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Mit ‘Depression’ getaggte Beiträge

Depression und Suizidalität – die Erfahrungen von Angehörigen

Über Gedanken, Gefühle und Herausforderungen im Alltag mit einem von Depression und Suizidalität betroffenen Vater.

15 von 1000 Todesfällen in der Schweiz sind Suizide. 9% der Schweizer*innen leiden an Depressionen (Bundesamt für Statistik, o.J.a, o.J.b). Davon betroffen sind auch Angehörige; zwei davon erzählen von ihren individuellen Gedanken, Ängsten und Wünschen und hoffen, damit zur Enttabuisierung der beiden Themen beizutragen.

Von Student*innen des Vereins Mindful[L] der UZH
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Isabelle Bartholomä

Nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch das Leben der Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen wird durch diese Erkrankungen stark beeinträchtigt. Es ist besonders wichtig,dass diese Menschen nicht vergessen werden, sondern dass ihnen Unterstützung angeboten und ihren Herausforderungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch Angehörige sollen Hilfe bekommen und diese vor allem auch in Anspruch nehmen. (Weiterführende Informationen finden sich in der Infobox.)

Die im Folgenden dargestellten Erfahrungsberichte sind sehr individuell und sollten keinesfalls als Generalisierung für alle Betroffenen und deren Angehörige dienen. Sie sollen vielmehr einen tiefen und ehrlichen Einblick in das Erleben von Angehörigen geben.

Mehr Raum für Angehörige

Meine Jugend war stark durch die Depression meines Vaters geprägt.

Diese hat viel Raum in unserer Familie und somit auch in meinem Leben eingenommen. Es war ein sich ständig wiederholendes Auf und Ab, zu dem leider auch mehrere Suizidversuche gehörten. Der Gedanke, dass der eigene Vater nicht mehr weiterleben möchte, war hart und bei jedem weiteren Suizidversuch wurde ich schwächer, irgendwie auch wütender und ungeduldiger. Dass er dazu bereit gewesen wäre, uns mit diesem Schmerz alleine zurückzulassen, hat mich sehr verletzt und auch enttäuscht.

Die ständige Angst, es könnte wieder passieren, hat mich und mein Verhalten stark geprägt. Unbewusst habe ich mir angewöhnt, wie auf Eierschalen zu laufen. Damit wollte ich verhindern, ihn mit meinen Handlungen noch zusätzlich zu belasten oder in irgendeiner Art zu triggern. Letzteres beschreibt das Auslösen einer starken emotionalen (hauptsächlich negativen) Reaktion durch einen äusseren Einfluss (hier: meine Handlung). Diese Neigung trage ich auch heute noch in mir. Ich habe eine Erwartungshaltung entwickelt, aufgrund derer mein Herz bei jedem Anruf meiner Mutter schneller zu schlagen begann, weil ich immer das Schlimmste befürchtete. Und auch heute geschieht mir das noch ab und zu. Die Angst, es könnte wieder von vorne beginnen, begleitet mich weiterhin in meinem Leben.

Jede*r Angehörige reagiert, fühlt und verhält sich anders. Dabei gibt es kaum ein Richtig oder Falsch. Einigen Angehörigen geht es wie mir: Oft dachte ich, dass ich selbst nicht leiden und klagen darf, weil ich meinem Vater helfen und für ihn stark sein musste und dies auch selber unbedingt wollte. Dabei rückte meine eigene Belastung oft in den Hintergrund.

Was wir euch mit auf den Weg geben möchten

Bitte verwendet bei diesem Thema nicht die Begriffe Selbstmord oder Freitod, denn dies kann für Betroffene sehr verletzend sein. Selbstmord ist ein veralteter Begriff, welcher als Beurteilung der Tat verstanden wird und einen kriminellen Akt beschreibt. Der Begriff Freitod deutet auf eine selbstbestimmte Tat hin und somit auf eine freie Entscheidung. Dies ist es keinesfalls, denn suizidgefährdete Menschen befinden sich in einer Notlage, in einem Zustand extremen Leidens, aus welchem sie sich befreien wollen. Als eine freie Entscheidung kann das nicht verstanden werden (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.).
Die Mehrheit aller Suizidhandlungen sind Impulshandlungen, da der momentane seelische Schmerz nicht ausgehalten werden kann.
Suizidabsichten konnten bei 68 – 80 Prozent der Patient*innen in weniger als 2 Tagen; bei 90 – 99 Prozent in weniger als 10 Tagen in der Klinik behandelt werden (Bronisch & Hegerl, 2011).

Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein für die Herausforderungen, mit denen die Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen zu kämpfen haben, in unserer Gesellschaft mehr Platz findet und vor allem auch bei den Betroffenen selbst vorhanden ist. Es ist völlig in Ordnung, manchmal nicht mehr weiter zu wissen und es ist akzeptabel und sogar ausserordentlich wichtig, sich auch mal zurückzuziehen, auf sich selbst zu achten und bei Bedarf Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Mein Alltag als Suizidhinterbliebene*r

Im Alltag wird man oft mit der Frage nach seinen Eltern konfrontiert. Wenn ich sage, dass mein Papa nicht mehr lebt, kommt manchmal die Frage auf, warum man im Alter von 23 Jahren keinen Vater mehr hat. Darauf antworte ich immer ehrlich, dass er sich suizidiert hat. Oft merke ich dann schnell, dass es doch niemand so genau wissen möchte. Trotzdem antworte ich so, weil ich die Stigmatisierung und das Tabu satt bin und mit der Reaktion der Personen umgehen kann. Es ist mir egal, wie sich die andere Person mit meiner Antwort fühlt, denn ich fühle mich auch nicht gut mit der Tatsache, dass sich Menschen das Leben nehmen. Dies ist aber leider die Realität. Weisst du, wie viele Personen sich das Leben in der Schweiz nehmen? Jährlich sind es etwa 1000 Personen (Bundesamt für Statistik, 2021), assistierte Suizide sind davon ausgeschlossen. Gemäss einer schweizerischen Gesundheitsbefragung kam es im Jahr 2017 zu 33´000 Suizidversuchen. Es wird von einer grossen Dunkelziffer ausgegangen (Peter & Tuch, 2019). Weiter nimmt man an, dass zwischen 18-40% der Bevölkerung im Laufe des Lebens Suizidgedanken haben (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.). Als Reaktion auf meine Geschichte wird mir überraschend oft entgegnet, dass mein Gegenüber eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Dies zeigt sich auch in den Zahlen der WHO, welche davon ausgeht, dass bei jeder suizidierten Person durchschnittlich 5-7 Angehörige von den Folgen mitbetroffen sind (AGUS e.V., o.J.). Angehörige haben nach dem Tod eines suizidierten Familienmitglieds ein signifikant höheres Risiko, selber psychisch zu erkranken. Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder die eigene Suizidalität sind einige Beispiele von häufigen psychischen Erkrankungen von Angehörigen (Wagner et al., 2021).

« And maybe I put everything I have
into helping others
because at the end of the day-
I don’t know how to help myself.
Self-prescription medicine doesn’t seem to help
So what can I really do
He said he marvels at my strive to help others
He said that’s the best character a person can have
And I smile and take the compliment
But I feel no pride, no satisfaction
I know I wouldn’t do it if I wasn’t just like them
I know I wouldn’t do it if I could heal myself
I know I wouldn’t do it if I didn’t need to be needed.
This is the only way I know to help myself
I do this because keeping others alive –
keeps me alive.»

Student*in des Vereins Mindful[L] der UZH, 2021

Neben der Trauer haben Angehörige auch mit einer starken Stigmatisierung zu kämpfen. Sei es nun der Arbeitgeber, dem man sich anvertraut und der einem nachfolgend keine Belastung zumutet oder die Kaderposition, welche man nicht bekommt, weil man in Therapie ist oder war. Es fühlt sich für mich wie eine Doppelstigmatisierung an, weil ich Hilfe in Anspruch genommen habe.

Etwas Gutes habe ich aber aus der Erfahrung gelernt. Ich habe Bewusstsein für die Tatsache entwickelt, dass die Zeit, welche ich zur Verfügung habe, ein Ablaufdatum hat. Ich habe mich schon sehr früh mit der Frage auseinandergesetzt, wer ich sein und was ich werden will und tue dies auch heute noch.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich (mindestens) so oft an meinen toten Vater wie an meine Mutter denke, werde ich sehr selten nach meinem Vater gefragt. Meine Tanten und Onkel fragen mich oft nach meiner Mutter, aber nur selten nach meinem Vater. Genau darum ist es mir unglaublich wichtig, das Thema zu entstigmatisieren. Ich will gefragt werden, wie es mir mit meinem Papa geht. Ich will Geschichten über ihn hören, denn mein Papa ist so viel mehr als nur sein Suizid. Ich will nicht behandelt werden, als wäre ich in Watte gepackt, als hätte ich keinen Vater oder als hätten meine Verwandten ihn nie gekannt. Denn ich habe einen Papa, einfach einen toten. Ich will dir auch sagen können, dass ich mich grad schlecht fühle, weil ich meinen Papa vermisse und ich möchte, dass du damit umgehen kannst. Und ich möchte, dass alle, welche mein Schicksal teilen, auch die Möglichkeit haben, nach ihren Gefühlen gefragt zu werden, eine Therapie machen und fröhlich sein zu dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden.


Zum Weiterlesen

Hilfestellen

Mehr zum Thema Depression, Suizidalität und den Umgang von Angehörigen mit diesen Themen

  • VASK Schweiz

https://www.vask.ch/de/Bewaeltigungshilfen/Situation-der-Angehoerigen/Belastung/Belastung-Fortsetzung

Literatur

AGUS e.V. (o.J.). Angehörige nach Suizid. https://www.agus-selbsthilfe.de/info-zu-suizid/tod-durch-suizid/angehoerige-nach-suizid/

Bronisch, T. & Hegerl, U. (2011). Suizidalität. In H.-J. Möller et al. (Eds.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (4th ed., pp. 2659-2691). Springer.

Bundesamt für Statistik. (2021). Suizidmethoden nach Geschlecht. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.assetdetail.19444410.html

Bundesamt für Statistik. (o.J.). Spezifische Todesursachen. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html

Bundesamt für Statistik. (o.J.). Psychische Gesundheit. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/psychische.html#par_headline_1677393895

Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung. Obsan Bulletin 7. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_bulletin_2019-07_d_0.pdf

Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Suizid oder Selbstmord? Warum wir von Suizid und nicht von Selbstmord sprechen. https://www.suizidpraevention-zh.ch/ich-bin-in-der-krise/erwachsene/wie-kann-ich-mir-helfen/gespraechstipps/zur-wortwahl/

Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Wie häufig sind Suizide? https://www.suizidpraevention-zh.ch/mehr-wissen-ueber-suizid/einige-zahlen/wie-haeufig-sind-suizide/

Wagner, B., Hofmann, L., & Grafiadeli, R. (2021). Wirksamkeit von Interventionen für Hinterbliebene nach einem Suizid: Ein Systematischer Review. Psychiatrische Praxis, 48(01), 9–18. https://doi.org/10.1055/a-1182-2821

Papa geht es nicht gut

Warum sich die Forschung zu wenig mit paternaler Depression auseinandersetzt

Väter, die nach der Geburt ihres Kindes an einer depressiven Störung leiden, werden in der Forschung kaum thematisiert – im Gegensatz zu Müttern. Aber warum eigentlich? Und was sind die Folgen dieser Forschungslücke für die Väter und für ihre Familien?

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Rebekka Stähli

Nach der Geburt ihres Kindes stehen Eltern vor vorhergesehenen und unvorhergesehenen Herausforderungen. Weltweit leiden unter anderem deswegen bis zu 13 Prozent der schwangeren Frauen und frischgebackenen Mütter an psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen (World Health Organisation, n.d.) – Dabei spricht man von einer maternalen Depression. Kein Wunder also, dass die WHO (n.d.) maternale, psychische Störungen als eines der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit bezeichnet. Doch während maternale Depression einigen ein Begriff ist, sind vermutlich viele nicht mit der paternalen Depression vertraut. Diese bezeichnet eine Depressivität bei werdenden oder neu gewordenen Vätern (American Academy of Pediatrics, 2018).

Papa leidet auch

Nach der Geburt ihres Kindes stehen auch Männer vor einer herausfordernden Zeit. Genauso wie ihre Partner*innen werden sie mit dem wichtigen Übergang zur Elternschaft und allen damit verbundenen, praktischen und psychischen Herausforderungen konfrontiert (Psouni & Eichbichler, 2019). Zusätzlich wird oft von ihnen erwartet, dass sie ihr berufliches Engagement beibehalten und persönliche Bedürfnisse zurückstellen. Diese Belastung führt zu einer hohen Vulnerabilität (Psouni et al., 2017; Rominov et al., 2018), die sich in der postnatalen Zeit in Form von depressiven Symptomen manifestieren kann (Cameron et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).

«Most of the reviewed studies suffer from methodological limitations, including the small sample, the lack of a structured psychiatric diagnosis, and inclusion bias. Despite such limitations, paternal depression seems to be associated with an increased risk of developmental and behavioural problems and even psychiatric disorders in offspring.»

Gentile & Fusco, 2017, p. 325

Zu wenig Forschung

Obwohl die Vulnerabilität und die damit verbundene, potenzielle depressive Störung bestätigt sind, ist die paternale Depression an sich, wie auch deren Auswirkungen wenig untersucht (Paulson et al., 2006). Eine kurze Suche mit Hilfe von Google Scholar bestätigt die Behauptung von Paulson und Kollegen (2006), dass es wenige Studien zu diesem Thema gibt. Wird der Begriff maternal depression gesucht, werden etwa 744‘000 Treffer erzeugt. Im Vergleich dazu führt die Suche mit paternal depression nur zu circa 53’500 Treffern (Stand: 12. März 2020). Dieser massive Unterschied ist leider kein Relikt vergangener Zeit. Schränkt man die Suche durch einen aktuelleren Zeitraum ein, ist immer noch das gleiche Muster erkennbar. Interessanterweise existiert diese Diskrepanz nur in Bezug auf parentale Depression. Es gibt kaum Unterschiede in der Anzahl Treffer zwischen den Begriffen female depression und male depression. Das heisst, dass nur Männer in der Rolle als Väter und nicht Männer im Allgemeinen in der Forschung zu Depressionen vernachlässigt werden.

Die Frage nach dem Warum

Doch was sind die Gründe für diese Diskrepanz? Insgesamt kann man vier Umstände beschreiben, die als Erklärungen für die Unterschiede dienen können. Erstens haben gewisse Männer zum Teil die Neigung, ihre depressive Symptomatik als weniger stark anzugeben, als sie eigentlich ist (Seidler et al., 2016). Die Symptome werden also entweder als zu schwach oder als nicht vorhanden eingeschätzt. Dies könnte zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Männer nicht oder in geringerem Maße als Frauen an elterlichen Depressionen leiden, so dass es weniger dringlich scheint, dieses Thema spezifisch zu untersuchen.

Zweitens verspüren und zeigen Männer im Vergleich zu Frauen oftmals andere Symptome. Häufig drücken Männer Depressionen durch externalisierendes Verhalten aus (Rutz, 1996), wie Wutanfälle, Drogenmissbrauch und Risikoverhalten, oder sie zeigen stärkere körperliche Belastung durch eine Somatisierung (Danielsson & Johansson, 2005; Kim & Swain, 2007; Martin et al., 2013; Rodgers et al., 2014; Schumacher et al., 2008). Diese externalisierenden Verhaltensweisen werden von medizinischem Fachpersonal nicht immer als depressive Symptome erkannt (Rutz, 1996), so dass eine korrekte Diagnostizierung dieser Männer unwahrscheinlich ist. Zudem leiden einige Männer an weiteren, weniger offensichtlichen depressiven Symptomen, was vermehrt zu Fehldiagnosen führen kann (Psouni et al., 2017).

Risikofaktoren für paternale Depression (American Academy of Pediatrics, 2018):

  • Schwierigkeiten eine Bindung mit dem eigenen Kind aufzubauen
  • Das Fehlen eines guten männlichen Vorbildes
  • Das Fehlen von sozialer Hilfe und Unterstützung
  • Veränderungen in der Beziehung zum*r Ehepartner*in
  • Gefühle wie Eifersucht oder Exklusion aufgrund der Beziehung zwischen Ehepartner*in und Kind
  • Maternale Depression
  • Stress aufgrund von Finanzen oder Arbeit
  • Tiefes Level an Testosteron

Der dritte Grund für die Diskrepanz im aktuellen Forschungsstand bezüglich maternaler und paternaler Depression ist eng mit den erwähnten Unterschieden in der Symptomatik verknüpft. Die Messinstrumente zur Beurteilung der paternalen Depression sind nicht an die externalisierenden Symptome angepasst (Rice et al., 2013). Dadurch wird die Symptomatik nicht vollständig erfasst. Zudem werden die verfügbaren Skalen selten mit ausreichend großen Stichproben getestet und die psychometrische Entwicklung der Fragebögen sind oftmals fehlerhaft (Rice et al., 2013). Dies führt unter anderem zu stark variierenden Prävalenzraten bei väterlichen Depressionen (Cameron et al., 2016), dadurch erscheint die Notwendigkeit umfassender Forschung als zu gering.

Der letzte mögliche Grund für die Diskrepanz ist, dass Väter, im Vergleich zu Müttern, in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt an parentaler Depression erkranken (Edward et al., 2015; Psouni et al., 2017). Während maternale Depression in der Regel während der Schwangerschaftszeit oder innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes auftritt, hat die Prävalenzrate der paternalen Depression ihren Höhepunkt 12 Monate nach der Geburt des Kindes (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011). Verheerend ist hier, dass die meisten Studien zur parentalen Depressionen ihre Teilnehmer*innen nur innerhalb des ersten postnatalen Jahres untersuchen (Psouni et al., 2017). Väter werden also während ihrer kritischen Phase in vielen Studien gar nicht erst erfasst. Es ist immer noch unklar, wie eine paternale Depression nach dem ersten Jahr nach der Geburt des Kindes verläuft.

Folgen der Vernachlässigung

Was sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Unterschiede und dem Mangel an Forschung bei parentaler Depression? Wie bereits erwähnt, scheint die depressive Symptomatik bei Männern im Vergleich zu Frauen weniger oft als solche erkannt zu werden.

Zusätzlich suchen Männer seltener Hilfe auf. In einer Studie gab weniger als die Hälfte der männlichen Teilnehmer mit depressiven Symptomen an, dass sie bereit wären, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Massoudi, 2013). Gewisse Stigmata oder Geschlechternormen könnten es Männern erschweren, als Schwächen wahrgenommene Erlebens- oder Verhaltensmuster einzugestehen(Lohan et al., 2014; Strother et al., 2012). Die daraus resultierende Behandlungslücke könnte durch den Mangel an Forschung zum Thema paternalen Depression verstärkt werden. Weniger Wissen über Verlauf und Risiken der paternalen Depression gehen vermutlich mit einem Mangel an Präventionsmöglichkeiten und spezifischen Interventionen einher. Generell gibt es weniger Interventionen, die spezifisch für Männer entwickelt wurden im Vergleich zu Frauen (Doley et al., 2020). All das kann zu einer Versorgungslücke führen, die einen noch schwerwiegenderen Eindruck hinterlässt, wenn man sich die Folgen einer paternalen Depression vor Augen führt.

Folgende Hilfsstellen können Vätern (und Müttern) helfen oder sie an die richtigen Stellen weiterleiten:

Neben zahlreichen Büchern liefern folgende Websites Informationen rund um das Thema Vater werden und sein:

Eine depressive Störung des einen Elternteils beeinflusst auch den Gemütszustand des anderen. Paternale postnatale Depression korreliert stark mit maternaler postnataler Depression (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011; Goodman, 2004; Ramchandani et al., 2011). Daher erhöht die Depression eines Elternteils das Risiko, dass ein Kind, mit zwei depressiven Eltern aufwächst (Letourneau et al., 2011). Dies führt zu einer höheren Vulnerabilität des Kindes (Brennan et al., 2002; Letourneau et al., 2011; Mezulis et al., 2004). Ausserdem leidet es eher unter multiplen entwicklungsschädigenden Folgen, wie weniger positiv bereicherten Aktivitäten beispielsweise das Vorlesen von Kinderbüchern (Paulson et al., 2006) oder stärker externalisierenden Verhaltensproblemen (Ramchandani et al., 2013). Daher ist zentral, dass die Forschung sich auch auf Väter konzentriert. Denn auch dem Papa sollte es gut gehen.


Zum Weiterlesen

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Literatur

American Academy of Pediatrics (Ed.). (2018). Dads Can Get Depression During and After Pregnancy, Too. https://www.healthychildren.org/English/ages-stages/prenatal/delivery-beyond/Pages/Dads-Can-Get-Postpartum-Depression-Too.aspx

Brennan, P. A., Hammen, C., Katz, A. R., & Le Brocque, R. M. (2002). Maternal depression, paternal psychopathology, and adolescent diagnostic outcomes. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70(5), 1075–1085. https://doi.org/10.1037/0022-006X.70.5.1075

Cameron, E. E., Sedov, I. D., & Tomfohr-Madsen, L. M. (2016). Prevalence of paternal depression in pregnancy and the postpartum: An updated meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 206, 189–203. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.07.044

Danielsson, U., & Johansson, E. E. (2005). Beyond weeping and crying: A gender analysis of expressions of depression. Scandinavian Journal of Primary Health Care, 23(3), 171–177. https://doi.org/10.1080/02813430510031315

Doley, J. R., McLean, S. A., Griffiths, S., & Yager, Z. (2020). Study protocol for Goodform: A classroombased intervention to enhance body image and prevent doping and supplement use in adolescent boys. BMC Public Health, 20(1), 59. https://doi.org/10.1186/s12889-020-8166-2

Edward, K.‑l., Castle, D., Mills, C., Davis, L., & Casey, J. (2015). An integrative review of paternal depression. American Journal of Men’s Health, 9(1), 26–34. https://doi.org/10.1177/1557988314526614

Escribà-Agüir, V., & Artazcoz, L. (2011). Gender differences in postpartum depression: A longitudinal cohort study. Journal of Epidemiology and Community Health, 65(4), 320–326. https://doi.org/10.1136/jech.2008.085894

Gentile, S., & Fusco, M. L. (2017). Untreated perinatal paternal depression: Effects on offspring. Psychiatry Research, 252, 325–332. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.02.064

Goodman, J. H. (2004). Paternal postpartum depression, its relationship to maternal postpartum depression, and implications for family health. Journal of Advanced Nursing, 45(1), 26–35. https://doi.org/10.1046/j.1365-2648.2003.02857.x

Kim, P., & Swain, J. E. (2007). Sad dads: paternal postpartum depression. Psychiatry, 4(2), 35–47.

Letourneau, N., Duffett-Leger, L., Dennis, C., Stewart, M., & Tryphonopoulos, P. D. (2011). Identifying the support needs of fathers affected by postpartum depression: A pilot study. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 18, 41–47.

Lohan, M., Aventin, A., Maguire, L., Clarke, M., Linden, M., & McDaid, L. (2014). Feasibility trial of a film-based educational intervention for increasing boys‘ and girls‘ intentions to avoid teenage pregnancy: Study protocol. International Journal of Educational Research, 68, 35–45. https://doi.org/10.1016/j.ijer.2014.08.003

Martin, L. A., Neighbors, H. W., & Griffith, D. M. (2013). The experience of symptoms of depression in men vs women: Analysis of the National Comorbidity Survey Replication. JAMA Psychiatry, 70(10), 1100–1106. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2013.1985

Massoudi, P. (2013). Depression and distress in Swedish fathers in the postnatal period: prevalence, correlates, identification, and support [Dissertation]. University of Gothenburg, Gothenburg. https://gupea.ub.gu.se/bitstream/2077/32509/1/gupea_2077_32509_1.pdf

Mezulis, A. H., Hyde, J. S., & Clark, R. (2004). Father involvement moderates the effect of maternal depression during a child’s infancy on child behavior problems in kindergarten. Journal of Family Psychology, 18(4), 575–588. https://doi.org/10.1037/0893-3200.18.4.575

Paulson, J. F., & Bazemore, S. D. (2010). Prenatal and postpartum depression in fathers and its association with maternal depression: A meta-analysis. JAMA, 303(19), 1961–1969. https://doi.org/10.1001/jama.2010.605

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Psouni, E., & Eichbichler, A. (2019). Feelings of restriction and incompetence in parenting mediate the link between attachment anxiety and paternal postnatal depression. Psychology of Men & Masculinities. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/men0000233

Ramchandani, P. G., Domoney, J., Sethna, V., Psychogiou, L., Vlachos, H., & Murray, L. (2013). Do early father-infant interactions predict the onset of externalising behaviours in young children? Findings from a longitudinal cohort study. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 54(1), 56–64. https://doi.org/10.1111/j.1469-7610.2012.02583.x

Ramchandani, P. G., Psychogiou, L., Vlachos, H., Iles, J., Sethna, V., Netsi, E., & Lodder, A. (2011). Paternal depression: An examination of its links with father, child and family functioning in the postnatal period. Depression and Anxiety, 28(6), 471–477. https://doi.org/10.1002/da.20814

Rice, S. M., Fallon, B. J., Aucote, H. M., & Möller-Leimkühler, A. M. (2013). Development and preliminary validation of the male depression risk scale: Furthering the assessment of depression in men. Journal of Affective Disorders, 151(3), 950–958. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.08.013

Rodgers, S., Grosse Holtforth, M., Müller, M., Hengartner, M. P., Rössler, W., & Ajdacic-Gross, V. (2014). Symptom-based subtypes of depression and their psychosocial correlates: A person-centered approach focusing on the influence of sex. Journal of Affective Disorders, 156, 92–103. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.11.021

Rominov, H., Giallo, R., Pilkington, P. D., & Whelan, T. A. (2018). Getting help for yourself is a way of helping your baby: Fathers’ experiences of support for mental health and parenting in the perinatal period. Psychology of Men & Masculinity, 19(3), 457–468. https://doi.org/10.1037/men0000103

Rutz, W. (1996). Prevention of suicide and depression. Nordic Journal of Psychiatry, 50(37), 61–67. https://doi.org/10.3109/08039489609099732

Schumacher, M., Zubaran, C., & White, G. (2008). Bringing birth-related paternal depression to the fore. Women and Birth, 21(2), 65–70. https://doi.org/10.1016/j.wombi.2008.03.008

Seidler, Z. E., Dawes, A. J., Rice, S. M., Oliffe, J. L., & Dhillon, H. M. (2016). The role of masculinity in men’s help-seeking for depression: A systematic review. Clinical Psychology Review, 49, 106–118. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2016.09.002

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355. https://doi.org/10.1080/10640266.2012.715512

World Health Organisation. (n.d.). Maternal mental health. https://www.who.int/mental_health/maternal-child/maternal_mental_health/en/

Stigmatisierung

Auswirkungen von Stigmata auf Kinder und Erwachsene mit Depressionen und ADHS 

Depressionen und ADHS gehören zu den in der Kindheit am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Obwohl ADHS oft als reine Kinderkrankheit angesehen wird, bleiben beide Störungen oft über die Kindheit hinaus bestehen. Beide werden stark stigmatisiert, was sich erheblich auf Betroffene auswirkt.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Sarah Ihn und Lisa Makowski
Illustriert von Kerry Willimann

Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind die beiden meistdiagnostizierten emotionalen und verhaltensbezogenen Störungen im Kindesalter. Sie werden zudem extrem stigmatisiert, wobei sich gängige Stereotypen auf Gefährlichkeit, Inkompetenz und Störverhalten beziehen (Mukolo, Heflinger, & Wallston, 2010). In Übereinstimmung damit nehmen Jugendliche depressive Peers als gefährlicher wahr (Walker, Coleman, Lee, Squire, & Friesen, 2008). Vergleichsweise werden Peers mit ADHS als Faulenzer gesehen und als anfälliger dafür, in Schwierigkeiten zu geraten (Wiener et al., 2012). Zwar werden lebenslange Störungen wie ADHS im Allgemeinen eher stigmatisiert als temporäre, jedoch zeigt sich bei Depressionen eine stärkere Stigmatisierung als bei ADHS (Walker et al., 2008).

Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen

In einer Studie, in der die Ansichten von Kindern bezüglich Ursachen von Depressionen und ADHS untersucht wurden, waren 25-33 Prozent der teilnehmenden Kinder der Meinung, dass «sich nicht genug anstrengen» eine Ursache für eine kindliche Störungen sei (Coleman, Walker, Lee, Friesen, & Squire, 2009).

«[…] for a child with depression or ADHD, at least one in four peers believes the child is to blame for the condition.» Coleman et al., 2009

Da störendes Verhalten von Kindern generell weniger toleriert wird als das von Erwachsenen, ist es leider keine Überraschung, dass Depressionen bei Kindern negativer bewertet werden als Depressionen bei Erwachsenen, wobei jüngere Kinder einer stärkeren Stigmatisierung ausgesetzt sind als ältere Kinder (Walker et al., 2008; Mukolo et al., 2010).

ADHS-Symptome werden von Erwachsenen vielfach grundsätzlich stigmatisiert. Zusätzlich gibt es eine generelle Skepsis gegenüber ADHS-Medikamenten, basierend auf der Behauptung, dass die Erkrankung überdiagnostiziert werde (Wiener et al., 2012). Typische Argumente von Skeptikern beinhalten, dass ADHS eine Folge schlechter Erziehung oder zu vielen Videospielen sei, oder gänzlich von der Pharmaindustrie erfunden wurde (Masuch, Bea, Alm, Deibler, & Sobanski, 2018). Darüber hinaus werden die Symptome von ADHS-Kindern oft fälschlicherweise als kontrollierbar angesehen, was bei Eltern, Lehrern und Peers Wut und Frustration auslösen kann. Dies kann wiederum zu Strafreaktionen von Lehrern führen, die glauben, dass das Verhalten an Klassenzimmerstandards angepasst werden könnte (Wiener et al., 2012). Vielen Lehrern fehlen akkurate Informationen über die Vielfalt von ADHS-Symptomen, da sie sich auf das Fernsehen, Zeitschriften oder Freunde und Verwandte als primäre Wissensquellen über die Störung verlassen (Bell, Long, Garvan, & Bussing, 2010).

Insgesamt werden psychische Störungen bei Kindern gleichermassen gnadenlos stigmatisiert wie bei Erwachsenen. Dies zeigt sich in negativen Reaktionen der Gesellschaft wie etwa vermehrten strafenden Reaktionen von Erwachsenen gegenüber Kindern mit psychischen Erkrankungen. Nicht selten wird die Familie für die Probleme des Kindes verantwortlich gemacht, und aussenstehende Erwachsene beschreiben eine Präferenz für soziale Distanz zum Kind und seiner Familie sowie eine Vorliebe für striktere Behandlungsmethoden, einschliesslich der Behandlung in restriktiven Settings, wie beispielsweise stationäre Therapien (Mukolo et al., 2010).

Direkte Folgen von Stigmatisierung

Laut Wiener et al. (2012) fühlen sich Kinder mit ADHS aufgrund ihres Verhaltens oft anders behandelt. Sie spüren die mit ihrer Diagnose verbundenen Stigmata und schämen sich – ein Gefühl, das ihre Eltern oft teilen. Negative elterliche Reaktionen auf Depressionen und ADHS können sich nachteilig auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken (Mukolo et al., 2010). Die von Betroffenen wahrgenommene Stigmatisierung ist mit geringerem Selbstwertgefühl und höherem Risiko für soziale Ablehnung verbunden (Wiener et al., 2012). Wichtiger noch, Kinder verinnerlichen bereitwillig negative Auffassungen anderer und haben daher eher stigmatisierende Ansichten bezüglich ihres eigenen psychischen Zustandes – ein Umstand, dem sich Therapeuten und Angehörige bewusst sein sollten (Coleman, 2009). Der Zusammenhang von internalisierten Stigmata und niedrigerem Selbstwert bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen (Masuch et al., 2018).

Stigmatisierung per Assoziation und Behandlungszugang

Obwohl Depression die häufigste emotionale Störung in der Kindheit ist, bleiben 75 Prozent der jugendlichen Betroffenen undiagnostiziert. Darüber hinaus werden nur 70 Prozent der mit Depressionen und 50 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Kinder tatsächlich therapeutisch unterstützt (Pescosolido et al., 2008). Dies ist zum Teil auf die starke Stigmatisierung der beiden Störungsbilder zurückzuführen, welche sich massgeblich darauf auswirkt, wie die Eltern auf kindliche Probleme reagieren. Dies beeinflusst sowohl den Zugang des Kindes zu psychologischen Hilfsangeboten, sowie deren Inanspruchnahme (Mukolo et al., 2010). Kinder sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, um professionelle Unterstützung zu erhalten, was zu verschiedenen Problemen führen kann (Mukolo et al., 2010). Zum einen erleben Familienmitglieder eines Kindes mit einer psychischen Erkrankung oft eine Stigmatisierung per Assoziation (Wiener et al., 2012). Dies führt dazu, dass Eltern sich sorgen, für die Probleme ihres Kindes verantwortlich gemacht zu werden, sollten Menschen in ihrem sozialen Umfeld herausfinden, dass ihr Kind psychologische Hilfe benötigt. Des Weiteren äussern Eltern Besorgnis darüber, marginalisiert zu werden, falls die Diagnose ihres Kindes publik würde. Darüber hinaus unterliegen auch Psychotherapeuten selbst einer Stigmatisierung, was ein weiteres Hindernis für die Inanspruchnahme psychologischer Dienste darstellt (Mukolo et al., 2010).

Ein- und Aufrechterhaltung der Behandlung

Wissensmangel, Misstrauen und uninformierte Urteile begünstigen Stigmatisierung und machen damit die (Un-)Fähigkeit der Gesellschaft, psychische Erkrankungen zu erkennen und verstehen, zu einer Determinante für die Entstehung von Stigmata. Dementsprechend ist die Fähigkeit zur Symptomerkennung der Eltern und deren Wissen über Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung ob professionelle Hilfe gesucht wird oder nicht (Pescosolido et al., 2008). Bedauerlicherweise kann die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern auch nach dem Überwinden all dieser Hindernisse von Stigmata beeinträchtigt werden. So werden z.B. Zielsetzungen und Methoden, die nicht mit elterlichen Überzeugungen übereinstimmen, behindert oder gänzlich abgelehnt. Infolgedessen stellt die Beteiligung der Familie für Therapeuten oft eine Herausforderung dar (Pescosolido et al., 2008).

Ein besonders stigmatisierter Aspekt der Therapie sind Psychopharmaka. Jugendliche mit einer psychiatrischen Diagnose schämen sich oft für ihren Zustand und den daraus resultierenden Medikationsbedarf. Sie tendieren dazu, sowohl ihre Diagnose als auch ihren Medikamentengebrauch geheim zu halten, was zu einer Reduktion von Interaktionen mit Peers führen kann, denen sie nicht vollständig vertrauen (Kranke, Floersch, Townsend, & Munson, 2010).

Spezifische Stigmata gegen ADHS bei Erwachsenen

Während die Validität von ADHS als psychische Störung im Allgemeinen bezweifelt wird, sind Erwachsene mit ADHS mit besonders ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert, da ADHS allgemein als Störung des Kindesalters gilt. Da ADHS angeblich «bei Erwachsenen nicht existiert», wird ihnen häufig vorgeworfen ihre Symptome zu fingieren, um an Stimulanzien zu gelangen (Masuch et al., 2018). Während viele Stereotypen aus dem Kindesalter bestehen bleiben, beinhalten die Attributionsüberzeugungen über ADHS bei Erwachsenen zusätzlich auch Drogenmissbrauch als vermeintliche Ursache für die Störung (Masuch et al., 2018).

Hürden bei der Hilfesuche für Erwachsene

Während Diskriminierung am häufigsten im Arbeits- und Bildungskontext antizipiert wird, befürchten viele Erwachsene mit ADHS auch, von medizinischen Fachkräften diskriminiert zu werden (Masuch et al., 2018). Die aktive Verleugnung von ADHS bei Erwachsenen durch bestimmte Ärzte verstärkt diese Angst und könnte eine mögliche Erklärung für den signifikanten Unterschied zwischen administrativer und epidemiologischer Prävalenz von ADHS sein (Masuch et al., 2018).

Bei erwachsenen Patienten mit Depression sind Selbststigmata ein wichtiger Faktor für die Suche nach psychologischer Hilfe (Barney, Griffiths, Jorm, & Christensen, 2006). Schamgefühle wegen der Einholung professioneller Hilfe sowie erwartete negative Reaktionen aus dem Umfeld sind bei depressiven Patienten weit verbreitet und können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, mit der um professionelle Unterstützung gebeten wird (Barney et al., 2006). Wahrgenommene Stigmatisierung zu Beginn der Therapie hängt signifikant mit dem späteren Behandlungsverhalten der Patienten zusammen (Sirey et al., 2001).

Ein Stigma kann definiert werden als die Ansicht, dass eine bestimmte Abweichung von der Norm bezüglich physikalischer Eigenschaften, Verhalten oder Charakter unerwünscht ist und ein negatives Gesamtergebnis darstellt. Es kann unterschieden werden zwischen öffentlichem Stigma, das sich in der Regel durch Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ausdrückt, und Selbststigmatisierung, die auftritt, wenn das stigmatisierte Individuum beginnt, diese verzerrten Ansichten zu akzeptieren. Öffentliche Stigmata variiert je nach Art der psychischen Störung, bleiben aber auch dann bestehen, wenn bekannt ist, dass eine Behandlung wirksam oder unnötig ist.


Zum Weiterlesen

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry49(2), 92–103. doi:10.1016/j.iaac.2009.10.011

Bowers, E. (2012, August 15). Countering the Social Stigma of Depression [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.everydayhealth.com/hs/major-depression/facing-social-stigma-of-depression/

Tartakovsky, M. (2018, July 8). Breaking the Silence of ADHD Stigma [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://psychcentral.com/blog/breaking-the-silence-of-adhd-stigma/

Literatur

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Bell, L., Long, S., Garvan, C., & Bussing, R. (2010). The impact of teacher credentials on ADHD stigma perceptions. Psychology in the Schools48(2), 184–197. doi: 10.1002/pits.20536

Coleman, D., Walker, J. S., Lee, J., Friesen, B. J., & Squire, P. N. (2009). Children’s beliefs about causes of childhood depression and ADHD: A study of stigmatization. Psychiatric Services60(7), 950–957. doi: 10.1176/ps.2009.60.7.950

Kranke, D., Floersch, J., Townsend, L., & Munson, M. (2010). Stigma experience among adolescents taking psychiatric medication. Children and Youth Services Review32(4), 496–505. doi: https://doi.org/10.1016/j.childyouth.2009.11.002

Masuch, T. V., Bea, M., Alm, B., Deibler, P., & Sobanski, E. (2018). Internalized stigma, anticipated discrimination and perceived public stigma in adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders. doi: 10.1007/s12402-018-0274-9

Moses, T. (2010). Being treated differently: Stigma experiences with family, peers, and school staff among adolescents with mental health disorders.Social Science & Medicine70(7), 985–993. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.12.022

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,49(2), 92–103. doi: https://doi.org/10.1016/j.jaac.2009.10.011

Pescosolido, B. A., Jensen, P. S., Martin, J. K., Perry, B. L., Olafsdottir, S., & Fettes, D. (2008). Public knowledge and assessment of child mental health problems: Findings from the national stigma study-children.Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry47(3), 339–349. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318160e3a0

Sirey, J. A., Bruce, M. L., Alexopoulos, G. S., Perlick, D. A., Raue, P., Friedman, S. J., & Meyers, B. S. (2001). Perceived stigma as a predictor of treatment discontinuation in young and older outpatients with depression. American Journal of Psychiatry158(3), 479–481. doi: 10.1176/appi.ajp.158.3.479

Walker, J. S., Coleman, D., Lee, J., Squire, P. N., & Friesen, B. J. (2008). Children’s stigmatization of childhood depression and ADHD: Magnitude and demographic variation in a national sample. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,47(8), 912–920. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318179961a

Wiener, J., Malone, M., Varma, A., Markel, C., Biondic, D., Tannock, R., & Humphries, T. (2012). Childrens perceptions of their ADHD symptoms. Canadian Journal of School Psychology27(3), 217–242. doi: 10. 1177/0829573512451972