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Beiträge aus der Kategorie ‘Wandel’

Schon gehört?

Let’s hit the Play-Button: Die Popularität von Podcasts

Heute haben doch eigentlich alle einen Podcast. Von Lifestyle über Beziehungstipps bis hin zu Ratschlägen für ein gesundes Leben. Podcasts besprechen heutzutage jedes erdenkliche Thema. Aber was fasziniert am Medium Podcast so sehr? Welchen Unterschied macht es aus psychologischer Perspektive, etwas zu hören, anstatt zu lesen?

Von Berit Barthelmes
Lektoriert von Stéphanie Loeffel und Norzin Bhusetshang
Illustriert von Kerry Willimann

Definitionen des Wortes «Podcast» findet man im Internet wie Sand am Meer. Was sie eint, wird unter anderem vom Bayerischen Rundfunk (BR) bündig auf den Punkt gebracht: Laut dem BR ist «Podcast» ein sogenanntes Kofferwort, welches sich aus einem Produkt der amerikanischen Firma Apple, «iPod» und dem englischen Wort für (Fernseh-)Sendung «Broadcast» zusammensetzt. Ein Podcast soll also Unterhaltungsprogramm bieten, jedoch nicht «für’s Auge», sondern «für’s Ohr».

Warum Podcasts hören

Podcasts sind für zahlreiche Menschen ein Ersatz für das nicht mehr in den Alltag passende Lesen. Sich in Ruhe mit einem Buch zum «Schmökern» zurückziehen fällt oft nicht mehr leicht oder scheint unmöglich. Eine Lösung kann es sein, Bücher, die man sich schon immer vorgenommen hatte zu lesen, einfach zu hören. Zusätzlich vorteilig ist, freie Hände beim Hören zu haben und währenddessen auf und ab laufen zu können. So ist ein Abwasch vielleicht schneller, ein Abendspaziergang weniger einsam oder die tägliche Runde Sport entspannter erledigt.

«Gesprochene Wörter lassen Tag für Tag ganze Welten in unseren Köpfen entstehen.»

Deutscher Podcast-Preis, 2022

Aber nicht nur zum Hören von Büchern sind Podcasts gut geeignet. Auch zu Politik, Themen der psychischen Gesundheit oder Sport wird in Podcasts diskutiert. Podcasts können also thematisch nach persönlichem Geschmack und Interesse ausgewählt und mit anderen Tätigkeiten verknüpft werden.

Aus wissenschaftlicher Perspektive stellen sich verschiedene Fragen: Was macht es mit uns, das geschriebene Wort nicht mehr selbst zu lesen, sondern vorgelesen bzw. vorgetragen zu bekommen? Welchen Unterschied macht es, wenn wir selbst lesen oder vorgelesen bekommen? Wie sind solche Unterschiede, auch in der eigenen Rezeption von Gehörtem oder Gelesenem untersuchbar?

Es war einmal …

Gerne wird dieser Satzanfang in Märchen gewählt. Dass es positive Effekte auf die Sprachentwicklung zu haben scheint, wenn im jungen Kindesalter häufig und regelmässig vorgelesen wird, erweist sich als bekannt und häufig untersucht (u.a. Foorman et al., 1997; Kalb & van Ours, 2014; Niklas et al., 2016). Ratgeber empfehlen Eltern, ihren Kindern bereits im Alter von drei bis vier Monaten vorzulesen (u.a. Zech, 2021). Vorgelesen zu bekommen, begleitet uns also schon ab dem frühen Kindesalter, ist sogar in den Vorstellungen vieler eine der zahlreichen vorbildlichen Aufgaben, die gute Eltern zu erfüllen haben.

Erwachsenen wird zwar immer noch vorgelesen – man denke an Vorlesungen in der Universität, eine Rede auf einer Hochzeit, die täglichen Nachrichten oder Lesungen von Autor*innen, die man in der Freizeit besucht – jedoch verfolgen diese auditorischen Medien unterschiedliche Ziele: von Wissens- und Informationsweitergabe bis hin zu Freizeitentspannung. Es zeigt sich ein unterschiedlicher Grad der Verbindlichkeit, mit dem auf das Gehörte eingegangen werden muss. Hören kann also vieles vermitteln und unterschiedlich anstrengend, gar fordernd sein. Fernab von der Kritik an bloss passivem Hören, bspw. im Universitätskontext (Renkl et al. 2020) scheinen Podcasts unterschiedlich (un)verbindliches «Alltagshören» anzubieten.

Ganz schön schnell

Von den fünf Sinnen des Menschen ist der Gehörsinn einer der leistungsfähigsten. Das Gehör nimmt Musik, Sprache und Umgebungsgeräusche in einer Differenziertheit wahr, die die Fähigkeiten anderer Sinnesorgane übertrifft. Das Gehör arbeitet sogar schneller als das Auge. Worte werden wesentlich schneller verstanden als Bilder verarbeitet: Im gleichen Zeitraum, in dem das Gehirn einen visuellen Reiz registriert, können zwischen sechs und acht Wörter verstanden werden. Das Gehör dient aber nicht nur dem Hören und Verstehen, es ist auch ein «Stimmungsmacher»: Die akustischen Signale, die das Gehör auffängt, können Emotionen wecken, wie zum Beispiel beim Hören von Musik (Wengel & Geier, 2022).

Radio, someone still loves you

Wissenschaftliche Untersuchungen zu der psychologischen Wirkung von Podcasts sind rar. Der Fokus der wissenschaftlichen Artikel, die sich finden lassen, bezieht sich meist auf Podcasts als Lernmedium: Wie können beispielsweise Student*innen mit der Hilfe von Podcasts besser lernen und Wissen behalten (Popova, 2008)? Wie können Podcasts im Bildungskontext generell eingesetzt werden (Zorn, 2011)?

Es stellt sich die Frage, ob konkrete Informationen zur Wirkung von Podcasts alternativ bei ihrem historischen Vorfahren, der Radioforschung zu finden sind (zu den Funktionen und psychologischen Wirkungen von Radio, Cantril & Allport, 1935). Schon früh wurde erkannt, dass Radio das Potential zum Massenmedium besass (Lazarsfeld, 1940), was sich in der Zeit des Nationalsozialismus tragisch bewahrheitete (BR, 2022). Mit Audio-Medien dieser Qualität wurden Massen erreicht, die vorher nie so drahtlos und vergleichsweise flexibel die neuesten Nachrichten und Musik etc. hören konnten. Nicht nur Queen gedachten der wesentlichen Rolle des Radios mit ihrem Welthit «Radio Ga Ga», in dem es heisst:

«Let’s hope you never leave, old friend /
Like all good things, on you we depend /
So stick around, ‚cause we might miss you /
When we grow tired of all this visual.»

Queen, 1984

Vielleicht sind wir heute tatsächlich von endlosen visuellen Eindrücken gelangweilt (oder überfordert?), wie Queen es treffend beschreiben und greifen deshalb auf das Audio-Medium zurück. Jedenfalls scheint das Medium Podcast das Medium Radio durch grössere Wahlfreiheit, weniger Werbung und mehr Spontanität bei der Möglichkeit des Abrufs und Downloads der Inhalte überholt zu haben (Bär, 2021).

Hören oder Lesen?

Spannend bleibt also die Frage, welchen Unterschied es macht, Texte zu lesen oder sie (in einem Podcast) bloss zu hören. Hierzu findet sich zahlreiche Literatur, die sich über die Psychologie bis in die Linguistik erstreckt. Es zeigt sich, dass Menschen, die sich beim Lesen schwertun, zu Audioquellen greifen können, welche ihnen das Verständnis und die Verarbeitung von Texten erleichtern (Aarnoutse et al., 1998). Die Leseflüssigkeit von Kindern im Grundschulalter erhöhte sich, wenn konsequent sogenannte «audiobooks» zur Unterstützung des Leseprozesses eingesetzt wurden (Friedland et al., 2017). Zugleich wird in Studien von einem Zusammenhang zwischen Hören und Lesen und einem gewissen Grad an Vorwissen und (Lern-)Erfahrung, wie zum Beispiel im Schul- oder Universitätskontext berichtet. Sind beide Wege des Verstehens und Antizipierens von Wissen ohne entsprechende Erfahrung noch unterschiedlich, so scheint der Unterschied zwischen dem Lese- und Hörverständnis mit zunehmender Leistung von Student*innen abzunehmen (Vidal, 2011). Beide Wege des Verstehens nähern sich also an.

In aktueller Forschung interessiert besonders der Effekt, den das Hören von Fremdsprachen auf das Sprachenlernen oder den Ausdruck haben kann. Die Tendenz ist hierbei, Hören und Lesen als Grundpfeiler von Sprachverständnis zu untersuchen (Cho & Krashen, 2019). Es zeigten sich unter anderem Beziehungen zwischen Wortschatz und Grammatik und dem Leseverständnis auf der Basis von Hörverständnis (Babayigit & Shapiro, 2019). Um eine letzte spannende Forschungskomponente in diesem Bereich aufzugreifen, sei auf den Unterschied zwischen dem «einfachen» Vorlesen einer Geschichte oder dem aktiven Geschichtenerzählen hingewiesen, den unter anderem Moussa und Koester (2021) mit nigerianischen Kindern erforschten. Hierbei zeigte sich, dass die Ergebnisse dieser Studie in Einklang mit zahlreichen vorangegangen Studien zu stehen scheinen (beispielhaft Isbell, 1979; Raines und Isbell, 1994; Isbell et al., 2004), in denen das freie Geschichtenerzählen als erfolgreiches Lerninstrument zur Förderung der Sprachentwicklung untersucht wurde. Isbell fand sogar Belege dafür, dass das Erzählen von Geschichten wirksamer war als das strikte Vorlesen. Ebenso stützen die Ergebnisse dieser Studie die Behauptung von Mallan (1992), dass Schüler*innen, die einer Geschichte lauschen, zusätzlich eine wesentliche Grundeigenschaft menschlicher Kommunikation lernen: Wie man zuhört. Somit erstreckt sich das Zuhören von Geschichten und das, was wir aus ihnen lernen können, nicht nur auf inhaltliche, sondern sogar auf soziale Komponenten.

Ein Wort der Achtsamkeit, da dies schnell untergehen kann: Wie bereits erwähnt ist unser Hörsinn sehr sensibel. So können zu laute Geräusche das Gehör nachhaltig schädigen. Es sollte also nicht vernachlässigt werden, wie viele starke Reize regelmässiges Podcasthören erzeugen kann (vgl. dazu eine Studie zur übermässigen Beschallung per Audio und deren Folgen, Keppler et al., 2010).

Festgehalten soll sein, dass die Forschung zu Podcasts, wie das Medium selbst, aktueller denn je und zugleich äusserst modern und im Vergleich zu «festgefahrenen» Medien wie dem Radio noch wenig erforscht ist. Stützt man sich auf Forschungsergebnisse zu auditiver Wahrnehmung im Vergleich zum gelesenen Wort wird man dahingehend fündiger. Der Jargon scheint hier zu sein: Hören und Lesen gehen Hand in Hand, wenn es um das Erlernen oder Verflüssigen einer Sprache geht. Für Erwachsene wie auch für Kinder können auditive Medien wie Podcasts also sprachlich und inhaltlich interessant sein – und damit mehr als blosse Unterhaltung.

Zum Weiterhören

Podcast-Tipps, verfügbar bei Spotify oder in der Podcast-App von Apple:

  • «The Happiness Lab» mit Dr. Lauria Santos, Professorin an der Yale University
  • «Die Lösung» Zu psychischen Problemen im Alltag
  • «Psychcast» Ein Podcast aus medizinischer Sicht
  • «Therapieland» Was passiert hinter den verschlossenen Türen der Psychotherapie?
  • «So bin ich eben» Einblicke in den Praxisalltag einer Psychotherapeutin


Literatur

J. Aarnoutse, C. A., van den Bos, K. P., & Brand-Gruwel, S. (1998). Effects of Listening Comprehension Training on Listening and Reading. The Journal of Special Education, 32(2), 115–126. https://doi.org/10.1177/002246699803200206

Babayigit, S., & Shapiro, L. (2019). Component skills that underpin listening comprehension and reading comprehension in learners with English as first and additional language: Listening and reading comprehension. Journal of Research in Reading, 43. https://doi.org/10.1111/1467-9817.12291

Bär, J. (2021). Pod­casts wei­ter­hin auf der Überholspur. STUDIO GONG. https://www.studio-gong.de/blog/podcasts-weiterhin-auf-der-ueberholspur/

Cantril, H., & Allport, G. W. (1935). The psychology of radio. Harper. 

Cho, K.-S., & Krashen, S. (2019). Pleasure reading in a foreign language and competence in speaking, listening, reading and writing. Teflin Journal – A publication on the teaching and learning of English, 30, 231. https://doi.org/10.15639/teflinjournal.v30i2/231-236

Deutscher Podcast Preis. (2022). https://www.deutscher-podcastpreis.de/

Foorman, B. R., Francis, D. J., Shaywitz, S. E., Shaywitz, B. A., & Fletcher, J. M. (1997). The case for early reading intervention. In B. A. Blachman (Ed.), Foundations of reading acquisition and dyslexia: Implications for early intervention (pp. 243–264). Lawrence Erlbaum Associates Publishers.

Friedland, A., Gilman, M., Johnson, M., & Ambaye, A.D. (2017). Does Reading-While-Listening Enhance Students‘ Reading Fluency? Preliminary Results from School Experiments in Rural Uganda. Journal of Education and Practice, 8, 82-95.

Isbell, R. (1979). In the beginning…Creative writing with young children. Tennessee Education, 9(1), 3-6.

Isbell R., Sobol, J., Lindauer, L., & Lowrance, A. (2004). The Effects of Storytelling and Story Reading on the Oral Language Complexity and Story Comprehension of Young Children. Early Childhood Education Journal, 32, 157-163.

Kalb, G., & van Ours, J. C. (2014). Reading to young children: A head-start in life? Economics of Education Review, 40, 1–24. https://doi.org/10.1016/j.econedurev.2014.01.002 

Keppler, H., Dhooge, I., & Maes, L. (2010). Short-term Auditory Effects of Listening to an MP3 Player. Arch Otolaryngol Head Neck Surg, 136(6), 538-548. https://doi.org/10.1001/archoto.2010.84

Lazarsfeld, P. F. (1940). Radio and the printed page; an introduction to the study of radio and its role in the communication of ideas. Duell, Sloan, & Pearce.

Mallan, K. (1992). Children as Storytellers. Portsmouth: Heinemann Educational Books, Inc.

Moussa, Wael & Koester, Emily. (2021). Effects of Story Read‐Aloud Lessons on Literacy Development in the Early Grades: Experimental Evidence From Nigeria. Reading Research Quarterly, 57. Ttps://doi.org/10.1002/rrq.427.

Niklas, F., Cohrssen, C., & Tayler, C. (2016). The Sooner, the Better: Early Reading to Children. SAGE Open, 6(4). https://doi.org/10.1177/2158244016672715

Raines, D. & Isbell, R. (1994). The child’s connection to the universal power of story. ChildhoodEducation, 70(1), 164-167.

Popova, A. (2008). Innovative pedagogical and psychological perspectives of podcasts. In J. Luca & E. Weippl (Eds.), Proceedings of EdMedia + Innovate Learning 2008 (pp. 3899-3903). Association for the Advancement of Computing in Education (AACE).

Renkl, A., Eitel, A., & Glogger-Frey, I. (2020). Die Vorlesung – nur schlecht, wenn schlecht vorgelesen: Warum eine gut gemachte Vorlesung einen Platz im Methodenrepertoire verdient. In R. Egger, B. Eugster (eds), Lob der Vorlesung. Doing Higher Education. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29049-8_6

Bayerischer Rundfunk. (2022). Audio-Trend Podcast: Acht Dinge, die Sie über Podcasts wissen sollten. Bayerischer Rundfunk. https://www.br.de/radio/bayern2/podcast-faq-fragen-100.html

Schneider, C. (2020). Medien: Geschichte des Radios. Medien – Kultur – Planet Wissen. https://www.planet-wissen.de/kultur/medien/geschichte_des_radios/index.html

Vidal, K. (2011). A Comparison of the Effects of Reading and Listening on Incidental Vocabulary Acquisition. Language Learning, 61, 219-258.

Wengel, A., & Geier, M. (2022). Sinne: Hören. Sinne – Natur – Planet Wissen. https://www.planet-wissen.de/natur/sinne/hoeren/index.html

Zech, L. (2021). Ab wann sollten wir unserem Baby vorlesen? familie.de. https://www.familie.de/artikel/ab-wann-sollten-wir-unserem-baby-vorlesen–jg2pgh9jjm

Zorn, I., Auwaerter, A., Krüger, M., & Seehagen-Marx, H. (2011). Educasting. Wie Podcasts in Bildungskontexten Anwendung finden.

Sprache

Wenn Tiere sprechen könnten 

Während wir uns der Sprache bedienen, um zu kommunizieren, geben Tiere Laute von sich. Wir alle unterscheiden uns so voneinander gemäss unserer artspezifischen Gruppe. Aber können Elefanten, See-Elefanten, Sing-Vögel und Delfine mit uns Gespräche führen?  

Von Jan Nussbaumer und Lisa Makowski
Lektoriert von Merrin Chalethu und Stefan Dorner

Tagtäglich kommunizieren wir miteinander. Als Menschen benutzen wir dabei unsere jeweilige Sprache, als Tier artspezifischen Laute (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Wann wir diese einsetzen, scheint evolutionsbedingt auf den ersten Blick sehr ähnlich. Soziale Kontexte und Situationen prägten und prägen den Sprach- beziehungsweise Lautgebrauch (Petkov, Logothetis, & Obleser, 2009). Tiere, wie zum Beispiel die südlichen Grünmeerkatzen, eine Affenunterart, geben Laute von sich, um auf diese Art und Weise ihre Artgenossen vor einem Raubtier zu warnen. Dabei haben sie verschiedene Laute für ihre drei grössten Feinde, nämlich Leoparden, Adler und Schlangen (Fedurek & Slocombe, 2011). Für Menschen scheint dies heute nur noch ein Teilbereich für den Einsatz von Sprache zu sein. In früheren Zeiten war es hingegen denkbar, dass man Sprache hauptsächlich dazu gebrauchte, seine Familienmitglieder vor einer Gefahr zu warnen (Fedurek & Slocombe, 2011). Existentielle Gefahren waren damals allgegenwärtig, die Menschen waren in ihren kleinen Gemeinschaften den Gefahren der Natur ausgeliefert. Gibt es hier also überhaupt einen Unterschied zwischen Mensch und Tier? Kommunizieren wir beide am Ende aufgrund der selben Hintergründe? 

Heutzutage weiss man von 6000 bis 7000 Sprachen, von denen allein nur circa 200 eine eigene Schriftsprache besitzen (Calude & Pagel, 2011). 

Unsere Sprache war zuerst eine reine Gebärdensprache, was sich auch an der engen neuronalen Verbindung des Motorkortex’ und den sprachlichen Regionen ablesen lässt (Simonyan, Ackermann, Chang, & Greenlee, 2016). Auch in unserer heutigen Kommunikation sind Gesten und Gesichtsmimik und vor allem auch nonverbale Kommunikation nicht wegzudenken. Wie sieht dies in der Tierwelt aus? Kommunizieren Tiere auch mit Gesten? Es zeigte sich, dass Makaken-Affen auch reine Mundbewegungen, entsprechend ihrer Laute, formen können (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Der Rhythmus beträgt dabei vier bis zu sieben Hertz (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Es zeigen sich hier Ähnlichkeiten und Parallelen zu dem Rhythmus unserer Sprache. Vielleicht entwickelte sich unsere Sprache also auch aus dem, was die Tiere heute noch tun, nur wir entwickelten uns weiter? Gegen diese gemeinsame Basis spricht, dass bei uns Menschen der motorischen Bewegung und dem Sprechen ein bimodaler Rhythmus zugrunde liegt, den man bei Affen so nicht finden kann (Ghazanfar & Takahashi, 2014). 

Sprache: Eine Definition 

Aber was ist Sprache überhaupt? Es ist dabei sehr wichtig, zwischen Sprache und Kommunikation zu differenzieren. Während Kommunikation auch bei Tieren möglich ist, scheint es sich mit dem Sprechen anders zu verhalten (Fitch, 2000). Kommunikation kann grundsätzlich auch ohne Sprache funktionieren und ist nicht nur auf akustische Reize beschränkt. Sprache dagegen hat ein definiertes Regelsystem und besteht aus einer begrenzten Anzahl Elemente, aus denen man wiederum eine unbegrenzte Anzahl von Phrasen bilden kann (Fitch, 2000). Man sagt auch, dass Sprache die komplexeste Fähigkeit des Menschen darstellt. 

Tiere können zwar auch zwischen akustischen und visuellen Reizen differenzieren. Können sie jedoch auch derart differenziert sprechen, wie es wir Menschen tun? Tiere können unterschiedliche Laute formen und diese auch gegebenenfalls adaptieren, aber nicht grundlegend verändern (Ghazanfar & Takahashi, 2014). Sie haben nicht genügend neuronale Plastizität, um ihr ursprüngliches Repertoire an Lauten auszubauen. Es zeigte sich zwar, dass es im Tierreich bei den Schimpansen zum Beispiel auch Dialekte gibt (Fedurek & Slocombe, 2011; Petkov et al., 2009). Diese Differenzierung basiert jedoch auf demselben Ursprung. Im Tierreich ist das Kommunikationsrepertoire genetisch festgelegt und nicht sehr ausbaubar. Man kann versuchen, Tieren Sprache beizubringen. Sie lernen dabei allerdings nur, etwas miteinander zu koppeln, können dies aber nicht über längere Zeit behalten oder gar weiterentwickeln. Unterscheiden wir uns also neuronal doch wesentlich in unseren Sprachprozessen? 

Wo und wie findet Sprache statt?  

Wie von Petkov und Kollegen (2009) beschrieben, ging Carl Wernicke davon aus, dass Sprache vor allem in der linken Gehirnhälfte stattfindet (Petkov et al., 2009). Auf diesem Grundgedanken beruht auch das sogenannte Wernicke Areal, welches neben dem Broca Areal lange Zeit als Sprachareal definiert wurde (Petkov et al., 2009). Jedoch zeigten Untersuchungen in den folgenden Jahren, dass man Sprache nicht unilateral betrachten kann (Simonyan et al., 2016). Sprache findet nicht nur links oder rechts statt, sondern ist ein wechselseitiges System, bei dem beide Gehirnhälften involviert sind. Des Weiteren geht man von zwei Strömungen aus: dorsal und ventral (Petkov et al,, 2009). Der dorsale Strom analysiert das Wo und Wie, verläuft parietal vom primären visuellen Kortex über den Okzipitallappen zum Parietallappen (Petkov et al., 2009). Dabei interagiert er mit dem ventralen Strom, dieser analysiert das Was. Er hat wiederum Verbindungen zum medialen Temporallappen, limbischen System und dorsalen Strom. Der ventrale Strom ist dabei sowohl für die Verarbeitung visueller, als auch akustischer Informationen wichtig (Petkov et al., 2009). Er nimmt die Reize auf und formt aus Ihnen dann eine Information, die wir verarbeiten können. Er gibt Phonemen einen semantischen Inhalt (Ghazanfar & Takashi, 2014). Der dorsale Strom hingegen ist für die Sprachwahrnehmung und das Produzieren von Sprache zuständig. Dieser dorsale Strom lässt sich ebenfalls bei Affen nachweisen, der ventrale nicht (Petkov et al., 2009). Man könnte also vermuten, dass sie die Sprache wahrnehmen, aber daraus keinen für sie logischen Inhalt formen können. Dies wiederum spricht dafür, dass Tiere uns aufgrund ihrer Verarbeitung nicht verstehen und unsere Sprache auch nicht erlernen können. 

Des Weiteren hat unsere Sprache einen referentiellen Charakter, der flexibel ist (Fedurek & Slocombe, 2011). Bei Tieren ist Kommunikation an einen bestimmten Kontext gebunden. Sie besitzen dabei spezifische Laute für spezifische Situationen (Fedurek & Slocombe, 2011). Zudem ist es aber bis heute nicht abschliessend geklärt, inwiefern sich auch der Empfänger unterscheidet. Im Tierreich vermutet man meist einen passiven Empfänger, bei uns Menschen ist dieser aktiv und es findet ein direkter Austausch statt (Fedurek & Slocombe, 2011). Ein Austausch kann klar auch bei Tieren stattfinden, aber ob es dabei dem der Menschen entspricht, sieht man eher als unwahrscheinlich an. 

Ein weiterer Unterschied liess sich auch genetisch finden. Menschen besitzen eine spezifische Form des FOXP2-Gens. Dieses haben einige Tiere, insbesondere Affen, zwar auch, aber nicht in derselben Form (Fedurek & Slocombe, 2011; Ocklenburg et al., 2013). Dieses Gen ermöglicht es dem Menschen, eine feinmotorische Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln zu haben und diese im sprachlichen Kontext zu gebrauchen (Fedurek & Slocombe, 2011). 

Auch der ventrale sensomotorische Kortex (vSMC) zeigt, dass es Unterschiede zwischen Menschen und Tieren in der Sprachproduktion gibt (Simonyan et al., 2016). Es zeigte sich, dass, wenn es im vSMC zu Beeinträchtigungen kommt, diese Personen Schwierigkeiten haben, ihre Laute willentlich zu verändern. Sie können also die Tonhöhe, Intensität und Qualität ihrer Laute nicht mehr anpassen. Hingegen bei Tieren, insbesondere Affen, zeigte sich dieser Zusammenhang so nicht (Simonyan et al., 2016). 

Die Auflösung  

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kommunikation von Tier und Mensch durchaus Ähnlichkeiten aufweist, so vor allem der soziale Kontext, einander vor Gefahren warnen und auch ein gewisses Zusammenspiel von Gesten und Lauten. Jedoch, am Ende sind die Vorgänge im Gehirn doch sehr verschieden. 

Tiere können uns vielleicht imitieren, vielleicht auch sporadisch unsere Sprache oder Teile davon erlernen, wie zum Beispiel das Nachplappern beim Papagei. Sie aber differenziert zu gebrauchen oder gar zielgerichtet zu sprechen, scheint aufgrund ihrer Genetik und neuronalen Plastizität nicht möglich (Fedurek & Slocombe, 2011). 

So wird ein direkter Gedankenaustausch mit Worten leider nicht möglich sein, was jedoch nicht ausschliesst, dass wir Menschen lernen, Gesten und Laute der Tiere zu deuten. Das wiederum kann uns je nach Situation auch heute noch vor Gefahren schützen, die die Tiere mit ihren in vielen Bereichen feineren Sinnen eher realisieren als wir Menschen. 

«Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache und wir haben sie, um zu sprechen.» 

Theodor Fontane, In: Goldammer, Erler, Golz, & Jahn, 1973, p. 99  

Elefanten verstehen uns 

Sie haben nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern können uns auch mit ihren grossen Ohren verstehen – oder zumindest sind die Elefanten in der Lage, uns anhand der Sprache auseinander zu halten. Eine Studie mit freilebenden afrikanischen Elefanten legt nahe, dass sie verschiedene Gruppen von Menschen ziemlich gut unterscheiden können (McComb, Shannon, Sayialel, & Moss, 2014). So sind die grossen Rüsseltiere in der Lage zwischen Männern der Massai- und Kamba-Ethnien zu unterscheiden. Dies ist wichtig, da die Massai eine Gefahr für die Elefanten darstellen, die Kamba dagegen nicht. Zudem sind sie in der Lage Männer und Frauen auseinanderzuhalten. Sie verwechseln erwachsenen Männer auch nicht mit ungefährlichen Buben. Dies legt das Fluchtverhalten der Tiere beim Abspielen von Tonbandaufnahmen der verschiedenen Gruppen dar. So bilden die Elefanten vermehrt eine schützende Gruppe, wenn sie Aufnahmen der Massai hören, als wenn sie Aufnahmen der Kamba hören. Oder sie riechen öfters und treten häufiger die Flucht an, wenn die Aufnahme von Massai-Männern, als von Frauen oder Buben zu hören ist. Das zeigt, wie sensitiv diese Tiere – nur anhand der Sprache und der Stimme – zwischen für sie gefährlichen und ungefährlichen Menschen unterscheiden können.  

See-Elefanten erkennen die Stimmen ihrer Rivalen 

Es muss wohl am Namen liegen: See-Elefanten teilen mit ihren Namensverwandten die Fähigkeit, Stimmen gut erkennen zu können. Die See-Elefanten sind nämlich in der Lage, andere See-Elefanten am Rhythmus und an der Frequenz ihrer Stimmen zu erkennen (Mathevon, Casey, Reichmuth, & Charrier, 2017). Dazu spielten die Forscher den männlichen See-Elefanten Audio-Aufnahmen ihrer Kontrahenten ab. Die soziale Ordnung unter den männlichen Tieren wird jeweils zu Beginn der Paarungszeit mit Kämpfen festgelegt. An die dadurch festgelegte Hackordnung wird mittels lauter Vokalisation erinnert, welche für jedes Tier einzigartig ist. Alpha-Männchen verteidigen ihr Harem auf diese Weise vor hierarchisch tieferen Männchen. Wenn einem solchen Männchen die Stimme eines Alpha-Männchens vorgespielt wurde, dann zog es sich zurück. Durch systematische Veränderung der Frequenz und des Rhythmus der Aufnahmen, konnten die Forscher zeigen, dass beide Aspekte der Stimme für die Wiedererkennung der Rivalen wichtig sind. Wenn die Veränderung innerhalb der intra-individuell vorkommenden Variation des Alpha-Männchens lag, dann zeigten sie weiterhin das gleiche Rückzugsverhalten. Wenn die Veränderung der Aufnahme jedoch ausserhalb der natürlichen Variation dieses spezifischen Alpha-Männchens lag – aber noch im Spektrum der Vokalisation von See-Elefanten – dann wurde das Rückzugsverhalten nicht mehr gezeigt. Die See-Elefanten ziehen sich eben nur von stärkeren Rivalen zurück. 

Singvögel sind Grammatik-Experten 

Oft gilt die grammatische Struktur als wichtiges Element, um die menschliche Sprache von der Kommunikation von Tieren zu unterscheiden. Doch so einzigartig, wie lange angenommen, ist sie nicht. Lieder von Singvögel haben hierarchische Strukturen – ähnlich der menschlichen Grammatik – die die Vögel wahrnehmen (Abe & Watanabe, 2011). Die Forscher zeigten, dass der bengalische Fink nicht nur in der Lage ist, die natürlich auftretenden Strukturen in ihren Liedern zu erkennen, sondern auch neue künstlich erzeugte grammatikalische Regeln zu lernen. Danach waren die Vögel in der Lage, neue Audioaufnahmen anhand der zuvor erlernten Grammatik zu unterscheiden. Die Isolation junger Finken von älteren Tieren zeigte, dass sie verschiedenen Liedern anderer Finken ausgesetzt sein müssen, um die grammatikalischen Fähigkeiten richtig zu entwickeln. Somit ist die Kommunikation der fleissigen Piepser der menschlichen Sprache ähnlicher als die Vokalisation von, mit uns näher verwandten Primaten, die mit grammatikalischen Strukturen mehr Mühe haben. 

Delfine stellen sich mit Namen vor 

Es ist üblich, sich neuen Bekanntschaften gegenüber mit seinem Namen vorzustellen. Doch sind wir nicht die einzige Spezies, die das tut. Es zeigte sich, dass Delfine das ähnlich handhaben (King & Janik, 2013). Jeder Delfin hat ein eigenes charakteristisches Pfeifen, das einen Grossteil seiner vokalen Produktion ausmacht: In Isolation nahe 100 Prozent, in freilebenden Gruppen 38 bis 70 Prozent. Es ist, als würden die Delfine ihren eigenen Namen vor sich hin pfeifen. Doch sie können auch das Pfeifen ihrer Artgenossen kopieren und lernen. Wenn sich Delfine im Meer begegnen, tauschen sie ihre charakteristischen Signale aus. Auch wenn das Kopieren des Pfeifens von anderen Delfinen in der freien Wildbahn nicht sehr oft vorkommt, kann es dazu verwendet werden, um diese anzusprechen. Dazu spielten die Forscher den Delfinen künstlich erzeugte Kopien ihrer Namen ab und untersuchten die Reaktionen der grossen Tümmler. Delfine, welchen synthetisierte Versionen ihres eigenen Pfeifens vorgespielt wurde, antworteten mit demselben Signal. Delfine, denen das Pfeifen von vertrauten Delfinen aus der eigenen Gruppe oder von fremden Delfinen abgespielt wurde, kopierten diese hingegen nicht. Dass die Tümmler ihr charakteristisches Pfeifen hauptsächlich selbst verwenden, erlaubt ihren Artgenossen demnach diese gezielt anzupfeifen, indem sie deren charakteristisches Signal kopieren. 


Zum Weiterlesen

Petkov, C. I., Logothetis, N. K., & Obleser, J. (2009). Where Are the Human Speech and Voice Regions, and Do Other Animals Have Anything like them?. The Neuroscientist, 15(5), 419-429. 

Literatur 

Abe, K., & Watanabe, D. (2011). Songbirds possess the spontaneous ability to discriminate syntactic rules. Nature Neuroscience, 14(8), 1067-1074. doi:10.1038/nn.2869 

Calude, A. S., & Pagel, M. (2011). How do we use language? Shared patterns in the frequency of word use across 17 world languages. Philosophical Transactions of the Royal Society of B: Biological Sciences, 366(1567), 1101-1107. doi: 10.1098/rstb.2010.0315 

Fedurek, P., & Slocombe, K. E. (2011). Primate Vocal Communication: A Useful Tool for Understanding Human Speech and Language Evolution?. Human Biology, 83(2), 153-173. doi: 10.3378/027.083.0202 

Fitch, W. T. (2000). The evolution of speech: a comparative review. Trends in Cognitive Science, 4(7), 258-266. doi: 10.1016/S1364-6613(00)01494-7 

Ghazanfar, A. A., & Takahashi, D. Y. (2014). The evolution of speech: vision, rhythm, cooperation. Trends in Cognitive Sciences, 18(10), 543-553. doi: 10.1016/j.ties:2014.06.004 

Goldammer, P. Erler, G. Golz, A., & Jahn, J. (1973). Romane und Erzählungen. Berlin und Weimar. Aufbau. (p. 99)  

King, S. L., & Janik, V. M. (2013). Bottlenose dolphins can use learned vocal labels to address each other. PNAS Proceedings Of The National Academy Of Sciences Of The United States Of America, 110(32), 13216-13221. doi:10.1073/pnas.1304459110 

Mathevon, N., Casey, C., Reichmuth, C., & Charrier, I. (2017). Northern Elephant Seals Memorize the Rhythm and Timbre of Their Rivals‘ Voices. Current Biology: CB, 27(15), 2352-2356.e2. doi:10.1016/j.cub.2017.06.035 

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Ethik bei Tierversuchen

Die Wahl des kleineren Übels – wieso, wie und wie lange noch?

Zu ethischen Problematiken gibt es selten eine eindeutige Antwort, wobei die Frage der Vertretbarkeit von Tierversuchen keine Ausnahme ist. Trotzdem haben wir als Forscher und Studierende eines wissenschaftlichen Fachesdie moralische Pflicht, uns über den Gebrauch von Tieren in Experimenten Gedanken zu machen. 

Von Noémie Lushaj 
Lektoriert von Marie Reinecke und Selina Stüssi
Illustriert von Kerry Willimann

In der Psychiatrie hat die Tierforschung zu einem besseren Verständnis von psychischen und neurologischen Erkrankungen beigetragen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (Schöner, Heinz, Endres, Gertz, & Kronenberg, 2017), bipolaren affektiven Störungen (Carr, 2017), Abhängigkeitserkrankungen (Planeta, 2018), Depression (Wang, Timberlake, Prall, & Dwivedi, 2017), Schizophrenie (Schoenrock & Tarantino, 2016) und Morbus Parkinson (Imbriani, Sciamanna, Santoro, Schirinzi, & Pisani, 2018). Sie hat auch die Entwicklung von innovativen Behandlungsmöglichkeiten gefördert, unter anderem die Tiefenhirnstimulation (Benazzouz, Gross, & Bioulac, 2016). In der Psychologie werden Tiere typischerweise in Experimenten zur Untersuchung von Phänomenen wie der gelernten Hilflosigkeit (Seligman & Groves, 1970) und zur Konditionierung von Angstreaktionen anhand von elektrischen Schocks (Mineka, Cook, & Miller, 1984) verwendet. 

«Many of the most painful experiments [on animals] are performed in the field of psychology.» 

Peter Singer, 2002, S. 42 

Über die Jahre hinweg haben Tierversuche substanzielle theoretische Erkenntnisgewinne für die Psychologie ermöglicht sowie einen grossen praktischen Nutzen für die Psychiatrie erzeugt. Nichtsdestoweniger ist die Kontroverse um das Thema in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen, zum grossen Teil aufgrund von ethischen Überlegungen. 

Magels Paradoxon 

«Ask the experimenters why they experiment on animals, and the answer is: ‘Because the animals are like us.’ Ask the experimenters why it is morally okay to experiment on animals, and the answer is: ‘Because the animals are not like us.’ Animal experimentation rests on a logical contradiction.» 

Charles R. Magel, zitiert nach Pessin & Engel, 2015, S. 368 

In der biologischen Taxonomie von Lebewesen werden Menschen als Säugetiere klassifiziert. Sie weisen also eine grosse genetische Ähnlichkeit zu manchen Tieren auf: Die menschliche DNA stimmt sogar bis zu 99 Prozent mit der DNA von Schimpansen überein (Waterson, Lander, & Wilson, 2005). Somit wird die Xenotransplantation, insbesondere die Ersetzung von menschlichen Organen durch Tierorgane, von manchen Forschern als mögliche Alternative zu der intraspezifischen Transplantation angesehen (Cooper et al., 2017). Wenn man das Menschenhirn mit dem Primatenhirn vergleicht, so findet man, dass diese grundsätzlich gleich sind – abgesehen von kleinen Unterschieden in der Gehirnmasse und in der Anzahl an Neuronen (Jäncke, 2013). Diese Ähnlichkeiten zum Menschen haben für die Tiere zur Folge, dass diese als nützliche Versuchsobjekte angesehen werden, mit denen für Menschen relevante Forschung betrieben werden kann. 

Menschen und Tiere sind zwar Mitglieder desselben Reichs, sie gehören jedoch zu verschiedenen Spezies und unterscheiden sich daher in mehreren Hinsichten. Unter diesen Unterschieden findet man z. B. Sprache, Kultur, Emotionen und Intelligenz. Manche Menschenaffen, Vögel, Fische und Insekten haben zwar komplexe Kommunikationssysteme entwickelt, diese sind aber in keinerlei Weise mit der menschlichen Sprache vergleichbar, in dem Sinne, dass sie nicht alle 13 design features of language besitzen, die vom Anthropologen und Linguisten Charles F. Hockett (1960) definiert wurden. Weiter besitzen Tiere keine kumulative Kultur (Henrich, 2015), keine so grosse Bandbreite an Emotionen wie Menschen (Lazarus, 1991) und wenn man Intelligenz als Ausmass an mentaler und verhaltensbezogener Flexibilität definiert, ist der Homo sapiens die schlauste Spezies des Tierreichs (Roth & Dicke, 2005). Forscher machen sich solche Unterschiede häufig zu Nutze, um Tieren einen geringeren moralischen Wert zuzuweisen und folglich Tierexperimente zu legitimieren, so Magel in seinem Zitat. 

Kurz gefasst heisst es also: Tierversuche sind nützlich, weil Tiere uns ähnlich sind und sie sind vertretbar, weil Tiere sich von uns unterscheiden. Abgesehen von der Inkonsistenz dieser Argumentation, sollte die Frage gestellt werden, ob der Grad der Ähnlichkeit zum Menschen überhaupt ein sinnvolles Kriterium ist, wenn es darum geht zu entscheiden, wie ein Lebewesen behandelt werden sollte. In der Tat sollten laut dem utilitaristischen und antispeziesistischen Philosophen Peter Singer (2002) Rechtfertigungen für Ungleichheiten, die sich auf die Unterschiede zwischen Gruppen fokussieren, abgelehnt werden, denn diese haben – analog zu Speziesismus im vorliegenden Fall – schon zu den diskriminatorischen Phänomenen des Rassismus und Sexismus geführt. Ein weniger anthropozentrisches Argument, das für die moralische Berücksichtigung von Tieren spricht, ist ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und sich an ihre Umwelt anzupassen (Taylor, 1986). Damit sind Tiere nicht unsere Eigentümer, sondern die subjects-of-a-life, deren Zweck das eigene Überleben und Wohlbefinden ist. Aus dieser Überlegung wird manchmal die Schlussfolgerung gezogen, dass Tierversuche in allen Fällen unethisch sind (Regan, 2004). So einfach ist die Situation jedoch weitgehend nicht. 

Ein ethisches Dilemma 

Wenn Forschung auf Tiere möglichst begrenzt werden sollte, bleibt ein kompletter Verzicht auf Tierversuche zum heutigen Standpunkt noch eine Utopie, denn es gilt in unserer Gesellschaft im Allgemeinem, dass das Wohl der Menschen den Vorrang hat und dieses zum Teil von Forschungsergebnissen abhängt, die ohne Tierversuche nicht möglich wären. Es findet also eine Kosten-Nutzen-Abwägung statt, wobei die Kosten den Schaden darstellen, der den Tieren zugetan wird und die Nutzen den Gewinn für die Menschheit und Gesellschaft repräsentieren (BLV, 2017). Dabei besteht das Dilemma darin, dass es keine perfekte Lösung gibt: Entweder leiden Tiere zugunsten der Menschen oder Versuchstiere werden gerettet, aber dafür müssen manche Menschen leiden. Mit dem einen oder anderen Übel muss man leben können. 

Die Notwendigkeit von Alternativen 

«Tierversuche dürfen nur bewilligt werden, wenn keine alternativen Methoden vorhanden sind, mit denen eine Fragestellung beantwortet werden kann.»

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, 2017 

In der Schweiz gilt seit den 80er Jahren das sogenannte 3R-Prinzip: «Replace, Reduce, Refine» (BLV, 2017). Replace bedeutet, dass Alternativen bevorzugt werden sollten, Reduce heisst, dass die Anzahl an Tieren, die für die Forschung gebraucht werden, möglichst klein gehalten werden sollte und Refine bezeichnet die Minimierung des Leidens der Tiere. Tierversuche werden also nur als letztes Mittel bewilligt, nachdem alle Alternativen durchgegangen und als ungeeignet bewertet wurden. Was gibt es demnach für Alternativen? Zu ihnen zählt man z. B. In-Vitro-Modelle wie die Organ-auf-Chip-Technologie (Huh et al., 2010) sowie Computermodelle, die unter anderem der Entwicklung von neuen Medikamenten dienen (Doke & Dhawale, 2015). Diese Techniken sind hochgradig komplex, dennoch sind sie noch nicht in der Lage eine Vielzahl an Forschungsfragen zu klären. Einen lebenden, fühlenden Organismus künstlich zu imitieren ist eine Herausforderung, die noch nicht bewältigt werden konnte. Diese Tatsache erklärt, dass es Tierversuche zum heutigen Standpunkt immer noch gibt, obwohl die meisten Menschen darauf verzichten wollen und trotz der schon existierenden Restriktionen. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit einer Zunahme an Forschung, die sich auf die Entwicklung von stellvertretenden Methoden fokussiert: Erst dann, wenn durch Alternativen qualitativ so hochwertige Ergebnisse wie Tierversuche garantieren werden, wird das Dilemma der Tierforschung endgültig gelöst. 

Kosten-Nutzen-Abwägung 

Das Leiden der Tiere wird in der Schweiz gemäss Art. 24 der Tierversuchsverordnung (2010) anhand von vier Schweregraden quantifiziert: Der Schweregrad 0 beinhaltet harmlose Beobachtungsstudien, der Schweregrad 1 leichte Belastungen, der Schweregrad 2 mittlere Belastungen und der Schweregrad 3 stellt die maximale zugelassene Belastung dar. Die sogenannten schutzwürdigen Interessen repräsentieren dagegen den potenziellen Nutzen von Tierversuchen. Diese werden in Art. 8 des Gentechnikgesetzes (2003) aufgelistet und enthalten z. B. «die Gesundheit von Mensch und Tier», «die Wissensvermehrung» und «[einen wesentlicheren] Nutzen für die Gesellschaft auf wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Ebene». Wenn die schutzwürdigen Interessen als überwiegend ausfallen, wird der Schaden als gerechtfertigt angesehen. Im gegenteiligen Fall liegt eine Missachtung der Würde des Tieres vor und es darf kein Tierexperiment durchgeführt werden. 


Zum Weiterlesen

Lee, G., Illes, J., & Ohl, F. (Eds.). (2015). Ethical issues in behavioral neuroscience.  

Current Topics in Behavioral Neurosciences: Vol. 19doi:10.1007/978-3-662-44866-3 

Literatur

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Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. (2017). 3R – Replace, Reduce, Refine – Tierversuche ersetzen, reduzieren, verbessern. Retrieved from https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/tiere/tierversuche/3r-prinzip.html 

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. (2017). Abwägung von Nutzen und Belastung. Retrieved from https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/tiere/tierversuche/schweregrad-gueterabwaegung.html 

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Doke, S. K., & Dhawale, S. C. (2015). Alternatives to animal testing: A review. Saudi Pharmaceutical Journal, 23(3), 223-229. doi:10.1016/j.jsps.2013.11.002 

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Psychiatrie – Endhaltestelle oder Zwischenstopp?

Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK)

Von den Langzeittherapien im Burghölzli um 1870 bis zur Tagesklinik im Zentrum für Soziale Psychiatrie 2018 blickt die PUK auf bald 150 Jahre bewegte Geschichte zurück. Was hat sich getan in den Bereichen des Selbstverständnisses der Psychiatrie als Institution, der therapeutischen Möglichkeiten, der Erwartungen sowie bisweilen auch Ängsten und Vorurteilen von Patient|innen und Gesellschaft?

Von Jennifer Bebié
Lektoriert von Laura Bechtiger und Franziska Hasler
Illustriert von Eigenillu

Geöffnete Fenster verbinden ein hochsommerliches Zürich mit dem hellen, hohen Raum des Info-Kaffees im Zentrum für Soziale Psychiatrie. Wenig erinnert hier an die Bilder, welche mir beim Wort «Psychiatrie» durch den Kopf gehen. Anstelle von verriegelten Toren und Wärtern in weissen Kitteln, umgeben mich Kaffeetischchen, Tageszeitungen und ein buntes Cafeteria-Angebot. An den Wänden stehen verteilt einige Zimmerpflanzen. Eine junge Frau bestellt einen Kaffee mit Milch und Zucker. Ob sie ihr Getränk hier als Angestellte oder als Patientin entgegennimmt, bleibt für mich verborgen. Ich warte auf Anke Maatz, Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PUK. Von ihr möchte ich mehr dazu erfahren, wie sich die Klinik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Um Veränderungsprozesse neueren Datums nachvollziehen und einordnen zu können, soll im Folgenden aber nicht nur den aktuellsten Fragen und Problemstellungen Rechnung getragen werden. Es gilt die Entwicklungsgeschichte der PUK als Ganzes im Blick zu halten. Wie wurde aus dem Burghölzli die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich? Wo steht die Klinik heute zwischen Langzeitbetreuung und Not-Halt für Menschen in Krisensituationen?

Um die Jahrhundertwende gab es in Zürich die Heilanstalt, das war das Burghölzli und dann die Pflegeanstalt in der Rheinau. Es gab auch vor über hundert Jahren schon den Anspruch zu heilen und auch das Verständnis, dass psychische Erkrankungen nicht unbedingt chronisch verlaufen, sondern es zu einer Heilung kommen kann.

Dr. med. Anke Maatz im Gespräch mit Jennifer Bebié, 30. Juli 2018

Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli

«Irre sind heilbar» (Schott, 2006, S.270). Unter diesem Leitsatz distanzierten sich europäische Psychiater im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker von der bis dahin verbreiteten Praxis, die als unheilbar angesehenen Geisteskranken in sogenannten Tobhäusern zu versorgen (Luchsinger, 2016) oder sie zusammen mit Kriminellen, körperlich Behinderten, sowie Alten und Bedürftigen unterzubringen (Danuser & Rössler, 2013). Psychisch Kranke galten nun als behandelbar. Die Behandlung in den frühen psychiatrischen Anstalten kam jedoch noch nicht ohne gewaltsame Massnahmen aus. Zwangsjacken, Fixiergurte, Einzelzellen, kalte Wassergüsse und Einweisungen, meist gegen den ausdrücklichen Willen der Patient|innen, prägten die ambivalente Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Psychiatrie (Danuser & Rössler, 2013).

Um 1860 begann sich auch in der Schweizer Psychiatrie der Standard des No-restraint durchzusetzen (Danuser & Rössler, 2013). Mitten in dieser Zeit des Umdenkens beginnt auch die Geschichte der PUK. 1870 als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli eröffnet, stand die Klinik im Zeichen einer Psychiatrie, die sich im Wandel befand. In Folge wurden beispielsweise arbeitstherapeutische Angebote im Burghölzli etabliert (Luchsinger, 2016). Der arbeitstherapeutische Ansatz stand einer Vielzahl anderer Praktiken der damaligen Anstaltspsychiatrie entgegen. Anstelle der Isolierung und Bettbehandlung «unruhiger» Kranker, trat die verstärkte Einbindung in Alltagsaktivitäten (Tölle & Schott, 2006).

Die Klinik als einen Ort reibungsloser Fortschrittsbewegung zu verstehen, greift jedoch zu kurz. Noch im 19. Jahrhundert musste erkannt werden, dass nur sehr begrenzte Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen und dass ein «nicht unwesentlicher Anteil der Kranken» nicht oder nicht innert absehbarer Frist geheilt werden konnte. Lang- und teilweise Lebenszeitplätze für chronisch Kranke gehörten nach wie vor zum Bild des Burghölzli (Tölle & Schott, 2006, S. 270). Trotz einer Umbenennung in Kantonale Heilanstalt (Danuser & Rössler, 2013) bot das Burghölzli weiterhin Raum für jahrelange Aufenthalte und wurde ferner für einzelne seiner Patienten zur Endstation.

Ausbau der Behandlungsmöglichkeiten

Das Spektrum psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten weitete sich jäh, als in den 1950er Jahre mit Chlorpromazin und Imipramin erste Neuroleptika und Antidepressiva für therapeutische Zwecke zur Verfügung standen. Die anfänglich noch ausgesprochen optimistische Hoffnung endlich ein unproblematisches Heilmittel, gar eine kausale Behandlungsmöglichkeit psychiatrischer Erkrankungen gefunden zu haben, vermochten die neuen Substanzen nicht zu erfüllen (Baer, 1998).

Da fand sicherlich ein Umdenken statt. In den psychiatrischen Pflegeanstalten (…) ging es wirklich um langjährige Aufbewahrung, jetzt sehr negativ formuliert, aber positiver gesagt auch einfach um das Schaffen von Lebensraum. Heutzutage versucht man stationäre Aufenthalte kurz zu halten.

Maatz, 2018

Die Vorteile, welche eine psychopharmakologische Therapie mit sich bringen konnte, waren dennoch nicht mehr aus der Klinik wegzudenken. Kranke, die zuvor unerreichbar in sich gefangen schienen, die in hoffnungsloser Apathie versunken verharrten oder die aufgrund ihrer Unruhe unter Zwang ruhiggestellt worden waren, konnten durch medikamentöse Unterstützung erhebliche Besserung ihrer Symptomatik erfahren (Baer, 1998). Das Behandlungsangebot der 60er Jahre ergänzten Beschäftigungs-, Musik-, Kunst- und Psychotherapie (Danuser & Rössler, 2013).

Psychiatrische Erkrankungen hatten nahezu auf einen Schlag erheblich an Endgültigkeit eingebüsst. Auch wenn das Selbstverständnis der Psychiatrischen Klinik im Wandel begriffen war, ausserhalb der Klinik hielten sich Vorurteile hartnäckig. Eine Umbenennung der Kantonalen Heilanstalt Burghölzli in Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (Danuser & Rössler, 2013) zeigte sich weit weniger einflussreich als Schlagworte wie «Pillenkeule» und «chemische Zwangsjacke» (Schott & Tölle, 2006, S. 488).

Natürlich gibt es weiterhin Vorurteile. Ich glaube, das muss man so festhalten. (…) Ich mache aber immer wieder die Erfahrung, dass Menschen überrascht sind darüber, wie Psychiatrie heutzutage funktioniert. Und zwar positiv überrascht.

Maatz, 2018

Das Stigma bleibt?

Die sommerlich gekleidete junge Frau mit dem offenen Lachen, die mich im Info-Kaffee abholt, hat so ganz und gar nichts gemein mit dem Bild des strengen Anstaltsarztes im weissen Kittel. Im Gespräch mit Anke Maatz werden dann auch die tiefgreifenden Veränderungen deutlich, welche die PUK innerhalb der letzten 50 Jahre durchlaufen hat. Die sozialpsychiatrische Wende der 70er Jahre weitete den Blick für soziale Ursachen psychischer Krankheiten (Baer, 1998). Heute arbeitet die PUK mit dem bio-psycho-sozialen Modell, nachdem Erkrankungen multifaktoriell verstanden und behandelt werden. Patient|innen erhalten zwar weiterhin pharmakologische Unterstützung, doch betont Anke Maatz die Bedeutung nonverbaler Verfahren wie Musik-, Kunst-, Ergo-, Tanz- und Bewegungstherapie. Auch die Psychotherapie sei in der heutigen Psychiatrie zentral. «Ich glaube, es ist tatsächlich eine Entwicklung der letzten Jahre, dass auch in einer akuten Erkrankungsphase, damit auch im stationären Behandlungssetting, verstärkt versucht wird, psychotherapeutisch zu arbeiten; dass also auch immer mehr Psychotherapie auf Akutstationen angeboten wird. Da ist tatsächlich ein Umdenken festzustellen, das sich ganz unmittelbar auch im therapeutischen Angebot niederschlägt» (Maatz, 2018).

PUK Zürich: Historische Eckdaten

1864: Baubeschluss

1870: Eröffnung der Klinik als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli

1885: Etablierung arbeitstherapeutischer Angebote

1915: Umbenennung von Irrenheilanstalt in Kantonale Heilanstalt

1920er bis 40er Jahre: Schaffung und Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, allgemeiner Aus- und Umbau

1966: Umbenennung in Psychiatrische Universitätsklinik

1967: Einführung der Psychotherapie

1967-68: Einreissen der Klinikmauern

1970: Etablierung des sozialpsychiatrischen Dienstes

1984: Erwerb und Umbau des Gebäudes an der Militärstrasse für den sozialpsychiatrischen Dienst

2011: Integration des Psychiatriezentrums Rheinau als Zentrum für integrative Psychiatrie

2018: Neue Organisationsform als öffentlich-rechtliche Anstalt

(Danuser & Rössler, 2013)

Die PUK, die mir im Gespräch mit Anke Maatz begegnet, gewinnt zusehends an Distanz von langfristigen stationären Behandlungsformen. Es gilt das Prinzip «ambulant vor teilstationär vor stationär». Wo immer möglich soll versucht werden, Patient|innen in ihrem Lebensumfeld zu therapieren. Kranke können vermehrt von ambulanten und tagesklinischen Angeboten Gebrauch machen. Das Kriseninterventionszentrum bietet schnelle Hilfe für Menschen in Akutsituationen. Aufsuchende psychiatrische Behandlung findet sich im Home-Treatment Programm. Von der Haltung, psychiatrische Krankheiten grundsätzlich heilen zu müssen, sei man im Klinikalltag abgekommen. Den Fokus sieht Anke Maatz viel stärker bei der Unterstützung der Patient|innen, einen Umgang mit ihrer Symptomatik zu finden, um ein möglichst zufriedenes und erfülltes Leben führen zu können.

Die PUK ist in Bewegung und doch bleibt das Stigma bestehen? Schon Arenz (2003) sowie Schott und Tölle (2006) zeigten den grundlegenden Konflikt auf. Der medizinische Auftrag, Patient|innenleid zu lindern, steht einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Sicherheit und sozialer Kontrolle gegenüber. Anke Maatz differenziert weiter: «Also ich glaube schon, dass die Vorstellung, dass eine psychische Erkrankung in den meisten Fällen chronisch verläuft sich eher aufweicht. Trotzdem ist die[se Vorstellung] in vielen Köpfen noch sehr verankert; nicht nur bei Patient|innen und Angehörigen, sondern durchaus auch immer wieder bei Behandlern. Es gibt leider immer wieder Geschichten, dass Behandler explizit Hoffnung auf Besserung verneinen. Aber eine moderne Psychiatrie verschreibt sich heutzutage dem sogenannten Recovery-Paradigma in dem ein ganz wichtiger Ansatz ist, dass es immer Grund zu Hoffnung gibt und dass immer eine Besserung, Heilung eintreten kann. Dazu gehört sicherlich auch die Einbeziehung von Peer-Mitarbeitern, Menschen mit Erfahrung psychischer Erkrankung. Daran versuchen wir uns zu orientieren und daraufhin zu arbeiten und diese Hoffnung auch zu vermitteln» (Maatz, 2018).

Ein gesellschaftlich stark verankertes Stigma lässt sich kaum einfach beseitigen, auch wenn damit nicht nur der Psychiatrie als Institution, sondern auch Betroffenen gedient wäre. Wie verstrickt die Faktoren zu verstehen sind, welche eine solche Stigmatisierung mitbeeinflussen, verdeutlicht Anke Maatz: «[Es gibt] natürlich nach wie vor Aspekte, die massgeblich zur Stigmatisierung beitragen (….), wie Zwangsbehandlungen, geschlossene Türen. (…) Es ist falsch zu meinen, dass die Psychiatrie ganz ohne das könnte. Aber es gibt ganz viel Bewegung in dem Bereich. Es gibt viel Bemühung Zwangsbehandlung zu reduzieren, und ich denke, ein Stückchen weit kommt davon doch auch was in der Gesellschaft an. Trotzdem bleibt, dass die Psychiatrie ja wie gefangen ist, in diesem Doppelmandat; (…) dass die Psychiatrie gleichzeitig den gesellschaftlichen Auftrag hat zu sichern und individuell zur Heilung beizutragen; und das gerät manchmal in Konflikt. Das Bedürfnis nach Sicherheit, das es in der Gesellschaft gibt, ist teilweise auch hinderlich für psychiatrisches Arbeiten, so dass die Psychiatrie auch immer wieder missbraucht wird, letztendlich ordnungspolitische Funktionen zu übernehmen, die einfach nicht in den medizinischen Auftrag fallen. Das ist so ein bisschen eine Stigmatisierungsfalle. Einerseits stigmatisiert die Gesellschaft die Psychiatrie, aber sie erteilt auch Aufträge oder delegiert unliebe Aufgaben (…), die wiederum zur Stigmatisierung beitragen und damit sind wir ständig konfrontiert» (Maatz, 2018).

Die komplexen Interaktionen unterschiedlicher Ansprüche, Haltungen und Erwartungen, lassen sich nicht schnell oder einfach auflösen. Resignation schwingt in unserem Gespräch dennoch wenig mit. Zwar benennt Anke Maatz die gegenwärtige Situation klar und mit Nachdruck, der Grundton bleibt, nichtsdestotrotz, veränderungsorientiert. «Ich glaube, was vielleicht am meisten helfen könnte, ist offener Austausch zwischen Gesellschaft, Psychiatrie und allen Stakeholdern, auch der Austausch darüber, dass Psychiatrie ganz ohne Zwang wohl nicht möglich ist und man trotzdem alles tun sollte, um Zwang gering zu halten. (…) Ich glaube, da muss die Psychiatrie selber aktiv werden und mehr zu sich stehen; mit allen Konflikten, die dazu gehören» (Maatz, 2018).

Nach dem Gespräch mit Anke Maatz, mache ich mich wieder auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof. Meine Gedanken kreisen noch eine Weile um das Bild einer äusserst komplexen Psychiatrie, einer Institution, die sich am beständigsten durch stetigen Wandel auszeichnet. Ein Wandel, der sich sowohl im psychiatrischen Selbstverständnis als auch in der Arbeit mit Betroffenen und Öffentlichkeit vollzieht. Von einer Endhaltestelle ist die heutige PUK jedenfalls weit entfernt.

Ich steige in einen S-Bahnwagen. Nach kurzer Verzögerung, aufgrund einer technischen Störung an der Türschliessanlage, setzt sich der Zug in Bewegung. Meine Entfernung zum Hauptbahnhof, zum Zentrum für Soziale Psychiatrie, nimmt zu. Die psychiatrische Universitätsklinik war auch für mich heute nur Zwischenstopp.


Zum Weiterlesen

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli: Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Trösch, K. et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Literatur

Arenz, D. (2003). Dämonen, Wahn, Psychose: Exkursion durch die Psychiatriegeschichte. Köln: Viavital Verlag GmbH.

Baer, R. (Ed.). (1998). Themen der Psychiatriegeschichte. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Luchsinger, K. (2016). Die Vergessenskurve: Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie. Zürich: Chronos Verlag.

Schott, H., & Tölle R. (Eds.). (2006). Geschichte der Psychiatrie: Krankheistlehren, Irrwege, Behandlungsformen. München: Verlag C.H. Beck.

Trösch, Kurt et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Nun sag, wie hast du’s mit der Statistik?

Die Gretchenfrage der Wissenschaft

Trump hat das postfaktuelle Zeitalter eingeläutet. Klimaleugner, «Fake news» und «alternative Fakten» waren Begriffe, die gleichbedeutend mit Aluhütchen und Verschwörungstheorien waren. Heute ist Trump Präsident, eine Diskussion über die amerikanische Politik ist ohne dieses Vokabular undenkbar und wissenschaftliche Fakten sind debattierbar. Und das ist gut so, denn der Skeptizismus fordert Forschende auf, sich aktiv am politischen Gespräch zu beteiligen, um Forschungsergebnisse korrekt darzustellen. Zudem hinterfragt der populäre Wissenschaftsskeptizismus meist nicht den Wahrheitsgehalt eines Befunds, sondern ob der Quelle vertraut werden kann und somit die Schlussfolgerungen korrekt sind. 

Von Colin Simon
Lektoriert von Marie Reinecke und Lisa Makowski
Illustriert von Selina Landolt

Politiker sind geneigt, der eigenen Partei zu vertrauen und allen anderen zu misstrauen. Für uns Wissenschaftler ist es eine Frage der Statistik. Dabei gibt es zwei Fragen, die wir beantworten müssen: Vertrauen wir unseren Statistikkenntnissen genug, um Fehler bei anderen zu entdecken? Oder vertrauen wir anderen Forschen genug, ihre Daten sorgsam zu erheben und schlüssige Statistik zu betreiben? Die erste Frage wird zumindest in der Psychologie sehr direkt adressiert, zum Studium der Psychologie gehört eine saftige Portion Statistik. Aber die zweite Frage ist schwer zu beantworten, denn wie ehrlich Wissenschaft betrieben wird, weiss nur der Forschende selbst. Forschungsergebnisse können also nur so sicher sein, wie die eigenen Statistikkenntnisse und die Ehrlichkeit des Forschenden.

«Vertrau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast», Deutsche Rundschau, 1946

Ein Problem ist dabei, dass Statistik nicht intuitiv ist, wie zum Beispiel das Geburtstagsparadox klarmacht (Hemmerich, o. D.). Wie kann man intuitiv erklären, dass in einem Raum mit 23 Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwei ein Geburtsdatum teilen, höher als 50 Prozent liegt? Ein anderes Beispiel ist das Monty-Hall-Dilemma, wo ein Spieler sich zwischen drei Türen entscheiden muss, von denen eine zum Erfolg und die anderen zu Ziegen führen (Pachhai, 2018). Nach der ersten Wahl öffnet der Moderator eine Ziegentür. Der Spieler erhält daraufhin die Möglichkeit, die gewählte Tür zu ändern. Verbleibt der Spieler auf seiner Wahl, ist seine Gewinnchance 1/3, wählt er die neue Tür steigt sie auf 2/3. Besonders das Monty-Hall-Dilemma löste eine grosse Debatte aus. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn jedes Forschungsgebiet wird abstrakt und nicht mehr intuitiv, wenn man genug ins Detail geht. Man darf es also Laien nicht vorwerfen, sollten sie nicht so gewieft sein mit der Statistik wie Forschende.

Experten der Statistik?

Wenn es also um die Interpretation von Statistiken geht, sollte man sich auf das Urteil der Experten verlassen können. Nur sind die Experten, in diesem Falle Forschende, sich selten einig, was denn gute Statistik überhaupt ist. Dabei ist weniger die Frage was gute Statistik ausmacht, sondern eher die Frage, wo gute Statistik aufhört.

Bei der Eröffnungskonferenz des Centers for Reproducible Science (CRS) der Universität Zürich letzten September war man sich zwar einig, dass der p-Wert nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspricht, was ihn allerdings ersetzen soll ist unklar. Benjamin, Berger, Johanesson, Nosek, Wagenmakers und Tingley (2018) haben drei Vorschläge vorgestellt. Der erste ist, den p-Wert für neue Entdeckungen von 0.05 auf 0.005 zu senken. Das hat den Vorteil, dass ein Werkzeug gebraucht wird, das alle kennen und verstehen. Der Nachteil ist, dass immer noch der p-Wert gebraucht wird.  Der p-Wert ist problematisch, weil sich Forscher stark darauf konzentrieren und andere statistische Aspekte vernachlässigen, wie beispielsweise die Power eines statistischen Tests (Benjamin et al., 2018). Die Aussagekraft des p-Werts wird zum Teil missverstanden, was zu Fehlaussagen führt.

Der zweite Vorschlag ist, den Bayes Faktor zu berichten, denn der p-Wert sagt lediglich, wie wahrscheinlich die Datenverteilung unter Annahme der Nullhypothese ist (Benjamin et al., 2018). Der Bayes Faktor sagt hingegen, wie viel wahrscheinlicher die Datenverteilung unter der neuen Hypothese im Vergleich zur Nullhypothese ist. Der Faktor löst das Problem der vielen falsch-positiven Resultate nicht. Das sind Studienergebnisse, die durch Zufall oder Manipulation signifikant sind, ohne dass ein Effekt dahintersteckt.

Der dritte Vorschlag löst das Problem der Falschpositivität, indem man Studienergebnisse (z. B. den Bayes Faktor) mit der Wahrscheinlichkeit multipliziert, mit der reproduzierbare Ergebnisse im jeweiligen Forschungsfeld zu finden sind. Für die Psychologie sind zwischen 62 (Camerer et al., 2018)und 24 Prozent (Benjamin et al., 2018). Das ist ein Problem, das nicht nur die Psychologie betrifft. Fast alle Forschungszweige sind betroffen, wie Malcom MacLeod in seinem Vortrag zur Eröffnung des CRS erklärte.

In der Biologie und Medizin werden Tierversuche streng reguliert. Das führt zu multiplen Experimenten mit kleinen Stichproben, die nicht aussagekräftig sind. Die Stichprobengrösse ist allerdings nicht das einzige Problem, das Forschende plagt. Auch HARKing, p-Hacking und der Publication Bias machen ihnen zu schaffen, erklärte Malcolm MacLeod. p-Hacking kann auch ohne Absicht passieren, deswegen präsentierte Marjane Bakker von der Tilburg Universität eine Liste von Handlungen die p-Hacking ausmachen (Bakker, van Dijk, & Wicherts, 2012). Das Team der niederländischen Universität hat zudem auf http://statcheck.io/ ein Hilfsmittel veröffentlicht, das statistische Werte überprüft. Der Aufwand bringt aber natürlich wenig, wenn wir erst im Nachhinein unsere Hypothesen festlegen.

Eine Möglichkeit dies zu umgehen bietet das Open Science Framework, es hilft Forschenden ihre Studien besser zu dokumentieren und zu teilen. Ein Vorteil von guter und öffentlicher Dokumentation ist, dass HARKing verhindert werden kann, indem man die Hypothesen formuliert und veröffentlicht, bevor das Experiment beginnt. Ein ähnliches Vorgehen bieten gewisse Journals an: Man kann den Theorie- und Methodenteil einschicken, bevor die Datenerhebung anfangen. Wird die Studie akzeptiert, wird beim Peer-review nur noch überprüft, ob man sich an den Methodenteil gehalten hat und somit wird die Studie zur Publikation akzeptiert. Um Open Science zu stärken, führt das Quest Center Berlin eine Liste der Open Science positiv gesinnten Journals und bewertet diese nach verschiedenen Aspekten.

Als Psychologen sind wir an einer interessanten Schnittstelle: Unser Untersuchungsobjekt ist genug kompliziert und die Effektgrössen klein genug, dass wir für gute Studien viel methodisches und statistisches Wissen brauchen. Diese Kenntnisse haben wir vielen anderen Forschungsfelder voraus, eine Qualität, die wir wahren sollten. Mit diesen Instrumenten ausgerüstet, sollten wir stärker für replizierbare Wissenschaft einstehen, und auch stärker in nicht wissenschaftlichen Kreisen die Errungenschaften der Wissenschaft propagieren. Erst wenn Effekte wiederholt auftreten, wird für alle klar, was Fake Science ist und was nicht. 

HARKing:Steht für Hypothesizing After Results are Known. Das erhöht die Chance, einen Effekt durch statistischen Zufall zu finden und verzerrt Interpretationen.

p-Hacking: Wenn Forschende ihre Daten so lange zurechtbiegen, bis ein signifikantes Ergebnis herauskommt. Zum Beispiel in einem Datensatz die Ausreisser so zu bestimmen, dass ein Effekt entsteht.

Publication Bias: Signifikante Resultate werden häufiger publiziert als nicht signifikante. 


Zum Weiterlesen

Bakker, M., van Dijk, A., & Wicherts, J. M. (2012). The Rules of the Game Called Psychological Science. Perspectives on Psychological Science7(6), 543–554. doi: 10.1177/1745691612459060

Benjamin, D. J., Berger, J. O., Johannesson, M., Nosek, B. A., Wagenmakers, E., & Tingley, D. (2018). Redefine Statistical Significance. Nature Human Behaviour2(1), 6. doi: 10.17605/OSF.IO/MKY9J

Quest Center. (2019). Open Access Journal Whitelist. Abgerufen am 01. Februar 2019 von http://s-quest.bihealth.org:3838/OAWhitelist/

Literatur

Camerer, C. F., Dreber, A., Holzmeister, F., Ho, T.-H., Huber, J., Johannesson, M., … Wu, H. (2018). Evaluating the replicability of social science experiments in Nature and Science between 2010 and 2015. Nature Human Behaviour2. doi: 10.1038/s41562-018-0399-z

Hemmerich, W.A. (o. D.). Geburtstagsproblem. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://matheguru.com/stochastik/geburtstagsproblem.html

Pachhai, S. (2018). Monty Hall Problem using Python. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://towardsdatascience.com/monty-hall-problem-using-python-ccd5aadc5921

Unpolitisch, leistungsorientiert, angepasst?

Ein Annäherungsversuch an die Jugendkultur der 2010er Jahre

Die langen Haare und Sozialkritik der Hippies haben schon länger ausgedient; ebenso das Aufbegehren und die politischen Aktionen von 80er Bewegung und Punks. Die klassische Jugendsubkultur scheint zum Auslaufmodell geworden zu sein. Wie lässt sich diese Veränderung begründen? Was kennzeichnet die Jugendkultur im frühen 21. Jahrhundert?

Von Jennifer Bebié
Lektoriert von Selina Landolt und Lisa Makowski
Illustriert von Jennifer Bebié

Die 1960er Jahre hatten die Hippies, die 80er die Punks. Irgendwo zwischen damals und heute lösten Goths und Emos mal Besorgnis, mal Augenrollen aus. Revolution forderten die einen, Wir-Gefühl und Ablehnung etablierter Gesellschaftsnorm und Ästhetik zelebrierten die anderen (Behr, 2012). Solch auffällig einheitliche Jugendgruppierungen sind im gegenwärtigen Jahrzehnt bis anhin nicht auszumachen. Anlass zur Sorge bieten den Erziehungsberechtigten nicht mehr in erster Linie bunte Haare, laute Musik oder demonstratives Rebellentum. Stress und Leistungsdruck hingegen, so Pro Juventute in einem Communiqué vom Dezember letzten Jahres, seien es, die Jugendlichen und deren Eltern zunehmend zu schaffen machten (Pro Juventute, 2018). Auch im Gespräch mit Roland Lüthi, Rektor und Englischlehrer an der Kantonsschule Zürcher Unterland (KZU), wird deutlich, dass Jugendkultur heute wenig mit dem – wohl durchaus etwas romantisierten – Bild einer aufmüpfigen, in klar demarkierten Gruppen auftretenden Jugend gemein hat, mit welchem ich zu meiner Recherchearbeit ansetzte. Um weiteres Mythologisieren jugendlicher Subkulturen vorzubeugen, werden diese im Folgenden als ein Phänomen psychosozialer Entwicklungsprozesse der Adoleszenz behandelt. Auf jene nüchtern-sachlich orientierte Betrachtungsweise aufbauend soll anschliessend, mitunter im Gespräch mit dem langjährigen Pädagogen Lüthi, eine Annäherung an die gegenwärtige Lebenswelt Jugendlicher in der Schweiz stattfinden.

Entwicklungsphase Adoleszenz: Identitätsfindung zwischen Ablösung und Zugehörigkeit

Das Jugendalter, synonym auch als Adoleszenz bezeichnet, beschreibt die Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Gemäss Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umspannt die Phase der Adoleszenz das 11. bis 20. Lebensjahr (Konrad & König, 2018). Wissenschaftlich eindeutig oder absolut ist diese Eingrenzung nicht. Sie wird lediglich zur ungefähren lebenszeitlichen Verortung des Jugendalters beigezogen. Im Fokus des vorliegenden Artikels stehen die überwiegend psychosozialen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, von welchen primär physiologische, unter dem Pubertätsbegriff gefasste Veränderungen abzugrenzen sind (Jungbauer, 2017).

«Die meisten Jugendlichen haben heutzutage viele Freiheiten, ihr <eigenes Leben> so zu gestalten, wie es ihren individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen entspricht. Zugleich erleben sie aber auch einen verstärkten Erwartungsdruck, diese Freiheiten zu nutzen. Die Chancen der Individualisierung werden oft erkauft durch die Lockerung von sozialen und kulturellen Bindungen sowie durch Belastungen und Überforderungsgefühle.» Jungbauer, 2017

Als zentrale Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz benennt die Mehrheit der Autoren|innen unter anderem den Prozess der Identitätsfindung und die allmähliche Loslösung vom Elternhaus (Eschenbeck & Knauf, 2018; Jungbauer 2017; Resch, 2016). Es gilt für die Adoleszenten herauszufinden, wie sie sich selbst als aktiv handelnde Individuen bezüglich all ihrer Eigenheiten, Haltungen und Werte erleben. Diese Wahrnehmung des Ichs als Akteur muss schliesslich mit dem Ich als Objekt der Selbstbetrachtung aus Erst- und angenommener Drittpersonenperspektive zur Übereinstimmung gebracht werden (Resch, 2016). Um Identität in ihrer gesamten psychosozialen Tragweite zu erleben, bedürfen die Jugendlichen nicht nur der Selbstwahrnehmung (reflexive Identität), sondern auch des Selbsterlebens als Teil einer bestätigenden Gemeinschaft (Identifikation). Die allmähliche Loslösung von elterlichen Vorgaben und klar umgrenzter Kind-Rolle ermöglicht den Jugendlichen die notwendige Exploration einer individuellen Identität (Resch, 2016). 

Stabilität durch Gruppenzugehörigkeit

Dieser Prozess des Erkundens und Ausprobierens geht nicht selten mit Unsicherheit und bisweilen krisenhaften Momenten einher. Soziale Umfelder, welche klar erkennbare Werte und Rollen vorgeben, können während dieser Zeit des Umbruchs der Orientierung dienen (Jungbauer, 2017; Resch, 2016).

«Für Jugendliche in der Schweiz gehört das Gefühl von Stress und Überforderung zum Alltag. Fast die Hälfte der 15- bis 21-Jährigen ist häufig bis sehr häufig gestresst oder überfordert.» Pro Juventute, 2018

Ob nun eine Jugendliche mit einer Gruppe ähnlich gesinnter Mitschüler|innen Stellung gegen die als konservativ erlebten Strukturen ihres Ausbildungsumfelds bezieht, oder ob ein Jugendlicher sich als Zugehöriger der HipHop-Kultur erprobt und in Folge seinen Boxershorts etwas mehr Frischluft gewährt, als in elterlichen Augen angebracht wäre, ist hierbei nebensächlich. Stabilisierend auf die Jugendlichen wirkt die Übereinstimmung (Kohärenz) zwischen ihrer eigenen Sicht auf sich selbst und ihrer expressiven, d. h. nach aussen hin gelebten Identität. Die bestätigende Reaktion der Gruppe begegnet dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Bindung und sozialer Zugehörigkeit (Resch, 2016). Jugendkulturelle Bewegungen, welche sich in Auftreten und Werthaltung deutlich erkennbar machen und dabei explizit bestimmten Normen der Gesamtgesellschaft entgegenstehen, bieten Identifikationsmöglichkeit und sozialen Rückhalt beim Ausloten des eigenen Stils und Wertesystems (Behr, 2012).

Obige Ausführungen legen nahe, jugendkulturelle Phänomene als Begleiterscheinung adoleszenter Identitätsfindungsprozesse aufzufassen. Versteht man Jugendsubkulturen als Folgephänomen psychosozialer Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass das frühe 21. Jahrhundert grosse, einheitliche Jugendbewegungen vermissen lässt (Ferchhoff, 2011). Woraufhin sich die Frage stellt, was dieser Veränderung der Jugendkulturlandschaft zugrunde liegt. Haben die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz sich gewandelt oder sind es die Jugendlichen selbst, welche sich in ihren Bedürfnissen ganz grundlegend von ihren Vorgängergenerationen unterscheiden?

If anything goes – gegen was noch rebellieren?

Als weitgehend unverändert werden biologische und intraindividuelle Dimensionen der jugendlichen Entwicklungsaufgaben angenommen. In Folge rücken Gesellschaftliche Bedingungen stärker in den Untersuchungsfokus (Jungbauer, 2017). Soziokulturelle Normen, Rollenerwartungen und individuelle Wertvorstellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt (Jungbauer, 2017). In bisher ungekannter Breite offen steht uns das Spektrum gesellschaftlich akzeptierter Lebensentwürfe. Der Zuwachs an Toleranz gegenüber unterschiedlicher Kulturformen und Lebensstile geht jedoch damit einher, dass unsere Welt dadurch auch um einiges komplexer, unübersichtlicher, bisweilen auch beliebiger geworden ist (Jungbauer, 2017). In einer durch Umbruch, Multikulturalität, Mehrdeutigkeit und Mehrdimensionalität geprägten Gesellschaft verblassen allgemeingültige Leitbilder und traditionelle Werte, welche Heranwachsenden früher klare Bezugspunkte geboten hatten (Resch, 2016). Abgrenzung und Rebellion gegen eine selbst dem ständigen Wandel unterworfene Gesellschaft, käme einer Sisyphusarbeit gleich. Ihre stabilisierende Funktion durch klare Positionierung als Gegenentwurf zu den Normvorstellungen des Mainstreams kann eine Jugendsubkultur nur in Gesellschaften übernehmen, welche solch fixierte Normen überhaupt noch hochhalten.

Eine Jugendkultur im 21. Jahrhundert?

Jugendkultur lässt sich gegenwärtig nicht mehr in einem klar umrissenen Gesamtbild fassen, so Ferchhoffs Feststellung in seinem 2018 erschienen Buch zur Jugendkultur im 21. Jahrhundert. Passend erscheint somit auch seine Wahl des bunten Kaleidoskops als Sinnbild für postmoderne Fragmentierung, Multiplizität und Veränderbarkeit, welche die Lebenswelt heutiger Jugendlicher ausmachen. Die mit der gesellschaftlichen Vielfältigkeit verwobene Individualisierungstendenz erhöht den Druck auf jede|n Einzelne|n, die Freiheiten zur Gestaltung des «eigenen» Lebensentwurfs optimal zu nutzen. Um folglich nicht in Überforderung und Orientierungslosigkeit abzugleiten, bedürfen die Jugendlichen heute einer gut ausgeprägten Selbststeuerungs- und Reflexionsfähigkeit (Resch, 2016). Das Gespräch mit Gymnasiallehrer und Rektor Roland Lüthi spiegelte und ergänzte das in der Fachliteratur gezeichnete Bild. Auszüge aus dem Austausch mit Pädagoge Lüthi sollen im Folgenden beleuchten, wie Jugendliche die aktuell hochkomplexen sozialen Gegebenheiten navigieren und was auch heute noch einen gewissen Halt und Orientierungspunkt bieten kann.

Bestandaufnahme an der KZU Bülach: Rektor Roland Lüthi im Gespräch vom 9. Januar 2019

JB: Sie sind ja nun schon eine ganze Weile hier dabei [als Gymnasiallehrer]. Haben sie während dieser Zeit Veränderungen bei den Jugendlichen – im Hinblick auf das Thema Jugendkultur – festgestellt?

RL: Politisch ist der Unterschied nicht riesig. Schon Mitte der 90er Jahre waren die Schüler|innen nicht mehr auffällig politisch aktiv. Dieser Eindruck hängt sicher auch teilweise mit der Verblendung meiner Generation und der Generation vor uns zusammen. Die waren noch dabei, als es gegen Ende der 60er Jahre richtig «tätscht hät». Die einen von uns waren während der 80er Jahren bei «Züri brännt» dabei. Vergleichbares habe ich in meiner Zeit hier nicht erlebt. Was jedoch auffällt ist, dass die Jugendlichen aktuell viel genauer wissen, dass sie etwas erreichen wollen. Das ist aber nicht mehr unbedingt die grosse soziale Gerechtigkeit. Diese ist heute auch schon wesentlich stärker gegeben als noch zu meiner Zeit als Schüler. Wir hatten zwar ebenso wahnsinnig nette Lehrer|innen, aber einige eben schon auch noch total nach «alter Schule». Diese sehe ich hier jetzt praktisch nicht mehr. Was ich sehe, was passiert ist, ist ein politischer Rechtsrutsch in Form einer Liberalisierung, im Sinne von «Ja, ich will etwas erreichen, ich will «guät Stutz verdienä», ich will dann mal ein Einfamilienhäuschen…».

Damit zusammenhängend lässt sich beobachten, dass sich ein nicht unbedeutender Anteil der jungen Menschen hier einem absolut gestörten Druck aussetzt, welcher nachweislich krank macht. Wir haben eigentlich keine fünfte Klasse, die komplett anwesend ist. In praktisch jeder Fünften hat es jemanden, der stationär in einer Klinik behandelt wird. Heutzutage ist Funktionieren angesagt. Man hat der jungen Generation auch genug lange mitgegeben, dass sie Leistung erbringen müssen.

JB: Sind die Jugendlichen heute wirklich so brav und angepasst, wie das in den Medien gelegentlich dargestellt wird?

RL: Also in Stunden, in denen wir über Inhalte reden wollen, fällt das schon auf. Was dann an Meinungsäusserungen kommt, ist in der Regel schon recht «Mainstream», recht angepasst. Es dominiert dann oft die Haltung, dass doch jeder machen könne wie er oder sie will, solange man dies selbst auch tun kann. Da gab es vor zehn, mehr noch vor zwanzig Jahren schon eher einige Charakterköpfe, die vielleicht mal etwas lauter und deutlicher eine Meinung kundgetan oder eine klare Haltung vertreten haben. Klar gibt es die immer noch, aber im Grossen und Ganzen ist es schon ein wenig gleichförmiger geworden. Wenn man funktionieren muss, ist es eben einfach nicht opportun, auszubrechen und sich abzugrenzen.

JB: Haben die Jugendlichen überhaupt noch die Möglichkeit, sich gegen irgendetwas aufzulehnen, was ja für deren Entwicklung doch auch wichtig ist?

RL: Ja, also ich glaube das passiert immer noch. Was sich überhaupt nie verändert hat ist, dass wenn die Schüler|innen für das Langzeitgymnasium an der KZU ankommen, sie alle noch Kinder sind. Sie sind herzig und finden auch den blödesten unserer Witze urkomisch, bis das beim Übertritt in die zweite Klasse zu kippen beginnt. Das «richtig happige» Pubertieren gibt es also noch immer. Sie finden uns dann absolut daneben und können auch nicht sehen, dass es in dem Moment vielleicht ja eher siesind, die sich daneben benehmen – das ist aber auch ihr gutes Recht. Das ist das Verhalten, wie ihr Gehirn es biologisch von der Entwicklung her gerade vorgibt. Gleichzeitig muss man als Erziehungsberechtigte, also auch als Eltern zu Hause, trotzdem sagen, wenn etwas nicht angebracht ist. Da muss man immer wieder versuchen, Regeln durchzusetzen, obwohl das wahnsinnig schwierig wird, wenn sie 17 oder 18 Jahre alt sind und zudem eine grössere Körpergrösse aufweisen als man selbst. Klar wäre da ein mögliches Szenario, sich als Erwachsener einfach zurückzuziehen, aber genau das darf man nicht. Es muss manchmal ein bisschen weh tun und diese Reibungsfläche darf man den Jugendlichen auch nicht nehmen.

Schule schwänzen für’s Klima – Ein Nachsatz

Der Eindruck, dass die Jugendlichen dem Rektor – auch während Phasen des «richtig happigen» Pubertierens – am Herzen liegen, war während des Interviews immer wieder deutlich zu erkennen. Dass es folglich auch Roland Lüthi war, der zehn Tage nach Aufzeichnung unseres Gesprächs, darauf aufmerksam machte, den aktuellen Klimastreik im vorliegenden Artikel mit zu berücksichtigen, erstaunt wenig. 

«Kommunikationsgeschick und gekonnte Nutzung sozialer Medien zeichnet die erste grössere Jugendbewegung der Generation der Digital Natives aus.» Zeithistoriker Stefan Rindlisbacher, 2019

Auch wenn die Jugendkultur des frühen 21. Jahrhunderts bis anhin kaum von grossflächigem politischen Engagement geprägt war, scheint diese Beobachtung spätestens seit dem 18. Januar 2019 nicht mehr länger haltbar. Über 20‘000 Jugendliche begaben sich in nahezu 20 Schweizer Städten auf die Strassen, um für Klimaschutz und eine lebenswerte Zukunft zu demonstrieren, wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtete (Rhyn, 2019). Die Jugendlichen, welche – Leistungsdruck und Erfolgsorientierung zum Trotz – den Schulbänken fernblieben und die unentschuldigte Absenz als «Zeichen setzen» neu bewerten, stellen klare Forderungen an die Politik (Rhyn, 2019). Hinter selbstbemalten Transparenten und einprägsamen Parolen – «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut!» – lässt er sich zumindest erahnen, der Anfang eines neuen grossen Jugendprotests (Ackermann 2019)

Kommunikationsgeschick und gekonnte Nutzung sozialer Medien zeichnet die erste grössere Jugendbewegung der Generation der Digital Nativesaus, so Zeithistoriker Stefan Rindlisbacher in der Sendung Echo des Schweizer Radios SRF (Ackermann, 2019). Austausch und Vernetzung über neue Internetmedien erlaubt den Jugendlichen sich in bisher ungekanntem Mass auf internationaler Ebene zu organisieren. Ihre souveräne Organisation wird den «Climate-Kids» zu Gute kommen, denn abstrakter sei er als der Kampf ihrer Eltern und Grosseltern und wohl auch komplexer (Ackermann, 2019). Auch wenn sich erst noch beweisen müsse, ob der Klimastreik der Jugendlichen mehr als ein blosses Strohfeuer sei, so Rindlisbacher (Ackermann, 2019), die Zuschreibung des Unpolitischen, des kompletten Fehlens überregionaler jugendkultureller Bewegungen, soll jenen Jugendlichen nicht mehr so ohne Weiteres gemacht werden. 

Roland Lüthi
Dr. Phil I, Universität ZürichSeit 1992 Englischlehrer, KZU Bülach
Seit 2016 Rektor, KZU Bülach
Vater zweier Adoleszenten

Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz

Angepasst nach Havinghurst (1953) und Erikson (1959) (Eschenbeck & Knauf, 2018)

Identität

  • Akzeptieren des eigenen Körpers (und dessen effektive Nutzung)
  • Erwerb intellektueller Fähigkeiten, um eigene Rechte und Pflichten ausüben zu können
  • Berufswahl und Ausbildung
  • Erlangen von Werten und eines ethischen Systems, das einen Leitfaden für das eigene Verhalten darstellt
  • Entwicklung sozialverantwortlichen Verhaltens

Ablösung

  • Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen des eigenen und anderen Geschlechts
  • Loslösung und emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen
  • Ökonomische Unabhängigkeit
  • Vorbereitung auf Heirat und Familienleben

Zum Weiterlesen

Ferchhoff, W. (2011). Jugendkultur und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile2. aktualisierte und überarbeitete Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien. (Original work published 2007)

Resch, F. (2016). Identität und Ablösung – Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Swiss Archive of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy, 167(5), 137-146. doi: doi.org/10.4414/sanp.2016.00411

Literatur

Ackermann, M. (2019, January 18). Echo der Zeit: Schule schwänzen gegen den Klimawandel. Schweizer Radio SRF. Retrieved from https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/schule-schwaenzen-gegen-klimawandel?id=229263f9-134e-45b3-8dab-0fbb94202c34

Behr, J. (2012). Identitätssuche in jugendlichen Subkulturen. Skinheads, Punks und Gothiks. Saarbrücken: AV Akademikerverlag GmbH & Co. KG.

Pro Juventute (2018, December 10). Elternratgeber von Pro Juventute gegen Stress und Druck bei Kindern und Jugendlichen.Retrieved from https://www.projuventute.ch/Detailansicht-Pressemitteilung.136.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1348&cHash=34fdcfd9a1890ceb82f956b836c72590

Eschenbeck, H. & Knauf R.-K. (2018). Entwicklungsaufgaben und ihre Bewältigung. In A. Lohaus (Ed.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters(pp. 23-50). Berlin: Springer-Verlag GmbH

Erikson, E. H. (1959). Identity and the life cycle: selected papers. New York: International University Press.

Intern. Univ. Press; 1959.Eschenbeck, H. & Knauf R.-K. (2018). Entwicklungsaufgaben und ihre Bewältigung. In A. Lohaus (Ed.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters(pp. 23-50). Berlin: Springer-Verlag GmbH.

Ferchhoff, W. (2011). Jugendkultur und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile(2., aktualisierte und überarbeitete Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien.

Havighurst, R. J. (1953). Human development and education. New York: David McKay.

Havighurst, R. J. (1972). Developmental tasks and education(3. ed.; 1. ed. 1948). New York: Longman.

Jungbauer, J. (2017). Entwicklungspsycholgie des Kindes- und Jugendalters. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis sozialer Berufe. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Konrad, K. & König, J. (2018). Biopsychologische Veränderungen. In A. Lohaus (Ed.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters(pp. 1-21). Berlin: Springer-Verlag GmbH

Mietzel, G. (2002). Wege in die Entwicklungspsychologie(4., vollständig überarbeitete Auflage). Weinheim und Basel: Beltz PVU.

Resch, F. (2016). Identität und Ablösung – Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Swiss Archive of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy, 167(5), 137-146. doi: doi.org/10.4414/sanp.2016.00411

Rhyn, L. (2019, January 18). «Billigflüge sind einfach zu verlockend. Darum brauchen wir die Politik» – wieso in 15 Städten Schüler die Schule geschwänzt haben. Neue Zürcher Zeitung. Retrieved from https://www.nzz.ch/schweiz/klimastreik-schweizer-schueler-demonstrieren-ld.1452821

Pro Juventute (2019, January). Sicherer Umgang mit Internet und Neuen Medien.Retrieved from https://www.projuventute.ch/Medienkompetenz.2092.0.html

Das Leben von Trans*-Personen in der Schweiz

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Das Missverständnis, die Geringschätzung, die Stigmatisierung und sogar die Pathologisierung ihrer Identität gehört zum Alltag vieler Transfrauen und -männer. Transphobie ist ein ernstzunehmendes und folgenreiches Problem. Eine wertschätzende Darstellung von Transidentität in den Medien soll Problematik entschärfen. Das aware gibt Trans*-Menschen eine Stimme.

Von Noémie Lushaj und Marcia Arbenz
Lektoriert von Vera Meier und Selina Landolt
Illustriert von Melina Camin

Laut dem Transgender Network Switzerland(TGNS) sind Trans*-Personen Individuen, «[…] deren Geschlechtsidentität (teilweise) nicht dem ihnen körperlich zugeordneten Geschlecht entspricht» (TGNS, 2017). Innerhalb des Trans*-Begriffs existieren viele feine Unterscheidungen, welche die verschiedenen Facetten der Transidentität deutlich machen. Die Verwendung des Sternchens in der Bezeichnung signalisiert entsprechend, dass «[…]verschiedene Ausprägungen und Selbstbezeichnungen der Geschlechtsidentität eingeschlossen sind» (TGNS, 2017). Es ist ein Zeichen von Respekt und Wertschätzung gegenüber Angehörigen der Trans*-Community, die angemessene Sprache zu verwenden (TGNS, 2017). Dabei sind bestimmte Begriffe zu vermeiden, die eine abwertende Konnotation mit sich bringen: Von Trannies, Shemales, Ladyboys und ehemaligen Frauen oder Männern sollte nicht mehr die Rede sein (TGNS, 2017). Im Zweifel ist es wünschenswert, Trans*-Menschen direkt zu fragen, wie sie gerne genannt werden möchten und welche Pronomen sie präferieren (Brandenburg, 2018).

Transgender ist (k)eine Krankheit

Personen, die anders als Transfrauen und -männer eine Kongruenz zwischen ihrer empfundenen Geschlechtsidentität und ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht erfahren, werden als cisgender bezeichnet (TGNS, 2017). Die moderne westliche Gesellschaft ist hochgradig cisnormativ, das heisst, dass Cisidentität als Standard angesehen wird (Capuzza & Spencer, 2015). Menschen, die von dieser Norm abweichen, in diesem Fall eben Trans*-Menschen, werden häufig stigmatisiert oder gar pathologisiert. In der Tat ist gender dysphoriaeine im DSM-5 beschriebene psychische Erkrankung und auch das ICD-10 klassifiziert gender identity disorders als psychische Krankheiten (Reed et al., 2016). Mit der Erscheinung des ICD-11 wird sich diese Form der Kategorisierung ändern: Transfrauen und -männer werden von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) künftig nicht mehr als psychisch kranke Patienten|innen angesehen. Ihr Zustand wird im Rahmen der neuen Klassifikation als gender incongruenceim Kapitel sexual health beschrieben (Reed et al., 2016). Dieser Begriffs- und Kategorienwechsel stellt für viele einen massiven Fortschritt dar: Er reduziert das Stigma, das auf Trans*-Menschen lastet und erleichtert gleichzeitig deren Zugang zu Gesundheitsleistungen (Reed et al., 2016). Die Tendenz, Transidentität zu pathologisieren,entspringt vermutlich der Beobachtung, dass diese oft mit grossem Leiden verbunden ist. Forschende konnten aber zeigen, dass das Leiden von Transfrauen und -männern nicht per se darauf begründet ist, dass sie ihre Transidentität ausleben, sondern, auf der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz und vorherrschenden Diskriminierung ihnen gegenüber (Robles et al., 2016).

«Stigma associated with the intersection of transgender status and mental disorders appears to have contributed to precarious legal status, human rights violations, and barriers to appropriate health care in this population.» Reed et al., 2016, S. 209

Transphobie: Wenn Hass tödlich ist

Die Ablehnung von beziehungsweise die Abneigung gegenüber Trans*-Menschen wird Transphobie genannt (TGNS, 2017). Sie äussert sich beispielsweise in Form verbaler und körperlicher Gewalt, sowie Benachteiligungen in verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens. Unfaire Behandlungen werden auf dem Arbeitsmarkt von 22 Prozent und auf dem Wohnungsmarkt von 9 Prozent der Trans*-Menschen berichtet (Bradford, Reisner, Honnold, & Xavier, 2013). Solche Diskriminierungen resultieren in höheren Arbeits- und Obdachlosigkeitsquoten für Trans*-Personen (Grant, Mottet, & Herman, 2011). Auch ist die Wahrscheinlichkeit, in Bedingungen von extremer Armut zu leben, in dieser Gruppe, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, um das Vierfache erhöht (Grant et al., 2011). Weiter erleben 26 Prozent der Trans*-Personen eine Diskriminierung im Gesundheitsversorgungssystem (Bradford et al., 2013). Auch das Sozialleben kann beeinträchtigt sein, da Trans*-Menschen teilweise von ihrer Familie und ihrem Freundeskreis aufgrund ihrer Transidentität zurückgewiesen werden (White Hughto, Reisner, & Pachankis, 2015). Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden weltweit etwa 3‘000 Trans*-Personen ermordet (Elks, 2018). Der Transgender Day of Remembrance(TDoR) ist ein Gedenktag, der jährlich am 20. November stattfindet und an dem den Opfern transfeindlicher Gewalt gedenkt wird (Kraus, 2017).

Die minority stress theory besagt, dass Stressoren, die mit dem Minoritätsstatus einer Gruppe verbunden sind – im Fall von Trans*-Menschen Stressoren, die auf ihrer nichtnormativen Geschlechtsidentität basieren – die Gesundheit der betroffenen Population negativ beeinflussen (White Hughto et al., 2015). In der Tat sind die psychischen Konsequenzen der Transphobie für Trans*-Menschen schwerwiegend. Zum Beispiel leiden diese übermässig häufig an Depressionen und Angststörungen (Budge, Adelson, & Howard, 2013). Im National Transgender Discrimination Survey(NTDS) gaben 26 Prozent der befragten Trans*-Menschen an, gegenwärtig Alkohol oder Drogen zu konsumieren oder in der Vergangenheit konsumiert zu haben, um mit den Folgen der Diskriminierung umzugehen (Grant, Mottet, & Tanis, 2010). In einem amerikanischen Bericht zeigte sich, dass 42 Prozent der Transfrauen und 46 Prozent der Transmänner bereits einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch unternommen haben (Haas, Rodgers, & Herman, 2014).

«Sie [Trans*-Menschen] werden nicht erst durch Operationen zur ‘richtigen Frau’ oder zum ‘richtigen Mann’, sondern sie waren schon immer diese Frau, dieser Mann.» Transgender Network Switzerland, 2018, S. 7

Sichtbarkeit für Trans*-Menschen

Trans*-Personen werden in den Medien zumeist entweder unterrepräsentiert (Smith et al., 2015) oder hauptsächlich in stigmatisierender und cisnormativer Weise dargestellt (Capuzza & Spencer, 2015). Um schädliche Darstellungen möglichst zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, dass Trans*-Menschen persönlich von ihren Erfahrungen berichten und so sichtbar werden. In den nächsten Abschnitten erzählen Manu und Beni, was es für sie bedeutet, ein Transmann zu sein.

Manu, 19

Die Gewissheit kam mit 16 Jahren. Vorher war es lange kein Thema, vermutlich weil ich nicht gewusst hatte, dass es das gibt. Sonst wäre ich wahrscheinlich früher darauf gekommen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es schon immer ein wenig gespürt habe und 16 Jahre lang dachte «Das kann nicht alles sein, was mir das Leben zu bieten hat». Es ist, als hätte ich vorher immer alles schwarz-weiss gesehen. Und jetzt sehe ich alles in Farben. Meine gesamte Gefühlsrange hat sich vergrössert. Ich war damals depressiv. Zu dieser Zeit habe ich auch angefangen, Antidepressiva zu nehmen. Jetzt geht es mir viel besser. Es gab keinen ausschlaggebenden Moment [der Erkenntnis], es war eher ein Prozess – wenn auch ein schneller, alles in allem. Das ist anstrengend, der Körper arbeitet halt. Für die emotionale Unterstützung war ich lange bei einer Psychiaterin. Meine Familie war zuerst skeptisch. Verständlicherweise. Es gibt Lustigeres als wenn die 16-jährige Tochter zu einem kommt, und ihr Leben auf den Kopf stellen will. Die Reaktion meiner Mutter war nicht schlecht, aber ich hörte halt genau das, was ich nicht hören wollte. Für sie war es schwieriger, vor allem, weil ich neben meinen drei Brüdern das kleine Mädchen gewesen war, das sie sich gewünscht hatte. Das war schon noch schwierig. Ab und zu haben wir darüber gesprochen, aber es war schwer, weil sie mir nicht sagen wollte, wie schwierig es für sie ist, um mich nicht zusätzlich zu belasten.

Vor allem hat mich meine Freundin unterstützt. Ich habe mich damals als lesbisch geoutet und dann an einem ominösen Abend haben wir uns geküsst und ineinander verliebt. Das war komisch für sie. Sie meinte: «Hä, du bist doch eine Frau, wieso stehe ich auf Frauen?». Als wir dann ein Paar wurden, war es für uns beide klar, dass das keine lesbische Beziehung war. Ich habe ihr dann gesagt: «Hey, ich glaube, ich bin ein Mann» und sie: «Ah, jetzt macht alles Sinn». Gerade durch sie habe ich gemerkt, dass ich sie nicht als Frau liebe, sondern als Mann. Gefühlt ist es eine heterosexuelle Beziehung. Sie hat mich durch diese ganze Zeit begleitet. Wir sind immer noch zusammen, seit drei Jahren. Ich habe schon das Gefühl, dass ich ein besserer Freund bin. Nur schon, weil ich weiss, was es heisst, wenn du deine Tage hast.

Was sich verändert hat, ist das Gefühl, besser zu meiner weiblichen Seite stehen zu können. Vorher hatte ich versucht, sie mit allen Mitteln zu unterdrücken. Jetzt, wo mich alle als Mann wahrnehmen, ist es okay. Aber es braucht schon ein wenig Mut, die weibliche Seite auszuleben. Mit kleinen Kindern habe ich es ein paar Mal erlebt, dass sie mich direkt gefragt haben, ob ich ein Mann oder eine Frau sei. Sie sind viel sensibler, noch nicht so verdorben von diesen starren Vorstellungen, so dass es sie vielleicht nicht ganz so stört, wenn jemand nicht so eindeutig Frau oder Mann ist. Sie fragen einfach: «Bist du ein Mann oder eine Frau?» und dann ist es okay. Der kleine Bruder meiner Freundin ist etwa acht Jahre alt und dann hat man ihm gesagt: «[…] heisst jetzt Manu» und er so: «Okay». Und das war es. Das würde ich mir bei allen Menschen wünschen. Ich kenne das bei mir selber, diesen Einordnungsdrang. Wenn ich irgendjemanden sehe, will ich ihn unbedingt als Mann oder als Frau schubladisieren, aber eigentlich ist es mir scheiss egal. Trotzdem ist es einfach so präsent in unserer Gesellschaft.

Es ist ein wenig traurig, aber mir wird als Mann besser zugehört. Klar, ich trete auch anders auf, aber es ist schon ein krasses Gefühl. Man wird ernster genommen. Gerade war ich mit meinem Vater in den Ferien und dann habe ich irgendwann einen schweren Koffer getragen und es war selbstverständlich, dass er ihn mir nicht mehr abnehmen will. Vorher, als Frau, hätte er mir den Koffer natürlich noch abgenommen aber jetzt habe ich ihn halt getragen – das war völlig klar. Ich habe realisiert, dass ich anders behandelt werde, obwohl sich für mich nichts verändert hat. Ich bin immer noch der gleiche Mensch wie vorher. Aber alle anderen sehen plötzlich etwas anderes in mir.

Immer noch finden ganz viele Leute in diesem Land, dass Schwule nicht heiraten dürfen. Wir haben also noch so viel anderes zu tun. Man kann jetzt nicht noch mit einem dritten Geschlecht kommen. Ich habe wie das Gefühl, dass die Gesellschaft noch nicht bereit ist für das. Wir sollten grundsätzlicher vorgehen und weniger symptomatisch. Ich finde, wir sollten viel grundsätzlicher an Toleranz arbeiten, und nicht zuerst für Transmenschen und dann für das und das… Ich habe nicht das Gefühl, dass es so irgendwo hinführt. Was ich gelernt habe durch das alles, ist, dass ich versuche, den Menschen hinter einer Person zu sehen. Ich habe gemerkt, dass wir durch das Geschlecht immer sehr viel konstruieren und einen Menschen gar nicht richtig anschauen. Ich habe es bei meiner Freundin gemerkt. Sie hat sich in mich verliebt. Sie hat sich nicht in eine Frau oder in einen Mann oder in sonst etwas verliebt, sondern einfach in mich.

Beni, 20

Ich habe mit einer Kollegin einen eigenen Verein gegründet, über den wir einmal im Monat ein Treffen für Jugendliche aus der LGBT-Community [Anm. d. Red.: Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender] organisieren. Meine Freundin ist neben Schule, Arbeit und Verein, ein wichtiger Ankerpunkt. Wir sind seit dem April 2017 zusammen. 2015 im Februar hatte ich mein Outing und 2015 im Juni habe ich begonnen, Hormone zu nehmen. Meine Freundin hat meine Gebärmutterentfernung mitbekommen und halt alles, was sonst noch los war, wie die ständige Medikamenten-Einnahme und mein momentaner Kleinkrieg mit der Krankenkasse. Bei mir ist die Penis-Epithese [Anm. d. Red.: Dabei wird ein künstlicher Penis aus medizinischem Silikon hergestellt, auf den spezifischen Genitalbereich abgestimmt und mit einem speziellen hautfreundlichen Kleber auf der Haut befestigt (Selvaggi & Elander, 2008)] ein Thema, weil ich keine Operation machen will, ich vertrage sie sehr schlecht. Das heisst man muss einen Silikonabdruck machen und nachher passt der künstliche Penis einfach perfekt, so dass er überhaupt nicht störend ist und für alles funktioniert. Man kann einen machen, der für das Urinieren im Stehen funktioniert, man kann einen machen, der schön aussieht und angenehm zu tragen ist, und man kann einen machen, der für Sex gebraucht werden kann. Das heisst,alle Funktionen sind möglich.

Ich hatte mich schon immer sehr burschikos gegeben und mich mit den Jungs besser verstanden. Wenn man mich als kleines Kind, so mit sechs oder sieben, gefragt hatte: «Willst du ein Junge sein?», was meine Gspöndli noch oft getan haben, weil sie mich etwas komisch fanden, habe ich geantwortet: «Ja natürlich, aber ich bin halt ein Mädchen». Mit zwölf hatte meine Schwester einen Kollegen, der auch ein Transmann war, und da erfuhr ich, dass es ein Wort dafür gibt. Aber damals habe ich es immer noch weit von mir weggeschoben. Ich hatte Tagträume, dass ich von zuhause abhaue und nach Deutschland gehe, dort meine Transition habe und dann zurückkehre, um mich als Mann in meine Familie einzuschleichen. Irgendwann hätte ich gesagt: «Hey übrigens, ich bin es». Dann kam der Moment, als wir in den Ferien waren und wir in einem Restaurant sassen, so wie jetzt und da gab es ein Mädchen, das so 14 Jahre alt war und ich war ungefähr 16 und sah aus wie ein süsser kleiner Justin Bieber, ein Bubi halt. Und sie hat immer wieder zu mir rüber geschaut. Es war wie klar, dass sie mich süss fand oder, dass ich ihr auffalle. Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: «Weisst du, es ist mega unfair, wenn sie wüsste, dass ich eine Frau bin, hätte sie überhaupt kein Interesse mehr». Diese Aussage hat mich noch extremer zum Nachdenken gebracht. Ich habe mich in den nächsten Tagen in meinem Zimmer eingeschlossen und einfach YouTube-Video an YouTube-Video geschaut. Irgendwann bin ich auf das Video einer Psychologin oder Psychiaterin gestossen. Ich hatte die Frage eingegeben: «How to know if I’m transgender», und die Frau im Video sagte, wenn man das google, sei die Wahrscheinlichkeit relativ gering, dass man es nicht ist. Und mit dem Video ist für mich der Groschen gefallen. Auf einmal konnte ich akzeptieren, dass es so ist. Irgendwann muss man es einfach hinnehmen und dann die Dinge machen, die nötig sind.

Mein Grossvater ist einer der grössten Homophoben [und Transphoben] gewesen. Und nun hat er es vollkommen abgelegt. Er ist voll auf meiner Seite und ich bin vollkommen sein Enkelsohn und es ist voll akzeptiert. Ich denke, Homophobie [und Transphobie] hat oft mit Unbetroffenheit, mit Angst und mit Unwissenheit zu tun. Jeder hat irgendeine Aufgabe und viele Menschen haben schwierige Aufgaben. Und die Transidentität ist halt einfach meine Aufgabe, so erklär ich es mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott will, dass ich mich umgebracht hätte. Denn das hätte ich getan, wenn ich die Transition nicht hätte machen können. Es gibt einen Spruch in der Bibel, der heisst «Gottes Wege sind unergründlich». Ich masse mir nicht an zu verstehen, warum was wie läuft. Ich konnte vielen Menschen, die auch trans* sind helfen dadurch helfen, dass ich meinen Weg akzeptiert habe und ihn nun gehe. Es hat sich viel Positives ergeben, dadurch, dass ich trans* bin. Klar, ich wäre gerne einfach möglichst «normal». Es ist eine coole Vorstellung, ganz «normal» durch das Leben zu gehen und keine Medikamente nehmen zu müssen oder Operationen zu machen, nur um sich wohl zu fühlen. Aber umso länger man drin ist, desto mehr vergessen es die Leute. Ich kenne wirklich Leute, die, wenn ich es wieder einmal erwähne, zu mir sagen, dass sie es vergessen hätten. Und ich merke auch, dass sie und auch ich die Erinnerungen angleichen, an das, was ich jetzt bin. Also wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, nehme ich mich als Junge wahr, auch wenn ich damals als Mädchen gelebt habe. Das geht auch Kollegen und Kolleginnen so und auch meiner Mutter. Man passt sich so an.

Ich fände es mega schön, leibliche Kinder zu haben, aber ich habe auch Verwandte, die adoptierte Kinder haben und für die sind sie vollkommen ihre Eltern. Es ist keine Frage. Da denke ich mir: «Gut, meine Kinder werden es auch». Ich will dann auch offen mit ihnen umgehen, ich will, dass meine Kinder von Anfang an wissen, dass ich nicht ihr leiblicher Vater bin, aber dass ich trotzdem ihr Vater bin und sie trotzdem genauso gern habe. Aber ja, ich hatte einen halben Nervenzusammenbruch, bevor ich meine Gebärmutter entfernen liess, weil ich wusste, jetzt ist es vorbei. Mit 19 Jahren diese Entscheidung zu treffen war nicht einfach. Aber es war das Richtige.

Was mir wichtig ist: Transidentität ist keine Krankheit. Es kann Symptome einer psychischen Krankheit mit sich bringen, aber es ist keine. Ich finde es sehr wichtig, dass man einen Menschen nicht nur auf seine Transidentität oder Sexualität reduziert.

Die Transition
Mit Transition ist eine «Geschlechtsangleichung» gemeint: Das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht kann der erlebten Geschlechtsidentität auf körperlicher, sozialer oder rechtlicher Ebene angepasst werden (TGNS, 2017). Daher sind mit der Transition physiologische, psychosoziale und administrative Veränderungen verbunden. Mittels Operationen wie Hysterektomien [Entfernungen der Gebärmutter] und Penektomien [Entfernungen des Penis’], Vaginoplastien [Vagina(re)konstruktionen] und Phalloplastien [Penis(re)konstruktionen], sowie Mastektomien [Brustentfernungen] und Brustvergrösserungen können unterschiedliche Teile des Körpers entfernt, modifiziert oder (re)konstruiert werden (Selvaggi & Bellringer, 2011; Sutcliffe et al., 2009). Auch Hormone können eingenommen werden, um endokrinologische Prozesse zu steuern und somit bestimmte Aspekte der äusserlichen Erscheinung, inklusive der Stimme, zu verändern (Selvaggi & Bellringer, 2011). Auch auf rechtlich-administrativer Ebene können Änderungen vorgenommen werden. Mai 2018 wurde in der Schweiz eine Veränderung des Zivilgesetzbuches vorgeschlagen: Diese sollte Modifizierungen des Vornamens und des amtlichen Geschlechts erleichtern, die vorher zwar möglich aber mit aufwändigen und teuren Prozeduren verbunden waren (Bundesamt für Justiz, 2018).


Zum Weiterlesen und -schauen

Transgender Network Switzerland (TGNS). (2018). Trans: Eine Informationsbroschüre von trans Menschen für trans Menschen und alle anderen [Brochure]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.tgns.ch/wp-content/uploads/2018/05/Trans-Broschu%CC%88re-Inhalt.pdf

[World Health Organization (WHO)]. (2018). WHO: Revision of ICD-11 (gender incongruence/transgender) – questions and answers (Q&A) [Videodatei]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.youtube.com/watch?v=kyCgz0z05Ik

Literatur

Bradford, J., Reisner, S. L., Honnold, J. A., & Xavier, J. (2014). Experiences of transgender-related discrimination and implications for health: Results from the Virginia Transgender Health Initiative Study. American Journal of Public Health, 103(10), 1820-1829. doi: 10.2105/AJPH.2012.300796

Brandenburg, K.-W. (2018). Wer ist eigentlich Trans*? Und was soll das Sternchen? rbb24. Retrieved from https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2018/03/tag-trans-sichtbarkeit-sternchen-.html

Budge, S. L., Adelson, J. L., & Howard, K. A. S. (2013). Anxiety and depression in transgender individuals: The roles of transition status, loss, social support, and coping. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 81(3), 545-557. doi: 10.1037/a0031774

Bundesamt für Justiz (BJ) (2018). Transmenschen sollen Geschlecht und Vornamen unbürokratisch ändern können.Retrieved from https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/aktuell/news/2018/ref_2018-05-24.html

Capuzza, J. C. & Spencer, L. G. (2015). Transgender communication studies: Histories, trends, and trajectories. Lanham: Lexington Books.

Elks, S. (2018). Factbox: Murders of transgender people rising worldwide. Reuters. Retrieved from https://www.reuters.com/article/us-global-lgbt-murder-factbox/factbox-murders-of-transgender-people-rising-worldwide-activists-idUSKCN1NP0WJ

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Grant, J. M., Mottet, L. A., & Herman, J. L. (2011). Injustice at every turn: A report of the National Transgender Discrimination Survey.The National Center for Transgender Equality and the National Gay and Lesbian Task Force. Retrieved from https://www.ncgs.org/wp-content/uploads/2017/11/Injustice-at-Every-Turn-A-Report-of-the-National-Transgender-Discrimination-Survey.pdf

Haas, A. P., Rodgers, P. L., & Herman, J. L. (2014). Suicide attempts among transgender and gender non-conforming adults: Findings of the National Transgender Discrimination Survey.The Williams Institute and the American Foundation for Suicide Prevention. Retrieved from https://williamsinstitute.law.ucla.edu/wp-content/uploads/AFSP-Williams-Suicide-Report-Final.pdf

Kraus, J. (2017). Trans Day of Remembrance (TDoR) 2017. Transgender Network Switzerland. Retrieved from https://www.tgns.ch/de/2017/11/trans-day-of-remembrance-tdor-2017/

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Robles, R., Fresán, A., Vega-Ramírez, H., Cruz-Islas, J., Rodríguez-Pérez, V., Domínguez-Martínez, T., & Reed, G. M. (2016). Removing transgender identity from the classification of mental disorders: A Mexican field study for ICD-11. Lancet Psychiatry, 3, 850-859. doi: 10.1016/ S2215-0366(16)30165-1

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Selvaggi, G., & Elander, A. (2008). Penile reconstruction/formation. Current Opinion in Urology18(6), 589-597. doi: 10.1097/MOU.0b013e328313679c.

Smith, S. L., Choueiti, M., Pieper, K., Gillig, T., Lee, C., & DeLuca, D. (2015). Inequality in 700 popular films: Examining portrayals of gender, race, & LGBT Status from 2007 to 2014. Media, Diversity, & Social Change Initiative. Retrieved from http://assets.uscannenberg.org/docs/inequality_in_700_popular_films_8215_final_for_posting.pdf

Sutcliffe, P. A., Dixon, S., Akehurst, R. L., Wilkinson, A., Shippam, A., White, S., … Caddy, C. M. (2009). Evaluation of surgical procedures for sex reassignment: A systematic review. Journal of Plastic, Reconstructive & Aesthetic Surgery, 62, 294-308. doi: 10.1016/j.bjps.2007.12.009

Transgender Network Switzerland (TGNS). (2017). Was ist Trans*?Retrieved from https://www.transgender-network.ch/wp-content/uploads/2017/11/transfair-was-ist-trans.pdf

White Hughto, J. M., Reisner, S. L., & Pachankis, J. E. (2015). Transgender stigma and health: A critical review of stigma determinants, mechanisms, and interventions. Social Science & Medicine, 147, 222-231. doi: 10.1016/j.socscimed.2015.11.010.

Was ist der Binärcode für «Ich liebe dich»?

Wie Technologie unseren Umgang mit Liebe, Beziehungen und Sex verändert

In der heutigen digitalisierten Gesellschaft sind wir miteinander vernetzt wie noch nie zuvor. Doch wie wirkt sich das auf uns Menschen aus? Technologie bringt eine Reihe an Veränderungen mit sich. Viele davon werden als positiv wahrgenommen, trotzdem dürfen Komplikationen nicht unterschätzt werden.

Von Marcia Arbenz und Noémie Lushaj
Lektoriert von Flavia Gorla und Laurina Stählin
Illustriert von Svenja Rangosch

Unsere Grosseltern haben jeweils seitenlange handgeschriebene Liebesbriefe verfasst, als sie voneinander getrennt lebten. Sie berichteten einander wie ihr Alltag war, und vor allem, wie sehr sie sich vermissten. Ähnliche Konversationen finden heutzutage zwischen Menschen in Fernbeziehungen statt. Auch gleiche Gefühle, wie beispielsweise Melancholie und Sehnsucht, kommen hoch. Obwohl sich der Inhalt der Kommunikation zwischen Liebenden, die fern voneinander sind, somit nicht gross verändert zu haben scheint, sind die Mittel dazu jedoch ganz andere. Anstatt Briefe schreiben wir Kurznachrichten, versenden liebevolle Sprachmemos, facetimen stundenlang und schicken uns gegenseitig Nacktfotos auf unsere Smartphones. Heutzutage sind wir nicht mehr an ein Schnurtelefon gebunden, sondern können uns nahezu jederzeit und überall erreichen. Aus diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr technische Fortschritte unsere Art, Beziehungen zu führen, verändert haben. Doch die Wirkung dieser Entwicklungen hört noch lange nicht bei unserer Kommunikationskultur auf: Kaum ein Bereich unseres Liebes- und Sexuallebens bleibt von technologischen Einflüssen unberührt. In der endlosen Suche nach menschlichem Kontakt, lernen wir potenzielle Partner|innen über Dating-Apps kennen, schauen Porno-Filme übers Internet, befriedigen uns selbst mit den neusten Sexspielzeugen und werden uns künftig vielleicht in Maschinen verlieben. Welche Vorteile, aber auch Schwierigkeiten und ethischen Fragen tauchen in dieser sich veränderten und scheinbar paradoxen Welt auf?

Tinder & Co. – for better or for worse

Mehrere zehn Millionen Menschen benutzen die bekannte Dating-App Tinder (Bilton, 2014). Der Markt für Liebe und Verabredungen scheint somit zu boomen. Dies widerspiegelt sich auch in der Diversität der Online-Dating-Angebote (siehe Kästchen «Arten des Online-Dating»). Die Nutzer|innen sind bezüglich Alter, Geschlecht und Beziehungsstatus heterogen und die Motive für Online-Dating sind genauso unterschiedlich. Die Beweggründe können hingegen lediglich in zwei Gruppen eingeteilt werden: Intrapsychische Bedürfnisse wie Zeitvertreib, Nähe oder Selbstbestätigung und interaktionale Bedürfnisse, beispielsweise Kommunikation oder Sex (Aretz, Gansen-Ammann, Mierke, & Musiol, 2017). Somit scheint Online-Dating zu der Erfüllung von wichtigen menschlichen Bedürfnissen beizutragen.

Trotzdem gibt es einige negative Folgen dieses Trends. So kann es aufgrund der scheinbar unermesslichen Auswahl zu einer emotionalen Abnutzung und Objektifizierung des|der Partners|Partnerin kommen (Finkel, Eastwick, Karney, Reis, & Sprecher, 2012). Obwohl Nutzer|innen das Bedürfnis haben, authentisch aufzutreten, sehen die meisten Nutzenden ihr Profil gleichzeitig als Mittel, um den Anderen ihr ideales Selbst zu präsentieren. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis und es kommt zu mehr oder weniger absichtlichen Lügen (Ellison, Heino, & Gibbs, 2006; Toma, Hancock, & Ellison, 2008). Nach Finkel und Kollegen (2012) kann das Kennlernen über eine Online-Plattform zu weniger Zufriedenheit später in der Beziehung führen. Sowohl das Commitment, als auch die Kommunikation würden unter Umständen leiden. Mathematische Matching-Algorithmen seien doch kein magisches Mittel gegen Einsamkeit (Finkel et al., 2012). D’Angelo und Toma (2016) fanden heraus, dass Personen, die eine grössere Auswahlmöglichkeiten an Partnern hatten, nach einer Woche mehr Unzufriedenheit berichteten, als diejenigen Personen, die weniger Auswahlmöglichkeiten hatten. Es scheint so, als würde es insgesamt zu einer Entwertung der Entscheidung für den|die Partner|in kommen (Aretz et al., 2017). Auch gibt es einige Studien, die von mehr Täuschungen und Betrugsdelikten, psychischen und körperlichen Gefahren, wie auch von mehr sexuellen Belästigungen bei Online-Dating berichteten (Aretz et al., 2017). In einer Studie von Andrighetto, Riva und Gabbiadini (2019) konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass heterosexuelle Männer, die von einer fiktiven Online-Dating-Partnerin zurückgewiesen wurden, eine erhöhte Feindseligkeit und Aggressivität gegenüber der Partnerin und Frauen im Allgemeinen aufzeigten. Bemerkenswert ist ausserdem, dass positive Zusammenhänge zwischen den Dark Triad [die Persönlichkeitseigenschaften Machiavellismus, Psychopathie und Narzissmus (Furnham, Richards, & Paulhus, 2013)] und der Nutzung von Tinder gefunden werden konnten (Sevi, 2019).

Alles in allem stellen Dating-Apps eine interessante Möglichkeit dar, Menschen kennenzulernen. Doch wie wird durch diese neue digitale Welt navigiert und wie wird unter anderem mit den eigenen grossen Erwartungen, der Angst vor Catfishes [Personen, die im Netz eine falsche Identität einnehmen (Peterson, 2013)] und der Gefahr einer Entmenschlichung des Gegenübers umgegangen? Zwischen Hoffnungen, Sorgen, Enttäuschungen und Erfolgsgeschichten verraten uns unterschiedliche Menschen in der Rubrik «Willkommen im Tindergarten!» am Ende des Artikels, was sie von Online-Dating halten.

(S)ex machina

Es braucht wenig, damit Personen Objekte anthropomorphisieren, das heisst diese als menschenähnliches Gegenüber oder soziale Akteure empfinden (Döring, 2017). Zum Teil werden sogar emotionale oder körperliche Bindungen mit Gegenständen aufgebaut, beispielsweise mit Teddybären (Döring, 2017). Doch während man nur belächelt wird, wenn man als erwachsene Person noch ein Kuscheltier im Bett hat, erntet man vermutlich entsetzte Blicke, wenn man eine mechanische Sexpuppe oder ein Sexspielzeug offen im Schlafzimmer rumliegen lässt. Nichtdestotrotz wird aus Adam und Eva in nicht allzu ferner Zukunft vermutlich Florence and the Machine: Es gibt Prognosen, die besagen, dass es in 30 Jahren für Menschen normal sein wird, mit Robotern zu schlafen, beziehungsweise in der einen oder anderen Form virtuell Geschlechtsverkehr zu haben (Levy, 2007; Pearson, 2016).

Allgemein wird zwischen Hardware- und Software-Sexrobotern unterschieden (Döring, 2017). Hardware-Roboter können haptisch, visuell, auditiv oder aus einer Kombination dieser Sinne gestaltet sein. Unter Software-Sexroboter ist beispielsweise Virtual Reality (VR) mit oder ohne Teledildonik zu verstehen (Döring, 2017). Teledildonik ist eine Bezeichnung für Sexspielzeuge, die synchron zu einem erotischen Film die Genitalien haptisch stimulieren (Döring, 2017). Pornographische Filme, die für VR-Brillen konzipiert wurden, gibt es bereits. Dabei verschiebt sich die Perspektive des|der Nutzers|Nutzerin – anstelle einer beobachtenden, nimmt man eine aktive Rolle ein (Döring, 2017). Der Film wird dabei in einer Point-of-View-Darstellung, also aus Sicht der Hauptperson, gezeigt. In Zukunft werden wohl auch VR-Spiele für ähnliche Zwecke genutzt werden. Diese sollen immer realitätsnäher werden. Eine Zielgruppe dafür könnten Menschen in Fernbeziehungen sein (Döring, 2017). Beispielsweise soll es möglich werden, durch einen Avatar seinen Partner zu verkörpern oder mit dem Partner live zu interagieren. Ein wenig erinnert diese futuristische Vorstellung an die erste Folge der fünften Staffel aus der Serie Black Mirror: In «Striking Vipers» haben zwei Freunde über ein VR-Kampfspiel eine Affäre miteinander (Harris & Brooker, 2019). Sind solche Szenarien Zukunfts- oder eigentlich doch schon Gegenwartsmusik? Als Zuschauer kann man sich fragen, welche Auswirkungen das Ganze auf die Gesellschaft und auf Individuen haben wird.

Eine kurze Antwort könnte lauten: Man weiss es schlicht und einfach nicht, denn es gibt keine Datengrundlage, auf der man Theorien prüfen oder Schlüsse ziehen kann (Döring, 2017). Trotzdem gibt es zahlreiche Spekulationen, was passieren könnte, wenn Mensch und Maschine miteinander Geschlechtsverkehr haben. Eine Theorie behauptet, dass Menschen – wie beispielsweise der Protagonist von dem Science-Fiction-Filmdrama «Her» (Jonze, 2013) – eine emotionale Bindung zu Robotern aufbauen werden. Dies könnte Einsamkeit reduzieren und Wohlbefinden fördern (Levy, 2007). Beispielsweise könnten Personen durch Beziehungen mit Maschinen den Tod oder eine Trennung des|der Partners|Partnerin besser verarbeiten (Döring, 2017). Die Technologie könnte somit durchaus positive Folgen auf Beziehungen und das menschliche Wohlbefinden haben. Es ist dennoch nicht alles so rosa, wie es scheint.

Ein neues Mittel der Unterdrückung

Die Technologie eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten. Jedoch kann diese auch eine Schattenseite haben und in vielerlei Hinsicht missbraucht werden. Somit finden zum Beispiel sexuelle Gewalt und Frauenfeindlichkeit durch die Technologie neue Ausdrucksformen. Bei Revenge Porn, lieber als Non-Consensual Dissemination of Intimate Images bezeichnet, werden Nacktbilder und -videos ohne Konsens ins Netz gestellt (Maddocks, 2019). Bei Deepfakes oder eher Deepnudes wird dieses Problem durch technologischen Fortschritt nochmals komplexer: Da werden gefälschte Nacktbilder anhand von Machine-Learning-Algorithmen erzeugt (Mahdawi, 2019). Mit jeder neuen Entwicklung entstehen neue ethische Fragen. Dabei stellen Sexroboter keine Ausnahme dar, denn diese können mehr oder weniger direkt Menschen schaden. Zum Beispiel, indem sie unsere Empathiefähigkeit reduzieren (Freuler, 2016). Eine Theorie postuliert nämlich, dass es durch die Nutzung weiblicher Sexroboter von Männern zu einer Bekräftigung der Rolle von Frauen als untergeordnete Sexualobjekte und dadurch zu mehr Unterdrückung und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen kommt (Danaher, 2014; Richardson, 2015; Richardson, 2016). Diese These basiert darauf, dass gegenwärtig vor allem Männer diejenigen sind, die Sexroboter entwickeln und nutzen (Döring, 2017). Auch wird debattiert, ob kinderähnliche Sexroboter verwendet werden sollen, um Pädophilie zu therapieren. Dabei ist Vorsicht geboten, denn es bleibt unklar, was die Auswirkungen einer solchen Massnahme wären (Freuler, 2016). Zudem ist die Fragestellung nur schwer erforschbar, da ein Forschungsdesign mit einer Kontrollgruppe ethisch nicht vertretbar wäre (Freuler, 2016).

Jenseits des Uncanny Valley

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie Roboter selber behandelt werden sollen. Gilt der sexuelle Konsens auch für sie? Sollte man ihnen insgesamt mit Respekt begegnen und ihnen Rechte geben? Auf solche Fragen folgen oft keine eindeutigen Antworten, sondern weitere Fragen: Haben Roboter etwas wie ein Bewusstsein, eine Seele oder Emotionen? Wie menschlich sind sie im Endeffekt, und was macht überhaupt das Menschsein aus? Momentan sei künstliche Intelligenz noch sehr weit davon entfernt, Bewusstsein zu entwickeln und manche Autoren argumentieren sogar, dass es dies nie tun wird (Widmer, 2018). Darüber hinaus muss noch das Problem des Uncanny Valley (UV) überwunden werden: Die UV-Hypothese besagt, dass menschenähnliche Charaktere, die schwierig von Menschen unterschieden werden können, negative Affekte auslösen (Cheetham, Wu, Pauli, & Jäncke, 2015). Zudem müssen Roboter den Turing-Test (1950) erstmal bestehen. Dieser Test ist eine Art Imitationsspiel, das untersuchen sollte, inwiefern das Denkvermögen von Menschen und von Maschinen gleich, beziehungsweise nicht voneinander unterscheidbar ist. Aber was wird passieren, wenn Roboter eines Tages tatsächlich nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sein werden? Wie immer bei solchen Fragen wird uns nur die Zukunft klare Antworten liefern können. Trotzdem kann es nicht schaden, sich jetzt schon Gedanken zu machen und vor allem dieses Thema weiter zu erforschen, um so vielleicht der einen oder anderen Katastrophe vorzubeugen. In der Zwischenzeit können wir versuchen, ab und zu auf Papier und Stift zurückzugreifen und, wie unsere Grosseltern, den Liebsten einen Brief anstatt eine digitale Textnachricht verfassen.

Arten des Online-Dating (Aretz et al., 2017)
Online Kontaktanzeigen: Suche und Selektion der Profile werden einem selbst überlassen. Bsp.: LoveScout24
Online Partner|innenvermittlung: Vorschläge von Profilen, die zu einem besonders gut passen sollten. Bsp.: Parship
Adult-Dating bzw. Casual-Dating: Vermittlung von erotischen Kontakten. Bsp. C-Date
Nischenanbieter: Spezialisierung auf bestimmte Zielgruppen. Bsp. Handicap-Love
Social-Dating: Profile werden in Abhängigkeit von Standort präsentiert. Bsp. Tinder

Willkommen im Tindergarten!

«Ich habe mich erst mit der Person, die ich über Tinder kennenglernt habe, getroffen, nachdem ich sein Instagramprofil gesehen habe. So [über Instagram, Anm. der Autorinnen] haben wir beide gemerkt, dass die andere Person ungefähr so ist, wie sie sich auch auf Tinder gibt.» W, 22 Jahre alt

«Die grösste Gefahr bei Dating-Apps ist für mich, dass ich beginne, Männer als austauschbar zu betrachten. Es ist so einfach, jemand Neues zu treffen, wenn nur schon eine kleine Schwierigkeit bei einem anderen auftaucht. Man vergisst manchmal, dass hinter den Profilen echte Menschen stecken.» W, 23 Jahre alt

«Es ist eigentlich genauso, wie man es erwartet.» W, 22 Jahre alt

«Ich hatte Glück und habe mit den Leuten, mit denen ich mich getroffen habe, nur positive Erfahrungen gemacht (auch wenn es nicht viele gewesen sind). Meine Freundin habe ich auch über eine Dating App kennengelernt und wir sind schon seit zwei Jahren zusammen. Empfehlen kann ich nur, dass man sich möglichst schnell trifft und nicht eine Woche oder noch länger wartet. Wenn man den Menschen vor sich hat, merkt man schnell, ob es passt oder nicht.» W, 23 Jahre alt

«Grundsätzlich bin ich nicht so begeistert, aber das liegt an mir. Ich stelle es mir romantischer vor, jemanden im echten Leben kennenzulernen und Tinder hat so einen negativen Beigeschmack.» W, 22 Jahre alt

«Ich gehe lieber Menschen auf der Strasse ansprechen, als eine Dating-App zu benutzen. Man sieht die Person, die ganze Mimik und Gestik, sie kommen realer rüber.» M, 22 Jahre alt

«Ganz unterschiedliche Erfahrungen. Es haben sich tolle Freundschaften entwickelt, die seit Jahren halten. Aber gleichzeitig habe ich auch meine Ex[freundin] kennengelernt. Ich denke, es ist gut, dass es Tinder gibt. Die Schüchternheit kommt beim Online-Dating nicht in den Weg.» M, 25 Jahre alt

«Was sicher auffällt ist, dass es zu fast nichts führt. Es kommt sicher auf die Region an, aber hier in der Schweiz antworten sicher 95 Prozent nicht. Als Person mit hohem Selbstwertgefühl finde ich, dass ich nicht die Wertschätzung erhalte, die mir zusteht und die ich auch anderen geben würde.» M, 25 Jahre alt


Zum Weiterlesen

Aretz, W., Gansen-Ammann, D., Mierke, K. & Musiol, A. (2017). Date me if you can: Ein systematischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand von Online-Dating. Zeitschrift für Sexualforschung, 30, 7-34. doi:10.1055/s-0043-101465.

Döring, N. (2017). Vom Internetsex zum Robotersex: Forschungsstand und Herausforderungen für die Sexualwissenschaft. Zeitschrift für Sexualforschung, 30, 35-57. doi:10.1055/s-0043-101471.

Freuler, R. (2016). Was hat Sex mit Technologie zu tun? NZZ Am Sonntag. Retrieved August 27, 2019, from, https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/serie-unsere-sexualitaet-was-hat-sex-mit-technologie-zu-tun-ld.125903

Literatur

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