell immer noch vorwiegend quantitative Indizes wie die Anzahl der Publikationen in renommierten Fachzeitschriften – sogenannten Journals – verwendet, um die Qualifikation der Bewerbenden zu prüfen (Abele-Brehm & Bühner, 2016). Das bedeutet, dass Wissenschaftler*innen, die sehr viele Artikel in anerkannten Fachzeitschriften publizierten, prinzipiell bessere Chancen auf eine Karriere in der Forschung haben. Als Konsequenz entsteht ein immenser Druck, möglichst viel zu publizieren (Abele-Brehm & Bühner, 2016). Dieser Umstand wird in wissenschaftlichen Kreisen als «publish or perish» bezeichnet – veröffentliche oder gehe unter (Van Dalen, 2021). Die Verwendung der Anzahl der Publikationen im Bewerbungsverfahren wirkt auf den ersten Blick nicht unvernünftig, denn viele Artikel bedeuten viele Forschungsprojekte und somit mehr Qualifikation für eine Karriere in der Forschung. Aber auf den zweiten Blick ergeben sich jedoch Probleme. Um das zu verstehen, ist es wichtig, die Hintergründe zur Veröffentlichung in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu kennen.

«Publikationen sind das Hauptbewertungskriterium wissenschaftlicher Leistung und stellen damit eine wesentliche Bedingung für eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere dar.»

Domes et al., 2018, S. 2

Vom Manuskript zur Publikation

Bevor ein Artikel veröffentlicht wird, muss zunächst ein Manuskript bei der Zeitschrift eingereicht werden (Domes et al., 2018). Dieses Manuskript wird nun von der Redaktion auf inhaltliche Passung zum Journal geprüft. Anschliessend durchläuft es einen sogenannten «Peer Review»: Es wird von zwei bis drei unabhängigen Reviewer*innen (Wissenschaftler*innen, die Spezialist*innen im gleichen Fachbereich sind) bezüglich inhaltlicher Korrektheit, wissenschaftlicher Standards, Erkenntnisgewinn und weiterer Kriterien bewertet. Der Artikel kann ganz abgelehnt werden, oder eventuell werden Verbesserungsvorschläge gegeben und er kann erneut eingereicht werden. Wenn ein Manuskript das Gutachten besteht und von der Redaktion angenommen wird, wird es im Journal veröffentlicht. Dieser Prozess des Peer Reviews kann oftmals bis zu einem Jahr dauern. Eine solche Qualitätsprüfung ist angesichts des hohen wissenschaftlichen Standards absolut notwendig (Domes et al., 2018).

Dennoch gibt es hier ein Problem: De facto werden signifikante Studienergebnisse, welche eine vorher aufgestellte Hypothese bestätigen, wahrscheinlicher publiziert als nicht signifikante (François et al., 2020). Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Veröffentlichung von negativen, also nicht signifikanten Ergebnissen ebenso wichtig wie die von positiven. Insgesamt ist aber die Mehrheit der veröffentlichten Befunde positiv, obwohl die meisten Studien wegen zu kleiner Stichprobengrössen gar nicht signifikant werden dürften (François et al., 2020).

«On one hand, the overwhelming majority of published findings are statistically significant […]. On the other hand the overwhelming majority of published studies are underpowered and, thus, theoretically unlikely to obtain results that are statistically significant.»

Nelson et al., 2018, S. 514

Ein enormer Druck

Es existiert unter Wissenschaftler*innen also ein enormer Druck zu publizieren, wobei signifikante Ergebnisse bessere Chancen auf ein positives Gutachten haben, da Herausgeber*innen von Journals ungern Nulleffekte publizieren (Krammer & Svecnik, 2020). Dieser Umstand hat – abgesehen vom psychischen Druck für die Forschenden – auch negative Auswirkungen auf wissenschaftliche Qualitätsstandards und die Forschungspraxis.

Auswirkungen auf die Wissenschaft

Eine Folge ist, dass der Anreiz für innovative Fragestellungen und Hypothesen gering ist (Hanitzsch, 2016). Einige Forschende wollen mit geringstmöglichem Aufwand eine maximale Anzahl von Publikationen erreichen. «Revolutionäre» Ideen sind aufwendiger zu erforschen und die Ergebnisse sind weniger wahrscheinlich signifikant als die von Folgestudien ohne viel Erkenntnisgewinn zu bereits gut erforschten Fragestellungen (Hanitzsch, 2016). Deshalb werden oft unoriginelle, aber aufgrund der guten methodischen Umsetzung «publishable» Manuskripte eingereicht. Die Folge ist laut Hanitzsch (2016) dann «Normalwissenschaft und konzeptionelle Stagnation».

Des Weiteren gibt es einen – nicht ganz eindeutigen – Zusammenhang zwischen Publikationsdruck und der bewussten oder unbewussten Verwendung fragwürdiger Forschungspraktiken (François et al., 2020). Solche Methoden umfassen unter anderem «p-Hacking» (nachträgliche Anpassung der Testparameter, um den p-Wert künstlich unter die 5 Prozent Grenze zu drücken und ein signifikantes Ergebnis zu erhalten) und «HARKing» (Hypothesising after the results are known, also eine Hypothese erst aufzustellen, nachdem die Ergebnisse bekannt sind). Diese Methoden sind nach wissenschaftlichen Standards nicht erlaubt, allerdings unter Umständen schwer nachzuverfolgen. Ihre Verwendung hat negative Auswirkungen auf die Gesamtdatenlage und auf die Qualität von Wissenschaft allgemein (François et al., 2020).

Welche Massnahmen sollten ergriffen werden, um das Spannungsfeld zu reduzieren?

Was kann nun getan werden, um die Spannung zwischen Publikationsdruck und wissenschaftlicher Qualitätssicherung aufzulockern? Nach Frey und Osterloh (2014) muss das Problem auf institutioneller Ebene angegangen werden. Ein Vorschlag, um den Publikationsdruck zu verringern, kommt von Abele-Brehm und Bühner (2016): Statt quantitative Indizes könnten beispielsweise in Berufungsverfahren die wichtigsten drei Publikationen der letzten fünf Jahre, ausgewählt durch den*die Bewerber*in, herangezogen werden, welche dann in der Berufungskommission diskutiert werden. So wird der Fokus mehr auf die Qualität der Studien und weniger auf die blosse Anzahl der Publikationen gelegt (Abele-Brehm & Bühner, 2016). Der aktuelle Trend geht bereits in diese Richtung: An der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde zum Beispiel die Anzahl erforderlicher Publikationen für eine kumulative Promotion auf zwei Artikel festgelegt (Schönbrodt & Scheel, 2017).

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Open Science Bewegung. Open Science bezeichnet eine Wissenschaftspraxis, die auf transparentes, zugängliches Wissen setzt und bei der alle Wissenschaftler*innen, Studierende oder Interessierte – sprich die Öffentlichkeit – Zugriff auf Forschungsdaten haben (Schönbrodt & Scheel, 2017). Zur Würdigung gibt es hier die Möglichkeit, Studien mit Open Science Badges zu kennzeichnen (Schönbrodt & Scheel, 2017).

Peer Review

Reviewer*innen sind Wissenschaftler*innen, die Spezialist*innen im gleichen Fachbereich sind wie die Autor*innen des Papers (Domes et al., 2018). Es werden üblicherweise mindestens zwei Reviewer*innen durch das Editorial Office des Journals ausgewählt. Sie arbeiten unentgeltlich und haben in der Regel zwei bis sechs Wochen Zeit, das Manuskript zu überprüfen und unabhängige Gutachten mit konkreten Verbesserungsvorschlägen zu verfassen. Reviewer*innen haben einen grossen Einfluss auf die Veröffentlichung des Artikels, da sich der*die Redakteur*in oft an ihre Empfehlung hält (Domes et al., 2018).

Eine zentrale Praktik von Open Science ist die sogenannte Präregistrierung von Studien (Krammer & Svecnik, 2020). Dabei werden vor der Durchführung der Studie die Hypothesen, Methoden und Analyseverfahren öffentlich festgelegt, sodass nachträgliche Änderungen nachvollziehbar werden. Dadurch wird beispielsweise die Verwendung von p-Hacking und HARKing erschwert. Eine Präregistrierung könnte nach Krammer und Svecnik (2020) nicht nur von den Forschenden selbst durchgeführt, sondern auch von Journals in den Peer Review-Prozess eingebunden werden. Ein vorläufiges Manuskript würde hier nach Planung der Studie und vor der eigentlichen Durchführung eingereicht. Wenn das Manuskript vorläufig angenommen wird, kann die Studie theoretisch unabhängig von den Ergebnissen veröffentlicht werden. Sogenannte Registered Reports würden es ermöglichen, auch nicht signifikante Studien leichter zu publizieren (Krammer & Svecnik, 2020).

Ein weiteres Kernelement ist Open Data: Die Offenlegung von (Roh-)Daten unter Wahrung des Datenschutzes (Krammer & Svecnik, 2020). So können alle Auswertungsschritte besser nachvollzogen und überprüft werden (Krammer & Svecnik, 2020). Beispiele für Open Data-Plattformen für psychologische Forschung sind PsychData oder Data.World – Psychology.

Fazit

Das Problem «publish or perish» wird in wissenschaftlichen Kreisen seit mehreren Jahren diskutiert. In Bezug auf die optimale Strategie und die Verantwortung der beteiligten Parteien gibt es teilweise Uneinigkeiten. Worüber aber übereingestimmt wird, ist, dass aktuell ein Spannungsfeld besteht, welches es aufzulösen gilt.


Zum Weiterlesen

Conradi, F. (2021). Publish or perish: Publikationsdruck gefährdet die wissenschaftliche Forschung. Berliner Zeitung. https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/publish-or-perish-viele-publikationen-richten-mehr-schaden-als-nutzen-an-li.160022

Schrum, A., & von Aster, E. (2021). Publish or perish – Publizieren in der Wissenschaft. SWR2. https://www.swr.de/swr2/wissen/publish-or-perish-publizieren-in-der-wissenschaft-swr2-wissen-2021-02-06-100.html

Waaijer, C. J., Teelken, C., Wouters, P. F., & van der Weijden, I. C. (2018). Competition in science: Links between publication pressure, grant pressure and the academic job market. Higher Education Policy, 31(2), 225–243. doi: 10.1057/s41307-017-0051-y

Literatur

Abele-Brehm, A. E., & Bühner, M. (2016). Überlegungen zur Optimierung von Berufungsverfahren in der Psychologie. Psychologische Rundschau, 67 (4), 262–275. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000333

Conradi, F. (2021). Publish or Perish: Publikationsdruck gefährdet die wissenschaftliche Forschung. Berliner Zeitung. https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/publish-or-perish-viele-publikationen-richten-mehr-schaden-als-nutzen-an-li.160022

Domes, G., Ditzen, B., & Bart, J. (2018). Wissenschaftliches Publizieren in der Psychologie. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56683-1_

François, K., Coessens, K., Vinckier, N., & Van Bendege, J. P. (2020). Regulating Academic Pressure: From Fast to Slow. Journal of Philosophy of Education, 54 (5), 1419–1442. https://doi.org/10.1111/1467-9752.12493

Frey, B. S., & Osterloh, M. (2014). Schlechte Behandlung des wissenschaftlichen Nachwuchses und wie man das ändern könnte. Ökonomenstimme. Verfügbar unter: http://oekonomenstimme.org/a/757

Hanitzsch, T. (2016). Impact und Normalwissenschaft – Die Fachzeitschrift als Treiber einer neuen Wissenschaftskultur. Publizistik, 61, 41–50. https://doi.org//10.1007/s11616-015-0250-8

Krammer, G., & Svecnik, E. (2020). Open Science als Beitrag zur Qualität in der Bildungsforschung. Zeitschrift für Bildungsforschung, 10, 263–278. https://doi.org/10.1007/s35834-020-00286-z

Nelson, L. D., Simmons, J., & Simonsohn, U. (2018). Psychology´s Renaissance. Annual Review of Psychology, 69, 511–534. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-122216-011836

Schönbrodt, F. D., & Scheel, A. (2017). FAQ zu Open Data und Open Science in der Sportpsychologie. Zeitschrift für Sportpsychologie, 24 (4), 134–139. https://doi.org/10.1026/1612-5010/a000217

Schrum, A., & Von Aster, E. (2021). Publish or perish – Publizieren in der Wissenschaft. SWR2. https://www.swr.de/swr2/wissen/publish-or-perish-publizieren-in-der-wissenschaft-swr2-wissen-2021-02-06-100.html

Van Dalen, H. P. (2021). How the publish-or-perish principle divides a science: the case of economists. Scientometrics, 126, 1675–1694. https://doi.org/10.1007/s11192-020-03786-x

Waaijer, C. J., Teelken, C., Wouters, P. F., & van der Weijden, I. C. (2018). Competition in science: Links between publication pressure, grant pressure and the academic job market. Higher education policy, 31(2), 225–243. https://doi.org/10.1057/s41307-017-0051-y

Waaijer, C. J., Teelken, C., Wouters, P. F., & van der Weijden, I. C. (2018). Competition in science: Links between publication pressure, grant pressure and the academic job market. Higher education policy, 31(2), 225–243. https://doi.org/10.1057/s41307-017-0051-y