Zum Inhalt springen

Mit ‘Borderline’ getaggte Beiträge

Mädchen, Unterbrochen

Ein ergreifendes Narrativ von Selbstfindung und Resistenz

Als junge Frau kommt Susanna in der parallelen Welt der psychischen Störung an. Eine Welt, in der die Gesetze der Physik nicht mehr gelten und Träume mit der Realität verwechselt werden. Nun ist sie mit der Entscheidung ihres Lebens konfrontiert: Bleiben oder gehen?

Von Noémie Lushaj
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Ladina Hummel
Illustriert von Andrea Bruggmann

1993 veröffentlichte die Schriftstellerin Susanna Kaysen ihr Memoire «Girl, Interrupted», in dem sie von ihrem 18-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in den 60er Jahren berichtet. 1999 verfilmte Hollywood ihre Geschichte in dem gleichnamigen Psycho-Drama. 

Jung, weiblich und «durchgeknallt» 

Die 18-jährige Susanna Kaysen, im Film gespielt von Winona Ryder, ist eine schlaue, aber psychisch gestörte junge Frau, die in den Augen der meisten Erwachsenen vor allem durch ihr kontrasoziales Verhalten charakterisiert wird. Tatsächlich möchte Susanna nach ihrem Gymnasialabschluss im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen nicht an eine Universität gehen, um ein Studium anzufangen. Stattdessen möchte sie schreiben. Und vor allem nicht wie ihre Mutter werden. Ausserdem gilt sie auf Grund ihrer Beziehungen mit unterschiedlichen Männern als promiskuitiv. Als sie eines Tages 50 Tabletten Aspirin runterschluckt, wird sie von ihren Eltern zu einem Arzt geschickt, der sie nach einem 20-minütigen Gespräch mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Am selben Tag schreibt sich Susanna im McLean Hospital – im Film Claymoore Hospital genannt – ein. 

Dort lernt sie junge Frauen kennen, die sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben und nun von verschiedenen psychischen Problemen betroffen sind. Susanna beschreibt: Georgina leidet an Schizophrenie, Daisy wird von ihrem Vater sexuell misshandelt, Polly hat die Hälfte ihres Gesichts mit Gasolin verbrannt, Janet ist magersüchtig und Cynthia bekommt eine Elektroschock-Therapie. Vor allem die Soziopathin Lisa Rowe, gespielt von Angelina Jolie, fasziniert Susanna durch ihre gefährliche und charismatische Art. Zusammen erleben die Mädchen in dem besonderen Milieu der psychiatrischen Station Betrug und Stigmatisierung, aber auch Freundschaft und Mitgefühl. Auf dem Weg zur Heilung setzt sich Susanna mit existentiellen Fragen auseinander: Was ist krank und was ist gesund? Was ist das Geheimnis des Lebens? Wo gehört sie selbst hin? 

«Have you ever confused a dream with life? Or stolen something when you have the cash? Have you ever been blue? Or thought your train moving while sitting still? Maybe I was just crazy. Maybe it was the 60’s. Or maybe I was just a girl… interrupted.»  

Susanna Kaysen

Von Gesundheit in einer kranken Gesellschaft 

Das Thema der Verwechslung sozialer Nonkonformität mit Wahnsinn ist in Girl, Interrupted sehr präsent. Die Geschichte findet vor dem kulturellen Hintergrund der 60er Jahre statt: Eine Zeit gekennzeichnet durch Unsicherheit und Krisen, in der Tradition und sozialer Wandel gewaltsam aufeinandertrafen (Self, 2016). Der Vietnamkrieg und Protestbewegungen prägten die Jahre, die Susanna in der Klinik verbrachte. Auch gab es in diesem Jahrzehnt mehrere Fortschritte im Bereich der Frauenrechte (Burkett, 2020). Trotzdem blieben die Optionen, die Frauen zur Verfügung standen, immer noch begrenzt. 

Das kontrasoziale Verhalten von Susanna kann als Reaktion auf repressive soziale Normen interpretiert werden (Marshall, 2006). Ihre Eltern, das Edukationssystem und die Psychiatrie klassifizierten ihr Verhalten jedoch als pathologisch. Gemäss ihrem Standpunkt musste Susanna nämlich vor einer bedrohlichen Welt gerettet werden, die sie nicht mehr in der Lage waren, zu verstehen (Marshall, 2006). Dass Susanna als Folge dieses Unverständnisses als krank abgestempelt wurde und in die stationäre Psychiatrie geriet, suggeriert die Möglichkeit, dass ihre Kondition vielmehr ein Symptom einer kranken Gesellschaft als eine persönliche Krise sein könnte. Somit stellt Kaysen die Frage: Wie sieht eine passende Reaktion auf traumatische Umstände und Unterdrückung aus (Marshall, 2006)? 

Heterotopia 

Die Gefühle von Susanna und den anderen jungen Frauen gegenüber der Psychiatrie sind ambivalent. Tatsächlich stellt Girl, Interrupted mehrfach die Objektivität von psychiatrischen Diskursen und Institutionen in einer kritischen und oft humorvollen Weise in Frage (Marshall, 2006). Insbesondere analysiert Susanna die 20 Minuten, in denen ihre Diagnose gestellt wurde und die ihr Leben veränderten. Was waren die Motivationen des Arztes, der sie diagnostizierte? War ihre Internierung gerechtfertigt? Stimmt ihre Diagnose? Hat die Psychiatrie versagt, oder sie im Gegenteil gerettet? Auch die Klinik und die dort angewendeten therapeutischen Methoden werden an zahlreichen Stellen kritisiert, doch auf der anderen Seite ist dieser Ort ein sicherer Hafen, den viele der Patient*innen nur ungern verlassen würden. 

Weder utopisch noch deutlich dystopisch wird die Klinik, in der andere Regeln gelten und Patient*innen vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt sind, also am besten als Heterotopie verstanden (Antolin, 2020). Dieses geisteswissenschaftliche Konzept, das von dem Philosophen Michel Foucault entwickelt wurde, beschreibt Räume, die durch ihr Anderssein charakterisiert werden (Antolin, 2020). So bekommt Susanna in der Tat erst in der anderen Umgebung der Klinik, den Raum, den sie für ihre Entwicklung benötigt und der ihr erlaubt, auf ihre eigene Art erwachsen zu werden. 

Borderline: Frauen an der Grenze 

Weiter fragt sich Susanna, inwieweit sexistische Einstellungen einen Einfluss auf die Stellung ihrer spezifischen Diagnose – Borderline-Persönlichkeitsstörung – hatten. Sie bemerkt, dass die Erkrankung bei Frauen häufiger diagnostiziert wird als bei Männern: Ein Phänomen, das dadurch erklärt werden kann, dass die potenziell selbstverletzenden Verhaltensweisen, die mit der Diagnose einhergehen, wie zum Beispiel Ladendiebstahl und Essattacken, typischerweise mit Frauen assoziiert werden (Marshall, 2006). Darüber hinaus gilt Promiskuität bei Frauen anders als bei Männern eher als pathologisch. Dass Susanna als promiskuitiv bezeichnet wird, bezieht sich vor allem auf eine Affäre, die die junge Frau mit ihrem Englischlehrer kurz vor ihrem psychischen Zusammenbruch hatte. Während im Text kein expliziter kausaler Zusammenhang zwischen den zwei Ereignissen gemacht wird, suggeriert die Prominenz der Geschichte in dem Narrativ etwas anderes, argumentiert Marshall (2006). Auch die Reaktion der Ärzte ist bemerkenswert: Anstatt auf die Machtverhältnisse dieser Beziehung zu achten, kommen sie zu dem Schluss, dass Susanna auf Grund ihrer Erkrankung gesunde Grenzen fehlen. Somit macht Girl, Interrupted deutlich, dass die Wahrnehmung von Susanna als psychisch kranke junge Frau die Art und Weise beeinflusst, wie ihr Verhalten gedeutet und wie sie als Mensch behandelt wird (Marshall, 2006).  

Mädchen, geht weiter 

Die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter sind Phasen des Lebens, die voller Unsicherheiten sind: Phasen, in denen man seine Identität sucht, seine Sexualität auszuleben beginnt, seine Zukunft plant und dabei unterschiedliche, manchmal widersprüchliche gesellschaftliche Erwartungen balanciert. Susanna wurde in diesem Prozess unterbrochen – nun wie geht es für sie weiter? An dieser Stelle unterscheiden sich Buch und Film wesentlich: Während Susanna in dem Film durch Gesprächstherapie geheilt wird und schliesslich Claymoore verlässt, konnte die echte Susanna Kaysen erst dank der Aussicht auf eine Hochzeit McLean verlassen und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Der Film verändert also die Botschaft des Buchs insofern, dass es das Individuelle statt des Sozialen als die Quelle (und gleichzeitig als die Lösung) von Problemen identifiziert (Marshall, 2006). 

Kaysens Narrativ stellt viele Fragen – und beantwortet sie nicht unbedingt eindeutig. Vielleicht weil die Antworten zu komplex wären. Vielleicht weil es keine Antworten gibt. Schlussendlich müssen Leser*innen und Zuschauer*innen selbst entscheiden, welches Fazit sie aus ihrer Erzählung ziehen möchten. Für mich bleibt die wesentliche Botschaft von Girl, Interrupted, dass man nicht moralisieren sollte, wie Menschen mit den Herausforderungen des Lebens umgehen und schliesslich wachsen. 

Vor Susanna, Sylvia 

Neben Kaysen besuchten berühmte Persönlichkeiten wie James Taylor, Robert Lowell, Ray Charles und die Schriftstellerin Sylvia Plath das McLean Hospital. Plath, die unter einer depressiven Störung litt, ist vor allem für die Gedichte bekannt, die ihr Leben mit der psychischen Störung thematisierten. Girl, Interrupted (Kaysen, 1993) wird öfters mit Plaths autobiographisch inspiriertem Roman The Bell Jar (1963) verglichen (Marshall, 2006). 

Über Wahnsinn schreiben 

Lange Zeit wurde angenommen, dass eine psychische Störung die Fähigkeit beeinflusst, ein kohärentes Narrativ über das eigene Leben zu konstruieren (Longhurst, 2019). Das hat psychisch erkrankte Menschen jedoch nicht davon abgehalten, ihre Geschichten zu erzählen: Das disability memoir setzte sich sogar als zentrales Genre des autobiographischen Schreibens durch. Heute ist es weiterhin durch ein hohes Potenzial für Subversion und eine grosse politische Relevanz gekennzeichnet (Longhurst, 2019). 


Zum Weiterlesen

Kaysen, S. (1993). Girl, Interrupted. Turtle Bay Books. 

Marshall, E. (2006). Borderline girlhoods: Mental illness, adolescence, and femininity in Girl, Interrupted. The Lion and the Unicorn, 30, 117-133. https://doi.org/10.1353/uni.2006.0009 

Literatur

Antolin, P. (2020). Challenging borders: Susanna Kaysenʼs Girl, Interrupted as a subversive disability memoir. European Journal of American Studies, 15(2). https://doi.org/https://doi.org/10.4000/ejas.16051  

Burkett, E. (2020). Women’s rights movement. Encyclopedia Britannicahttps://www.britannica.com/event/womens-movement  

Kaysen, S. (1993). Girl, Interrupted. Turtle Bay Books.  

Longhurst, K. (2019). Counterdiagnosis and the critical medical humanities: reading Susanna Kaysen’s Girl, Interrupted and Lauren Slater’s Lying: A Metaphorical Memoir. Medical Humanitieshttps://doi.org/10.1136/medhum-2018-011543  

Marshall, E. (2006). Borderline girlhoods: Mental illness, adolescence, and femininity in Girl, Interrupted. The Lion and the Unicorn, 30, 117-133. https://doi.org/10.1353/uni.2006.0009  

Borderline

Wenn es zwischen leidenschaftlich und destruktiv keine Distanz mehr gibt

Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, bei welcher Betroffene intensive Emotionen und instabile Identitäten aushalten müssen. Aber was ist eine Persönlichkeitsstörung genau? Was bedeutet Borderline für interpersonelle Beziehungen? Und wie kann man die Störung behandeln? Eine Übersicht.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Marie Reinecke und Jovana Vicanovic
Illustriert von Hannah Löw

Kathrin, die Protagonistin des Dokumentarfilms Diagnose Borderline (2019) läuft barfuss durch den Wald. Hier kann sie sich entspannen. Das habe sie früher nicht gekonnt. Ihre Emotionen seien übermächtig gewesen, sie habe sich selber verletzt, sei gemein zu ihrer Mutter gewesen. Schon mit 13 Jahren hat sie gewusst, dass etwas nicht mit ihr stimmen würde. Dann kam die Diagnose: Persönlichkeitsstörung, Borderline. Aber was bedeutet das?

Störung der Persönlichkeit

Nach dem ICD-11 kennzeichnen sich Persönlichkeitsstörungen durch Probleme mit dem eigenen Selbst oder durch Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen (World Health Organisation, 2019). Betroffene Personen können zum Beispiel Mühe mit der eigenen Identität haben oder es nicht schaffen, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Ihre Erlebens- und Verhaltensmuster bestehen für mindestens zwei Jahre und betreffen Kognition, Affekt und Verhalten (World Health Organisation, 2019). Dabei gibt es allgemeine und spezifische Kriterien (Petermann, Maercker, Lutz, & Stangier, 2011). So muss beispielsweise das charakteristische und andauernde innere Muster des Erlebens und Verhaltens eindeutig von der kulturellen Norm abweichen und über unterschiedliche Situationen hinweg unflexibel sein. Ausserdem erfährt die betroffene Person oder ihre Umwelt einen Leidensdruck (Petermann et al., 2011). Nach dem ICD-11 wird als Erstes festgestellt, ob und wie schwer eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (World Health Organisation, 2019). Es wird zwischen leichtem, mittlerem, schwerem und nicht bestimmbarem Schweregrad unterschieden. Erst danach kann eine Diagnose bezüglich der Art der Persönlichkeitsstörung gestellt werden (World Health Organisation, 2019). Die sechs dominierenden Persönlichkeitseigenschaften und -Muster sind negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit und Borderline.

«[Die Gefühle sind] so unaushaltbar, dass man das Gefühl hat, […] der Körper ist zu eng, das ist alles zu klein für diese ganzen bombastischen Emotionen, die da einfach kommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Schneiden, um sich selber zu spüren

Personen, die an Borderline leiden wie Kathrin, erleben oft intensive Angst, Wut, Trauer und ein chronisches Gefühl der inneren Leere (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Sie sind teilweise von einer intensiven Angst verlassen zu werden beherrscht (Petermann et al., 2011). Dies resultiert in einem übertriebenen Bemühen, den*die Partner*in an sich zu binden. Häufig zeigen sie eine Neigung für instabile, konflikthafte und intensive Beziehungen (Petermann et al., 2011). Die betroffene Person idealisiert und entwertet den*die Partner*in (Bolton & Mueser, 2009). Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind demnach instabil, genauso wie ihr Selbstbild und ihre Affekte (Petermann et al., 2011). Die Betroffenen zeigen eine deutliche Impulsivität. Beispielsweise gehen sie unbesonnen mit ihrem Geld um, trinken extrem viel Alkohol oder überessen sich (Bolton & Mueser, 2009). Hinzu kommen Androhungen oder Handlungen der Selbstverletzung wie Verbrennungen oder Schneiden (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Häufig schneiden sich die betroffenen Personen am Unterarm. Leichtes Ritzen wie auch tiefe Schnitte lösen ein kurzes Gefühl der Erleichterung der erlebten inneren Spannung aus oder lassen sie sich wieder selbst spüren (Petermann et al., 2011). Die Anzahl der Suizidversuche und die Einweisungen in Krankenhäuser von Betroffenen der Störung sind hoch (Bolton & Mueser, 2009). Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, werden überzufällig häufig auch mit Depressionen (Galione & Oltmanns, 2013), bipolaren Störungen (Fornaro et al., 2016), posttraumatischer Belastungsstörungen (Frías & Palma, 2015) oder Essstörungen wie Anorexie und Bulimie (Martinussen et al., 2017) diagnostiziert. Auch Kindheitstraumata werden vermehrt bei den Betroffenen festgestellt (MacIntosh, Godbout, & Dubash, 2015).

Häufige Remission, häufiger Rückfall

Etwa 1,5 Prozent der Menschen leiden an einer Borderlinestörung, wobei die Zahl je nach Studie unterschiedlich hoch ausfällt (Fiedler, 2018). In einer internationalen Studie der WHO wurde bei einer psychiatrischen Stichprobe Borderline bei fast 15 Prozent der Patienten diagnostiziert. Somit zeigt die Diagnose Borderline die höchste Prävalenzrate in fast allen Ländern (Fiedler, 2018). Nur in Indien konnte die Persönlichkeitsstörung nicht festgestellt werden. In der Übersichtsarbeit von Fiedler (2018) konnte die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit oder in der Jungend beginnen und sich anschliessend im Erwachsenenalter manifestieren, nicht bestätigt werden. Viele Patienten wurden im Verlaufe ihres Lebens nicht mehr diagnostiziert, vor allem im höheren Lebensalter. Eine Chronifizierung kommt nur in seltenen Fällen vor (Fiedler, 2018). Eine längsschnittliche Studie fand, dass 16 Jahre nach der erstmaligen Vergabe der Diagnose Borderline fast alle Versuchspersonen in Remission waren (Zanarini, Frankenburg, Hennen, Reich, & Silk, 2005). Dennoch hatten nur etwa 40 bis 60 Prozent der Versuchspersonen ein gesundes Funktionsniveau erreicht. Im Vergleich zu Versuchspersonen mit anderen Persönlichkeitsstörungen waren die Patienten*innen mit einer Borderlinestörung häufiger und schneller von einem Rückfall betroffen (Zanarini et al., 2005). In den letzten Jahrzenten haben sich jedoch die spezifischen Therapieprogramme erfolgsversprechend verbessert (Petermann et al., 2011). Es ist also gut möglich, dass sich die hohe Rückfallquote in den letzten 15 Jahren zu Gunsten der Betroffenen verändert hat.

Therapie nach Schema

Psychopharmaka scheinen die Schwere der Persönlichkeitsstörung nicht verringern zu können (Lieb, Zanarini, Schmahl, Linehan, & Bohus, 2004). Jedoch können Psychotherapien Erfolge verzeichnen. Vor allem spezialisierte Therapien können effektiv und allumfassend den Schwergrad und die Selbstverletzungstendenz reduzieren (Oud, Arntz, Hermens, Verhoef, & Kendall, 2018). Zudem scheinen sie von den Patienten besser akzeptiert zu werden: weniger brechen die Therapie ab (Oud et al., 2018). Zu den spezialisierten Therapien gehören unter anderem die dialektische Verhaltenstherapie, die übertragungsfokussierte Psychotherapie oder die Schematherapie (Oud et al., 2018). Gemeinsam haben diese Therapien, dass sie auf Theorien über die Entstehung und Erhaltung von Borderline basieren. Zudem veröffentlichen sie detaillierte Protokolle über die Behandlung und therapeutische Techniken. Ausserdem ist die therapeutische Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in bei allen Therapien bedeutsam (Oud et al., 2018). Im folgenden Abschnitt wird die Schematherapie stellvertretend für alle spezialisierten Therapieformen genauer erläutert.

«Ich fand das so amüsant, wenn die Leute schockiert waren, wenn ich irgendwie mit einem blutendem Arm da sass oder so. Ich fand das irgendwie amüsant. Bis ich dann festgestellt habe, dass ich es gar nicht mehr kontrollieren kann und dann habe ich Angst bekommen.»

WDR Fernsehen, 2019

Die Schematherapie beinhaltet vier sogenannte heilende Mechanismen (Kellogg & Young, 2006). Bei der begrenzten Nachbeelterung versuchen die Therapeuten die Defizite der Elternerziehung durch ein warmes und empathisches Auftreten zu kompensieren. Die emotionsfokussierte Arbeit als zweiter Mechanismus verwendet vor allem Vorstellungen, Dialoge und das Briefschreiben (Kellogg & Young, 2006). Bei der kognitiven Restrukturierung und Bildung wird thematisiert, was normale Bedürfnisse und Emotionen sind. Beim vierten und letzten Mechanismus, in welchem es um das Brechen von Verhaltensmustern geht, kommt es zu einer Generalisierung des Erlernten in der Therapie auf Beziehungen ausserhalb (Kellogg & Young, 2006). Diese Strategien sollten der Person helfen, eine emotionale Stabilität zu erhalten, zielorientiert zu handeln, beidseitig positive Beziehungen zu führen und sich generell gut zu fühlen.

Kathrin hat eine Therapie erfolgreich bewältigt. Heute ist sie selber Psychotherapeutin und kann auch durch ihre eigenen Erfahrungen anderen helfen. Sie ist zwar noch leidenschaftlich, aber nicht mehr destruktiv.

Weniger Borderline bei Männern? Einige Studien fanden ein Geschlechterverhältnis von 1:3 oder 1:4 bei mit Borderline diagnostizierten Personen, während andere keine signifikanten Unterschiede fanden (Bayes & Parker, 2017). Auffallend ist, dass vor allem Untersuchungen mit klinischen Versuchspersonen ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fanden. Da vermutet wird, dass Männer weniger häufig klinische Hilfe aufsuchen, sind sie in diesen Studien oft unterrepräsentiert, was zum vermeintlichen Fehlschluss führte, dass Männer weniger von Borderline betroffen sind (Bayes & Parker, 2017). Ein weiterer Grund ist, dass es bei Männern vermehrt zu einer Fehldiagnose kommt, wie beispielsweise der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Männer zeigen oft andere Ausprägungen der Störung (Bayes & Parker, 2017). So ist ihr Verhalten mehr externalisierend, sie fügen sich gewalttätigere Selbstverletzungen zu und zeigen dissoziale Verhaltensmuster und Substanzmissbrauch.


Zum Weiterlesen

Fiedler, P. (2018). Epidemiologie und Verlauf von Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66(2), 85–94. doi: 10.1024/1661-4747/a000344

World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Literatur

Fornaro, M., Orsolini, L., Marini, S., Berardis, D. de, Perna, G., Valchera, A., . . . Stubbs, B. (2016). The prevalence and predictors of bipolar and borderline personality disorders comorbidity: Systematic review and meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 195, 105–118. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.01.040

Frías, Á., & Palma, C. (2015). Comorbidity between post-traumatic stress disorder and borderline personality disorder: A review. Psychopathology, 48(1), 1–10. https://doi.org/10.1159/000363145

Galione, J. N., & Oltmanns, T. F. (2013). The relationship between borderline personality disorder and major depression in later life: Acute versus temperamental symptoms. The American Journal of Geriatric Psychiatry : Official Journal of the American Association for Geriatric Psychiatry, 21(8), 747–756. https://doi.org/10.1016/j.jagp.2013.01.026

Kellogg, S. H., & Young, J. E. (2006). Schema therapy for borderline personality disorder. Journal of Clinical Psychology, 62(4), 445–458. https://doi.org/10.1002/jclp.20240

Lieb, K., Zanarini, M. C., Schmahl, C., Linehan, M. M., & Bohus, M. (2004). Borderline personality disorder. Lancet. (364), 453–461.

MacIntosh, H. B., Godbout, N., & Dubash, N. (2015). Borderline personality disorder: Disorder of trauma or personality, a review of the empirical literature. Canadian Psychology/Psychologie canadienne, 56(2), 227–241. https://doi.org/10.1037/cap0000028

Martinussen, M., Friborg, O., Schmierer, P., Kaiser, S., Øvergård, K. T., Neunhoeffer, A.-L., . . . Rosenvinge, J. H. (2017). The comorbidity of personality disorders in eating disorders: A meta-analysis. Eating and Weight Disorders : EWD, 22(2), 201–209. https://doi.org/10.1007/s40519-016-0345-x

Oud, M., Arntz, A., Hermens, M. L., Verhoef, R., & Kendall, T. (2018). Specialized psychotherapies for adults with borderline personality disorder: A systematic review and meta-analysis. The Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 52(10), 949–961. https://doi.org/10.1177/0004867418791257

Petermann, F., Maercker, A., Lutz, W., & Stangier, U. (2011). Klinische Psychologie: Grundlagen. Göttingen: Hogrefe Verlag.

WDR Fernsehen (Producer). (2019). Diagnose Borderline. Das Leben neu gestalten: WDR Fernsehen. Retrieved from https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdmOTJlNjc1LWI0MjQtNDlhZi04ZDFlLTUzMDU2M2U2YTRjOA/

World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en

Zanarini, M. C., Frankenburg, F. R., Hennen, J., Reich, D. B., & Silk, K. R. (2005). Psychosocial Functioning of Borderline Patients and Axis II Comparison Subjects Followed Prospectively for Six Years. Journal of Personality Disorders, 19(1), 19–29.