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Mit ‘Ernährung’ getaggte Beiträge

Was gibt’s zu essen?

Und was macht das mit der Psyche und dem subjektiven Wohlbefinden?

«Du bist, was du isst». Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, hat grossen Einfluss auf unser tagtägliches Leben. Die Forschung berichtet von diversen Zusammenhängen zwischen Ernährung und Gesundheit. Wie sieht es mit mentaler Gesundheit und subjektivem Wohlbefinden aus?

Von Isabelle Bartholomä
Lektoriert von Marina Reist und Andrea Frei
Illustriert von Alba Lopez

«Was gibt’s heute zu essen?» Diese Frage stellen wir uns alle täglich in verschiedenen Kontexten. Sei es, weil wir zum Abendessen bei Bekannten eingeladen sind, weil die Gedanken nach stundenlangem Büffeln in der Bibliothek abschweifen, oder einfach, weil wir gerade ein Hungergefühl verspüren. Was wir in welcher Situation dann tatsächlich essen, hängt von vielen verschieden Faktoren ab: von Körpergefühl, Körperwahrnehmung, Geschmacksvorlieben, Lebensalter, Geschlecht, Gewohnheiten, Alltagsabläufen, soziokultureller Zugehörigkeit, aktuell verfügbarer Zeit, persönlichem Wissen, Fertigkeiten, Nahrungsangebot und so weiter (Sauter, 2020). Je nach Person fliessen zu unterschiedlichem Ausmass in die Entscheidung auch Wissen und Überzeugungen zu gesunden Ernährungsweisen ein. Kein Fleisch zu essen ist beispielsweise mit vielen Vorteilen für die körperliche Gesundheit verbunden, wie zum Beispiel einem geringeren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, tieferem Blutdruck und reduziertem Risiko für Übergewicht, Typ 2 Diabetes und Dickdarmkrebs (Costa et al., 2019). Gibt es darüber hinaus Zusammenhänge mit Variablen psychischer Gesundheit?

Nährstoffe und psychische Gesundheit

Bei einer Lebenserwartung von 75 Jahren und drei Mahlzeiten pro Tag nimmt der Mensch in seinem Leben ungefähr 80‘000 Mahlzeiten zu sich (Sauter, 2020). Dabei wirkt sich sowohl das Essverhalten auf die Psyche aus als auch umgekehrt die Psyche auf das Essverhalten. Alkohol hebt die Stimmung, enthemmt oder macht aggressiv. Schokolade kann Glücksgefühle hervorrufen. Andererseits essen und trinken Menschen nicht nur, weil sie Hunger und Durst haben, sondern auch aus Trauer, Langeweile, Freude, Geselligkeit, Stress oder weil sie sich belohnen wollen. Mahlzeit haben auch eine starke soziale Komponente. So kann beispielsweise ein gemeinsamer Kaffee als Hilfsmittel zur Beziehungsaufnahme dienen (Sauter, 2020). Obwohl es also beim Essen um deutlich mehr geht als nur die Aufnahme von Nährstoffen, sind diese durchaus von Bedeutung, wenn es um Variablen psychischen Wohlbefindens geht.

Firth und Kollegen (2020) liefern einen Überblick über die komplexen Einflüsse von Ernährung und Nährstoffen auf das Gehirn und die Psyche. So zeigt beispielsweise längsschnittliche Forschung einen Zusammenhang zwischen raffinierten Kohlenhydraten und dem Einsetzen von depressiven Symptomen. Kalorienreiches Essen, das reich an gesättigten Fettsäuren ist, scheint das Immunsystem zu aktivieren und entzündende Effekte zu haben, die wiederum mit kognitivem Abbau, Dysfunktion des Hippocampus (einer Hirnstruktur, die mit dem Gedächtnis in Zusammenhang steht) und Beeinträchtigungen der Blut-Hirn-Schranke zusammenhängen. Umgekehrt können antiinflammatorische Nährstoffe und Ernährungsweisen (z. B. mediterrane Ernährung, siehe auch Owen & Corfe (2017)) depressive Symptome reduzieren. Dieser Zusammenhang ist jedoch sehr komplex und wird beispielsweise durch Stressoren und die persönliche Krankheitsgeschichte mit Depressionen beeinflusst. Firth und Kollegen (2020) fassen zusammen, dass sich möglicherweise eine vermehrt gesunde, nährstoffreiche Ernährung und die gleichzeitige Reduktion von stark verarbeiteten «Junkfoods» über die bekannten Vorteile für die körperliche Gesundheit hinaus auch in einem verbesserten psychologischen Wohlbefinden zeigen können.

Beziehungen von Vegetarier*innen

Vegetarismus ist nicht nur eine Ernährungsform, sondern kann einen wichtigen Teil der sozialen Identität darstellen (Nezlek & Forestell, 2020). Insofern gibt es auch Zusammenhänge mit sozialen Beziehungen. Beispielsweise erleben Vegetarier*innen Sticheleien von Freund*innen und Familienmitgliedern, sowie Mikroaggressionen (Pfeiler & Egloff, 2020). Ausserdem können die Unterschiede in den Werten zu «vegetarian threat» führen, also dass Fleischessende eine Bedrohung ihrer eigenen Werte durch Vegetarier*innen wahrnehmen (Nezlek, Cypryanska, & Forestell, 2021). Bleiben Letztere also vermehrt unter sich? Eine Reihe von Studien von Nezlek, Cypryanska und Forestell (2021) mit Amerikaner*innen und Pol*innen zeigt, dass Vegetarier*innen deutlich wahrscheinlicher vegetarische Freunde haben. Ausserdem haben sie mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine*n vegetarische*n Partner*in, im Vergleich zu 4 Prozent der Fleischessenden. Tatsächlich scheinen Vegetarier*innen also Beziehungen zu Personen mit ähnlichem Ernährungsstil zu präferieren.

Vegetarische und vegane Ernährungsweise

Spezifische Ernährungsweisen, welche zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten, sind einerseits die vegetarische Ernährung, die auf Fleisch verzichtet, und andererseits die vegane Ernährung, die alle tierischen Produkte aus dem Menüplan streicht. In der Forschung werden diese Ernährungsformen oft nicht getrennt untersucht, sondern in einen Topf geworfen, oder der Fokus wird nur auf Vegetarier*innen gelegt. Nezlek und Forestall (2020) schlagen vor, Vegetarismus als soziale Identität im Sinne der Social Identity Theory nach Taijfel und Turner (1979, zitiert nach Nezlek & Forestell, 2020) zu betrachten. Das beinhaltet, dass Personen sich und andere in Gruppen kategorisieren, die Ideen, Meinungen, Wissen und Überzeugungen – in diesem Fall zur fleischlosen Ernährung – teilen, und die eigene Gruppe als besser und heterogener als andere Gruppen wahrgenommen wird. Vegetarismus als soziale Identität geht also über ernährungsbezogene Präferenzen hinaus. Vielmehr hat die Wahl der Ernährung auch die Funktion, Ideale und Identitäten auszudrücken, und kann die breitere Lebensphilosophie einer Person repräsentieren (Nezlek & Forestell, 2020).

«Being a vegetarian is more socially visible and has more implications for one’s social life than eating less meat has.»

Nezlek & Forestell, 2020, 47

Auch Veganismus kann eine Form von Aktivismus, beziehungsweise eine politische Ernährung werden, mit der Personen ihre Ernährung mit ihren ethischen und moralischen Einstellungen in Einklang bringen können (Costa et al., 2019). Aus Interviews mit zehn australischen Veganerinnen leiten Costa und Kollegen (2019) ab, wie junge Frauen sich auf ihrem Weg zum Veganismus verändern. Zunächst verfügen die Frauen über starke ethische Einstellungen bezüglich Tierrechten. Sie identifizieren sich mit der veganen Subkultur und verändern ihren eigenen Lebensstil deutlich, nicht nur bezogen auf Ernährung, sondern auch auf ihre Identität. Die Frauen erleben einige positive Veränderungen in der Beziehung zu sich selbst, anderen Personen, Tieren und der Umwelt. Die Identifikation als Veganerin scheint ihre Beziehung zum Essen zu verbessern, genauso wie ihr Wohlbefinden (Costa et al., 2019).

Menschen, die sich freiwillig vegetarisch ernähren, weisen eher liberale politische Sichtweisen auf, legen Wert auf Umweltschutz, Gleichbehandlung und soziale Gerechtigkeit und sind gegen Autoritarismus, die Todesstrafe und Gewalt im Allgemeinen (Nezlek & Forestell, 2020). Sie sind empathischer und altruistischer als Fleischessende. Jedoch zeigt die Forschung, dass Vegetarier*innen auch schlechter angepasst, neurotischer, depressiver und ängstlicher sind, sowie häufiger schlechte Stimmung haben. Dafür gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten. Einerseits kann es sein, dass Nährstoffmangel aufgrund vegetarischer Ernährung zu Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit führt. Eine andere Erklärung besteht darin, dass Vegetarier*innen als soziale Minderheit – sie machen in westlichen, industrialisierten Ländern maximal 10 Prozent der Population aus – abgewertet werden und oft soziale Ablehnung und Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft, den Fleischessenden, erfahren. Ausserdem könnte das geringere Wohlbefinden daraus resultieren, dass die ausgeprägtere prosoziale Haltung und das Klimabewusstsein der Vegetarier*innen sie mehr unter den bestehenden sozialen und umweltbezogenen Missständen leiden lassen. Es stellt sich somit auch die Frage der Kausalitätsrichtung, also ob die vegetarische Ernährung zu schlechterem Wohlbefinden führt, oder ob Personen mit geringerem Wohlbefinden sich eher vegetarisch ernähren (Nezlek & Forestell, 2020).

Es gibt jedoch auch Zweifel daran, ob Vegetarier*innen tatsächlich ein geringeres subjektives Wohlbefinden aufweisen. Beispielsweise kann die Diskriminierung als Vegetarier*in oder Veganer*in zu erhöhter Identifikation mit der jeweiligen Gruppe führen und dadurch das Wohlbefinden steigern (Pfeiler & Egloff, 2020). Pfeiler und Egloff (2020) stellten fest, dass Studien zu diesem Thema sehr inkonsistente und teilweise widersprüchliche Ergebnisse liefern und haben sich der Fragestellung mit zwei repräsentativen Stichproben aus Deutschland und Australien angenommen. Die Vegetarier*innen wiesen jeweils leicht höhere Werte in negativem Affekt auf, jedoch auch in Zufriedenheit mit ihrem Gesundheitszustand und in der deutschen Stichprobe auch mit Lebenszufriedenheit. Bei positivem Affekt gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Vegetarier*innen und Fleischessenden. Da jedoch das subjektive Wohlbefinden und die Ernährungsweise auch mit Variablen wie Alter und Geschlecht zusammenhängen, wurde in einem zweiten Analyseschritt für demografische Variablen kontrolliert, also der Effekt derselben statistisch herausgerechnet. Danach zeigte sich nur noch ein sehr kleiner Effekt beim negativen Affekt, was darauf schliessen lässt, dass die Effekte der Ernährung auf das subjektive Wohlbefinden vernachlässigbar sind, zumindest gemittelt über eine grosse Stichprobe hinweg (Pfeiler & Egloff, 2020). Interessant wäre es zu untersuchen, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Vegetarier*innen gibt.

Auch Rossa-Roccor und Kollegen (2021) fanden keinen Zusammenhang zwischen pflanzenbasierter oder tierischer Ernährungsweise mit Indikatoren für mentale Gesundheit und Lebensqualität in einer kanadischen Stichprobe. Da selbstberichtete Essgewohnheiten jedoch typischerweise zu einer Unterschätzung der Effektgrössen führt, fordern die Autor*innen zu weiterer Forschung hierzu auf.

Biolebensmittel

Mit dem Zusammenhang zwischen Biolebensmitteln und subjektivem Wohlbefinden haben sich Apaolaza und Kollegen (2018) beschäftigt. In zwei Studien mit einer spanischen und einer australischen Stichprobe fanden sie heraus, dass das Konsumieren von Biolebensmitteln zu einem erhöhten subjektiven Wohlbefinden führt, wobei die Überzeugung, dass «bio» gesund ist, und das Interesse an der eigenen Gesundheit eine Rolle spielten. Dabei könnte es sich rein um einen Labeleffekt handeln, da sich der Unterschied auch zeigte, als zwei Versuchspersonengruppen den gleichen konventionellen Orangensaft mit oder ohne Biolabel tranken. Da Biolebensmittel zusätzlich zur Wohlbefindenssteigerung auch besser für die Umwelt sind, scheint es dennoch sinnvoll, den Konsum derselben zu fördern (Apaolaza et al., 2018).

«Still, even with only a psychological label effect in place, an increase in subjective wellbeing should be welcomed.»

Apaolaza et al., 2018, 59

Genuss

Ein weiterer Ansatz zur Herangehensweise an eigene Essensentscheidungen besteht darin, den Genuss zu maximieren. Laut Schönberger und Schmitt (2008) macht das vor dem Hintergrund der Betrachtungsweise von Gesundheit als über die Abwesenheit von Krankheit hinausgehend auch Sinn. Denn Genuss, hier gekennzeichnet von Sinnlichkeit, Lust und Reflexivität – also auch von Selbstkontrolle und Masshalten – kann Einfluss auf die Widerstandsressourcen gegen Stressoren haben und somit auch auf das Wohlbefinden (Schönberger & Schmitt, 2008). Schuldgefühle hingegen, die beispielsweise durch das Nicht-Erreichen von Ernährungszielen wie Vegetarismus ausgelöst werden könnten (Pfeiler & Egloff, 2020), können Stress erzeugen. Insofern plädieren Schönberger und Schmitt (2008) dafür, einen schuldfreien Umgang mit Genuss anzustreben.

  

Was gibt’s?

Die Antwort auf die Frage «Was gibt’s heute zu essen?» ist individuell und in jeder Situation abhängig von vielen Faktoren. Unsere Ernährungsweise kann mehr oder weniger stark unsere Identität bestimmen. Die Zusammenhänge mit psychischen Variablen wie mentaler Gesundheit und Wohlbefinden sind komplex. Die vielleicht einfachste und beste Antwort könnte also sein: «Etwas, das Freude bereitet».


Zum Weiterlesen

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Eat organic – Feel good? The relationship between organic food consumption, health concern and subjective wellbeing. Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Literatur

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Costa, I., Gill, P. R., Morda, R., & Ali, L. (2019). “More than a diet”: A qualitative investigation of young vegan Women’s relationship to food. Appetite, 143, 104418. https://doi.org/10.1016/j.appet.2019.104418

Firth, J., Gangwisch, J. E., Wootton, R. E., & Mayer, E. A. (2020). Food and mood: how do diet and nutrition affect mental wellbeing? BMJ, 369, m2440. https://doi.org/10.1136/bmj.m2382

Nezlek, J. B., Cypryanska, M., & Forestell, C. A. (2021). Dietary similarity of friends and lovers: Vegetarianism, omnivorism, and personal relationships. The Journal of Social Psychology, 161(5), 519-525. https://doi.org/10.1080/00224545.2020.1867042

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Owen, L., & Corfe, B. (2017). The role of diet and nutrition on mental health and wellbeing. Proceedings of the Nutrition Society, 76, 425-426. https://doi.org/10.1017/S0029665117001057

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Rossa-Roccor, V., Richardson, C. G., Murphy, R. A., & Gadermann, A. M. (2021). The association between diet and mental health and wellbeing in young adults within a biopsychosocial framework.PLOS ONE, 16(6), e0252358. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0252358

Sauter, D. (2020). Essen und Trinken, alltäglich und existentiell. Psychiatrische Pflege, 5(2), 9-12. https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000288

Schönberger, G., & Schmitt, N. (2008). Wie viel Genuss tut gut? Fakten, Trends und Meinungen, 1. https://www.gesunde-ernaehrung.org/Themenpapiere.html

Gestörtes Essverhalten bei Männern

Ein aufgrund weiblicher Stereotypisierung verkanntes Phänomen

Essstörungen tragen wegen des hohen Anteils an weiblichen Betroffenen unter Laien wie auch unter Fachpersonen den Stempel «Frauenerkrankungen». Die Symptomatik wird durch die Assoziation mit dem weiblichen Geschlecht von männlichen Betroffenen vermehrt verleugnet und von Behandlungspersonen fehlinterpretiert.

Von Nina Rutishauser
Lektoriert von Michelle Donzallaz und Yésica Martinez 
Illustriert von Daniel Skoda

Neulich fragte mich eine Freundin, ob es Essstörungen bei Männern überhaupt gebe – ein Ausdruck davon, dass diese primär mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wer glaubt, dass sich dieser Geschlechterbias auf Laien beschränkt, der irrt sich. Der Fokus auf Mädchen und Frauen lässt sich auch in mancher Fachliteratur finden. Jacobi und de Zwaan (2011) sprechen zum Beispiel in ihrem Kapitel zu Essstörungen im umfassenden Werk Klinische Psychologie & Psychotherapie überwiegend von «Patientinnen». Essstörungen bei Jungen und Männern werden scheinbar wenig wahrgenommen und thematisiert. Dieser Artikel ist ein Versuch, das Bild der Essstörung als «Frauenerkrankung» aufzubrechen: Es wird ein Licht auf die Selbst- und Fremdstigmatisierung und die Hürden in der ärztlich-psychologischen Diagnostik und Therapie männlicher Betroffener geworfen, die durch den jahrzehntelangen Fokus auf Frauen entstanden sind.

Essstörungen bei Mann und Frau

Das Geschlechterverhältnis bezüglich Essstörungsprävalenzen erklärt, weshalb diese im Zusammenhang mit Jungen und Männern wenig Beachtung finden. Das Verhältnis von Frauen zu Männern beträgt für Anorexia nervosa (AN) 10:1 und für Bulimia nervosa (BN) etwa 20:1(Jacobi & de Zwaan, 2011). Da Essstörungen bei männlichen Patienten unterdiagnostiziert werden, ist aber davon auszugehen, dass diese Zahlen deren Anzahl unterschätzen (Murray et al., 2017; Raevuori, Keski-Rahkonen, & Hoek, 2014). Einzig von der Binge-Eating-Störung (BES) sind Frauen «nur» etwa 1.5-mal häufiger betroffen als Männer (Jacobi & de Zwaan, 2011). In Bezug auf subklinisch auffälliges Essverhalten scheint der Geschlechtsunterschied sogar fast gänzlich zu verschwinden (National Eating Disorder Association [NEDA], 2018).

Auf die Symptomatik der AN, BN und BES wird im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen. In Bezug auf die Kernsymptome scheint es aber zwischen den Geschlechtern keine bedeutenden Unterschiede zu geben (Woodside et al., 2001). Einige geschlechtsspezifische Merkmale seien dennoch erwähnt. Eine endokrine Störung, die bei AN aufgrund des Untergewichts entstehen kann, äussert sich bei Frauen zum Beispiel durch Ausbleiben der Menstruation. Das männliche Pendant ist der Libido- und Potenzverlust (Dechene, 2008). Im Unterschied zu Frauen scheinen sich anorektische Männer zudem weniger am tiefen Gewicht zu orientieren als an der Form der Figur, wobei betonte Muskeln bei einem gleichzeitig schlanken Körper eine zentrale Rolle spielen (Murray et al., 2017; Strober et al., 2006).

Im Schatten der Frau

Bereits vor 100 Jahren wurden rapide Gewichtsabnahmen und restriktives Essverhalten bei Männern in medizinischen Werken festgehalten. Gestörtes Essverhalten wurde jedoch anderen psychiatrischen Störungen untergeordnet (Murray et al., 2017). Anders als bei Frauen wurde die Körperschemastörung – die Wahrnehmung, zu dick zu sein – bei Männern lange im Kontext wahnhaften Verhaltens eingeordnet, womit Patienten, die eigentlich an einer Essstörung litten, als schizophren diagnostiziert wurden (Mangweth-Matzek, 2015). In einer Zeitperiode, in der sich Diagnostik und Behandlungsmodalitäten rapide weiterentwickelten, führte dies ausserdem dazu, dass sich klinische Studien vorwiegend an Frauen ausrichteten (Murray et al., 2017). Weniger als ein Prozent der wissenschaftlichen Publikationen zu AN sind laut Murrary, Griffiths und Mond (2016) dem männlichen Geschlecht gewidmet.

Prominente Beispiele von Essstörungen bei Männern

Zu den Männern mit Bekanntheitsgrad, die unter einer Essstörung litten, gehören beispielsweise Elton John (Sänger) und John Prescott (ehemaliger britischer Vizepremierminister). Letzterer gab in seiner Biografie an, den Stress seines Amtes jahrelang mit Essanfällen und Erbrechen bewältigt zu haben (Zeit, 2008). Caleb Followill, Lead-Sänger der Band Kings of Leon, kämpfte zum Ende seiner Adoleszenz mit Magersucht (The Irish Times, 2014). Essstörungen sind auch im Leistungssport nicht wegzudenken, insbesondere in Sportarten, in denen ein niedriges Gewicht von Vorteil sein kann wie im Eiskunstlauf und Skispringen. Bahne Rabe, Olympia-Sieger im Ruder-Achter, verstarb 2001 an den Folgen seiner Magersucht und der Skispringer Stephan Zünd «ernährte» sich vor seinem Rücktritt zugunsten einer Therapie nur noch von Wasser (Schweizer Radio Fernsehen, 2015).

Der einseitige Fokus auf Frauen hat für betroffene Männer weitreichende Konsequenzen. Die Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung ist bei Betroffenen mit Essstörungen allgemein gering, aber noch geringer bei Männern (Murray et al., 2017). Es besteht diesbezüglich die Annahme, dass Männer einem «doppelten» Stigma ausgesetzt sind: einerseits durch das Leiden an einer psychischen Erkrankung und andererseits durch die Charakterisierung der Essstörung als «weiblich» oder «schwul» (NEDA, 2018). In einer Studie in Grossbritannien gaben männliche Essstörungspatienten an, durch die Fehlvorstellung, nur «fragile jugendliche Mädchen» litten an Essstörungen, ihre Symptome nicht als essgestört erkannt zu haben (Räisänen & Hunt, 2014). Die Stereotypisierung der Essstörung verzögert die Inanspruchnahme ärztlich-psychologischer Hilfe und lässt das Fortschreiten der Symptomatik gewähren, was sich wiederum negativ auf den Störungsverlauf und das Behandlungsergebnis auswirken kann (Griffiths et al., 2015).

«[…] men with eating disorders are underdiagnosed, undertreated, and misunderstood by many clinicians who encounter them.»

Strother, Lemberg, Stanford, & Turberville, 2012, S. 346

Überwindet ein Betroffener die Hürde, sich an eine Fachperson zu wenden, bestehen weitere Schwierigkeiten in der Diagnostik. Das fehlende Bewusstsein für die Präsenz von Essstörungen in männlichen Patientenpopulationen fördert nicht nur bei den Betroffenen und deren Umfeld das Verkennen der Symptomatik. Dies kann auch bei Fachpersonen zum späten Erkennen der Essstörung beziehungsweise zu Fehldiagnosen führen (Räisänen & Hunt, 2014). Ein zusätzlicher Grund, weshalb die Symptomatik bei Männern unterschätzt wird, könnte darin liegen, dass ein Grossteil der Diagnostikinstrumente für Essstörungen (zum Beispiel strukturierte Interviews) auf Frauen ausgerichtet ist (Mangweth-Matzek, 2015). Männer erzielen tendenziell tiefere Werte auf Essstörungsskalen, obwohl sie sich in der Kernsymptomatik kaum von Frauen unterscheiden (Raevuori et al., 2014).

Vom Schatten ins Licht

Die Schulung von Fachpersonen, insbesondere von Hausärzten|innen als Ansprechpersonen, zur Früherkennung von Essstörungen bei Jungen und Männern, ist ein notwendiger Schritt zur effizienten Behandlung Betroffener. In der Diagnostik wurden bereits Fortschritte erzielt. Die Kriterien für eine AN im DSM-5 wurden geschlechtsneutral formuliert, was die Diagnosestellung bei Männern erleichtert (APA, 2013; Raevuori et al., 2014). Räisanen und Hunt (2014) schlagen zudem eine Hervorhebung der männlichen Patientenpopulation in den internationalen, klinischen Leitlinien vor. Fachpersonen können so im Behandlungsprozess «männlicher» Essstörungen besser angeleitet werden. Trotz geringer Unterschiede in der Kernsymptomatik bei Männern und Frauen wird empfohlen, in der Therapie auch geschlechtsspezifische Themen aufzugreifen. Das Verständnis darüber, wie sich körperbezogene Ideale und Sorgen zwischen Essstörungspatienten und -patientinnen unterscheiden birgt beispielsweise für die Behandlung der Körperschemastörung bei männlichen Patienten grosse Vorteile (Strother et al., 2012).

«Although 100 percent of such programs in the United States accept females, only about 20 percent also accept males with a much smaller subset offering male-only treatment groups.»

Goldstein, Alinsky, & Medeiros, 2016, S. 371

In Behandlungsinstitutionen lässt sich erwartungsgemäss eine Überzahl an Frauen finden. Dies kann bei männlichen Patienten das «kulturelle Stigma» ihrer Essstörung verstärken. Es empfiehlt sich folglich ein therapeutisches Umfeld (zum Beispiel eine Gruppentherapie) mit Betroffenen gleichen Geschlechts (NEDA, 2018), was aber noch kaum angeboten wird (siehe Goldstein et al., 2016). Rücken männliche Betroffene mehr ins Licht, kann dies den Anstoss dafür geben, auf Männer zugeschnittene Diagnostikinstrumente zu entwickeln und Behandlungssettings anzubieten. Nur wenn die Psychiatrie dieser vernachlässigten Patientenpopulation gerecht wird, vermag sich auch in der Gesellschaft der Mythos der Essstörung als «Frauenerkrankung» auflösen.


Zum Weiterlesen

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

Literatur

American Psychiatric Association [APA]. (2013). Feeding and Eating Disorders. Abgerufen auf https://www.psychiatry.org/…/APA_DSM-5-Eating-Disorders.pdf [16. Juni 2018]

Dechene, M. (2008). Essstörungen bei Männern. Blickpunkt der Mann, 6(3), 20–22.

Jacobi, C., & de Zwaan, M. (2011). Essstörungen. In Klinische Psychologie & Psychotherapie (Wittchen, H.-U., & Hoyer, J., Hrsg). Heidelberg: Springer.

Goldstein, M. A., Alinsky, R., & Medeiros, C. (2016). Males with restrictive eating disorders: Barriers to their care. Journal of Adolescent Health, 59, 371–372.

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

National Eating Disorders Association [NEDA]. (2018). Eating Disorders in Men and Boys. Abgerufen auf https://www.nationaleatingdisorders.org/learn/general-information/research-on-males [15. Juni 2018]

Räisänen, U., & Hunt, K. (2014). The role of gendered constructions of eating disorders in delayed help-seeking in men: a qualitative interview study. BMJ Open, 4(4), 1–8.

Schweizer Radio Fernsehen. (2015). Mehr Training, weniger Essen – Magersucht bei Sportlern. Abgerufen auf https://www.srf.ch/sendungen/puls/psyche/mehr-training-weniger-essen-magersucht-bei-sportlern [15. Juni 2018]

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355.

The Irish Times. (2014). The hidden problem of male anorexia. Abgerufen auf https://www.irishtimes.com/life-and-style/health-family/the-hidden-problem-of-male-anorexia-1.1753391 [11. Juli 2018]

Woodside, D. B., Garfinkel, P. E., Lin, E., Goering, P., Kaplan, A. S., Goldbloom, D. S., & Kennedy, S. H. (2001). Comparisons of men with full or partial eating disorders, without eating disorders, and women with eating disorders in the community. American Journal of Psychiatry, 158, 570–574.

Zeit. (2008). Gestanden. Abgerufen auf https://www.zeit.de/2008/18/Gestanden [15. Juni 2018]