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Mit ‘ADHS’ getaggte Beiträge

ADHS im sozialen Kontext

Wenn Beziehungen weder halten, noch Halt bieten können

Viele ADHS-Patienten haben Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Impulsivität, emotionale Dysregulation und Unaufmerksamkeit tragen dazu bei, dass sie sich selbst als Außenseiter wahrnehmen – und auch als solche behandelt werden.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Viktoria Zöllner und Madeleine Lanz
Illustriert von Selina Landolt

Soziale Beziehungen geben uns Halt. Sie ermöglichen uns, Erfahrungen zu machen, aus denen wir lernen können, geben uns Sicherheit, wenn etwas schief geht und bieten emotionale Unterstützung, wenn wir uns schlecht fühlen. House, Landis und Umberson (1988) vermuten sogar, dass soziale Isolation einen bedeutenden Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit und Mortalität hat. Doch nicht allen fällt das Aufbauen solcher Beziehungen gleichermassen leicht. Isolation und das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören sind äusserst belastend und führen letztendlich häufig zur Resignation: Man findet ja sowieso keinen Anschluss, warum sollte man es überhaupt noch versuchen?

ADHS-Patienten stellen diesbezüglich eine Risikogruppe dar. Weshalb das so ist, hat vielerlei Gründe, doch es scheint, als ob gerade die Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von sozialen Fertigkeiten haben (Friedman et al., 2003). Selbst wenn es gelingt Freundschaften aufzubauen, so scheitern doch viele an deren Aufrechterhaltung.

Soziale Kompetenzdefizite bei ADHS

ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Die Auswirkungen der drei Leitsymptome von ADHS, Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, beschränken sich keineswegs auf die Konzentrationsfähigkeiten von Schulkindern. Tatsächlich ist die schulische Leistungseinbusse lediglich die Spitze des Eisberges. Organisationsschwierigkeiten, emotionale Dysregulation und impulsive Handlungen stellen auch in sozialen Situationen grosse Hürden dar (Barkley, 1997). Impulsivität und Hyperaktivität führen dazu, dass man vom Gegenüber als unhöflich, nervig oder anstössig angesehen wird. Unaufmerksamkeit in Gesprächen oder das Vergessen von Verabredungen vermittelt dagegen den Eindruck, die andere Person sei einem nicht wichtig genug oder man versuche gar nicht, sich für die Beziehung einzusetzen. Folglich sind Reaktionen aus dem sozialen Umfeld bereits im Kindesalter häufig negativ. Friedman und Kollegen (2003) fanden auch im emotionalen Kompetenzbereich bedeutende Unterschiede zwischen ADHS-Patienten und einer Kontrollgruppe. ADHS-Patienten bewerten dargestellte Emotionen generell als intensiver, wobei Verachtung und Ekel als besonders intensiv herausstechen. Dennoch scheinen ADHS-Patienten wichtige soziale Hinweise zu verpassen. Dies zeigt sich in der Überraschung bei negativen Reaktionen, welche für sie scheinbar aus dem Nichts kommen.

«Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you’re broken.»

Jessica McCabe, 2017

Gemeinsam führen alle diese Faktoren dazu, dass viele ADHS-Patienten sich nie wirklich zugehörig, verstanden oder gemocht fühlen. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sie unbeliebt sind, was wiederum zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor Ablehnung führt (King & Young, 1982). Dieses Gefühl, nicht wirklich hineinzupassen, zieht sich oft bis ins Erwachsenenalter und wird dadurch, dass negative Reaktionen aufgrund vorheriger Erfahrungen erwartet werden, noch weiter verstärkt (Scharf, Oshiri, Eshkol, & Pilowsky, 2014).

Beziehungen aufbauen

Beziehungen aufzubauen kann schwierig sein; schwierig genug, dass viele ADHS-Patienten daran scheitern. Freundschaften zu knüpfen fällt gewissen Leuten leichter als anderen – Faktoren wie Offenheit oder Extraversion spielen dabei eine bedeutende Rolle. Für ADHS-Patienten ist diese Palette an relevanten Faktoren um einiges breiter als für neurotypische Personen. Impulsives Verhalten bedeutet nicht nur, dass man jetzt sofort eine Idee verwirklichen muss, sondern auch, dass man den Gedanken, den man gerade hatte, einfach ausspricht – um dann zu merken, dass er unangebracht oder verletzend ist (Friedman et al., 2003). Dazu kommt, dass Hyperaktivität und plötzliche Stimmungsschwankungen das Umfeld häufig überfordern. Gerade beim Aufbau neuer Bekanntschaften kann das fatal sein; warum sollte man seine Zeit darauf verwenden jemanden zu verstehen, der einen überfordert, wenn man ihn noch gar nicht wirklich kennt? An dieser Haltung ändert sich auch im Erwachsenenalter nur selten etwas.

Definition von ADHS

Die drei Leitsymptome von ADHS sind Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit. Es zeigt sich eine Tendenz häufig von einer Tätigkeit zur nächsten zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen. Mangelnde Impulskontrolle resultiert in einer Neigung zu Unfällen und Regelverletzungen, die eher in Unachtsamkeit als in Vorsätzlichkeit gründen. ADHS-Kinder sind unbeliebt und können isoliert sein, was zu dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl beitragen kann.

Aber was ist mit den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Patienten? Die TagträumerInnen begegnen dem gleichen Problem, auf andere Weise: Sie ecken an. Nicht, weil sie laut oder rüde wären, sondern weil sie abgelenkt sind – inmitten von Unterhaltungen, Unterrichtsstunden oder wenn sie zu einer Verabredung aufbrechen müssten. Verspätungen sind an der Tagesordnung und das erweckt schnell den Eindruck, dass sie sich keine Mühe geben, eine Bekanntschaft besser kennenzulernen. Sogar gewisse Coping-Mechanismen, wie beispielsweise Fidget Toys, die ihnen helfen könnten sich besser zu konzentrieren, werden häufig als unhöflich betrachtet und missbilligt. Die negative Rückmeldung von aussen wird aber keineswegs ignoriert. Im Gegenteil, Ablehnung wird von ADHS-Patienten äusserst heftig empfunden und Defizite in der Emotionsregulation erschweren die Kontrolle dieser Gefühle (Scharf et al., 2014). Auch daran ändert sich mit dem Alter nur selten etwas.

«Anticipating rejection is a self-fulfilling prophecy as exhibited in maladjusted social behavior. […] ADHD symptoms were associated with higher levels of rejection sensitivity, as well as lower levels of social adjustment.»

Scharf et al., 2014

Stattdessen fühlen sich viele ADHS-Patienten zunehmend missverstanden. Negative Reaktionen des Gegenübers scheinen ohne Vorwarnung über sie hereinzubrechen, weil sie offenbar etwas, das für alle anderen sonnenklar ist, nicht verstehen. Diese frühen Erfahrungen mit Ablehnung prägen viele ADHS-Patienten gewaltig. Während die einen mit Wut reagieren, werden andere ängstlich. In beiden Fällen entsteht eine selbsterfüllende Prophezeiung: In der Erwartung abgelehnt zu werden, verhalten sie sich aggressiver oder ziehen sich noch mehr zurück, was wiederum vermehrt zu tatsächlicher Ablehnung führt und ihre Erwartung bestätigt und festigt (Scharf et al., 2014). Je weiter sich die Betroffenen zurückziehen, umso weniger Erfahrung können sie zudem im Umgang mit ihren Mitmenschen sammeln, wodurch sich die Diskrepanz zwischen ihnen und ihrer Altersgruppe weiter verstärkt. Positive Beziehungen zu Gleichaltrigen beeinflussen nicht nur die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, auch akademischer Erfolg und Anpassungsfähigkeit in schulischen Settings profitieren von guten Freundschaften (Ladd, Kochenderfer, & Coleman, 1996). Doch gerade in Bezug auf akademische Situationen gibt es noch einen weiteren Faktor, der das Knüpfen sozialer Beziehungen massiv erschwert: Stigmatisierung. Canu, Newman, Morrow und Pope (2008) entdeckten, dass bereits das Label ADHS ausreicht, damit Studierende die angeblichen ADHS-Patienten im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS negativer bewerteten – obwohl die Zielperson keinerlei ADHS-Symptome zeigte.

Resignation und Akzeptanz gegenüber der subjektiv wahrgenommenen Tatsache, dass sie nie Freunde finden, können das Resultat sein. Glücklicherweise gilt dieses ausweglose Muster nicht für alle ADHS-Patienten.

Beziehungen aufrechterhalten

Tatsächlich sind nur wenige ADHS-Patienten wirklich völlig freundeslos, obwohl die zuvor beschriebenen Mechanismen fast alle Betroffenen beträchtlich beeinträchtigen (Marton, Wiener, Rogers, & Moore, 2015). Dennoch gelingt es vielen, allen Widrigkeiten zum Trotz, dyadische Freundschaften aufzubauen (Normand et al., 2013). Unglücklicherweise ist aber das Vorhandensein von sozialen Beziehungen allein nicht genug. Dieser Halt, den Beziehungen mit sich bringen, hängt beträchtlich von deren Qualität und insbesondere deren Stabilität ab. Obwohl ADHS-Patienten schon im Kindesalter nur selten freundeslos sind, so zeigen sich doch Unterschiede in den Freundschaften von ADHS-Kindern, gegenüber neurotypischen Vergleichsgruppen. Beispielsweise verabreden sich ADHS-Kinder häufiger in der Schule oder auf dem Spielplatz, als bei sich oder ihrem Freund Zuhause (Heiman, 2005). Besonders auffällig ist die durchschnittliche Dauer von Freundschaften, welche für ADHS-Kinder kürzer ist (Marton et al., 2015). Dabei sind die gleichen Faktoren entscheidend, wie beim Knüpfen neuer Kontakte: Defizite bei der Impulskontrolle, Unaufmerksamkeit, das Übersehen von subtilen negativen Rückmeldungen und emotionale Dysregulation senken die Beziehungsqualität über die Zeit (Normand et al., 2013). Zusätzlich scheinen ADHS-Kinder generell weniger Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich weniger in Gesprächen zu engagieren (Newcomb & Bagwell, 1995). Doch gilt all das auch für erwachsene ADHS-Patienten?

Im Jugendalter zeigt sich häufig ein leichter Rückgang der Hyperaktivitätssymptomatik (Harpin, 2005), die Problematiken von Unaufmerksamkeit und Impulsivität verändern sich dagegen kaum. Dennoch gelingt es vielen ADHS-Patienten ab der Pubertät besser, sich bei ihren Mitschülern beliebt zu machen – vorausgesetzt, dass sie bis dahin noch nicht resigniert haben. Nicht wenige werden sogar zu ausserordentlich populären Schülern, Studierenden, Lehrlingen und später Mitarbeitenden. Doch Peer-Akzeptanz ist nicht mit Freundschaft gleichzusetzen. Während Freundschaft eine enge Beziehung zwischen zwei Personen darstellt, welche auf Gegenseitigkeit beruht, ist PeerAkzeptanz nichts weiter, als von der Mehrheit der Gleichaltrigen gemocht und nur von wenigen abgelehnt zu werden (Mikami, 2010). Dennoch sind die beiden Konstrukte miteinander verknüpft. Akzeptanz von Gleichaltrigen hilft niedriges Selbstwertgefühl wieder zu heben, wodurch die Chance positive Beziehungen aufzubauen steigt (Mikami, 2010). Nichtsdestotrotz gibt es durchaus Menschen, die äusserst beliebt sind, aber keine echten Freunde zu haben scheinen. Besonders extravertierte ADHS-Patienten laufen Gefahr in dieses Muster zu verfallen. Neue Bekanntschaften sind interessant und es wird schnell die gesamte Freizeit in diese eine Person oder Gruppe investiert. Solche Freundschaften entwickeln sich rasant und sie reichen oft tiefer als zu erwarten wäre; Vertrauen ist schnell geschenkt und schon nach wenigen Wochen scheinen sie alles übereinander zu wissen. Doch die wenigsten dieser Beziehungen überdauern länger als drei Jahre (Marton et al., 2015).

Woran scheitern solche Freundschaften?

Der häufigste Grund ist so simpel wie tragisch: Über die Zeit verliert man den Kontakt. Natürlich spielen auch im Erwachsenenalter die ADHS-Symptome noch eine grosse Rolle, doch die meisten Beziehungen scheitern nur indirekt am ADHS selbst. Sei es ein voller Terminplan, eine neue Beziehung oder schlicht neue Bekanntschaften, die Zeit beanspruchen: Irgendwann muss in jede Freundschaft aktive Arbeit investiert werden, um sie aufrechtzuerhalten. Obwohl viele ADHS-Patienten als Erwachsene akzeptiert werden, sitzt vergangene Ablehnung tief, wodurch das Bedürfnis nach Bestätigung wächst. Die erhöhte Sensitivität gegenüber Ablehnung (Scharf et al., 2014) lässt Betroffene zögern, wenn sie sich bei ihren Freunden melden wollen, mit dem Gedanken, dass eine Initiative des Gegenübers bestätigen würde, dass sie wirklich gemocht werden. Dadurch wird der Kontakt immer seltener, bis man sich letztendlich aus den Augen verliert.

Stigmatisierung von ADHS gründet in den vielen Mythen, die es über die Störung gibt. Obwohl viele ADHS-Patienten versuchen, ihr Umfeld über ihre Kondition aufzuklären, stossen sie oft auf taube Ohren. Mittlerweile gibt es aber verschiedene Blogs, Websites (z.B. add.org) und YouTube Channels (z.B. How to ADHD), die versuchen die Forschung zu ADHS für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Davon profitieren nicht nur Eltern, Partner|innen und Freunde von ADHS-Patienten, sondern auch die Betroffenen selbst.

Der zweithäufigste Grund dagegen scheint dem stereotypischen Bild von ADHS zu entsprechen: mangelnde Impulskontrolle (Normand et al., 2013). Emotionale Dysregulation wirkt sich nicht nur auf negative Emotionen aus. Übermässige Begeisterung oder gute Laune können ebenso gut wie Wut zu unachtsamen oder beleidigenden Kommentaren führen, die Konflikte verursachen, welche nicht immer gelöst werden können. Meist fühlen sich ADHS-Patienten schuldig, sobald sie merken, dass sie ihr Gegenüber verletzt haben. Aus diesen Schuldgefühlen, die sie ebenso schlecht regulieren können wie andere Emotionen, entstehen häufig Überreaktionen, die von den Betroffenen selbst als unnötig aber unkontrollierbar empfunden werden. Dadurch können eigentlich harmlose Auseinandersetzungen verhängnisvolle Ausmasse annehmen und gute Freundschaften zerstören.

Über die Jahre wird dieses Aufbauen und Verlieren von Freundschaften für viele Betroffene zur Normalität. Anstatt sich ablehnen zu lassen, lassen sie sich vom nächsten Projekt ablenken und sagen sich, dass sie nie wirklich irgendwo dazugehören werden. Und doch finden sie neue Freunde, gehen Beziehungen ein und suchen nach diesem Zugehörigkeitsgefühl, diesem Halt, den sie sich selbst absprechen.


Zum Weiterlesen

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17 (1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship Characteristics of Children With ADHD. Journal of Attention Disorders, 19 (10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971

McCabe, J. (2017). Failing at Normal: An ADHD Success Story | Jessica McCabe | TEDxBratislava [Video file]. Zugriff unter https://www.youtube.com/watch?v=JiwZQNYlGQI

Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84 (2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391

Literatur

Barkley, R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin, 121(1), 65–94. doi: 10.1037/0033-2909.121.1.65

Canu, W. H., Newman, M. L., Morrow, T. L., & Pope, D. L. W. (2007). Social appraisal of adult ADHD. Journal of Attention Disorders, 11(6), 700–710. doi: 10.1177/1087054707305090

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17(1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

Harpin, V. A. (2005). The effect of ADHD on the life of an individual, their family, and community from preschool to adult life. Archives of Disease in Childhood, 90, i2–i7. doi: 10.1136/adc.2004.059006

Heiman, T. (2005). An examination of peer relationships of children with and without attention deficit hyperactivity disorder. School Psychology International, 26(3), 330–339. doi: 10.1177/0143034305055977

House, J., Landis, K., & Umberson, D. (1988). Social relationships and health. Science, 241(4865), 540–545. doi: 10.1126/science.3399889

King, C., & Young, R. D. (1982). Attentional deficits with and without hyperactivity: Teacher and peer perceptions. Journal of Abnormal Child Psychology, 10(4), 483–495. doi: 10.1007/BF00920749

Kofler, M. J., Harmon, S. L., Aduen, P. A., Day, T. N., Austin, K. E., Spiegel, J. A., … Sarver, D. E. (2018). Neurocognitive and behavioral predictors of social problems in ADHD: A Bayesian framework. Neuropsychology, 32(3), 344–355. doi: 10.1037/neu0000416

Ladd, G. W., Kochenderfer, B. J., & Coleman, C. C. (1996). Friendship quality as a predictor of young children’s early school adjustment. Child Development, 67(3),1103. doi: 10.2307/1131882

Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship characteristics of children with ADHD. Journal of Attention Disorders, 19(10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971

McCabe, J. (2017). Failing at Normal: An ADHD Success Story | Jessica McCabe | TEDxBratislava [Video file]. Zugriff unter https://www.youtube.com/watch?v=JiwZQNYlGQI

Mikami, A. Y. (2010). The Importance of friendship for youth with attention deficit/hyperactivity disorder. Clinical Child and Family Psychology Review, 13(2), 181–198. doi: 10.1007/s10567-010-0067-y

Newcomb, A. F., & Bagwell, C. L. (1995). Children’s friendship relations: A meta-analytic review. Psychological bulletin, 117(2), 306.

Normand, S., Schneider, B. H., Lee, M. D., Maisonneuve, M.-F., Chupetlovska-Anastasova, A., Kuehn, S. M., & Robaey, P. (2013). Continuities and changes in the friendships of children with and without ADHD: A longitudinal, observational study. Journal of Abnormal Child Psychology, 41(7), 1161–1175. doi: 10.1007/s10802-013-9753-9

Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84(2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391

Stigmatisierung

Auswirkungen von Stigmata auf Kinder und Erwachsene mit Depressionen und ADHS 

Depressionen und ADHS gehören zu den in der Kindheit am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Obwohl ADHS oft als reine Kinderkrankheit angesehen wird, bleiben beide Störungen oft über die Kindheit hinaus bestehen. Beide werden stark stigmatisiert, was sich erheblich auf Betroffene auswirkt.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Sarah Ihn und Lisa Makowski
Illustriert von Kerry Willimann

Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind die beiden meistdiagnostizierten emotionalen und verhaltensbezogenen Störungen im Kindesalter. Sie werden zudem extrem stigmatisiert, wobei sich gängige Stereotypen auf Gefährlichkeit, Inkompetenz und Störverhalten beziehen (Mukolo, Heflinger, & Wallston, 2010). In Übereinstimmung damit nehmen Jugendliche depressive Peers als gefährlicher wahr (Walker, Coleman, Lee, Squire, & Friesen, 2008). Vergleichsweise werden Peers mit ADHS als Faulenzer gesehen und als anfälliger dafür, in Schwierigkeiten zu geraten (Wiener et al., 2012). Zwar werden lebenslange Störungen wie ADHS im Allgemeinen eher stigmatisiert als temporäre, jedoch zeigt sich bei Depressionen eine stärkere Stigmatisierung als bei ADHS (Walker et al., 2008).

Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen

In einer Studie, in der die Ansichten von Kindern bezüglich Ursachen von Depressionen und ADHS untersucht wurden, waren 25-33 Prozent der teilnehmenden Kinder der Meinung, dass «sich nicht genug anstrengen» eine Ursache für eine kindliche Störungen sei (Coleman, Walker, Lee, Friesen, & Squire, 2009).

«[…] for a child with depression or ADHD, at least one in four peers believes the child is to blame for the condition.» Coleman et al., 2009

Da störendes Verhalten von Kindern generell weniger toleriert wird als das von Erwachsenen, ist es leider keine Überraschung, dass Depressionen bei Kindern negativer bewertet werden als Depressionen bei Erwachsenen, wobei jüngere Kinder einer stärkeren Stigmatisierung ausgesetzt sind als ältere Kinder (Walker et al., 2008; Mukolo et al., 2010).

ADHS-Symptome werden von Erwachsenen vielfach grundsätzlich stigmatisiert. Zusätzlich gibt es eine generelle Skepsis gegenüber ADHS-Medikamenten, basierend auf der Behauptung, dass die Erkrankung überdiagnostiziert werde (Wiener et al., 2012). Typische Argumente von Skeptikern beinhalten, dass ADHS eine Folge schlechter Erziehung oder zu vielen Videospielen sei, oder gänzlich von der Pharmaindustrie erfunden wurde (Masuch, Bea, Alm, Deibler, & Sobanski, 2018). Darüber hinaus werden die Symptome von ADHS-Kindern oft fälschlicherweise als kontrollierbar angesehen, was bei Eltern, Lehrern und Peers Wut und Frustration auslösen kann. Dies kann wiederum zu Strafreaktionen von Lehrern führen, die glauben, dass das Verhalten an Klassenzimmerstandards angepasst werden könnte (Wiener et al., 2012). Vielen Lehrern fehlen akkurate Informationen über die Vielfalt von ADHS-Symptomen, da sie sich auf das Fernsehen, Zeitschriften oder Freunde und Verwandte als primäre Wissensquellen über die Störung verlassen (Bell, Long, Garvan, & Bussing, 2010).

Insgesamt werden psychische Störungen bei Kindern gleichermassen gnadenlos stigmatisiert wie bei Erwachsenen. Dies zeigt sich in negativen Reaktionen der Gesellschaft wie etwa vermehrten strafenden Reaktionen von Erwachsenen gegenüber Kindern mit psychischen Erkrankungen. Nicht selten wird die Familie für die Probleme des Kindes verantwortlich gemacht, und aussenstehende Erwachsene beschreiben eine Präferenz für soziale Distanz zum Kind und seiner Familie sowie eine Vorliebe für striktere Behandlungsmethoden, einschliesslich der Behandlung in restriktiven Settings, wie beispielsweise stationäre Therapien (Mukolo et al., 2010).

Direkte Folgen von Stigmatisierung

Laut Wiener et al. (2012) fühlen sich Kinder mit ADHS aufgrund ihres Verhaltens oft anders behandelt. Sie spüren die mit ihrer Diagnose verbundenen Stigmata und schämen sich – ein Gefühl, das ihre Eltern oft teilen. Negative elterliche Reaktionen auf Depressionen und ADHS können sich nachteilig auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken (Mukolo et al., 2010). Die von Betroffenen wahrgenommene Stigmatisierung ist mit geringerem Selbstwertgefühl und höherem Risiko für soziale Ablehnung verbunden (Wiener et al., 2012). Wichtiger noch, Kinder verinnerlichen bereitwillig negative Auffassungen anderer und haben daher eher stigmatisierende Ansichten bezüglich ihres eigenen psychischen Zustandes – ein Umstand, dem sich Therapeuten und Angehörige bewusst sein sollten (Coleman, 2009). Der Zusammenhang von internalisierten Stigmata und niedrigerem Selbstwert bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen (Masuch et al., 2018).

Stigmatisierung per Assoziation und Behandlungszugang

Obwohl Depression die häufigste emotionale Störung in der Kindheit ist, bleiben 75 Prozent der jugendlichen Betroffenen undiagnostiziert. Darüber hinaus werden nur 70 Prozent der mit Depressionen und 50 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Kinder tatsächlich therapeutisch unterstützt (Pescosolido et al., 2008). Dies ist zum Teil auf die starke Stigmatisierung der beiden Störungsbilder zurückzuführen, welche sich massgeblich darauf auswirkt, wie die Eltern auf kindliche Probleme reagieren. Dies beeinflusst sowohl den Zugang des Kindes zu psychologischen Hilfsangeboten, sowie deren Inanspruchnahme (Mukolo et al., 2010). Kinder sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, um professionelle Unterstützung zu erhalten, was zu verschiedenen Problemen führen kann (Mukolo et al., 2010). Zum einen erleben Familienmitglieder eines Kindes mit einer psychischen Erkrankung oft eine Stigmatisierung per Assoziation (Wiener et al., 2012). Dies führt dazu, dass Eltern sich sorgen, für die Probleme ihres Kindes verantwortlich gemacht zu werden, sollten Menschen in ihrem sozialen Umfeld herausfinden, dass ihr Kind psychologische Hilfe benötigt. Des Weiteren äussern Eltern Besorgnis darüber, marginalisiert zu werden, falls die Diagnose ihres Kindes publik würde. Darüber hinaus unterliegen auch Psychotherapeuten selbst einer Stigmatisierung, was ein weiteres Hindernis für die Inanspruchnahme psychologischer Dienste darstellt (Mukolo et al., 2010).

Ein- und Aufrechterhaltung der Behandlung

Wissensmangel, Misstrauen und uninformierte Urteile begünstigen Stigmatisierung und machen damit die (Un-)Fähigkeit der Gesellschaft, psychische Erkrankungen zu erkennen und verstehen, zu einer Determinante für die Entstehung von Stigmata. Dementsprechend ist die Fähigkeit zur Symptomerkennung der Eltern und deren Wissen über Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung ob professionelle Hilfe gesucht wird oder nicht (Pescosolido et al., 2008). Bedauerlicherweise kann die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern auch nach dem Überwinden all dieser Hindernisse von Stigmata beeinträchtigt werden. So werden z.B. Zielsetzungen und Methoden, die nicht mit elterlichen Überzeugungen übereinstimmen, behindert oder gänzlich abgelehnt. Infolgedessen stellt die Beteiligung der Familie für Therapeuten oft eine Herausforderung dar (Pescosolido et al., 2008).

Ein besonders stigmatisierter Aspekt der Therapie sind Psychopharmaka. Jugendliche mit einer psychiatrischen Diagnose schämen sich oft für ihren Zustand und den daraus resultierenden Medikationsbedarf. Sie tendieren dazu, sowohl ihre Diagnose als auch ihren Medikamentengebrauch geheim zu halten, was zu einer Reduktion von Interaktionen mit Peers führen kann, denen sie nicht vollständig vertrauen (Kranke, Floersch, Townsend, & Munson, 2010).

Spezifische Stigmata gegen ADHS bei Erwachsenen

Während die Validität von ADHS als psychische Störung im Allgemeinen bezweifelt wird, sind Erwachsene mit ADHS mit besonders ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert, da ADHS allgemein als Störung des Kindesalters gilt. Da ADHS angeblich «bei Erwachsenen nicht existiert», wird ihnen häufig vorgeworfen ihre Symptome zu fingieren, um an Stimulanzien zu gelangen (Masuch et al., 2018). Während viele Stereotypen aus dem Kindesalter bestehen bleiben, beinhalten die Attributionsüberzeugungen über ADHS bei Erwachsenen zusätzlich auch Drogenmissbrauch als vermeintliche Ursache für die Störung (Masuch et al., 2018).

Hürden bei der Hilfesuche für Erwachsene

Während Diskriminierung am häufigsten im Arbeits- und Bildungskontext antizipiert wird, befürchten viele Erwachsene mit ADHS auch, von medizinischen Fachkräften diskriminiert zu werden (Masuch et al., 2018). Die aktive Verleugnung von ADHS bei Erwachsenen durch bestimmte Ärzte verstärkt diese Angst und könnte eine mögliche Erklärung für den signifikanten Unterschied zwischen administrativer und epidemiologischer Prävalenz von ADHS sein (Masuch et al., 2018).

Bei erwachsenen Patienten mit Depression sind Selbststigmata ein wichtiger Faktor für die Suche nach psychologischer Hilfe (Barney, Griffiths, Jorm, & Christensen, 2006). Schamgefühle wegen der Einholung professioneller Hilfe sowie erwartete negative Reaktionen aus dem Umfeld sind bei depressiven Patienten weit verbreitet und können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, mit der um professionelle Unterstützung gebeten wird (Barney et al., 2006). Wahrgenommene Stigmatisierung zu Beginn der Therapie hängt signifikant mit dem späteren Behandlungsverhalten der Patienten zusammen (Sirey et al., 2001).

Ein Stigma kann definiert werden als die Ansicht, dass eine bestimmte Abweichung von der Norm bezüglich physikalischer Eigenschaften, Verhalten oder Charakter unerwünscht ist und ein negatives Gesamtergebnis darstellt. Es kann unterschieden werden zwischen öffentlichem Stigma, das sich in der Regel durch Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ausdrückt, und Selbststigmatisierung, die auftritt, wenn das stigmatisierte Individuum beginnt, diese verzerrten Ansichten zu akzeptieren. Öffentliche Stigmata variiert je nach Art der psychischen Störung, bleiben aber auch dann bestehen, wenn bekannt ist, dass eine Behandlung wirksam oder unnötig ist.


Zum Weiterlesen

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry49(2), 92–103. doi:10.1016/j.iaac.2009.10.011

Bowers, E. (2012, August 15). Countering the Social Stigma of Depression [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.everydayhealth.com/hs/major-depression/facing-social-stigma-of-depression/

Tartakovsky, M. (2018, July 8). Breaking the Silence of ADHD Stigma [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://psychcentral.com/blog/breaking-the-silence-of-adhd-stigma/

Literatur

Barney, L. J., Griffiths, K. M., Jorm, A. F., & Christensen, H. (2006). Stigma about depression and its impact on help-seeking intentions. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry40(1), 51–54. doi: 10.1080/j.1440-1614.2006.01741.x

Bell, L., Long, S., Garvan, C., & Bussing, R. (2010). The impact of teacher credentials on ADHD stigma perceptions. Psychology in the Schools48(2), 184–197. doi: 10.1002/pits.20536

Coleman, D., Walker, J. S., Lee, J., Friesen, B. J., & Squire, P. N. (2009). Children’s beliefs about causes of childhood depression and ADHD: A study of stigmatization. Psychiatric Services60(7), 950–957. doi: 10.1176/ps.2009.60.7.950

Kranke, D., Floersch, J., Townsend, L., & Munson, M. (2010). Stigma experience among adolescents taking psychiatric medication. Children and Youth Services Review32(4), 496–505. doi: https://doi.org/10.1016/j.childyouth.2009.11.002

Masuch, T. V., Bea, M., Alm, B., Deibler, P., & Sobanski, E. (2018). Internalized stigma, anticipated discrimination and perceived public stigma in adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders. doi: 10.1007/s12402-018-0274-9

Moses, T. (2010). Being treated differently: Stigma experiences with family, peers, and school staff among adolescents with mental health disorders.Social Science & Medicine70(7), 985–993. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.12.022

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,49(2), 92–103. doi: https://doi.org/10.1016/j.jaac.2009.10.011

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