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Mit ‘Arbeit’ getaggte Beiträge

Eine gesunde Organisation – gibt es das?

Wenig Stress und hohes Wohlbefinden bei der Arbeit – der Traum eines jeden Arbeitnehmenden. Doch wie realistisch ist dieser Traum?

Stress am Arbeitsplatz ist heutzutage mehr die Regel als die Ausnahme. Neueste Technologien, unglaubliche Schnelllebigkeit, steigende Erwartungen, eine globale Pandemie. Diese Bedingungen können sich auf die (mentale) Gesundheit auswirken. Was können die Beteiligten tun, um gesundes Arbeiten zu erleichtern?

Von Alina Sophie von Garrel
Lektoriert von Julia Küher und Natalie Birnbaum
Illustriert von

Gesundheit ist ein viel- und vor allem mehrschichtiger Begriff und beschreibt einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen (Wendt, 2013). Gesundheit gegenüber steht Stress als häufiger Grund ihrer Gefährdung (Greiner et al., 2012). Am Arbeitsplatz kann Stress aus Belastungen durch physische Faktoren (z. B. Umgebungsbedingungen), Arbeitsaufgaben und -organisation (z. B. Zeitdruck), soziale Stressoren (z. B. Mobbing) und organisationale Bedingungen (z. B. Ungerechtigkeiten) entstehen (Bartholdt & Schütz, 2010). Die resultierende negative Beanspruchung kann sich dabei auf körperlicher, gedanklicher, emotionaler und/oder auf Verhaltensebene ausdrücken (Greiner et al., 2021).

Die Relevanz von Stress wird deutlich, wenn man sich dessen Konsequenzen vor Augen führt: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Stress eines der grössten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts (WHO, 2022). Es wird geschätzt, dass europaweit ungefähr 60 Prozent aller Fehlzeiten auf beruflichem Stress beruhen (Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, 2013). Durch die sich wandelnde Arbeitswelt und die damit einhergehende Arbeitsintensivierung, Flexibilisierung und Kommunikationsverdichtung nehmen Arbeitsunfähigkeitstage und Frühverrentungen zu (Lohmann-Haislah, 2012). Die Kosten für stressbedingten Arbeitsausfall werden allein für deutsche Unternehmen auf jährlich 20 Milliarden Euro geschätzt (Kläser, 2015). Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz auf die körperliche Gesundheit der Arbeitnehmer*innen zeigen sich dabei in Form von medizinischen Krankheiten wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch psychischen Erkrankungen mit längerfristigen Folgen wie Nervosität, Ermüdung, Angst oder Depression (Böhm & Böhm, 2004). Die Produktivität und Kreativität der Arbeitnehmer*innen lassen unter solchen Bedingungen erheblich nach (Böhm & Böhm, 2004).

Wie kann diesen negativen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz entgegengewirkt werden? Liegt es an den Mitarbeiter*innen, etwas zu verändern? An der Organisation? Oder an der gesamten Gesellschaft? Auf diese komplexe Frage gibt es natürlich keine einfache Antwort. Sicherlich ist es sinnvoll, an jedem der genannten Hebel anzusetzen, um die Situation zum Besseren zu verändern. Interessant ist daher der «Health-oriented Leadership» (HoL) Ansatz von Franke et al. (2014). Hier werden zwei Konzepte unterschieden, die sowohl die Führungskraft (und damit die Verantwortung der Organisation) als auch die einzelnen Mitarbeiter*innen adressieren. Diese Konzepte sind 1) Self-Care (Selbstführung) und 2) Staff-Care (Mitarbeiterführung), an denen gesundheitsförderliche Führung auf den Dimensionen Wichtigkeit, Achtsamkeit und Verhalten ganzheitlich ansetzt. Die Idee ist, dass durch die Anwendung von Self-Care, d. h. «gesundheitsförderlicher Selbstführung, die beschreibt, wie das Individuum (…) mit der eigenen Gesundheit umgeht» (Franke et al., 2015), einerseits eine Vorbildwirkung bzw. Modellfunktion der Führungskraft entsteht und andererseits eine Grundlage für Staff-Care, d.h. «die Beeinflussung von Einstellungen und Verhalten einzelner Personen in Organisationen sowie die Steuerung und Koordination der Zusammenarbeit in und zwischen Gruppen» (Franke & Felfe, 2011a), geschaffen wird. Mit Staff-Care wiederum kann zudem Self-Care der Mitarbeiter*innen, d. h. eigenständiges und selbstverantwortliches gesundheitsförderliches Handeln und Auftreten, etabliert werden (Franke & Felfe, 2011b).

Führung & Staff-Care

Auch wenn eine uniforme Definition für Führung bisher fehlt (Stippler et al., 2011), steht fest, dass die Führungsqualität einen erheblichen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen hat (Franke et al., 2015). Dieser Einfluss lässt sich in vier Felder der Führungsbedeutung bzw. vier Wirkmechanismen unterteilen: direkter Einfluss (Verhalten und Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter*innen), indirekter Einfluss (Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch die Führungskraft), Vorbildfunktion (Mitarbeiter*innen schauen sich Verhalten etc. der Führungskraft ab, die als Modell fungiert) und eigene Betroffenheit (durch die eigene Aussetzung von Risiken können Führungskräfte selbst zum Gesundheitsrisiko durch z. B. eigene Überforderung für Mitarbeiter*innen werden) (Felfe et al., 2014). Neuere Studien bestätigen die Effektivität des HoL-Konzepts für die Gesundheitsförderung in Unternehmen (Franke & Felfe, 2011a).

«Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts»

Arthur Schopenhauer (angeblich)

Damit gesunde Führung Früchte trägt, sollte sie auf einer ganzheitlichen Werteorientierung des Unternehmens gründen und unternehmensübergreifend etabliert werden (Badura et al., 2017). Die Führungskräfte stehen an der «Front» der berufsalltäglichen Umsetzung mit der Herausforderung, Sach- bzw. Leistungswerte (im Interesse der Organisation, z. B. Effizienz und Qualität) und Beziehungswerte (wichtig für eine positive zwischenmenschliche Beziehung, z. B. Vertrauen und Respekt) in Einklang zu bringen (Badura et al., 2017). Zentral im direkten Umgang mit Mitarbeiter*innen ist hierbei der Abbau von Stressoren und Belastungen sowie die Förderung von Ressourcen (als Puffer für Stress) bei gleichzeitiger Wertschätzung der eigenen sowie der Gesundheit der Mitarbeitenden (Felfe et al., 2014). Konkrete Handlungsfelder, die unterschieden werden und in denen Führungskräfte aktiv werden sollten, wenn sie gesund führen wollen, können in direktes Führungshandeln, Gesundheitsklima der Organisation, Unternehmenskultur, Charakteristika von Arbeitsplatz und Arbeitsprozessen sowie der Gestaltung von Veränderungsprozessen unterschieden werden (Badura et al., 2017).

Self-Care

Was können Mitarbeitende selbst für sich tun, um Stress zu reduzieren? Eine sehr populäre, wenig aufwendige und anwendungsfreundliche Methode ist die Meditation (Valosek et al., 2018). In Studien konnte gezeigt werden, dass Meditation als Wellness-Programm am Arbeitsplatz wirksam ist, um die emotionale Intelligenz zu verbessern und den wahrgenommenen Stress der Mitarbeiter*innen zu reduzieren (Valosek et al., 2018). Vermutlich auch deshalb, weil die Konzentration auf körperliche oder geistige Entspannung allgemein als Methode zur Bewältigung von Stressfolgen gesehen wird (van der Klink et al., 2001). Auch im Vergleich mit anderen Methoden überzeugt die Meditation: In einer Studie von Murphy (1996) ergab sie die konsistentesten Ergebnisse über alle Outcomes (i. d. R. Stressreduktion) hinweg.

Auch Atemtechniken können im Rahmen der Stressreduktion sehr wirksam sein (Techniker Krankenkasse, 2017). Ruhige Atmung wirkt entspannend. Sie bringt Sauerstoff und Energie in den Körper, während ungünstige Atmung (z. B. flach, schnell oder unruhig) Hyperventilation (Muskelkrämpfe durch gesteigerte Atmung) fördert (Techniker Krankenkasse, 2017).

Exkurs Meditation

Eine einfache Meditation ist die Mantra-Meditation (Techniker Krankenkasse, 2021). Diese Meditationstechnik verwendet nur einen einzelnen Begriff: das Mantra. Dieses Wort fungiert als Anker, auf dem die gesamte Zeit die Aufmerksamkeit liegt. Geeignet als Mantra sind inhaltlich neutrale Wörter (z. B. ein Zahlwort). Setze dich für diese Meditationspraxis aufrecht und entspannt hin. Schliesse die Augen und atme sanft ein und aus. Sage dann das Mantra mehrmals leise zu dir selbst. Dann stelle es dir nur in deinem Kopf vor und spüren seinem Klang nach. Diesen Prozess wiederholst du für etwa 15 Minuten. Danach öffnest du langsam wieder deine Augen und kehrst bewusst in die Realität zurück. Je regelmässiger du diese Übung machst, desto mehr Routine bekommst du darin, sodass die Meditation irgendwann wie von selbst abläuft. Probiere also gerne aus, wie es ist, den Alltag kurz zu pausieren und neue Energie zu tanken (Techniker Krankenkasse, 2021).

Daneben sind noch viele weitere Ressourcen hilfreich für ein gesundes Stressmanagement. Zu diesen zählen zum Beispiel regelmässige sportliche Betätigung, gesunde Ernährung oder ein stabiles soziales Netzwerk. Woran man zunächst arbeiten möchte, sollte jede Person für sich selbst entscheiden – auch unter Berücksichtigung, was in der eigenen Situation realistisch umsetzbar ist (Techniker Krankenkasse, 2017).

Gibt es also eine gesunde Organisation? Jede Art von Arbeit bringt gewisse Risiken und Stressfaktoren mit sich und nicht alle lassen sich vollständig eliminieren. Andererseits gibt es Ansätze wie den HoL-Ansatz, die wichtige Richtlinien und Verhaltensweisen vorschlagen, mit denen Ressourcen gestärkt und Stress reduziert werden können. Jede Person trägt letztendlich aber selbst die Verantwortung für die eigene Gesundheit und hat diverse Möglichkeiten, um aktiv zu werden und sich selbst zu stärken.

Zum Weiterlesen

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Lück, P., Eberle, G., & Bonitz, D. (2009). Der Nutzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus der Sicht von Unternehmen. In Badura, B., Schröder, H. & Vetter, C. (Hrsg.). Fehlzeiten-Report 2008 (S. 77–84). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-69213-3_8

Literatur

Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Eds.). (2017). Fehlzeiten-Report 2017: Krise und Gesundheit-Ursachen, Prävention, Bewältigung. Springer.

Bartholdt, L., & Schütz, A. (2010). Stress im Arbeitskontext: Ursachen, Bewältigung und Prävention. Beltz. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54632-1

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Böhm, B., & Böhm, A. (2004). Stress—was im Berufsalltag wirklich weh tut. In Betriebliche Gesundheitsförderung (pp. 137–150). Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91349-4_9

Felfe, J., Ducki, A., & Franke, F. (2014). Führungskompetenzen der Zukunft. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Meyer, M. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2014 (pp. 139–148). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-43531-1

Franke, F., & Felfe, J. (2011a). Diagnose gesundheitsförderlicher Führung – Das Instrument „Health-oriented Leadership “. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Macco, K. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2011 (pp. 3–13). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-21655-8

Franke, F., & Felfe, J. (2011b). How does transformational leadership impact employees’ psychological strain? Examining differentiated effects and the moderating role of affective organizational commitment. Leadership7(3), 295–316. https://doi.org/10.1177/1742715011407387

Franke, F, Ducki, A. und Felfe, J. (2015). Gesundheitsförderliche Führung. In J. Felfe (Eds.), Trends in der psychologischen Führungsforschung, (pp. 253–264). Hogrefe.

Greiner A., Langer S., Schütz A. (2012) Grundlagen zur Stressentstehung, Stressreaktion und Stressbewältigung. In Greiner A., Langer, S. & Schütz, A. (Eds.), Stressbewältigungstraining für Erwachsene mit ADHS. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-25802-2_2

Lohmann-Haislah, A. (2013). Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden1. https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd68.pdf?__­blob=publicationFile

Lück, P., Eberle, G., & Bonitz, D. (2009). Der Nutzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus der Sicht von Unternehmen. In Badura, B., Schröder, H. & Vetter, C. (Eds.). Fehlzeiten-Report 2008 (pp. 77–84). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-69213-3_8

Murphy, L. R. (1996). Stress management in work settings: A critical review of the health effects. American journal of health promotion11(2), 112­–135.

Stippler, M., Moore, S., Rosenthal, S., & Dörffer, T. (2011). Führung-Überblick über Ansätze, Entwicklungen, Trends: Bertelsmann Stiftung Leadership Series. Bertelsmann Stiftung.

Techniker Krankenkasse. (Juli, 2017). Stress Belastungen besser bewältigen. https://www.tk.de/resource/blob/2023234/5535b9478a9be8fcabb0a1c6ea7f677e/tk-broschuere-stress-data.pdf

Techniker Krankenkasse. (01. September, 2021). Medi­ta­ti­ons­übungen (2/4). https://www.tk.de/techniker/magazin/life-balance/aktiv-entspannen/meditationsuebungen-2007100?tkcm=ab

Valosek, L., Link, J., Mills, P., Konrad, A., Rainforth, M., & Nidich, S. (2018). Effect of meditation on emotional intelligence and perceived stress in the workplace: A randomized controlled study. The Permanente Journal22.

Van der Klink, J. J., Blonk, R. W., Schene, A. H., & Van Dijk, F. J. (2001). The benefits of interventions for work-related stress. American journal of public health91(2), 270.

Wendt C. (2013) Gesundheit und Gesundheitssystem. In Mau S., Schöneck N. (Hrsg.) Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18929-1_23

Wild, E., & Möller, J. (2014). Pädagogische Psychologie. Springer.

Familie und Karriere als Frau

Eine Diskussion zum Buch Professorin werden

Die dreifache Mutter Regula Kyburz-Graber schildert im Buch Professorin werden ihren herausfordernden Karriereweg. Die Geschichte handelt von enttäuschender Forschung, veralteten Rollenbildern genauso wie von Sinnhaftigkeit, Hartnäckigkeit, einem fortschrittlichen Betreuungsmodell und grossen Chancen. Den roten Faden bildet die Frage «Wie wird man Professorin?».

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Alba Lopez

Als junge angehende Wissenschaftlerin fühlte ich mich vom Buch direkt angesprochen. Nur zu gut konnte ich mich in die ambitionierte Studentin hineinversetzen, die an die Forschung den Anspruch der Sinnhaftigkeit stellt. Die überzeugt ist, mindestens genauso viel leisten zu können wie ein Mann und die Karriere und Familie nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Bereicherung versteht. So fieberte ich auf knapp 200 Seiten mit ihr mit und nahm an ihrer persönlichen Entwicklung teil. Fühlte mich beim Lesen in die Anfänge meines Studiums zurückversetzt, schwelgte in Erinnerungen an meine Erlebnisse an der Universität Zürich (UZH) und malte mir meine eigene berufliche Zukunft aus. Trotz Parallelen wurde mir schnell bewusst, dass die Welt, in die mich Regula Kyburz-Graber entführte, nicht der heutigen, nicht der meinen entspricht. Vieles, das ich als selbstverständlich annehme, war zur Zeit ihres Karriereweges noch nicht gegeben – vieles, das ihren Weg erleichtert hätte.

«Die Frauen waren die Eindringlinge in diese wohlabgeschirmte akademische Welt, sie mussten sich anzupassen wissen.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 114

Eine besondere Zeit, eine besondere Frau

Als Regula Kyburz-Graber 1970 volljährig wurde, war Frauen das Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz noch verwehrt. Die Forderung nach Gleichberechtigung war für sie stets eine Selbstverständlichkeit. Bewusst wählte sie mit Biologie an der ETH einen für Frauen untypischen Studiengang, um zu beweisen, dass Frauen genau so gut wie Männer ein naturwissenschaftliches Studium bewältigen können. Während des Studiums lernte sie Peter kennen, den sie noch vor ihrem Abschluss heiratete. Als Konkubinatspaar in Zürich eine Wohnung zu bekommen, wäre damals unmöglich gewesen. Da sie ihren Familiennamen Graber und damit ihre Herkunft und Identität nicht verlieren wollte, nutzte sie fortan den rechtlich nicht verbindlichen Doppelnamen Kyburz-Graber. Um neben dem Studium Geld zu verdienen, bewarb sie sich – obwohl sie keinerlei Erfahrung besass – erfolgreich als Lehrerin an der Bezirksschule Baden.

Enttäuscht von der Forschung

Ihre Diplomarbeit schrieb Regula Kyburz-Graber im Bereich der Molekulargenetik. Die Atmosphäre im Labor – unter all den Männern – beschreibt sie als gedämpft, trostlos und kompetitiv. Über Ängste oder Zweifel wurde nicht gesprochen und Spott gehörte zur Gesprächskultur. Ihre anfängliche Begeisterung für die Forschung schwand und der Gang zum Labor fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.

«Bis die einst glorifizierte Forschungswelt für mich einstürzte und ich mir schliesslich eines Tages eingestehen musste: So will ich nicht Forschung betreiben.» Kyburz-Graber, 2020, S. 32

Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage, so kämpfte sich sie sich durch. Trotz der enttäuschenden Erfahrung liess sie auch nach dem Abschluss des Studiums 1973 der Wunsch nicht mehr los, in der wissenschaftlichen Forschung berufliche Erfüllung zu finden.

«Aber Sinn musste die Forschung machen, einen bedeutsamen Beitrag für die Gesellschaft leisten, so malte ich mir gute Forschung in meinem jugendlichen Idealismus aus.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 33

Ihr eigener Weg, eine Sackgasse?

Die Suche von Regula Kyburz-Graber nach sinnhafter Forschung endete in der Überzeugung, dass Unterrichtsforschung ihr neues Forschungsgebiet werden sollte. Vorbilder fand sie für dieses Vorhaben keine, betont aber, dass sie sich noch nie an Vorbildern orientiert habe. Schon immer wollte sie ihren eigenen Weg gehen und liess sich selten helfen – so auch in der Forschung. Die Arbeit an der Dissertation musste sie durch Unterrichten querfinanzieren. Zu dieser Zeit dachte sie noch nicht an eine akademische Karriere. Ihr prioritäres Ziel war es, das Verständnis für ökologische Zusammenhänge bei Jugendlichen zu untersuchen und so den Ökologieunterricht voranzubringen.

«Da sass ich nun, eine 26-jährige, erwartungsvolle Wissenschaftlerin voller Tatendrang. Und niemand schien auf mich gewartet zu haben. Niemand interessierte sich für meine wissenschaftlichen Erkenntnisse.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 41

Nach ihrer Dissertation erlebte Regula Kyburz-Graber eine Durststrecke. Ihre Bewerbungen im Bereich der Lehre waren erfolglos. Vermutlich wurden Männer mit langjähriger Erfahrung und keine jungen Wissenschaftlerinnen gesucht. Sie fragte sich, ob all die Investitionen umsonst gewesen waren, und versank in Selbstmitleid, Wut, Angst und Trauer darüber, trotz bester Qualifikation ignoriert zu werden.

Türen öffnen sich

Das Blatt wendete sich, als Regula Kyburz-Graber 1977 ein Nachwuchsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds erhielt. Ein Jahr lang forschte sie an der Universität Kiel zum Thema «Schülerzentrierter Biologieunterricht». Sie nahm an wissenschaftlichen Debatten teil, erlebte eine gute Forschungsatmosphäre und lernte Autor*innen von Fachliteratur kennen. So brachte sie neue Ideen, Forschungswissen und Zuversicht nach Hause. Nach ihrem Forschungsjahr öffnete sich eine Tür nach der anderen. Unter anderem erhielt sie einen Lehrauftrag für Biologiedidaktik an der ETH, war Oberassistentin an der ETH und der UZH für Umweltlehre, leitete die Lehrplankommission «Integrierte Naturlehre», entwickelte Lehrmittel und vertrat die Schweiz an zahlreichen internationalen Konferenzen zur Umweltbildung. Nicht selten war sie dabei die Einzige oder eine der einzigen Frauen. In den Jahren darauf war sie in der Forschung an der ETH sowie in nationalen und internationalen Kooperationen tätig, Projektleiterin der Schweiz im internationalen OECD Projekt «Environment and School Initiatives» und Gastprofessorin an der Deakin University in Australien.

«Ich fühlte mich nun beflügelt und war getragen vom Gefühl, dass ich meinen Platz in der Berufswelt gefunden hatte.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 56

Ehefrau, Mutter und Wissenschaftlerin

Als Regula Kyburz-Graber heiratete, wusste sie bereits, dass sie keine traditionelle Hausfrauenrolle übernehmen würde. Peter und sie, beide wollten einer interessanten Karriere nachgehen und beide hatten einen Kinderwunsch. Mit dem Beginn der Familiengründung vereinbarten sie, die Familienarbeit partnerschaftlich zu teilen. Peter reduzierte sein Pensum zuerst auf 90 und dann auf 80 Prozent – in einer Zeit, in der dies alles andere als üblich war. Mit der Geburt von Tochter Andrea 1979 stand das Kind an erster Stelle und gab den Takt sowie die Tagesstruktur vor. Mit der Zeit lernte Regula Kyburz-Graber ihre Tätigkeiten an die Bedürfnisse von Andrea anzupassen. Schlief Andrea, erledigte sie Aufgaben, die viel Konzentration benötigten, wollte Andrea herumgetragen werden, machte sie gleichzeitig Hausarbeiten, übernahm Peter die Betreuung, kümmerte sie sich um Termine ausserhalb. Sie pendelte zwischen der Betreuung des Kindes und ihren beruflichen Tätigkeiten. Ständig fühlte sie sich unter Zeitdruck.

«Es fühlte sich an, als hätte ich gestutzte Flügel. Flügel hatte ich zweifellos, nur das Abheben gelang nicht mehr.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 72

An manchen Tagen fragte sie sich, ob sie je wieder im Beruf aufholen könne und ob das Ohnmachtsgefühl, etwas zu verpassen, normal sei. Zugleich empfand sie Neid gegenüber den jungen Vätern, die wie bisher weiterarbeiten konnten und von der neuen Vaterrolle – die Stabilität und Verlässlichkeit verkörperte – sogar noch profitierten.

Logische Konsequenz der Gleichberechtigung

1982 kam Tochter Denise und zwei Jahre später Sohn Stephan zur Welt. Die Doppelbelastung und das Gefühl, den beruflichen Anschluss verloren zu haben sowie die Karriere zu vernachlässigen, stieg. Als Stephan drei Jahre alt war, spürte Regula Kyburz-Graber, dass sich etwas ändern müsse. Als sie dies unter Tränen der Wut und Enttäuschung ihrem Mann mitteilte, bot dieser an, sein Arbeitspensum auf 60 Prozent zu reduzieren. Regula Kyburz-Graber beschreibt dies als neue Freiheit, die sie sich gegenseitig gegeben hatten, aus Sicht der Gleichberechtigung sei es aber lediglich die logische Konsequenz. Die Reduktion des Beschäftigungsgrades führte dazu, dass Peter nicht mehr Teil der Geschäftsleitung sein konnte. Trotz dessen erarbeitete er sich eine Position als schweizweit anerkannter Spezialist für Kooperationen in der Landwirtschaft.

Frau Professorin

Eines Tages entdeckte Regula Kyburz-Graber ein Inserat der Philosophischen Fakultät der UZH, das wie auf sie zugeschnitten war. Es handelte sich um ein halbes Extraordinariat für Gymnasialpädagogik. Als nach langem Warten ihr erster Platz bestätigt wurde, war sie endlos glücklich und erleichtert. So wurde Regula Kyburz-Graber 1998 die erste Professorin an einem Höheren Lehramt in der Schweiz und die erste Professorin in der Pädagogik an der UZH. Sie baute ein interdisziplinäres Lehrstuhlteam auf, an dem unter anderem auch Psycholog*innen arbeiteten. 2004 wird sie Prodekanin für Ressourcen an der Philosophischen Fakultät, ein Jahr später ordentliche Professorin und 2007 auf eigene Initiative die neue Direktorin des Instituts für Gymnasial- und Berufspädagogik der UZH.

Forderung nach Gleichstellung

Um das Jahr 2000 wurde an der UZH die Forderung nach der Berufung von Frauen immer lauter. Um dem gerecht zu werden, wurde bei Ausschreibungen das Anstreben eines höheren Frauenanteils angegeben. Regula Kyburz-Graber war der Meinung, dass es diesen Satz nicht bräuchte, wenn Frauen in der frühen Karrierephase angemessen gefördert würden. Zudem beobachtete sie, dass Angaben zur privaten Lebenssituation für Frauen hinderlicher waren als für Männer. Waren Frauen unverheiratet, so wurde befürchtet, dass ihnen die emotionale Unterstützung fehle. Hatten sie keine Kinder, wurden Fragen zur Situation des Mannes gestellt, hatten sie Kinder, wurde ihre Verfügbarkeit und Belastbarkeit bezweifelt.

Obwohl aktuell 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, beträgt der Frauenanteil unter den Professor*innen lediglich 23 Prozent (Schärer, 2021). Stets arbeitet die UZH an der Chancengleichheit, beispielsweise werden zunehmend Teilzeitprofessuren angeboten (Gull, 2020). Mehr dazu unter http://www.gleichstellung.uzh.ch.

Als Regula Kyburz-Graber 1998 Professorin wurde – 30 Jahre nach der Berufung der ersten Professorin an die UZH – waren lediglich sieben Prozent der Professor*innen Frauen und dies, obwohl der Frauenanteil unter den Studierenden bei knapp 50 Prozent lag. Professorinnen mit Kindern gab es laut Regula Kyburz-Graber nur ganz selten. Zudem beschreibt sie, dass die Professorinnen keinen besonderen Kontakt untereinander pflegten und sich daher Solidarität unter Frauen kaum entwickelte. Jede ging ihren eigenen Weg.

Steinig, aber lohnend

Regula Kyburz-Graber verdeutlicht in ihrem Buch «Professorin werden», dass sie es als Frau und Mutter auf dem akademischen Karriereweg nicht immer einfach hatte und bestimmt schwerer als Männer mit ähnlichen Qualifikationen. Das Buch ist voller lebhafter Anekdoten, die diese Schwierigkeiten veranschaulichen. Gleichzeitig macht sie den Leser*innen klar, dass sich dieser Weg für sie gelohnt hat, und sie glücklich auf ihn zurückblickt. Sie zeigt auf, wie viel sich seit ihrem Karrierebeginn geändert hat, aber auch, wie viel sich noch ändern muss. Veraltete Rollenbilder, Vorurteile und strukturelle Hürden. Auf subtile Weise hält sie den Leser*innen den Spiegel vor und regt sie zum Nachdenken an. Habt ihr je (innerlich) einen Vortragenden für seine Kleidung kritisiert? Und eine Vortragende? Habt ihr je Defizite in der Lehre eines Professors mit hoher Fachkompetenz entschuldigt? Habt ihr je darüber nachgedacht, dass Frauen ohne Militärerfahrung einen Karrierenachteil haben, aufgrund fehlender Führungserfahrung und verpasster Chance, ein Netzwerk aufzubauen?

Trotz zahlreicher Einblicke in das Leben von Regula Kyburz-Graber bleibt ihre Gefühlswelt den Leser*innen in vielen Situationen verwehrt. Was hat sie wohl empfunden, als ihr Mann zum wiederholten Mal als Herr Professor angesprochen und sie als die treu besorgte Ehefrau angenommen wurde? Auch lässt sie die Leser*innen leider nicht daran teilhaben, wie sie den Stress der Doppelbelastung und der Unsicherheit bewältigte und ihre psychische Gesundheit schützte.

Mutmacher für junge Wissenschaftler*innen?

Trotz vielen Herausforderungen haben Regula Kyburz-Graber und ihr Mann ihr Ziel erreicht. Beide übten eine berufliche Tätigkeit aus, die sie erfüllte und konnten parallel die Entwicklung ihrer Kinder unterstützen. Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: «Wenn es damals ohne unterstützende gesellschaftliche Rahmenbedingungen möglich war, dann heute erst recht!». Ferner beschreibt sie, wie ihre Familie ihre Karriere positiv beeinflusste. Sie habe dank der Familie gelernt, flexibel zu sein, sich zu organisieren, genau zuzuhören, gemeinsam nach geeigneten Lösungen zu suchen sowie Entscheide, wenn nötig, zu revidieren. Überdies demonstriert sie, dass sinnhafte Forschung es wert ist, sich dafür einzusetzen und, dass auch scheinbar zerstückelte Biografien am Ende zusammenpassen sowie wenig gradlinige Karrierewege erfolgreich sein können. Diese Ausführungen können junge Wissenschaftler*innen im Hinblick auf ihre Karriere zuversichtlich stimmen.

Manche Leser*innen mögen die vielen Hürden, denen Regula Kyburz-Graber auf ihrem Karriereweg begegnete, vielleicht eher abschrecken. So erzählt sie, dass ihre drei Kinder ihre akademische Karriere aufgrund der riesigen Doppelbelastung und der Unsicherheiten als nicht nachahmenswert empfinden.

Ratgeber für junge Wissenschaftler*innen?

Regula Kyburz-Graber macht mehr als klar, wie wichtig es für ihre Karriere war, die Familienarbeit mit ihrem Mann zu teilen. Dieses partnerschaftliche Familienmodell ist gemäss ihr der Schlüssel zur Karriere als Frau und damit zur Gleichstellung. Wenn Männer nicht die gleiche Verantwortung in der Familie übernähmen, würde die grosse Arbeitslast mit Berufs- und Familienarbeit weiterhin einseitig bei den Frauen liegen, schreibt sie. Damit dies möglich ist, müssen beide Partner*innen bereit sein, ihren Beschäftigungsgrad zu reduzieren und die Arbeitgeber*innen müssen solche Teilzeitstellen zur Verfügung stellen.

Auch weitere Ratschläge lassen sich dem Buch entnehmen. So beschreibt Regula Kyburz-Graber beispielsweise, wie wichtig es ist, sich immer wieder über seine kurz- und langfristigen Ziele bewusst zu werden. Sie teilt mit, dass man seinen eigenen – für sich sinnhaften – Weg gehen soll und betont, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. Zudem empfiehlt sie an Diskussionen aktiv teilzunehmen, um Kontakte zu knüpfen sowie Impulse zu erhalten. Auch das Verbinden von Empathie und Selbstbewusstsein, einen interdisziplinären Forschungsansatz und ein hohes Mass an Flexibilität gibt sie als bedeutsam an.

Dankbarkeit

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, verspürte ich Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber Regula Kyburz-Graber und allen anderen Frauen, die den Weg für zukünftige Generationen ebneten. Die einerseits bewiesen, dass Frauen erfolgreich akademische Karrieren einschlagen können und anderseits, dass sich diese mit dem Gründen einer Familie verbinden lässt. Dankbarkeit für all die Entwicklungen der letzten Jahre, die das Kombinieren von Karriere und Familie erleichterten und den Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung antrieben. Besser denn je verstand ich nun die Wichtigkeit von kleinen und grossen strukturellen Veränderungen wie Blockzeiten, Mittagstischen, Homeoffice und Teilzeitarbeit auf der einen Seite, und Entwicklungen in der Einstellung der Gesellschaft, wie verständnisvollen Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen, von Frauenförderung sowie partnerschaftlichen Familienmodellen auf der anderen. Das Ziel der Gleichstellung ist noch nicht erreicht, aber es wird besser. Wenn ich heute durch die Gänge der UZH laufe, fühle ich mich nicht als Eindringling in diese akademische Welt, sondern als Teil davon.


Zum Weiterlesen

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt.

Literatur

Gull, T. (2020). Buchvernissage Professorin werden. Universität Zürich. https://www.news.uzh.ch/de/articles/2020/buchvernissage_professorin_werden.html

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt. Schärer, A. (2021). Gleichstellung und Diversität. Universität Zürich. https://www.gleichstellung.uzh.ch/de/gleichstellungsmonitoring