Wie durch Reden die Distanzierung von Suizidalität gelingen kann
Der Freitod ist ein Thema unserer Gesellschaft. Nicht immer sichtbar und doch präsent. Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin), Matthias Herren (Stellenleiter Dargebotene Hand ZH) und eine Betroffene erzählen, wie eine offene Kommunikation vor Selbstmord bewahren kann.
Von Hannah Löw Lektoriert von Marie Reinecke und Zoé Dolder Illustriert von Alessia Geisshüsler
Der Tod gehört zum Kreislauf des Lebens. Früher oder später sterben Lebewesen und Neue werden geboren. Doch wenn psychisches Leiden Menschen in den freiwilligen Tod drängt, ist keine Rede mehr von einem natürlichen Tod. Dass Suizid ein Thema unserer Gesellschaft ist, zeigen die Ergebnisse der Untersuchung des Bundesamts für Statistik (BFS): Etwa 1000 Menschen in der Schweiz beendeten im Jahr 2016 selbst ihr Leben (BAG, 2019). Nach der WHO erschwert eine Tabuisierung der Suizidthematik das Erkennen von selbstgefährdeten Menschen (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).
Gefühlte Datenlage und Daten der Gefühlslage
Wie oft laufen wir täglich durch die Gegend und begegnen fremden Menschen. Wir blicken in unbekannte Gesichter, schauen schnell weg, nicken kaum merkbar oder es rutscht sogar ein Grüezi über die Lippen. Wir kreuzen für einen kurzen Augenblick den Weg eines anderen und doch bleibt uns vieles dabei verborgen. Wie der Kapitän auf der Titanic, als er die Spitze des Eisberges entdeckte, erhaschen auch wir nur einen Bruchteil des Befindens. Die tieferliegende, emotionale Verfassung bleibt in den Strassen des Alltags meist unerkannt. Bei wie vielen Menschen würden wir einen verborgenen Eisberg an suizidalen Gedanken unter der Oberfläche vermuten? In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) erhob das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2017 mittels Fragebogen Daten zu Suizidgedanken und Suizidversuchen in der Schweizer Bevölkerung. Die Prävalenz von Suizidgedanken lag bei ungefähr 7,8 Prozent. «Hochgerechnet auf die gesamte Wohnbevölkerung ab 15 Jahren sind dies rund 541’000 Personen (95%-KI: 508’000–575’000)» (Obsan, 2019, S. 2). Konstruiert das innere Auge diese Zahl zu einem Bild, so könnte die Platzkapazität des Stadions Letzigrund rund 20-mal ausgeschöpft werden mit Menschen, die Suizidgedanken in sich tragen (Stadt Zürich, 2018). Die Prävalenz der Suizidversuche lag nach der Datenerhebung der SGB 2017 bei 0,5 Prozent innerhalb der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2016. Auch hier rechnet das SGB diese Zahl hoch auf «rund 33’000 Suizidversuche (95%-KI: 23’000–42’000)» (Obsan, 2019, S. 4–5) schweizweit.
3,4 Prozent der Befragten haben während ihrer gesamten Lebensspanne bis zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Das bedeutet, dass 214’000 bis 259’000 Menschen, die in der Schweiz leben, zuvor einen Suizidversuch unternommen haben (Obsan, 2019). Zu erwähnen ist hierbei, dass bei der Datenerhebung in der Schweiz lebende Personen ab 15 Jahren befragt worden sind, exklusiv der Personen im Freiheitsentzug, in psychiatrischen Kliniken oder im Asylbereich (Obsan, 2019).
«Angst. […] ein Drang, weg auf die Strasse zu gehen und zur nächsten Brücke runter. Dann hat mich jemand angesprochen, ein Wildfremder. […] Ich weiss […] nicht, was passiert wäre, wenn er mich nicht angesprochen hätte.»
Philipp Zürcher – Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich, 2015.
Wenn ein Suizidversuch misslingt – Rettungssanitäter*innen im Einsatz
Fast 100 Rettungsdienste versorgen die Schweizer Bevölkerung täglich mit über 1’200 Rettungseinsätzen (Obsan, 2017). In einer Befragung von 245 Rettungsdiensteinsatzkräfte wurde die Häufigkeit der Einsätze aufgrund psychiatrischer Notfälle auf 8,7 Prozent geschätzt (Pajonk et al., 2004). Das würde demnach bedeuten, dass fast jeder zehnte Rettungsdiensteinsatz aufgrund eines psychiatrischen Notfalls erfolgt, zu denen auch Suizidversuche zählen. Auch Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin) rückte während ihrer Arbeit beim Rettungsdienst immer wieder aufgrund von Suizidversuchen aus. Elisa gibt für das aware einen Einblick in ihre Erfahrungen. «Vor Beginn meines Veterinärmedizinstudiums habe ich als Rettungssanitäterin gearbeitet und so hatte ich auch einige Suizideinsätze. Dabei sind mir vor allem die Selbstmordversuche der gesunden, jungen Menschen in Erinnerung geblieben, weil diese meist „nur“ ein Hilferuf an ihre Umgebung waren. So haben mir ein paar Patienten*innen im Nachhinein erzählt, wie erschrocken sie über ihre eigene Tat gewesen seien. Sie seien sich der Konsequenzen bis dato nicht wirklich bewusst gewesen. Meiner Meinung nach kann man in vielen Fällen eine solche Verzweiflungstat verhindern, indem man diesen Menschen eine Möglichkeit gibt, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen. Prävention und offene Kommunikation sind oftmals schon sehr hilfreich.»
Die innere Not zu erkennen geben
«Ich finde es wichtig, dass man Menschen nicht alleine lässt, wenn sie in einer Krise sind und dass man sie vor allem ernst nimmt» (Pro Juventute et al., 2018), äussert sich Elea in der Präventionskampagne Jugendsuizid der Pro Juventute, SBB und weiteren Kampagnenträger*innen. Wachsame Augen entdecken im Winter 2019/2020 in der Stadt Zürich die Plakate von fünf Jugendlichen aus dieser Kampagne. Sie plädieren dafür, dass Betroffene über ihre Suizidgedanken reden. Auch die Kampagne «reden kann retten» der Prävention und Gesundheitsförderung des Kantons Zürich will dem Schweigen über Suizidgedanken entgegenwirken. Wie eingangs erwähnt, gehört Tabuisierung der Suizidthematik nach der WHO zu den zentralen Schwierigkeiten in der Suizidprävention. Auch die Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung beeinflussen die Rate der Menschen, die sich Hilfe holen, massgeblich (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016). Die Schweiz ermöglicht Anlaufstellen, die 24 Stunden betreut werden und die jederzeit Menschen in einer akuten Krise ihre Hilfe anbieten, so beispielsweise das Kriseninterventionszentrum Zürich (KIZ). Die Bettenzahl im KIZ ist zwar beschränkt, doch sind Gespräche rund um die Uhr möglich (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, 2019). Wer keinen persönlichen Kontakt möchte, hat die Option zum Telefon zu greifen. Auch die Dargebotene Hand bietet durch Freiwilligenarbeit ein 24-Stunden-Telefon an. Ausserdem gibt es Online-Chats, in denen Menschen in einer Krise mit Freiwilligen der Dargebotenen Hand oder auch mit der Nightline Zürich ihre Sorgen per Computer besprechen können. Matthias Herren, der Stellenleiter der Dargebotenen Hand im Raum Zürich, äussert sich für das aware folgendermassen zum Thema Suizid.
«Wenn Suizidwillige die Dargebotene Hand am Telefon oder per Chat kontaktieren, gilt das Grundprinzip, dort anzuknüpfen, wo der*die Kontaktsuchende jetzt gerade steht. Dabei gilt es ernst zu nehmen und offen anzusprechen, dass Suizidwillige ihre akute Krisensituation als Sackgasse erleben, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Im Gespräch wird aber beachtet, dass es Suizidwilligen nicht primär darum gehen muss, zu sterben, sondern vor dem Unerträglichen zu fliehen. Möglicherweise gibt es dafür auch einen anderen Weg als den Tod.»
Sich helfen lassen – im Gespräch mit einer Betroffenen (16.01.20)
«Die Mutter meines Ex-Freundes hat sich das Leben genommen, als er zehn Jahre alt war. Meine Tante habe ich nie kennengelernt, weil sie sich als junge Erwachsene das Leben genommen hat. In der Primarschule ist eine Schulkollegin von mir eine Zeit lang nicht mehr zum Unterricht erschienen – ihr Vater hatte sich damals das Leben genommen.», berichtet Lena1. Mehr als fünf Personen könne Lena aufzählen, die sie direkt oder indirekt kenne, die Suizid begangen haben. Und mehr als doppelt so viele, die es versucht hätten. «Suizidgedanken sind ein ernstzunehmendes Thema. Hinter diesen Gedanken steckt meiner Meinung nach oft ein tieferliegendes Gefühl, das sich im Wunsch nach dem Tod ausdrückt.», sagt die Studentin. Zumindest sei es ihr so ergangen. Auch sie wollte sterben. Dachte sie zumindest. Zweimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Zweimal sei es schief gegangen. Heute ist sie dankbar für ihr Leben. Zwei stationäre Klinikaufenthalte folgten auf die beiden Suizidversuche. «In der zweiten Klinik war ich zunächst unter FU-Status, also fürsorgliche Unterbringung. Anders gesagt: Zwangseinweisung. In vielen Gesprächen, Kunsttherapien und Körpertherapien konnte ich dann das Geschehene besser verstehen, den Kern in meinen Suizidgedanken erkennen und mit der Zeit Abstand davon nehmen.» Es sei nicht der Wunsch nach dem Tod für sie gewesen. Es war ihre Verzweiflung, nicht zu wissen, wie sie ihre Emotionen aushalten könne. Nicht zu wissen, wie sie sich selbst helfen könne. «Leider waren die Gedanken nicht einfach verschwunden. Als ich angefangen habe, darüber zu reden, blieb der Drang nach dem Sterben immer noch bestehen», erzählt Lena. Erst als sie es als Symptom der eigenen Überforderung erkannte, konnte sie mit der Zeit anders damit umgehen. Jedes Mal, wenn sie die Müdigkeit des Lebens ergriff, habe sie offene Ohren in der Therapie gesucht. Später habe es gereicht, wenn sie in schwierigen Phasen kurz in den Online-Chat der Nightline Zürich ging oder mit einem*r Freiwilligen der Dargebotenen Hand chattete. Lena denkt: «Wenn jemand keinen Ausweg mehr sieht, kann man diesen Menschen zwar am Leben halten, indem der Suizid verhindert wird, doch kann niemand einen Menschen dazu bringen, wieder wirklich zu leben. Es gehört auch der Wille dazu, sich helfen zu lassen und dem Leben eine neue Chance zu geben.» Trotz Scham und Angst sei das Reden für Lena der Schlüssel zur Ausgangstür aus dem Gedankengefängnis Suizid gewesen. «Den Tod kann dir niemand wegnehmen. Doch wer keinen alternativen Weg ausprobiert, verpasst vielleicht die Oase hinter der nächsten Sanddüne des Lebens.»
Notfalladressen – rund um die Uhr erreichbar:
Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (KIZ): 044 296 73 10
Kriseninterventionszentrum der Integrierten Psychiatrie Winterthur (KIZ): 052 224 37 00
Notfallpsychiatrischer Dienst am Universitätsspital Zürich: 044 255 11 11
Onlinesuche nach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (psychiatrisch und psychologisch): www.therapievermittlung.ch
Zum Weiterlesen
Suizidprävention Kanton Zürich. (2020). In der Krise: Das hilft. Besorgt um jemanden?: So können Sie helfen. Retrieved from https://www.suizidpraevention-zh.ch
Coelho, P. (1998). Veronika beschliesst zu sterben. Rio de Janeiro: Editora Objetiva Ltda.
Pajonk, F.G., Gärtner, U., Sittinger, H., von Knobelsdorff, G., Andresen, B. & Moecke, H. (2004). Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall & Rettungsmedizin7(3): 161-167. https://doi.org/10.1007/s10049-004-0654-x
Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung (Obsan Bulletin 7/2019). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
Frey, M., Lobsiger, M. & Trede, I. (2017). Rettungsdienste in der Schweiz: Strukturen, Leistungen und Fachkräfte (Obsan Bulletin 1/2017). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich. (2015). Warum reden wichtig ist: Momo Christen, Daniel Göring und Philipp Zürcher haben einen Suizidversuch überlebt. Sie berichten in Filmclips über ihre Erfahrungen. Retrieved from https://reden-kann-retten.ch
Die umstrittene Ätiologie, Problematik und Funktion des Zähneknirschens
Obwohl es sich bei Bruxismus um ein medizinisches Problem handelt, deutet sogar die Alltagssprache auf eine Verbindung zur Psychologie hin. Diese nicht unumstrittene Assoziation führt viele Jahre zurück und wirft eine noch grundlegendere Frage auf: Hat Bruxismus auch eine adaptive Funktion?
Von Julia J. Schmid Lektoriert von Phillip Seibt und Marina Reist Illustriert von Kerry Willimann
Die Idee eines Artikels zu Bruxismus kam mir etwas unkonventionell vor. Da mich das Thema aber bereits seit einiger Zeit beschäftigte, wagte ich es dennoch, den Vorschlag in unsere halbjährliche Konzeptsitzung einzubringen. Statt der erwarteten Fragen wie «Bruxismus, was ist das?!» oder «Ein Artikel zu Zahnproblemen in einem Psychologiemagazin?!», stiess das Thema auf Begeisterung und endete in einer Diskussion über die eigenen Erfahrungen mit Zähneknirschen. Ist die Assoziation zwischen Bruxismus und Psychologie also doch gar nicht so abwegig?
Bruxismus, was ist das?!
Bruxismus, umgangssprachlich auch Zähneknirschen genannt, bezeichnet eine sich wiederholende Kaumuskelaktivität, die durch Knirschen oder Pressen mit den Zähnen und/oder durch Verkrampfen und Anspannen des Unterkiefers gekennzeichnet ist (Lobbezoo et al., 2013). Dabei werden extrem starke Kräfte ausgeübt, die die des funktionellen Kauens weitaus übersteigen und den Kiefer enorm belasten (Slavicek & Sato, 2004). Dies kann neben Schmerzen und Schmerzausstrahlung zu zahlreichen zahnärztlichen Folgeschäden führen (Slavicek & Sato, 2004). Die Folgeschäden können die Zähne direkt betreffen (z. B. Abnutzung der Zahnsubstanz), den Zahnhalteapparat (z. B. Zahnlockerungen), die Muskulatur (z. B. Funktionsstörungen, Überempfindlichkeit) oder die Kiefergelenke (z. B. Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit, Gelenkknacken) (Korn, 2005). Häufig stellen sich die Betroffenen beim Arzt aufgrund von Kopf-, Gesichts-, Kiefer-, Zahn- und Ohrenschmerzen oder Verspannungen der Kau- und Nackenmuskulatur vor (Vavrina & Vavrina, 2020). Im Falle einer Schmerzchronifizierung, treten teilweise zusätzlich Angst- und Depressionssymptome auf (Jochum et al., 2019). Bruxismus geht aber nicht zwingend mit den genannten Symptomen einher (Peroz, 2018). Rund 60 Prozent der Betroffenen sind beschwerdefrei oder sich ihrer Bruxismusaktivität nicht einmal bewusst (Hoffmann & Piekartz, 2020). In Einzelfällen führt das dazu, dass der Bruxismus erst beim Zahnarztbesuch aufgrund von Zahnschäden erkannt wird (Vavrina & Vavrina, 2020).
Am Tag ist nicht gleich in der Nacht
Aus ätiologischen Gründen wird anhand der Tageszeit, zu der das Knirschen auftritt, zwischen Wach- und Schlafbruxismus unterschieden (Lavigne et al., 2008). Schlafbruxismus wird als unbewusste schlafassoziierte Bewegungsstörung angesehen, die in Verbindung mit Schlafstadienwechseln und sogenannten Mikroweckreaktionen («sleep-micro-arousal») auftritt (Bernhardt, 2015). Wachbruxismus findet im Wachzustand statt und kann somit bewusst wahrgenommen werden (Bernhardt, 2015). Betroffene können unter einer oder beiden Formen gleichzeitig leiden, wobei letzteres das Risiko für auftretende Schmerzen stark erhöht (Schmoeckel et al., 2018). Die Prävalenz des Wachbruxismus liegt unter Erwachsenen bei 20 Prozent und tritt bei Frauen vermehrt auf (Lavigne et al., 2008). Der Schlafbruxismus ist geschlechtsunabhängig und kommt, mit einer Prävalenz von ungefähr 8 Prozent aller Erwachsener, etwas seltener vor (Ommerborn, 2013). Am häufigsten tritt Bruxismus zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr auf (Peroz, 2018; Vavrina & Vavrina, 2020). Bruxismus ist also kein seltenes, sondern ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Phänomen (Vavrina & Vavrina, 2020).
Ein Artikel zu Zahnproblemen in einem Psychologiemagazin?!
Die Verbindung zwischen Bruxismus und Psychologie hat sich sogar in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen (Schule, 2008). Verschiedene Redewendungen und Ausdrücke wie «Zähne zusammen und durch», «die Zähne zusammenbeissen», «auf die Zähne beissen», «da musst du dich jetzt durchbeissen», «man beisst sich daran die Zähne aus», «er hat sich daran festgebissen», «verbissen», «zähneknirschend», «die Zähne zeigen» oder «Probleme durchkauen» verdeutlichen eindrücklich die Assoziation zwischen der Kaumuskelaktivität und psychologischen Phänomenen. Das Zusammenpressen der Zähne wird im Alltag also mit einer allgemeinen Anspannung in Verbindung gebracht (Lange, 2013). Noch vor Beginn der modernen Wissenschaft galt der Bruxismus in der Sprache, Literatur und Kunst als Symbol für Frustration, Angst und psychische Erregung (Lange, 2016). Doch ist diese in unserer Kultur und Sprache verankerte Assoziation auch wissenschaftlich belegt?
Emotionale Anspannung als Ursache? –Wenn sich Selbstberichts- und EMG-Daten widersprechen
Die sich im Sprachgebrauch andeutende Annahme, dass Bruxismus mit angespannten Lebenssituationen zusammenhängt, hat eine lange Tradition, die bis ins Altertum zurückreicht und sich auch noch im heutigen klinischen Alltag widerspiegelt (Lange, 2013). Patient*innen berichten während stressigen Lebensphasen häufig über eine Zunahme ihrer Bruxismusaktivität oder das Bruxismusverhalten wird von Ärzt*innen auf Stress zurückgeführt (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Diese Assoziation stützt sich auf einige frühere Fallserien, die eine Zunahme der Bruxismusaktivität und damit einhergehenden Schmerzen nach Stresssituationen feststellten (z. B. Rugh & Lemke, 1984). Auch neuere Studien, die auf klinischen und/oder selbstberichteten Bruxismus-Diagnosen basieren, sprechen für die Bruxismus-Stress-Beziehung (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Entsprechend berichten Betroffene über mehr Lebens- und Alltagsstress, Arbeitsbelastung, Übermüdung und leiden tendenziell unter mehr Angst- und Depressionssymptomen (Ohayon et al., 2001; Gungormus & Erciyas, 2009; Giraki et al., 2010). Bruxistisches Verhalten kann als Folge eines stressreichen Tages sowie antizipatorisch auf Belastungen, die am nächsten Tag erwartet werden, auftreten (Korn, 2005). Menschen, die an Bruxismus leiden, sind weniger gut in der Lage, sich zu entspannen bzw. Entspannungsphasen auch in diesem Sinne zu nutzen (Wolowski & Repges, 2013). Passend dazu zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Bruxismus und der Konzentration von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin (Seraidarian et al., 2009). Möglicherweise beeinträchtigt emotionaler Stress die Schlafqualität und verursacht häufigere Schlafstadienwechsel, deren Nebenprodukt die Bruxismusaktivität ist (Manfredini et al. 2005).
Generell gehen viele psychiatrische Störungen, insbesondere Depressionen und Angststörungen, aber auch ADHS sowie neurologische Erkrankungen mit Bruxismus und den assoziierten Schmerzen einher (Souto-Souza et al., 2020; Geniş & Hocaoğlu, 2020). Darüber hinaus wird Bruxismus mit den Persönlichkeitsmerkmalen Neurotizismus (Sutin et al., 2010) und Psychotizismus (Shen et al., 2018), einer erhöhten Stresssensitivität (Manfredini et al., 2004) sowie zwanghaftem Verhalten, zwischenmenschlicher Sensibilität und paranoider Ideen in Verbindung gebracht (Shen et al., 2018).
«The grinding of teeth has long been held as one physical manifestation of stress and anxiety.»
Sutin et al., 2010, S. 402
Konträr dazu wurde in Studien, die die Bruxismusaktivität im Schlaf mittels EMG ableiteten, keine oder nur schwache Belege für eine Bruxismus-Stress-Beziehung gefunden (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Daher mehren sich Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Zusammenhangs (Lange, 2018). Einen Erklärungsversuch lieferten Manfredini und Lobbezoo (2009) in ihrem systematischen Review. Sie vermuten, dass in Selbstberichtsstudien von Proband*innen nicht die Bruxismusaktivität an sich, da diese unbewusst abläuft, sondern die Schmerzen (z. B. der Kaumuskulatur) berichtet werden. Dies würde bedeuten, dass Stress eher mit den Schmerzen einhergeht, aber nicht zwingend mit dem Schlafbruxismus (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Dafür spricht einerseits, dass chronischer Stress zu einer Senkung der Schmerzschwelle führen kann (Jochum et al., 2019) und andererseits, dass Bruxist*innen, die unter Schmerzen leiden, höhere Depressionswerte aufweisen als Bruxist*innen ohne Schmerzen (Camparis & Siqueira, 2006). Die Hypothese von Manfredini und Lobbezoo (2009) geht aber noch weiter. So vermuten sie, dass die Schmerzen nicht von Schlafbruxismus, sondern von unbewusstem Wachbruxismus stammen. Dieser wird in der Literatur nämlich konsistenter und methodenübergreifend mit psychosozialen Faktoren und psychopathologischen Symptomen wie Stress, Angst und Depression assoziiert (z. B. Endo et al., 2011; Ahlberg et al., 2013). So wird angenommen, dass er eine Folge emotionaler Anspannung ist, die die Betroffenen dazu zwingt, mit einer verlängerten Kontraktion ihrer Kaumuskeln zu reagieren (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Andere Autor*innen dagegen sehen die psychologischen Probleme als Folge des chronischen Schmerzes und nicht als Ursache des Bruxismus (Wolowski & Repges, 2013).
Diagnostik
In EMG-Studien wurde gezeigt, dass Patient*innen mit Kiefer- und Gesichtsschmerzen häufig falsch-positive Aussagen zum Bruxismus machen. Aufgrund der diagnostischen Herausforderungen wurde ein evidenzbasiertes Stufensystem entwickelt. Dieses unterteilt in einen «möglichen» Bruxismus auf Basis eines Selbstberichts, einen «wahrscheinlichen» Bruxismus anhand des Selbstberichts inklusive klinischer Anzeichen sowie einen «definitiven» Bruxismus, welchem zusätzlich eine Polysomnografie zugrunde liegt (Lange, 2018).
Wenn nicht Stress, was dann?
Seit über 100 Jahren rätselt die Wissenschaft über die Ursachen von Wach- und Schlafbruxismus (Lange, 2018). Nachdem zunächst Theorien zu psychischen Ursachen dominierten, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Störungen des Zahnkontakts als ursächlich angenommen (Lange, 2018). Letzteres spielt aber nach heutigem Wissenstand nur eine zu vernachlässigende Rolle (Lange, 2016). So ist die Ätiologie noch immer nicht eindeutig geklärt (Vavrina & Vavrina, 2020). Sie gilt zwar generell als multifaktoriell bedingt, aber es bleibt unklar, welche Faktoren beteiligt sind und vor allem wie diese interagieren (Schneider et al., 2007). In den letzten Jahren rückten zunehmend Störungen zentraler Neurotransmittersysteme in den Fokus (Dharmadhikari et al., 2015; Lange, 2016). So hat sich gezeigt, dass verschiedene Psychopharmaka wie Antidepressiva der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Ritalin (ein Medikament zur Behandlung von ADHS) und Antipsychotika Bruxismus auslösen können (Lange, 2016; Rajan & Sun, 2017; Garrett & Hawley, 2018). Aber auch Nikotin, Alkohol, verschiedene Drogen und hoher Koffeinkonsum erhöhen das Bruxismusrisiko (Ohayon et al., 2001; Rintakoski & Kaprio, 2013). Diesen Stoffen ist gemeinsam, dass sie einen zentralen Einfluss auf den Dopamin- oder Serotoninstoffwechsel nehmen (Lange, 2016). Daraus lässt sich ableiten, dass Bruxismus mit diesen Neurotransmittersystemen in einem engen Zusammenhang stehen muss. Als wahrscheinlichster Mechanismus wird angenommen, dass Serotonin die Freisetzung von Dopamin unterdrückt, was zu einer durch Serotonin induzierten Enthemmung von Bewegungen führt und so die wiederholten Muskelkontraktionen des Bruxismus bedingt (Rajan & Sun, 2017). Da auch chronischer Stress einen Einfluss auf das Dopaminsystem hat, sprechen diese Erkenntnisse indirekt auch für die Bruxismus-Stress-Beziehung (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Neben den genannten psychologischen und exogenen Faktoren haben sich auch genetische Dispositionen als entscheidend erwiesen (Rintakoski et al., 2012; Takaoka et al., 2017). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wachbruxismus psychologisch bedingt zu sein scheint, während Schlafbruxismus eher als zentralnervöse Störung angesehen wird (Heidner, 2019). Aufgrund möglicher genetischer Einflüsse sowie der engen Verbindung zwischen Bruxismus und zentralnervöser Prozesse, lohnt sich ein Blick auf eine mögliche evolutionspsychologische Erklärung für das Auftreten von Bruxismus.
Ein Überbleibsel längst vergessener Zeiten?
Die Zähne sind im Tierreich und besonders bei Primaten ein emotionales Ausdrucksmittel, ein Werkzeug und eine Waffe (Anderson, 1984; Bernhardt, 2015). So ist das limbische System, als emotionales Zentrum des Zentralnervensystems, direkt mit dem Kauorgan verschaltet (Bernhardt, 2015). Verschiedene Säugetiere knirschen in Stresssituationen mit den Zähnen, um den Gegner einzuschüchtern und sich auf einen möglichen Kampf vorzubereiten (Every, 1965). Dieses Verhalten bringt ihnen einen erheblichen Überlebensvorteil. Every (1965) vermutete, dass sich beim Menschen die Zähne im Laufe der Evolution zwar zurückgebildet haben, er aber immer noch über diesen Instinkt verfügt und daher, sobald er unter Stress gerät, seine wichtigste biologische Waffe «schärft» (Every, 1965).
«I suggest that man possesses an instinct to sharpen and repeatedly resharpen, whenever under stress, his cardinal biological weapon.»
Every, 1965, S. 685
Für Everys (1965) Hypothese sprechen Tierexperimente, in denen Bruxismus durch Stress induziert werden konnte (z. B. Rosales et al., 2002). Gemäss dieser Annahme ist Bruxismus beim Menschen also ein durch Stress auslösbares Überbleibsel der Evolution. Andere Hypothesen gehen weiter und sprechen Bruxismus auch heute noch eine adaptive Funktion zu (Lange, 2018). So wird er als Entspannungsverfahren und Stressbewältigungsmechanismus angesehen. Da der moderne Mensch im Gegensatz zu seinem vormenschlichen Verwandten viel weniger Zeit mit Kauen verbringt, ist der Zeitraum für die «kaubezogene Stressbewältigung» erheblich verkürzt. Wachbruxismus könnte demzufolge als Kompensationsmechanismus zum Umgang mit emotionalem Stress verstanden werden (Lange, 2018).
Eine Krankheit, ein Verhalten oder doch eine physiologische Adaptation?
Die Betrachtung der evolutionären Theorien und die Tatsache, dass Bruxismus trotz seiner möglicherweise negativen Effekte in der Bevölkerung weitverbreitet ist, lässt vermuten, dass er auch adaptive Funktionen aufweist (Lange, 2018).
In den meisten Fällen hat Schlafbruxismus keinen störenden Effekt auf die grundlegende Schlafarchitektur (Ommerborn, 2013). Im Gegenteil: Er wird bei Atmungsstörungen (z. B. Schlafapnoe) und Sodbrennen sogar als protektiv angesehen (Peroz & Peroz, 2020). Die Muskelanspannungen während des Schlafes halten die oberen Atemwege frei (Heidner, 2019). Bei Sodbrennen wiederum regt die Kaumuskelaktivität die Speichelproduktion an, was zu einer Verdünnung der Magensäure führt (Peroz & Peroz, 2020). Zudem wird Bruxismus durch eine bessere Befeuchtung des Mund- und Rachenraums eine kariesprotektive Wirkung eingeräumt (Imhoff, 2020).
In unmittelbarer Erwartung einer körperlichen Anstrengung werden häufig unbewusst die Zähne zusammengebissen. Dies wird als Schutzfunktion für die Zähne und den Kiefer, als Mechanismus zur Verbesserung der Körperhaltung und der allgemeinen, muskulären Kraftentfaltung interpretiert (Lange, 2018). Eine weitere adaptive Funktion des Bruxismus könnte darin liegen, die Schneidfähigkeit der Zähne zu verbessern (Lange, 2018). Auch wird vermutet, dass Wachbruxismus, ähnlich wie Kaugummikauen, die Aufmerksamkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern kann (Lange, 2016).
Im Labor induzierter Bruxismus reduziert die Konzentration des Stresshormons Cortisol und hemmt die Sympathikusaktivität, was für eine entspannungsfördernde Wirkung spricht (Tahara et al., 2007; Bernhardt, 2015). Auch tierexperimentelle Studien belegen, dass eine erhöhte Aktivität des Kauorgans schädliche Effekte des psychischen Stresses abschwächt (z. B. geringere Ausschüttung von Stresshormonen und Entzündungsmediatoren) (Bernhardt, 2015). Bruxist*innen zeigen weniger funktionale und mehr dysfunktionale Stressbewältigungsstrategien (Schneider et al., 2007; Giraki et al., 2010). Aufgrund dessen liegt der Verdacht nahe, dass eine inadäquate Bewältigungsstrategie Bruxismus provozieren kann (Wolowski & Repges, 2013). Bruxismus ist entsprechend nicht nur als Stressreaktion zu sehen, sondern auch als Form von Stressmanagement und «Notlösung» bei psychischer Überlastung (Vavrina & Vavrina, 2020).
Zumindest eine leichte Kaumuskelaktivität ist sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand nahezu ubiquitär (Lange, 2018). Bis zu einem gewissen Grad ist Bruxismus zum Spannungsabbau und als Ausdruck der Körpersprache notwendig (Schule, 2008). Aus diesen Gründen wird Bruxismus nicht als Krankheit angesehen, sondern gilt als Verhalten bei ansonsten Gesunden (Heidner, 2019) mit teilweise schützendem Charakter (Lange, 2018). Als pathologisch werden hingegen die bei manchen Betroffenen auftretenden Schmerzen, Zahnschäden und andere assoziierte Beschwerden bezeichnet (Schule, 2008).
Die aktuelle Forschung zeigt, dass die alltagsprachlichen Ausdrücke, welche eine Verbindung zwischen Bruxismus und Psychologie andeuten, durchaus berechtig sind. Die evolutionäre Entstehung reicht weit in der Stammesgeschichte des Menschen zurück, doch auch heute noch hat Bruxismus eine adaptive Funktion, beispielsweise bei der Stressbewältigung. Trotz dieser bisherigen Erkenntnisse verbleiben einige strittige Punkte. Vor allem ein tieferes, empirisches Verständnis der Ätiologie würde die Chance erhöhen, effektive Behandlungs- und Präventionsmassnahmen abzuleiten. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, da ein grosser Teil der Bevölkerung von Bruxismus und dessen Folgeschäden betroffen ist. Bis die Ätiologie geklärt und die empirischen Ambivalenzen untersucht wurden, lässt sich nur sagen: «Zähne zusammen und durch!»
Behandlungsmöglichkeiten
Aufklärungsgespräch mit Aufforderung zur Selbstbeobachtung
Okklusionsschienen zur Prävention weiterer Schäden
Physiotherapie zur Reduktion der muskulären Beschwerden
Verhaltenstherapie und Biofeedback zur Reduktion des Bruxismus
Kurzzeitige medikamentöse Behandlung zur Muskelrelaxation (umstritten)
Botoxinjektionen zur Reduktion von Schmerzen und der Muskelaktivität
Lange, M. (2018). Zwischen Mythos, Glaube und Evidenz – Kontroversen um die Ätiologie und Physiologie von Bruxismus. Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift, 73(5), 338-345. https://doi.org/10.3238/dzz.2018.0338–0345
Ahlberg, J., Lobbezoo, F., Ahlberg, K., Manfredini, D., Hublin, C., Sinisalo, J., Könönen, M., & Savolainen, A. (2013). Self-reported bruxism mirrors anxiety and stress in adults. Medicina oral, patologia oral y cirugiabucal, 18(1), e7–e11.
Anderson, J. R. (1984). Monkeys with mirrors: Some questions for primate psychology. International Journal ofprimatology, 5(1), 81-98.
Bernhardt, O. (2015). Bruxismus. Der Freie Zahnarzt, 59(3), 78-84.
Camparis, C. M., & Siqueira, J. T. T. (2006). Sleep bruxism: clinical aspects and characteristics in patients with and without chronic orofacial pain. Oral Surgery, Oral Medicine, Oral Pathology, Oral Radiology, and Endodontology, 101(2), 188-193.
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Psychische Belastung bei Demenz: Das Leiden der Betroffenen und Angehörigen
Demenzerkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen im höheren Alter der westlichen Welt. Das Fortschreiten der Krankheit mit Veränderungen in Leistung und Verhalten stellt nicht nur für die Betroffenen eine Belastung dar, sondern auch für ihre Angehörigen. Aus der Literatur wird die Relevanz psychologischer Therapieansätze ersichtlich.
Von Anja Blaser Lektoriert von Berit Barthelmes und Isabelle Bartholomä Illustriert von Anja Blaser
Demenz beschreibt ein Syndrom vieler Störungen, welches meist auf eine fortschreitende Krankheit des Gehirns folgt. Die häufigste Ursache ist mit rund 60 Prozent die Alzheimer-Erkrankung (Grammes & Kubiak, 2020). Neben den typischen kognitiven Symptomen treten auch viele behaviorale und psychologische Symptome bei Demenz (BPSD) auf. Diese erschweren die ganze Behandlung: von Diagnostik, über Therapie bis hin zur Betreuung der Erkrankten sowie deren Angehörigen. Zu den häufigsten dieser Symptome gehören Depressivität, Enthemmung, Euphorie und Aphasie (Savaskan, 2015).
«Unter einer Demenz versteht man […] Störungen der Gedächtnisleistung und anderer kognitiver Funktionen […], sowie des Verhaltens, die so schwerwiegend sind, dass der betroffene Mensch bei den meisten Aktivitäten im täglichen Leben merkbar behindert wird.»
Gatterer, 2008, S. 142
Dies hat zur Folge, dass der kognitive Abbau beschleunigt wird und die Alltagsfähigkeiten sowie die Lebensqualität drastisch abnehmen. Die Auswirkung davon kann eine frühere Institutionalisierung in ein Heim oder Krankenhaus sein. Daneben führen BPSD auch zu einer erhöhten Belastung der angehörigen Betreuungspersonen, wodurch es bei diesen auch vermehrt zu psychiatrischen Erkrankungen wie einer Depression kommen kann (Savaskan, 2015). Um den Betroffenen die bestmögliche Behandlung gewährleisten zu können, ist deshalb neben der medikamentösen Therapie eine interdisziplinäre Kooperation unter anderem mit Psycholog*innen unumgänglich, auch wenn hier nicht primär die Demenzerkrankung im Vordergrund steht, sondern deren psychisches Wohlbefinden (Gatterer, 2008). Solche Begleit- und Entlastungsmöglichkeiten sowohl für Erkrankte als auch Angehörige werden in der Schweiz beispielsweise von den Organisationen «Alzheimer Schweiz» und «Pro Senectute» angeboten.
Alzheimer Schweiz
Umfasst Unterstützungsangebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Dazu gehören:
Gesprächsgruppen
Angehörigen-Gruppen
Gruppenaktivitäten
Alzheimer-Cafés & -Ferien
Seminare für Angehörige
Weiterbildungstagungen
Pro Senectute
Versucht Betroffenen und Angehörigen mit Fragen rund um die Demenz zu helfen und bietet ihnen entlastende Dienstleistungen, wie:
Entlastungsdienst für pflegende Angehörige
Besuchs-, Begleit-, Fahr- und Mahlzeitendienst
Haushalts- und Putzhilfen
Psychosoziale Interventionen für Kranke und Angehörige
Psycholog*innen können die vielen einschneidenden Auswirkungen von BPSD in die Therapie einbeziehen. Psychosoziale Interventionen sind dabei ein erster wichtiger Schritt für Verständnis und Akzeptanz der Krankheit für alle Betroffenen, Angehörigen und Aussenstehenden. Vor allem bei Letzteren tritt immer noch oft Unverständnis für das Verhalten von Menschen mit Demenz auf, was den gesamten Prozess durch eine zusätzliche Belastung erschwert (Holthoff-Detto, 2018).
«Familien berichten auch, wie wichtig und wie viel einfacher das Leben für Menschen mit Demenz und ihre Familie mit der Erkrankung gewesen wäre, wenn ihnen im Alltag […] Menschen mit mehr Verständnis und Freundlichkeit begegnet wären.»
Holthoff-Detto, 2018, S. 12
Ein essenzieller Bestandteil, besonders zu Beginn der Erkrankung, ist hierbei die Psychoedukation. In Einzelgesprächen wird den Erkrankten und Angehörigen Wissen zur Erkrankung, zur Therapie, zu möglichen Selbsthilfestrategien und zur Prognose vermittelt. Gruppengespräche zur Psychoedukation dienen dem Erfahrungsaustausch zwischen den Betroffenen. Insgesamt soll neben dem Wissen auch die Akzeptanz gegenüber der Krankheit und den Erkrankten gefördert werden (Savaskan, 2015).
Als Ergänzung zur Psychoedukation für die betreuenden Angehörigen gibt es ein angehörigenbasiertes Verfahren, welches diese stärken soll. Durch ein kognitives Verhaltens-Training soll die Belastbarkeit der Angehörigen gesteigert werden. Das führt dazu, dass der erkrankten Person mehr Sicherheit von Seiten der pflegenden vermittelt werden kann. Dies wiederum kann zu einer Reduktion der Symptome führen. (Savaskan, 2015). Insgesamt kann mit einer guten Angehörigenarbeit inklusive Wissens- und Kompetenzvermittlung der Krankheitsverlauf erheblich verbessert werden (Gatterer, 2008).
Vertrauen durch Kommunikation
Der Schlüssel im gesamten Prozess ist aus klinischer Erfahrung die Kommunikation. Kommunikation ist bei jeder Intervention in jedem Stadium der Krankheit nötig – sowohl mit den Patienten*innen als auch mit den Angehörigen. Bereits die klinisch-psychologischen Untersuchungen zur Diagnosestellung, meist von Neuropsycholog*innen durchgeführt, liefern nur brauchbare Ergebnisse, wenn sich die Person gut aufgehoben fühlt. Mit der richtigen Kommunikation kann eine gute Beziehung zum*zur Patienten*in aufgebaut werden, was akkurate Ergebnisse fördert (Gatterer, 2008).
Im psychotherapeutischen Setting kann anschliessend auf dieser Beziehung aufgebaut werden. Fortlaufend können sich die Erkrankten dann bei Alltagssorgen an ihre*ihren Therapeuten*in wenden. Ausserdem werden während eines Verhaltensmanagements die Angehörigen mit einbezogen. Gemeinsam wird an Kommunikationsmöglichkeiten mit dem*der Patienten*in oder an dessen*deren Selbstständigkeit gearbeitet (Savaskan, 2015). Wichtig dabei ist es, dass nicht nur auf die Krankheit und die damit verbundenen Aufgaben fokussiert wird, sondern den Angehörigen Wertschätzung für ihre Pflege entgegengebracht wird. Damit könnten Angehörige Demenzerkrankter ermutigt werden, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, sich bei Bedarf ebenfalls bei Therapeut*innen zu melden und früher auf Entlastungsangebote zurückzugreifen (Mitscherlich-Schönherr, 2019).
Da die häufigste psychische Begleiterkrankung bei Demenz die Depression ist, wird während den Therapiestunden oft eine kognitive Therapie eingesetzt, um dysfunktionale Gedanken umzuwandeln. Ergänzend dazu wird im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Intervention auf positive Erfahrungen des*der Patienten*in und Problemlösestrategien der Angehörigen fokussiert (Savaskan, 2015).
Akutsituationen gemeinsam bewältigen
Neben der fortlaufenden Betreuung kann es immer wieder zu so genannten Akutsituationen kommen. Meist handelt es sich dabei um Krisen der Erkrankten, welche Reaktionen auf bedrohlich wirkende oder unangenehme Situationen darstellen. Oft können Aussenstehende diese Reaktionen nicht nachvollziehen, da die Wahrnehmung sich krankheitsbedingt durch die kognitiven Einschränkungen deutlich von der anderer unterscheiden kann. Dies führt bei den Betroffenen nur noch zu mehr Verzweiflung und Wut. Die fortlaufenden psychosozialen und psychotherapeutischen Interventionen können vor allem den Angehörigen helfen, adäquat zu reagieren, wenn solche Akutsituationen auftreten (Holthoff-Detto, 2018).
Wenn es kein Morgen mehr gibt
Mit dem Fortschreiten der Krankheit nehmen bei Demenz-Erkrankten Akutsituationen durch die abnehmende kognitive Leistung immer mehr zu. Dadurch rückt die medikamentöse und medizinische Therapie immer mehr in den Vordergrund. Für die pflegenden Angehörigen hingegen, welche dadurch immer mehr gefordert werden, steigt die psychische Belastung enorm an. Psychotherapeutische, unterstützende und psychoedukative Angebote werden somit für Angehörige immer wichtiger für genügend Entlastung und das eigene Wohlbefinden – besonders wenn die Sterbephase erreicht wird (Mitscherlich-Schönherr, 2019).
Von der Diagnose, über die Therapie bis hin zur Palliativbetreuung – Menschen mit Demenz und ihre Gegenüber leben zunehmend in einer anderen Realität. Einerseits unterscheidet sich ihre Sicht auf die Krankheit, andererseits besteht die Gefahr, dass die Erkrankten mehr und mehr ganz in eine andere Welt abtauchen. Der Schlüssel einer erfolgreichen Therapie und Begleitung ist es, die beiden Realitäten einander für das nötige Verständnis des jeweils anderen und deren Belastung anzunähern sowie eine optimal individualisierte Intervention zu gestalten, um diese Belastung so lange wie möglich zu minimieren (Holthoff-Detto, 2018).
Alzheimer-Erkrankung
Gehört zu den neurodegenerativen Krankheiten, welche Erkrankungen durch Abnutzung und Alterung von Zellen umschreiben. Es wird vermutet, dass sich das sogenannte β-Amyloid zu Proteinablagerungen (sog. Plaques) zwischen den Nervenzellen verklumpt und nicht mehr abgebaut werden kann. Eine weitere Vermutung – die Aggregationshypothese – hält das β-Amyloid in den Zellen ausschlaggebend für den Nervenzellverlust. Die genaue Ursache der Erkrankung ist jedoch noch unbekannt (Abeysinghe et al., 2020).
Zum Weiterlesen
Gatterer, G. (2008). Demenz aus psychologischer Sicht. In W. D. Oswald, G. Gatterer, & U. M. Fleischmann (Hrsg.), Gerontopsychologie: Grundlagen und klinische Aspekte zur Psychologie des Alterns (S. 141–172). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-211-78390-0_9
Holthoff-Detto, V. (2018). Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Klett-Cotta.
Savaskan, E. (2015). Behaviorale und psychologische Symptome der Demenz (BPSD): Was tun? Therapeutische Umschau, 72(4), 255–260. https://doi.org/10.1024/0040-5930/a000673
Abeysinghe, A. A. D. T., Deshapriya, R. D. U. S., & Udawatte, C. (2020). Alzheimer’s disease; a review of the pathophysiological basis and therapeutic interventions. Life Sciences, 256, 117996. https://doi.org/10.1016/j.lfs.2020.117996
Ein aufgrund weiblicher Stereotypisierung verkanntes Phänomen
Essstörungen tragen wegen des hohen Anteils an weiblichen Betroffenen unter Laien wie auch unter Fachpersonen den Stempel «Frauenerkrankungen». Die Symptomatik wird durch die Assoziation mit dem weiblichen Geschlecht von männlichen Betroffenen vermehrt verleugnet und von Behandlungspersonen fehlinterpretiert.
Von Nina Rutishauser Lektoriert von Michelle Donzallaz und Yésica Martinez Illustriert von Daniel Skoda
Neulich fragte mich eine Freundin, ob es Essstörungen bei Männern überhaupt gebe – ein Ausdruck davon, dass diese primär mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wer glaubt, dass sich dieser Geschlechterbias auf Laien beschränkt, der irrt sich. Der Fokus auf Mädchen und Frauen lässt sich auch in mancher Fachliteratur finden. Jacobi und de Zwaan (2011) sprechen zum Beispiel in ihrem Kapitel zu Essstörungen im umfassenden Werk Klinische Psychologie & Psychotherapie überwiegend von «Patientinnen». Essstörungen bei Jungen und Männern werden scheinbar wenig wahrgenommen und thematisiert. Dieser Artikel ist ein Versuch, das Bild der Essstörung als «Frauenerkrankung» aufzubrechen: Es wird ein Licht auf die Selbst- und Fremdstigmatisierung und die Hürden in der ärztlich-psychologischen Diagnostik und Therapie männlicher Betroffener geworfen, die durch den jahrzehntelangen Fokus auf Frauen entstanden sind.
Essstörungen bei Mann und Frau
Das Geschlechterverhältnis bezüglich Essstörungsprävalenzen erklärt, weshalb diese im Zusammenhang mit Jungen und Männern wenig Beachtung finden. Das Verhältnis von Frauen zu Männern beträgt für Anorexia nervosa (AN) 10:1 und für Bulimia nervosa (BN) etwa 20:1(Jacobi & de Zwaan, 2011). Da Essstörungen bei männlichen Patienten unterdiagnostiziert werden, ist aber davon auszugehen, dass diese Zahlen deren Anzahl unterschätzen (Murray et al., 2017; Raevuori, Keski-Rahkonen, & Hoek, 2014). Einzig von der Binge-Eating-Störung (BES) sind Frauen «nur» etwa 1.5-mal häufiger betroffen als Männer (Jacobi & de Zwaan, 2011). In Bezug auf subklinisch auffälliges Essverhalten scheint der Geschlechtsunterschied sogar fast gänzlich zu verschwinden (National Eating Disorder Association [NEDA], 2018).
Auf die Symptomatik der AN, BN und BES wird im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen. In Bezug auf die Kernsymptome scheint es aber zwischen den Geschlechtern keine bedeutenden Unterschiede zu geben (Woodside et al., 2001). Einige geschlechtsspezifische Merkmale seien dennoch erwähnt. Eine endokrine Störung, die bei AN aufgrund des Untergewichts entstehen kann, äussert sich bei Frauen zum Beispiel durch Ausbleiben der Menstruation. Das männliche Pendant ist der Libido- und Potenzverlust (Dechene, 2008). Im Unterschied zu Frauen scheinen sich anorektische Männer zudem weniger am tiefen Gewicht zu orientieren als an der Form der Figur, wobei betonte Muskeln bei einem gleichzeitig schlanken Körper eine zentrale Rolle spielen (Murray et al., 2017; Strober et al., 2006).
Im Schatten der Frau
Bereits vor 100 Jahren wurden rapide Gewichtsabnahmen und restriktives Essverhalten bei Männern in medizinischen Werken festgehalten. Gestörtes Essverhalten wurde jedoch anderen psychiatrischen Störungen untergeordnet (Murray et al., 2017). Anders als bei Frauen wurde die Körperschemastörung – die Wahrnehmung, zu dick zu sein – bei Männern lange im Kontext wahnhaften Verhaltens eingeordnet, womit Patienten, die eigentlich an einer Essstörung litten, als schizophren diagnostiziert wurden (Mangweth-Matzek, 2015). In einer Zeitperiode, in der sich Diagnostik und Behandlungsmodalitäten rapide weiterentwickelten, führte dies ausserdem dazu, dass sich klinische Studien vorwiegend an Frauen ausrichteten (Murray et al., 2017). Weniger als ein Prozent der wissenschaftlichen Publikationen zu AN sind laut Murrary, Griffiths und Mond (2016) dem männlichen Geschlecht gewidmet.
Prominente Beispiele von Essstörungen bei Männern
Zu den Männern mit Bekanntheitsgrad, die unter einer Essstörung litten, gehören beispielsweise Elton John (Sänger) und John Prescott (ehemaliger britischer Vizepremierminister). Letzterer gab in seiner Biografie an, den Stress seines Amtes jahrelang mit Essanfällen und Erbrechen bewältigt zu haben (Zeit, 2008). Caleb Followill, Lead-Sänger der Band Kings of Leon, kämpfte zum Ende seiner Adoleszenz mit Magersucht (The Irish Times, 2014). Essstörungen sind auch im Leistungssport nicht wegzudenken, insbesondere in Sportarten, in denen ein niedriges Gewicht von Vorteil sein kann wie im Eiskunstlauf und Skispringen. Bahne Rabe, Olympia-Sieger im Ruder-Achter, verstarb 2001 an den Folgen seiner Magersucht und der Skispringer Stephan Zünd «ernährte» sich vor seinem Rücktritt zugunsten einer Therapie nur noch von Wasser (Schweizer Radio Fernsehen, 2015).
Der einseitige Fokus auf Frauen hat für betroffene Männer weitreichende Konsequenzen. Die Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung ist bei Betroffenen mit Essstörungen allgemein gering, aber noch geringer bei Männern (Murray et al., 2017). Es besteht diesbezüglich die Annahme, dass Männer einem «doppelten» Stigma ausgesetzt sind: einerseits durch das Leiden an einer psychischen Erkrankung und andererseits durch die Charakterisierung der Essstörung als «weiblich» oder «schwul» (NEDA, 2018). In einer Studie in Grossbritannien gaben männliche Essstörungspatienten an, durch die Fehlvorstellung, nur «fragile jugendliche Mädchen» litten an Essstörungen, ihre Symptome nicht als essgestört erkannt zu haben (Räisänen & Hunt, 2014). Die Stereotypisierung der Essstörung verzögert die Inanspruchnahme ärztlich-psychologischer Hilfe und lässt das Fortschreiten der Symptomatik gewähren, was sich wiederum negativ auf den Störungsverlauf und das Behandlungsergebnis auswirken kann (Griffiths et al., 2015).
«[…] men with eating disorders are underdiagnosed, undertreated, and misunderstood by many clinicians who encounter them.»
Strother, Lemberg, Stanford, & Turberville, 2012, S. 346
Überwindet ein Betroffener die Hürde, sich an eine Fachperson zu wenden, bestehen weitere Schwierigkeiten in der Diagnostik. Das fehlende Bewusstsein für die Präsenz von Essstörungen in männlichen Patientenpopulationen fördert nicht nur bei den Betroffenen und deren Umfeld das Verkennen der Symptomatik. Dies kann auch bei Fachpersonen zum späten Erkennen der Essstörung beziehungsweise zu Fehldiagnosen führen (Räisänen & Hunt, 2014). Ein zusätzlicher Grund, weshalb die Symptomatik bei Männern unterschätzt wird, könnte darin liegen, dass ein Grossteil der Diagnostikinstrumente für Essstörungen (zum Beispiel strukturierte Interviews) auf Frauen ausgerichtet ist (Mangweth-Matzek, 2015). Männer erzielen tendenziell tiefere Werte auf Essstörungsskalen, obwohl sie sich in der Kernsymptomatik kaum von Frauen unterscheiden (Raevuori et al., 2014).
Vom Schatten ins Licht
Die Schulung von Fachpersonen, insbesondere von Hausärzten|innen als Ansprechpersonen, zur Früherkennung von Essstörungen bei Jungen und Männern, ist ein notwendiger Schritt zur effizienten Behandlung Betroffener. In der Diagnostik wurden bereits Fortschritte erzielt. Die Kriterien für eine AN im DSM-5 wurden geschlechtsneutral formuliert, was die Diagnosestellung bei Männern erleichtert (APA, 2013; Raevuori et al., 2014). Räisanen und Hunt (2014) schlagen zudem eine Hervorhebung der männlichen Patientenpopulation in den internationalen, klinischen Leitlinien vor. Fachpersonen können so im Behandlungsprozess «männlicher» Essstörungen besser angeleitet werden. Trotz geringer Unterschiede in der Kernsymptomatik bei Männern und Frauen wird empfohlen, in der Therapie auch geschlechtsspezifische Themen aufzugreifen. Das Verständnis darüber, wie sich körperbezogene Ideale und Sorgen zwischen Essstörungspatienten und -patientinnen unterscheiden birgt beispielsweise für die Behandlung der Körperschemastörung bei männlichen Patienten grosse Vorteile (Strother et al., 2012).
«Although 100 percent of such programs in the United States accept females, only about 20 percent also accept males with a much smaller subset offering male-only treatment groups.»
Goldstein, Alinsky, & Medeiros, 2016, S. 371
In Behandlungsinstitutionen lässt sich erwartungsgemäss eine Überzahl an Frauen finden. Dies kann bei männlichen Patienten das «kulturelle Stigma» ihrer Essstörung verstärken. Es empfiehlt sich folglich ein therapeutisches Umfeld (zum Beispiel eine Gruppentherapie) mit Betroffenen gleichen Geschlechts (NEDA, 2018), was aber noch kaum angeboten wird (siehe Goldstein et al., 2016). Rücken männliche Betroffene mehr ins Licht, kann dies den Anstoss dafür geben, auf Männer zugeschnittene Diagnostikinstrumente zu entwickeln und Behandlungssettings anzubieten. Nur wenn die Psychiatrie dieser vernachlässigten Patientenpopulation gerecht wird, vermag sich auch in der Gesellschaft der Mythos der Essstörung als «Frauenerkrankung» auflösen.
Zum Weiterlesen
Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.
Dechene, M. (2008). Essstörungen bei Männern. Blickpunkt der Mann, 6(3), 20–22.
Jacobi, C., & de Zwaan, M. (2011). Essstörungen. In Klinische Psychologie & Psychotherapie (Wittchen, H.-U., & Hoyer, J., Hrsg). Heidelberg: Springer.
Goldstein, M. A., Alinsky, R., & Medeiros, C. (2016). Males with restrictive eating disorders: Barriers to their care. Journal of Adolescent Health, 59, 371–372.
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Woodside, D. B., Garfinkel, P. E., Lin, E., Goering, P., Kaplan, A. S., Goldbloom, D. S., & Kennedy, S. H. (2001). Comparisons of men with full or partial eating disorders, without eating disorders, and women with eating disorders in the community. American Journal of Psychiatry, 158, 570–574.
Die Autismus-Spektrum-Störung ist heutzutage weit verbreitet. Meist zeigt sie sich erstmals im Kindesalter, indem sie den Betroffenen die Kommunikation mit anderen erschwert. Doch ist Autismus wirklich eine Störung? Oder funktionieren Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen einfach anders?
Von Larissa Leuenberger Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler Illustriert von Holly Vuarnoz
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeichnet sich vor allem durch Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie stereotype, repetitive Verhaltensweisen aus (Freitag, 2020). In der ICD-10 wurden hierbei verschiedene Unterarten unterschieden, wie frühkindlicher Autismus, welcher sehr stark ausgeprägte Symptome vorweist, und das Asperger-Syndrom, welches eher unauffällig ist (Müller, 2016). In den neueren Klassifikationssystemen wie ICD-11 werden diese jedoch zunehmend durch den Überbegriff «Autismus-Spektrum-Störung» ersetzt, welcher, wie der Name schon sagt, alle verschieden starken Ausprägungen auf einem allgemeinen Spektrum zusammenfasst (Freitag, 2020).
Personen, die mit einer ASS diagnostiziert werden, zeigen oft Schwierigkeiten im sozialen Umgang (Müller, 2016). Sie sprechen wenig und sehen das gegenüber nicht an, wenn er*sie mit ihm*ihr spricht (Müller, 2016). Allgemein ist die Kommunikation mit Autist*innen oft sehr schwierig. Viele wirken unerreichbar und leben in ihrer eigenen Welt. Es fällt ihnen schwer, sich in andere hineinzuversetzen und allgemein scheinen Autist*innen eine weniger stark ausgeprägte TheoryofMind zu haben (Tager-Flusberg, 2007). Auch zeigt sich bei den Betroffenen häufig ein stark routiniertes Verhalten, welches sie akribisch jeden Tag wiederholen. Diese Routine ist ihnen sehr wichtig und sie reagieren oft mit Wut und/oder Angst auf Behinderungen oder Abweichungen von ihrem gewohnten Tagesablauf (Müller, 2016).
Die Symptome der ASS können sich in der Ausprägung von Individuum zu Individuum stark unterscheiden. Während es einigen Betroffenen möglich ist, sich ohne grosse Umstände in die Gesellschaft zu integrieren, bleiben andere ein Leben lang nonverbal und sind nicht in der Lage, selbständig den Alltag zu meistern. Es gibt heute jedoch zahlreiche Therapien und Interventionen, welche die Symptome erfolgreich lindern können. Die Integration in die Gesellschaft, welche bei den Kindern meist in der Schule beginnt, ist dabei ein entscheidender Schritt. Denn vom Kontakt zu anderen Menschen können Personen mit ASS viel profitieren und lernen. Schlussendlich ist es auch ein grosses Ziel bei ASS, dass die Betroffenen ein gewöhnliches Leben führen und möglichst uneingeschränkt leben können.
Die Hürden mit ASS
«Manchmal fühle ich mich, als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet und muss die Gepflogenheiten mühsam lernen. – Linda»
Müller, 2016, Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, Abs. 5
Die Konfrontation mit der übrigen Welt bringt oft viele Probleme mit sich. Einige Betroffene leiden unter Mobbing oder fühlen sich ausgegrenzt, weil ihre Mitmenschen sie nicht verstehen. Dies ist für viele eine grosse Last und hängt mit psychischen Problemen wie Depressionen und allgemein schlechterer psychischer Gesundheit zusammen (Mitchell, Sheppard, & Cassidy, 2021). Das Anschlussbedürfnis ist von Individuum zu Individuum verschieden und so gibt es auch zwischen verschiedenen Personen mit ASS-Diagnose grosse Unterschiede. Es ist ein Irrtum, dass alle Menschen mit ASS nicht gern Freundschaften pflegen oder in Partnerschaft leben wollen. Darum ist es verheerend, wenn sie von Anfang an als «der*die ist Autist*in, das heisst, er*sie ist asozial», abgestempelt werden. Diese Sichtweise macht es den Betroffenen noch schwerer, Anschluss zu finden. Sie fühlen sich ausgeschlossen und minderwertig, worunter ihr Selbstwertgefühl leidet (Mitchell et al., 2021). In wenigen schlimmen Fällen kann dies sogar zu Suizidgedanken führen (Mitchell et al., 2021).
Und nicht nur in sozialen Angelegenheiten fühlen sich Autist*innen überfordert. Auch die über- oder unterempfindliche Wahrnehmung ist eine starke Einschränkung. Dabei sind die verschiedensten Sinne betroffen, wie Gehör, Tast- und Sehsinn (Müller, 2016). Manche fühlen sich, als befänden sie sich in einer fremden Welt oder auf einem fremden Planeten (Müller, 2016).
Autismus als gesellschaftliches Problem
Unsere Gesellschaft hat sich seit hunderten von Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, doch schon seit jeher mussten Minderheiten um ihren Platz kämpfen. Leute mit ASS sind eine dieser Minderheiten. Von Kind auf werden sie geschult und gedrillt, um sich an unseren Standard anzupassen. Viele Forscher fragen sich, ob es nicht besser wäre, den mit ASS-Diagnostizierten einen Schritt entgegenzukommen und mehr Toleranz zu zeigen (Mitchell et al., 2021). So wie Gehbehinderte die Möglichkeit bekommen, sich unbeschwerter im Alltag fortzubewegen, müssten auch für Autisten angenehmere Bedingungen geschaffen werden, um ihnen das Leben zu erleichtern.
Das «Double EmpathyProblem»
«… eine Diskrepanz in der Reziprozität zwischen zwei unterschiedlich veranlagten sozialen Akteuren, die umso ausgeprägter ist, je größer die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Lebenswelt ist…»
Milton, 2012, S. 884
Ein grundlegendes Problem bei der TheoryofMind und Empathie ist, dass für die Festlegung der Norm nicht-autistische Personen verwendet wurden (Milton, 2012). So funktioniert die Erfassung dieser zwei Konstrukte bei nicht-autistischen Personen zwar einwandfrei, doch im autistischen Spektrum zeigen sich dabei Schwierigkeiten. Milton (2012) bezeichnet darum auch die Defizite bei ASS in der TheoryofMind als reinen Mythos. Das Problem seien gemäss Milton nicht allfällige Defizite von Menschen mit ASS, sondern die Interaktion zwischen diesen und Menschen ohne ASS. Es wird deshalb als «doppeltes» Problem bezeichnet, weil die Schwierigkeit durch die Interaktion dieser zwei Gruppen miteinander entsteht und auf Unterschieden zwischen den beiden beruht (Milton, 2012). Personen mit ASS haben kaum Probleme, sich mit anderen Personen mit derselben Diagnose zu unterhalten. Auch Menschen ohne ASS haben vergleichsweise wenig Probleme beim Umgang mit ihresgleichen. Erst wenn die zwei Gruppen aufeinandertreffen, entstehen die Schwierigkeiten, was zeigt, dass die Ursache in den Gruppenunterschieden liegt (Milton, 2012). Es ist genauso schwer für Personen ohne ASS sich in Leute mit ASS hineinzuversetzen wie umgekehrt. Kinder mit ASS müssen heutzutage viele Stunden pro Woche an ihren sozialen Fähigkeiten arbeiten und werden oft gedrillt, um der sozialen Norm zu entsprechen. Das Double EmpathyProblem impliziert jedoch, dass ein Entgegenkommen von beiden Seiten möglich wäre. Wie dieses aussieht, bleibt jedoch noch offen.
Defizit oder einfach anders?
Es gibt keine klare Antwort auf die Frage, ob Menschen mit ASS ein Defizit aufweisen oder einfach nur anders sind als neurotypische Menschen. Es ist so, dass Menschen mit ASS mit gewissen neurologischen Veränderungen zur Welt kommen, die ihnen die Interaktion mit anderen erschweren (Mitchell et al., 2021). Vor allem Schwierigkeiten beim Erlernen der verbalen und nonverbalen Kommunikation sind dabei ein ausschlaggebender Faktor. Doch ist auch zu berücksichtigen, dass der Standard, den man den Betroffenen zur Erreichung setzt, vielleicht nicht geeignet ist. Es ist definitiv nicht vorteilhaft, den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass sie erst ihre Defizite überwinden müssen, um als Mensch zu genügen. Denn viele Autisten empfinden ihre Diagnose als etwas Wunderbares. Sie wollen gar nicht geheilt werden und würden sich nicht als krank bezeichnen (Müller, 2016). Darum streben viele einen Perspektivenwechsel in der Gesellschaft an, sodass Autisten als vollwertige und anders funktionierende Menschen anerkannt werden (Mitchell et al., 2021; Müller, 2016). Linus Müller (2016), der Autor der Website «Autismus Kultur», bezeichnet Autismus dabei als «neurologisch bedingte Wesensart – keine Krankheit». Die einen sind introvertiert, die anderen extrovertiert. Und so gibt es auch Menschen mit und Menschen ohne ASS. Sie alle äussern sich verschieden im sozialen Kontext, eine Wertung ist dabei jedoch nicht möglich. Es zeigt nur die Diversität und Individualität von uns als Menschen.
TheoryofMind
«Theory of Mind (ToM) ist die Fähigkeit, anderen Wünsche, Absichten, Ideen usw. zuzuschreiben, die sich von den eigenen unterscheiden»
Wehrli & Modestin, 2009, S. 229
Die Fähigkeit einer ToM wird im frühen Kindesalter entwickelt, wobei sie erst im Erwachsenenalter vollständig ausgereift ist. Die Entwicklung einer ToM ist wichtig für soziale Interaktionen, denn so lernen die Kinder, dass nicht alle das gleiche Wissen haben und Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen. Im Gegensatz zur Empathie, bei der es darum geht Gefühle nachzuempfinden, gelingt Mithilfe einer ToM das Nachvollziehen von Gedankengängen. Mit ungefähr anderthalb Jahren äussert sich bei den Kindern zum ersten Mal eine rudimentäre ToM (Onishi & Baillargeon, 2005). Dies zeigt die Studie von Onishi und Baillargeon (2005) zum False Belief. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Kinder mit 18 Monaten in der Lage sind zu verstehen, dass ein Mensch nach Überzeugungen handelt, die richtig oder falsch sein können (Onishi & Baillargeon, 2005). Bis heute ist der Zeitpunkt des Beginns einer ToM jedoch umstritten.
Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350
Literatur
Freitag, C. M. (2020). Von den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 zur Autismus-Spektrum-Störung in ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 1-5. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000774
Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350
Wehrli, M. V., & Modestin, J. (2009). Theory of Mind (ToM) – ein kurzer Überblick. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 160(6), 229-234. https://doi.org/10.4414/sanp.2009.02088
Wenn Beziehungen weder halten, noch Halt bieten können
Viele ADHS-Patienten haben Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Impulsivität, emotionale Dysregulation und Unaufmerksamkeit tragen dazu bei, dass sie sich selbst als Außenseiter wahrnehmen – und auch als solche behandelt werden.
Von Loriana Medici Lektoriert von Viktoria Zöllner und Madeleine Lanz Illustriert von Selina Landolt
Soziale Beziehungen geben uns Halt. Sie ermöglichen uns, Erfahrungen zu machen, aus denen wir lernen können, geben uns Sicherheit, wenn etwas schief geht und bieten emotionale Unterstützung, wenn wir uns schlecht fühlen. House, Landis und Umberson (1988) vermuten sogar, dass soziale Isolation einen bedeutenden Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit und Mortalität hat. Doch nicht allen fällt das Aufbauen solcher Beziehungen gleichermassen leicht. Isolation und das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören sind äusserst belastend und führen letztendlich häufig zur Resignation: Man findet ja sowieso keinen Anschluss, warum sollte man es überhaupt noch versuchen?
ADHS-Patienten stellen diesbezüglich eine Risikogruppe dar. Weshalb das so ist, hat vielerlei Gründe, doch es scheint, als ob gerade die Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von sozialen Fertigkeiten haben (Friedman et al., 2003). Selbst wenn es gelingt Freundschaften aufzubauen, so scheitern doch viele an deren Aufrechterhaltung.
Soziale Kompetenzdefizite bei ADHS
ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Die Auswirkungen der drei Leitsymptome von ADHS, Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, beschränken sich keineswegs auf die Konzentrationsfähigkeiten von Schulkindern. Tatsächlich ist die schulische Leistungseinbusse lediglich die Spitze des Eisberges. Organisationsschwierigkeiten, emotionale Dysregulation und impulsive Handlungen stellen auch in sozialen Situationen grosse Hürden dar (Barkley, 1997). Impulsivität und Hyperaktivität führen dazu, dass man vom Gegenüber als unhöflich, nervig oder anstössig angesehen wird. Unaufmerksamkeit in Gesprächen oder das Vergessen von Verabredungen vermittelt dagegen den Eindruck, die andere Person sei einem nicht wichtig genug oder man versuche gar nicht, sich für die Beziehung einzusetzen. Folglich sind Reaktionen aus dem sozialen Umfeld bereits im Kindesalter häufig negativ. Friedman und Kollegen (2003) fanden auch im emotionalen Kompetenzbereich bedeutende Unterschiede zwischen ADHS-Patienten und einer Kontrollgruppe. ADHS-Patienten bewerten dargestellte Emotionen generell als intensiver, wobei Verachtung und Ekel als besonders intensiv herausstechen. Dennoch scheinen ADHS-Patienten wichtige soziale Hinweise zu verpassen. Dies zeigt sich in der Überraschung bei negativen Reaktionen, welche für sie scheinbar aus dem Nichts kommen.
«Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you’re broken.»
Jessica McCabe, 2017
Gemeinsam führen alle diese Faktoren dazu, dass viele ADHS-Patienten sich nie wirklich zugehörig, verstanden oder gemocht fühlen. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sie unbeliebt sind, was wiederum zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor Ablehnung führt (King & Young, 1982). Dieses Gefühl, nicht wirklich hineinzupassen, zieht sich oft bis ins Erwachsenenalter und wird dadurch, dass negative Reaktionen aufgrund vorheriger Erfahrungen erwartet werden, noch weiter verstärkt (Scharf, Oshiri, Eshkol, & Pilowsky, 2014).
Beziehungen aufbauen
Beziehungen aufzubauen kann schwierig sein; schwierig genug, dass viele ADHS-Patienten daran scheitern. Freundschaften zu knüpfen fällt gewissen Leuten leichter als anderen – Faktoren wie Offenheit oder Extraversion spielen dabei eine bedeutende Rolle. Für ADHS-Patienten ist diese Palette an relevanten Faktoren um einiges breiter als für neurotypische Personen. Impulsives Verhalten bedeutet nicht nur, dass man jetzt sofort eine Idee verwirklichen muss, sondern auch, dass man den Gedanken, den man gerade hatte, einfach ausspricht – um dann zu merken, dass er unangebracht oder verletzend ist (Friedman et al., 2003). Dazu kommt, dass Hyperaktivität und plötzliche Stimmungsschwankungen das Umfeld häufig überfordern. Gerade beim Aufbau neuer Bekanntschaften kann das fatal sein; warum sollte man seine Zeit darauf verwenden jemanden zu verstehen, der einen überfordert, wenn man ihn noch gar nicht wirklich kennt? An dieser Haltung ändert sich auch im Erwachsenenalter nur selten etwas.
Definition von ADHS
Die drei Leitsymptome von ADHS sind Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit. Es zeigt sich eine Tendenz häufig von einer Tätigkeit zur nächsten zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen. Mangelnde Impulskontrolle resultiert in einer Neigung zu Unfällen und Regelverletzungen, die eher in Unachtsamkeit als in Vorsätzlichkeit gründen. ADHS-Kinder sind unbeliebt und können isoliert sein, was zu dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl beitragen kann.
Aber was ist mit den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Patienten? Die TagträumerInnen begegnen dem gleichen Problem, auf andere Weise: Sie ecken an. Nicht, weil sie laut oder rüde wären, sondern weil sie abgelenkt sind – inmitten von Unterhaltungen, Unterrichtsstunden oder wenn sie zu einer Verabredung aufbrechen müssten. Verspätungen sind an der Tagesordnung und das erweckt schnell den Eindruck, dass sie sich keine Mühe geben, eine Bekanntschaft besser kennenzulernen. Sogar gewisse Coping-Mechanismen, wie beispielsweise Fidget Toys, die ihnen helfen könnten sich besser zu konzentrieren, werden häufig als unhöflich betrachtet und missbilligt. Die negative Rückmeldung von aussen wird aber keineswegs ignoriert. Im Gegenteil, Ablehnung wird von ADHS-Patienten äusserst heftig empfunden und Defizite in der Emotionsregulation erschweren die Kontrolle dieser Gefühle (Scharf et al., 2014). Auch daran ändert sich mit dem Alter nur selten etwas.
«Anticipating rejection is a self-fulfilling prophecy as exhibited in maladjusted social behavior. […] ADHD symptoms were associated with higher levels of rejection sensitivity, as well as lower levels of social adjustment.»
Scharf et al., 2014
Stattdessen fühlen sich viele ADHS-Patienten zunehmend missverstanden. Negative Reaktionen des Gegenübers scheinen ohne Vorwarnung über sie hereinzubrechen, weil sie offenbar etwas, das für alle anderen sonnenklar ist, nicht verstehen. Diese frühen Erfahrungen mit Ablehnung prägen viele ADHS-Patienten gewaltig. Während die einen mit Wut reagieren, werden andere ängstlich. In beiden Fällen entsteht eine selbsterfüllende Prophezeiung: In der Erwartung abgelehnt zu werden, verhalten sie sich aggressiver oder ziehen sich noch mehr zurück, was wiederum vermehrt zu tatsächlicher Ablehnung führt und ihre Erwartung bestätigt und festigt (Scharf et al., 2014). Je weiter sich die Betroffenen zurückziehen, umso weniger Erfahrung können sie zudem im Umgang mit ihren Mitmenschen sammeln, wodurch sich die Diskrepanz zwischen ihnen und ihrer Altersgruppe weiter verstärkt. Positive Beziehungen zu Gleichaltrigen beeinflussen nicht nur die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, auch akademischer Erfolg und Anpassungsfähigkeit in schulischen Settings profitieren von guten Freundschaften (Ladd, Kochenderfer, & Coleman, 1996). Doch gerade in Bezug auf akademische Situationen gibt es noch einen weiteren Faktor, der das Knüpfen sozialer Beziehungen massiv erschwert: Stigmatisierung. Canu, Newman, Morrow und Pope (2008) entdeckten, dass bereits das Label ADHS ausreicht, damit Studierende die angeblichen ADHS-Patienten im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS negativer bewerteten – obwohl die Zielperson keinerlei ADHS-Symptome zeigte.
Resignation und Akzeptanz gegenüber der subjektiv wahrgenommenen Tatsache, dass sie nie Freunde finden, können das Resultat sein. Glücklicherweise gilt dieses ausweglose Muster nicht für alle ADHS-Patienten.
Beziehungen aufrechterhalten
Tatsächlich sind nur wenige ADHS-Patienten wirklich völlig freundeslos, obwohl die zuvor beschriebenen Mechanismen fast alle Betroffenen beträchtlich beeinträchtigen (Marton, Wiener, Rogers, & Moore, 2015). Dennoch gelingt es vielen, allen Widrigkeiten zum Trotz, dyadische Freundschaften aufzubauen (Normand et al., 2013). Unglücklicherweise ist aber das Vorhandensein von sozialen Beziehungen allein nicht genug. Dieser Halt, den Beziehungen mit sich bringen, hängt beträchtlich von deren Qualität und insbesondere deren Stabilität ab. Obwohl ADHS-Patienten schon im Kindesalter nur selten freundeslos sind, so zeigen sich doch Unterschiede in den Freundschaften von ADHS-Kindern, gegenüber neurotypischen Vergleichsgruppen. Beispielsweise verabreden sich ADHS-Kinder häufiger in der Schule oder auf dem Spielplatz, als bei sich oder ihrem Freund Zuhause (Heiman, 2005). Besonders auffällig ist die durchschnittliche Dauer von Freundschaften, welche für ADHS-Kinder kürzer ist (Marton et al., 2015). Dabei sind die gleichen Faktoren entscheidend, wie beim Knüpfen neuer Kontakte: Defizite bei der Impulskontrolle, Unaufmerksamkeit, das Übersehen von subtilen negativen Rückmeldungen und emotionale Dysregulation senken die Beziehungsqualität über die Zeit (Normand et al., 2013). Zusätzlich scheinen ADHS-Kinder generell weniger Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich weniger in Gesprächen zu engagieren (Newcomb & Bagwell, 1995). Doch gilt all das auch für erwachsene ADHS-Patienten?
Im Jugendalter zeigt sich häufig ein leichter Rückgang der Hyperaktivitätssymptomatik (Harpin, 2005), die Problematiken von Unaufmerksamkeit und Impulsivität verändern sich dagegen kaum. Dennoch gelingt es vielen ADHS-Patienten ab der Pubertät besser, sich bei ihren Mitschülern beliebt zu machen – vorausgesetzt, dass sie bis dahin noch nicht resigniert haben. Nicht wenige werden sogar zu ausserordentlich populären Schülern, Studierenden, Lehrlingen und später Mitarbeitenden. Doch Peer-Akzeptanz ist nicht mit Freundschaft gleichzusetzen. Während Freundschaft eine enge Beziehung zwischen zwei Personen darstellt, welche auf Gegenseitigkeit beruht, ist Peer–Akzeptanz nichts weiter, als von der Mehrheit der Gleichaltrigen gemocht und nur von wenigen abgelehnt zu werden (Mikami, 2010). Dennoch sind die beiden Konstrukte miteinander verknüpft. Akzeptanz von Gleichaltrigen hilft niedriges Selbstwertgefühl wieder zu heben, wodurch die Chance positive Beziehungen aufzubauen steigt (Mikami, 2010). Nichtsdestotrotz gibt es durchaus Menschen, die äusserst beliebt sind, aber keine echten Freunde zu haben scheinen. Besonders extravertierte ADHS-Patienten laufen Gefahr in dieses Muster zu verfallen. Neue Bekanntschaften sind interessant und es wird schnell die gesamte Freizeit in diese eine Person oder Gruppe investiert. Solche Freundschaften entwickeln sich rasant und sie reichen oft tiefer als zu erwarten wäre; Vertrauen ist schnell geschenkt und schon nach wenigen Wochen scheinen sie alles übereinander zu wissen. Doch die wenigsten dieser Beziehungen überdauern länger als drei Jahre (Marton et al., 2015).
Woran scheitern solche Freundschaften?
Der häufigste Grund ist so simpel wie tragisch: Über die Zeit verliert man den Kontakt. Natürlich spielen auch im Erwachsenenalter die ADHS-Symptome noch eine grosse Rolle, doch die meisten Beziehungen scheitern nur indirekt am ADHS selbst. Sei es ein voller Terminplan, eine neue Beziehung oder schlicht neue Bekanntschaften, die Zeit beanspruchen: Irgendwann muss in jede Freundschaft aktive Arbeit investiert werden, um sie aufrechtzuerhalten. Obwohl viele ADHS-Patienten als Erwachsene akzeptiert werden, sitzt vergangene Ablehnung tief, wodurch das Bedürfnis nach Bestätigung wächst. Die erhöhte Sensitivität gegenüber Ablehnung (Scharf et al., 2014) lässt Betroffene zögern, wenn sie sich bei ihren Freunden melden wollen, mit dem Gedanken, dass eine Initiative des Gegenübers bestätigen würde, dass sie wirklich gemocht werden. Dadurch wird der Kontakt immer seltener, bis man sich letztendlich aus den Augen verliert.
Stigmatisierung von ADHS gründet in den vielen Mythen, die es über die Störung gibt. Obwohl viele ADHS-Patienten versuchen, ihr Umfeld über ihre Kondition aufzuklären, stossen sie oft auf taube Ohren. Mittlerweile gibt es aber verschiedene Blogs, Websites (z.B. add.org) und YouTube Channels (z.B. How to ADHD), die versuchen die Forschung zu ADHS für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Davon profitieren nicht nur Eltern, Partner|innen und Freunde von ADHS-Patienten, sondern auch die Betroffenen selbst.
Der zweithäufigste Grund dagegen scheint dem stereotypischen Bild von ADHS zu entsprechen: mangelnde Impulskontrolle (Normand et al., 2013). Emotionale Dysregulation wirkt sich nicht nur auf negative Emotionen aus. Übermässige Begeisterung oder gute Laune können ebenso gut wie Wut zu unachtsamen oder beleidigenden Kommentaren führen, die Konflikte verursachen, welche nicht immer gelöst werden können. Meist fühlen sich ADHS-Patienten schuldig, sobald sie merken, dass sie ihr Gegenüber verletzt haben. Aus diesen Schuldgefühlen, die sie ebenso schlecht regulieren können wie andere Emotionen, entstehen häufig Überreaktionen, die von den Betroffenen selbst als unnötig aber unkontrollierbar empfunden werden. Dadurch können eigentlich harmlose Auseinandersetzungen verhängnisvolle Ausmasse annehmen und gute Freundschaften zerstören.
Über die Jahre wird dieses Aufbauen und Verlieren von Freundschaften für viele Betroffene zur Normalität. Anstatt sich ablehnen zu lassen, lassen sie sich vom nächsten Projekt ablenken und sagen sich, dass sie nie wirklich irgendwo dazugehören werden. Und doch finden sie neue Freunde, gehen Beziehungen ein und suchen nach diesem Zugehörigkeitsgefühl, diesem Halt, den sie sich selbst absprechen.
Zum Weiterlesen
Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17 (1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50
Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship Characteristics of Children With ADHD. Journal of Attention Disorders, 19 (10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971
Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84 (2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391
Literatur
Barkley, R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin, 121(1), 65–94. doi: 10.1037/0033-2909.121.1.65
Canu, W. H., Newman, M. L., Morrow, T. L., & Pope, D. L. W. (2007). Social appraisal of adult ADHD. Journal of Attention Disorders, 11(6), 700–710. doi: 10.1177/1087054707305090
Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17(1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50
Harpin, V. A. (2005). The effect of ADHD on the life of an individual, their family, and community from preschool to adult life. Archives of Disease in Childhood, 90, i2–i7. doi: 10.1136/adc.2004.059006
Heiman, T. (2005). An examination of peer relationships of children with and without attention deficit hyperactivity disorder. School Psychology International, 26(3), 330–339. doi: 10.1177/0143034305055977
House, J., Landis, K., & Umberson, D. (1988). Social relationships and health. Science, 241(4865), 540–545. doi: 10.1126/science.3399889
King, C., & Young, R. D. (1982). Attentional deficits with and without hyperactivity: Teacher and peer perceptions. Journal of Abnormal Child Psychology, 10(4), 483–495. doi: 10.1007/BF00920749
Kofler, M. J., Harmon, S. L., Aduen, P. A., Day, T. N., Austin, K. E., Spiegel, J. A., … Sarver, D. E. (2018). Neurocognitive and behavioral predictors of social problems in ADHD: A Bayesian framework. Neuropsychology, 32(3), 344–355. doi: 10.1037/neu0000416
Ladd, G. W., Kochenderfer, B. J., & Coleman, C. C. (1996). Friendship quality as a predictor of young children’s early school adjustment. Child Development, 67(3),1103. doi: 10.2307/1131882
Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship characteristics of children with ADHD. Journal of Attention Disorders, 19(10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971
Mikami, A. Y. (2010). The Importance of friendship for youth with attention deficit/hyperactivity disorder. Clinical Child and Family Psychology Review, 13(2), 181–198. doi: 10.1007/s10567-010-0067-y
Newcomb, A. F., & Bagwell, C. L. (1995). Children’s friendship relations: A meta-analytic review. Psychological bulletin, 117(2), 306.
Normand, S., Schneider, B. H., Lee, M. D., Maisonneuve, M.-F., Chupetlovska-Anastasova, A., Kuehn, S. M., & Robaey, P. (2013). Continuities and changes in the friendships of children with and without ADHD: A longitudinal, observational study. Journal of Abnormal Child Psychology, 41(7), 1161–1175. doi: 10.1007/s10802-013-9753-9
Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84(2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391
Warum sich die Forschung zu wenig mit paternaler Depression auseinandersetzt
Väter, die nach der Geburt ihres Kindes an einer depressiven Störung leiden, werden in der Forschung kaum thematisiert – im Gegensatz zu Müttern. Aber warum eigentlich? Und was sind die Folgen dieser Forschungslücke für die Väter und für ihre Familien?
Von Marcia Arbenz Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff Illustriert von Rebekka Stähli
Nach der Geburt ihres Kindes stehen Eltern vor vorhergesehenen und unvorhergesehenen Herausforderungen. Weltweit leiden unter anderem deswegen bis zu 13 Prozent der schwangeren Frauen und frischgebackenen Mütter an psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen (World Health Organisation, n.d.) – Dabei spricht man von einer maternalen Depression. Kein Wunder also, dass die WHO (n.d.) maternale, psychische Störungen als eines der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit bezeichnet. Doch während maternale Depression einigen ein Begriff ist, sind vermutlich viele nicht mit der paternalen Depression vertraut. Diese bezeichnet eine Depressivität bei werdenden oder neu gewordenen Vätern (American Academy of Pediatrics, 2018).
Papa leidet auch
Nach der Geburt ihres Kindes stehen auch Männer vor einer herausfordernden Zeit. Genauso wie ihre Partner*innen werden sie mit dem wichtigen Übergang zur Elternschaft und allen damit verbundenen, praktischen und psychischen Herausforderungen konfrontiert (Psouni & Eichbichler, 2019). Zusätzlich wird oft von ihnen erwartet, dass sie ihr berufliches Engagement beibehalten und persönliche Bedürfnisse zurückstellen. Diese Belastung führt zu einer hohen Vulnerabilität (Psouni et al., 2017; Rominov et al., 2018), die sich in der postnatalen Zeit in Form von depressiven Symptomen manifestieren kann (Cameron et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).
«Most of the reviewed studies suffer from methodological limitations, including the small sample, the lack of a structured psychiatric diagnosis, and inclusion bias. Despite such limitations, paternal depression seems to be associated with an increased risk of developmental and behavioural problems and even psychiatric disorders in offspring.»
Gentile & Fusco, 2017, p. 325
Zu wenig Forschung
Obwohl die Vulnerabilität und die damit verbundene, potenzielle depressive Störung bestätigt sind, ist die paternale Depression an sich, wie auch deren Auswirkungen wenig untersucht (Paulson et al., 2006). Eine kurze Suche mit Hilfe von Google Scholar bestätigt die Behauptung von Paulson und Kollegen (2006), dass es wenige Studien zu diesem Thema gibt. Wird der Begriff maternal depression gesucht, werden etwa 744‘000 Treffer erzeugt. Im Vergleich dazu führt die Suche mit paternal depression nur zu circa 53’500 Treffern (Stand: 12. März 2020). Dieser massive Unterschied ist leider kein Relikt vergangener Zeit. Schränkt man die Suche durch einen aktuelleren Zeitraum ein, ist immer noch das gleiche Muster erkennbar. Interessanterweise existiert diese Diskrepanz nur in Bezug auf parentale Depression. Es gibt kaum Unterschiede in der Anzahl Treffer zwischen den Begriffen female depression und male depression. Das heisst, dass nur Männer in der Rolle als Väter und nicht Männer im Allgemeinen in der Forschung zu Depressionen vernachlässigt werden.
Die Frage nach dem Warum
Doch was sind die Gründe für diese Diskrepanz? Insgesamt kann man vier Umstände beschreiben, die als Erklärungen für die Unterschiede dienen können. Erstens haben gewisse Männer zum Teil die Neigung, ihre depressive Symptomatik als weniger stark anzugeben, als sie eigentlich ist (Seidler et al., 2016). Die Symptome werden also entweder als zu schwach oder als nicht vorhanden eingeschätzt. Dies könnte zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Männer nicht oder in geringerem Maße als Frauen an elterlichen Depressionen leiden, so dass es weniger dringlich scheint, dieses Thema spezifisch zu untersuchen.
Zweitens verspüren und zeigen Männer im Vergleich zu Frauen oftmals andere Symptome. Häufig drücken Männer Depressionen durch externalisierendes Verhalten aus (Rutz, 1996), wie Wutanfälle, Drogenmissbrauch und Risikoverhalten, oder sie zeigen stärkere körperliche Belastung durch eine Somatisierung (Danielsson & Johansson, 2005; Kim & Swain, 2007; Martin et al., 2013; Rodgers et al., 2014; Schumacher et al., 2008). Diese externalisierenden Verhaltensweisen werden von medizinischem Fachpersonal nicht immer als depressive Symptome erkannt (Rutz, 1996), so dass eine korrekte Diagnostizierung dieser Männer unwahrscheinlich ist. Zudem leiden einige Männer an weiteren, weniger offensichtlichen depressiven Symptomen, was vermehrt zu Fehldiagnosen führen kann (Psouni et al., 2017).
Risikofaktoren für paternale Depression (American Academy of Pediatrics, 2018):
Schwierigkeiten eine Bindung mit dem eigenen Kind aufzubauen
Das Fehlen eines guten männlichen Vorbildes
Das Fehlen von sozialer Hilfe und Unterstützung
Veränderungen in der Beziehung zum*r Ehepartner*in
Gefühle wie Eifersucht oder Exklusion aufgrund der Beziehung zwischen Ehepartner*in und Kind
Maternale Depression
Stress aufgrund von Finanzen oder Arbeit
Tiefes Level an Testosteron
Der dritte Grund für die Diskrepanz im aktuellen Forschungsstand bezüglich maternaler und paternaler Depression ist eng mit den erwähnten Unterschieden in der Symptomatik verknüpft. Die Messinstrumente zur Beurteilung der paternalen Depression sind nicht an die externalisierenden Symptome angepasst (Rice et al., 2013). Dadurch wird die Symptomatik nicht vollständig erfasst. Zudem werden die verfügbaren Skalen selten mit ausreichend großen Stichproben getestet und die psychometrische Entwicklung der Fragebögen sind oftmals fehlerhaft (Rice et al., 2013). Dies führt unter anderem zu stark variierenden Prävalenzraten bei väterlichen Depressionen (Cameron et al., 2016), dadurch erscheint die Notwendigkeit umfassender Forschung als zu gering.
Der letzte mögliche Grund für die Diskrepanz ist, dass Väter, im Vergleich zu Müttern, in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt an parentaler Depression erkranken (Edward et al., 2015; Psouni et al., 2017). Während maternale Depression in der Regel während der Schwangerschaftszeit oder innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes auftritt, hat die Prävalenzrate der paternalen Depression ihren Höhepunkt 12 Monate nach der Geburt des Kindes (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011). Verheerend ist hier, dass die meisten Studien zur parentalen Depressionen ihre Teilnehmer*innen nur innerhalb des ersten postnatalen Jahres untersuchen (Psouni et al., 2017). Väter werden also während ihrer kritischen Phase in vielen Studien gar nicht erst erfasst. Es ist immer noch unklar, wie eine paternale Depression nach dem ersten Jahr nach der Geburt des Kindes verläuft.
Folgen der Vernachlässigung
Was sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Unterschiede und dem Mangel an Forschung bei parentaler Depression? Wie bereits erwähnt, scheint die depressive Symptomatik bei Männern im Vergleich zu Frauen weniger oft als solche erkannt zu werden.
Zusätzlich suchen Männer seltener Hilfe auf. In einer Studie gab weniger als die Hälfte der männlichen Teilnehmer mit depressiven Symptomen an, dass sie bereit wären, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Massoudi, 2013). Gewisse Stigmata oder Geschlechternormen könnten es Männern erschweren, als Schwächen wahrgenommene Erlebens- oder Verhaltensmuster einzugestehen(Lohan et al., 2014; Strother et al., 2012). Die daraus resultierende Behandlungslücke könnte durch den Mangel an Forschung zum Thema paternalen Depression verstärkt werden. Weniger Wissen über Verlauf und Risiken der paternalen Depression gehen vermutlich mit einem Mangel an Präventionsmöglichkeiten und spezifischen Interventionen einher. Generell gibt es weniger Interventionen, die spezifisch für Männer entwickelt wurden im Vergleich zu Frauen (Doley et al., 2020). All das kann zu einer Versorgungslücke führen, die einen noch schwerwiegenderen Eindruck hinterlässt, wenn man sich die Folgen einer paternalen Depression vor Augen führt.
Folgende Hilfsstellen können Vätern (und Müttern) helfen oder sie an die richtigen Stellen weiterleiten:
Eine depressive Störung des einen Elternteils beeinflusst auch den Gemütszustand des anderen. Paternale postnatale Depression korreliert stark mit maternaler postnataler Depression (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011; Goodman, 2004; Ramchandani et al., 2011). Daher erhöht die Depression eines Elternteils das Risiko, dass ein Kind, mit zwei depressiven Eltern aufwächst (Letourneau et al., 2011). Dies führt zu einer höheren Vulnerabilität des Kindes (Brennan et al., 2002; Letourneau et al., 2011; Mezulis et al., 2004). Ausserdem leidet es eher unter multiplen entwicklungsschädigenden Folgen, wie weniger positiv bereicherten Aktivitäten beispielsweise das Vorlesen von Kinderbüchern (Paulson et al., 2006) oder stärker externalisierenden Verhaltensproblemen (Ramchandani et al., 2013). Daher ist zentral, dass die Forschung sich auch auf Väter konzentriert. Denn auch dem Papa sollte es gut gehen.
Zum Weiterlesen
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Die sekundäre Posttraumatische Belastungsstörung – eine Berufskrankheit?
Nach Katastrophen und Unfällen liegt der Fokus auf den Opfern. Doch auch die Helfer*innen wurden mit dem traumatischen Ereignis konfrontiert und können Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln. Haben «Helfer-Berufe» also auch eine Schattenseite?
Von Julia J. Schmid Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Mandana Fröhlich Illustriert von Janice Lienhard
Das Auftreten von Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, obwohl die Person selbst nicht das Opfer des Geschehens war, wird in der Literatur unter anderem als sekundäre Posttraumatische Belastungsstörung (sPTBS) bezeichnet (Reinhard & Maercker, 2004; Sabel & Roschinski, 2010). Mögliche Betroffene sind Zeug*innen und Helfer*innen bei Unfällen und Katastrophen, zum Beispiel Einsatzkräfte wie Polizist*innen, Feuerwehr- und Rettungspersonal (Klimley et al., 2018). Selbst Personen, die in der Situation nicht anwesend waren, sondern lediglich von dem traumatischen Ereignis wissen, können eine sPTBS entwickeln, beispielsweise Familienangehörige und behandelnde Psychotherapeut*innen (Pausch & Matten, 2018; Ehlert & Brönnimann, 2019). Entscheidend ist die Konfrontation mit mindestens einem traumatischen Ereignis, das einer anderen Person widerfahren ist, entweder als Zeug*in oder als Mitwisser*in (Andreatta & Unterluggauer, 2010). So reicht die Bandbreite der sekundär Betroffenen von helfenden Berufsgruppen in der Akutphase bis zu Anbietern längerfristiger, therapeutischer Angebote. Diese Berufsgruppen, die aufgrund ihrer Tätigkeit viel häufiger und stärker mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, weisen somit ein höheres Risiko für die Entwicklung dieser Störung auf (Andreatta & Unterluggauer, 2010; Ehlert & Brönnimann, 2019). Während in der Allgemeinbevölkerung weniger als 3,5 Prozent an einer (s)PTBS leiden, zeigte ein Review mit 28 Studien eine Prävalenz von 10 Prozent bei Rettungskräften (Berger et al., 2012). In der Forschung fand diese Tatsache lange keine Beachtung. Die Aufmerksamkeit entstand erst durch die Erkenntnis, dass Menschen mit andauerndem, intensivem Kontakt zu Traumatisierten teilweise selbst ähnliche Symptome entwickeln (vgl. Reinhard & Maercker, 2004). Im beruflichen Alltag wird dieser Problematik jedoch immer noch zu wenig Beachtung geschenkt. Sowohl von den Arbeitnehmer*innen, als auch auf der Vorgesetztenebene (Sabel & Roschinski, 2010).
Ein Phänomen mit 24 Namen
Ein Grund für die mangelnde Beschäftigung in der beruflichen Praxis ist sicherlich die Begriffsverwirrung (Rixe, 2013). Neben sPTBS wird unter anderem auch von «sekundärer Traumatisierung», «berufsbedingter Traumatisierung» oder «Mitgefühlserschöpfung» gesprochen (Sabel & Roschinski, 2010; Andreatta & Unterluggauer, 2010). Lemke (2010) fand sogar 24 assoziierte Begrifflichkeiten.
«Ich bin Polizist und sitze am Schreibtisch. Gott sei Dank ist mein Arbeitsplatz der Schreibtisch.»
Quaas, 2010, S. 15
Selbst die sPTBS wird unterschiedlich definiert (Rixe, 2013). Umstritten ist, ob nur eine sPTBS vorliegt, wenn keine direkten sensorischen Eindrücke des Ausgangstraumas stattfanden, wie es beispielsweise bei Psychotherapeut*innen der Fall ist (Rixe, 2013). Die Forschung hat die entsprechende Erweiterung der PTBS Definition unterstützt. So macht dies seit der Veröffentlichung des DSM-5 faktisch keinen Unterschied mehr (Roden-Foreman et al., 2017). Unabhängig davon, ob die Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis direkt, indirekt, mit oder ohne sensorische Eindrücke erfolgt, wird eine PTBS diagnostiziert (APA, 2013).
Das Gleiche, aber nicht Dasselbe
Im Kontext ihrer Arbeit werden die gefährdeten Berufsgruppen im Gegensatz zu den Opfern meist erst nach dem eigentlichen Geschehnis dessen Folgen ausgesetzt (Reinhard & Maercker, 2004). Ihre Prognose ist aufgrund höherer Vorhersehbarkeit, Kontrolle und Erfahrung besser (Daniels, 2008). Sie sind gut ausgebildet, auf Extremsituationen vorbereitet (Sendera & Sendera, 2013) und wissen, wann sie sich in eine möglicherweise traumatische Situation begeben bzw. davon hören werden (Daniels, 2008). Sie können die Umstände besser kontrollieren (z. B. eine Therapiesitzung) und aufgrund ihres Fachwissens bei Symptomen einer sPTBS schneller reagieren. Der wichtigste Unterschied liegt wohl darin, dass ein indirekt erlebtes Trauma meist eine weniger starke Folgesymptomatik bedingt (Reinhard & Maercker, 2004). Generell werden bei den gefährdeten Berufsgruppen sehr hohe Prävalenzen für die einzelnen Symptomgruppen gefunden, nicht aber für eine umfassende Beeinträchtigung (Reinhard & Maercker, 2004; Klimley et al., 2018). Beispielsweise wurde bei Notfallmediziner*innen eine sPTBS Prävalenz von 13 Prozent festgestellt, wobei weitere 34 Prozent mindestens ein Symptomcluster auf klinischer Ebene aufwiesen (Roden-Foreman et al., 2017). Auch eine solche subklinische Störung kann jedoch das Funktionsniveau stark beeinträchtigen (Klimley et al., 2018).
Risiko- und Schutzfaktoren
Etwa jedem Zweiten widerfährt mindestens einmal in seinem Leben ein traumatisches Ereignis (Kessler et al., 1995), aus den gefährdeten Berufsgruppen fast jedem (Ehlert & Brönnimann, 2019). Dennoch entwickeln nicht alle eine sPTBS (Reinhard & Maercker, 2004). Traumatisierend sind Umstände, die zu einer Identifikation mit dem Opfer und damit zu emotionaler Überflutung führen, so beispielsweise, wenn die Situation an eigene Lebensumstände erinnert (z. B. Umfall eines Kindes, wenn man selbst Kinder hat) oder das Opfer persönlich gekannt wird (Sendera & Sendera, 2013). Nicht selten sind Menschen mit eigener Traumageschichte in helfenden Berufen zu finden. Diese Vorgeschichte wirkt zwar als Motivation, kann allerdings auch die Einhaltung der nötigen Distanz erschweren und eine sPTBS begünstigen (Sendera & Sendera, 2013).
«(…) als Verantwortliche muss ich mich dann vor Ort um alle Details kümmern; stressig, echt nervenaufreibend, die Leichen, oder das was noch übrig ist. (…) irgendwann steckst du das dann nicht mehr weg.»
Kriminalbeamtin aus Sabel & Roschinski, 2010, S. 35
Oft entsteht die sPTBS aber schleichend durch die Akkumulation vieler traumatischer Erlebnisse oder Informationen über einen längeren Zeitraum (Sabel & Roschinski, 2010). Die Anzahl und Schwere der traumatischen Ereignisse, die sogenannte Traumadosis, wird als Risikofaktor angesehen, obwohl nicht immer ein signifikanter Effekt gefunden wurde (Geronazzo-Alman et al., 2017). Möglicherweise können viele Erlebnisse im Sinne höherer Berufserfahrung immunisierend und somit auch schützend wirken (Reinhard & Maercker, 2004; Krutolewitsch et al., 2015). Weitere Risikofaktoren sind gemäss Schwarzer (2010) eine hohe Empathiefähigkeit ohne innerliche Distanz, hohe Dissoziationsneigung, fehlende Problemlöse- und emotionale Bewältigungsstrategien. Vor allem schlecht angepasstes Coping, wie Ablenkung, Selbstbeschuldigung und Substanzkonsum scheinen mit sPTBS assoziiert zu sein (Skeffington et al., 2017). Riessinger (2015) nennt als weitere Einflussfaktoren die allgemeinen Lebensumstände, wie Stress und die psychische Gesundheit, Merkmale des sozialen Umfeldes und demografische Faktoren. Burnout-Symptome werden als aufrechterhaltende und verstärkende Bedingungen vermutet (Reinhard & Maercker, 2004). Soziale Variablen, wie wahrgenommene soziale Unterstützung und Anerkennung, konnten dagegen als starke Schutzfaktoren identifiziert werden. Die Anpassung an ein traumatisches Erlebnis ist besser, wenn die Betroffenen das Gefühl haben, dass ihre Arbeit von der Gesellschaft wertgeschätzt wird (Krutolewitsch et al., 2015).
«There is a cost to caring.»
Figley, 1995
Die rote Liste der Risikoberufe
Die gefährdeten Berufsgruppen sind den traumatischen Ereignissen auf unterschiedliche Weise ausgesetzt (Krutolewitsch et al., 2015; Klimley et al., 2018). In der Forschung werden im Zusammenhang mit sPTBS vor allem Ersthelfer*innen, wie Rettungspersonal, Polizei und Feuerwehr genannt, da sie viele Stressoren gleichzeitig erleben (Berger et al., 2012). Einerseits tätigkeitsabhängige Belastungen, wie die Verantwortungsübernahme für das Leben von anderen, der Zeitdruck, die unvorhersehbaren, unkontrollierbaren, mehrdeutigen Situationen, Informationsüberflutung oder -mangel und der starke, kontinuierliche Entscheidungsdruck (z. B. wer als Erstes versorgt wird) (Andreatta & Unterluggauer, 2010; Sendera & Sendera, 2013). Und andererseits der extreme Stressor der Konfrontation mit leidenden, verletzten oder toten Menschen (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Die Ersthelfer*innen müssen empathisch auf die Opfer und Angehörigen eingehen, eine Beziehung aufbauen und dennoch zum Selbstschutz eine gewisse Distanz wahren (Sendera & Sendera, 2013). Die Rolle des Helfers kann im Sinne übersteigerter Erwartungen zusätzlich zur Belastung werden (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Falls es nicht möglich ist zu helfen, beispielsweise bei zu spätem Eintreffen, können irrationale Kognitionen und Schuldgefühle entstehen (Reinhard & Maercker, 2004). Darüber hinaus kann nicht nur die Katastrophe selbst, sondern auch das Versagen der Technik, des Teams oder der eigenen Person traumatisierend wirken (Sendera & Sendera, 2013).
Gleichzeitig sind Ersthelfer*innen aber gut ausgebildet und verfügen über eine Persönlichkeitsstruktur, die eine höhere psychische Belastung erlaubt als in der Allgemeinbevölkerung (vgl. Krampl, 2007; Ehlert & Brönnimann, 2019). Sie haben eine hohe Stresstoleranz, Sozialkompetenz und Kontrollüberzeugung, ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung, einen ausgeprägten Ordnungssinn aber auch die Tendenz, die eigene Belastung zu bagatellisieren (Ehlert & Brönnimann, 2019).
Es hat sich klar gezeigt, dass Krankenwagenpersonal und Mitarbeiter des Notdienstes stärker von sPTBS betroffen sind und eine schlechtere psychische und körperliche Gesundheit aufweisen als Feuerwehr und Polizei (Berger et al., 2012; Krutolewitsch et al., 2015). Das Krankenwagenpersonal erlebt höheren Druck und Stress, muss auf mehr Notrufe reagieren und erlebt engeren Kontakt zu den Opfern. Dies kann die Identifizierung fördern und möglicherweise das Schuldgefühl verstärken, falls nicht geholfen werden konnte (Berger et al., 2012). Auch ungünstigere Coping-Strategien (z. B. vermehrter Alkoholkonsum) können verantwortlich sein (Teegen 2003). Polizisten sind in der Gruppe der Ersthelfer*innen die am wenigsten gefährdeten (Klimley et al., 2018). Möglicherweise handelt es sich bei Polizist*innen aufgrund strengerer Auswahlkriterien um eine resilientere Personengruppe (Berger et al., 2012). Bezüglich ehrenamtlicher Ersthelfer*innen liegen widersprüchliche Ergebnisse vor. Sie erleben vermutlich weniger soziale Unterstützung, können sich aber einfacher aus der Arbeit zurückziehen (Berger et al., 2012; Ehlert & Brönnimann, 2019).
Erschüttertes Selbst- und Weltbild
Ein gewisses Mass an Illusion hilft, unseren Alltag zu bewältigen und schützt vor der Konfrontation mit der eigenen Verwundbarkeit. Obwohl wir über den Tod, Gewalt usw. Bescheid wissen, schätzen wir unsere Umgebung als wohlwollend ein und gehen nicht davon aus, dass uns Schlimmes widerfahren wird. Die Geschehnisse der Welt werden als bedeutungsvoll und sinnhaft angesehen, was in der Annahme einer gerechten und kontrollierbaren Welt resultiert. Helfende Berufsgruppen vertrauen aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung auf ihr Team und ihre eigene Belastbarkeit. Die eigene Vulnerabilität wird durch das stereotype Bild des*r Held*in überdeckt. In der Auseinandersetzung mit traumatisierenden Ereignissen werden jedoch Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit erlebt. Die Grundannahmen über das Selbst und die Welt können dadurch erschüttert und die eigene Vulnerabilität und Hilflosigkeit vor Augen geführt werden, was eine sPTBS bedingen kann (Andreatta & Unterluggauer, 2010).
Die zweite in der Literatur häufig besprochene Berufsgruppe sind die Psychotherapeut*innen (Daniels, 2010). Die Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen anderer gehört zu ihrem Arbeitsalltag. Im Gegensatz zu den Ersthelfer*innen erlebt diese Gruppe keine direkten sensorischen Eindrücke des Ausgangstraumas. Es wird angenommen, dass meist erst die Kumulation von Erfahrungen der Ungerechtigkeit traumatischer Ereignisse, gepaart mit hoher Empathiefähigkeit traumatisierend wirkt (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Die Datenlage ist aber widersprüchlich. Nur jede zweite Studie fand einen Zusammenhang zwischen der Traumadosis und der sPTBS bei Psychotherapeut*innen (Jurisch et al., 2009). Jurisch und Kollegen (2009) betonen daher, dass die generelle Warnung vor sPTBS bei Psychotherapeut*innen nicht gerechtfertigt ist und vermuten, dass die PTBS-Symptome dieser Berufsgruppe eher auf eigene traumatische Erfahrungen und die Traumafokussierung in der Therapie zurückzuführen sind. Weitere gefährdete Berufsgruppen sind Sozialarbeiter*innen, Kriminalbeamt*innen, Krankenpfleger*innen, Soldat*innen, Richter*innen, Lokomotivführer*innen, Seelsorger*innen und Pfarrer*innen (Sabel & Roschinski, 2010). Auch Journalist*innen und Anwält*innen werden als häufig von sPTBS Betroffene diskutiert (Ehlert & Brönnimann, 2019).
Fakt ist, dass die genannten Berufsgruppen häufig mit traumatischen Ereignissen oder Informationen darüber konfrontiert werden. Daraus resultiert ein hohes Risiko für die Entstehung einer (subklinischen) sPTBS. Die Forschung hat Risiko- aber auch Schutzfaktoren, sowie Eigenheiten der einzelnen Berufe aufgedeckt. Um die Betroffenen zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer für die Gesellschaft überaus wertvollen Arbeit nachgehen können, muss der Fokus von den Opfern gelöst und weitere Forschung getätigt werden. Die Ergebnisse sollten dann in die Ausbildungen einfliessen, damit wann immer möglich, statt einem verzweifelten «Ich wollte doch nur helfen!», ein zufriedenes «Ich habe geholfen!» ertönen kann.
Zum Weiterlesen
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Literatur
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Wenn man den emotionalen Wert von Gegenständen inadäquat einschätzt
Zwanghaftes Horten oder Hoarding Disorder beschreibt eine Erkrankung, bei der Betroffene sich nicht von scheinbar wertlosen Dingen trennen können und auch die Neubeschaffung von oftmals wertlosen Dingen ein Problem darstellt. Im Folgenden wird das Krankheitsbild näher vorgestellt.
Von Sebastian Junghans Lektoriert von Marie Reinecke und Laura Trinkler Illustriert von Alba Lopez
Eigentlich wollte ich diesen Artikel mit einer Anspielung auf das Horten von Toilettenpapier – eine Tätigkeit, welcher nicht zu wenige unserer Mitmenschen zu Anfang der Corona-Pandemie nachgegangen sind – eröffnen. Eine Extremform des Sammelns und auch der Akquise neuer Gegenstände stellt zwanghaftes Horten dar. Was manche von uns schon in fragwürdigen Sendungen gesehen haben, ist ausserhalb der Reality-TV-Welt bitterer Ernst, welcher mit grossem Leidensdruck für die Betroffenen und ihr Umfeld verbunden ist. Zwanghaftes Horten findet im DSM-V eine eigene Diagnose, zuvor war es als eine Ausprägung einer Zwangsstörung definiert.
Krankheitsbild
Betroffene Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie anhaltende Schwierigkeiten haben, persönliche Gegenstände fortzugeben oder wegzuwerfen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert. Sie haben das Gefühl, ihre Besitztümer aufbewahren zu müssen und erfahren massive Anspannung beim Versuch, sich der Besitztümer zu entledigen. Das Behalten von diesen wertlosen Dingen führt zu dem Bild, welches man von Messie-Wohnungen hat. Betroffene wohnen oftmals in einer überfüllten Wohnung, wovon viel Wohnbereich auch mit Müll okkupiert sein kann. Die Kriterien können auch bei einer aufgeräumten Wohnung zutreffen, wobei die Ordnung auf Dritte zurückgeführt werden können muss. Um die Kriterien des DSM-V für pathologisches Horten zu erfüllen, muss des Weiteren eine Beeinträchtigung im häuslichen, sozialen oder arbeitsbezogenen Alltag vorhanden sein (Külz & Voderholzer, 2018).
Im Unterschied zum Messie-Syndrom ist beim zwanghaften Horten häufiger die Akquirierung neuer Gegenstände Bestandteil der Krankheit. Personen mit dem Messie-Syndrom sind zudem nicht nur bei der Ordnung im Wohnbereich desorganisiert, sondern auch beim Einhalten von Terminen, der sozialen Einbindung und der Umsetzung von Handlungsplänen im Allgemeinen (Külz & Voderholzer, 2018).
Sammeln und auch Überfluss an Dingen liegt zu einem gewissen Grad in der menschlichen Natur (wie uns die Toilettenpapiersituation anno Corona zeigte). Das Sammeln von Dingen unterscheidet sich jedoch gegenüber Horten dahingehend, dass Sammeln nicht als das eigene Wohlergehen oder das Wohlergehen anderer als negativ beeinträchtigend gilt (Külz & Voderholzer, 2018).
Die Bindung an scheinbar wertlose Dinge an sich ist nichts Aussergewöhnliches. Gewisse Besitztümer können mit Personen oder Ereignissen in Verbindung gebracht werden und haben daher emotionalen Wert. Oder man identifiziert sich mit einem Gegenstand, so dass das Entledigen desselben sich wie die Vernichtung eines Teils seiner selbst anfühlt (Külz & Voderholzer, 2018). Während diese objektiv wertlosen Dinge mit grossem subjektiven Wert bei klinisch unauffälligen Personen dünn gesät sind, verspüren Betroffene diese Verbindungen zu einer Vielzahl von Dingen, wie alten Zeitschriften oder abgetragenen Kleidungsstücken.
Befundlage
Nordsletten und Kollegen (2013) fanden des Weiteren, dass Betroffene im Vergleich zu klinisch Unauffälligen signifikant häufiger Schulden hatten, geschieden oder verwitwet waren und häufiger staatliche Finanzhilfe in Anspruch nahmen. Zusätzlich wurde festgestellt, dass die körperliche Gesundheit bei Betroffenen schlechter war als die der Kontrollgruppe. Timpano und Kollegen (2011) berichteten, dass bei Nicht-Hortenden gelegentliches Stehlen mit 6.2 Prozent deutlich tiefer lag als bei pathologisch Hortenden mit 25.3 Prozent. Auch das impulsive Kaufen von Dingen oder das Mitnehmen von Gratisprodukten wurde bei pathologisch Hortenden häufiger festgestellt.
In einer retrospektiven Studie fanden Landau und Kollegen (2011) heraus, dass Personen, welche unter pathologischem Horten leiden, mehr stressige oder traumatische Ereignisse erlebt hatten als Personen mit einer Zwangsstörung oder aus der Kontrollgruppe. Die Exposition gegenüber traumatischen Ereignissen korrelierte dabei stark mit der Ausprägung des Hortverhaltens. Zwischen materieller Entbehrung in der Vergangenheit und Hortverhalten wurden keine signifikanten Zusammenhänge festgestellt.
Neurologische Grundlage
Tolin und Kollegen (2014) führten mit Personen, welche unter einer Zwangsstörung oder pathologischem Horten litten und Kontrollpersonen ein Experiment durch, in welchem die Probanden an einer Go/no-Go-Aufgabe teilnahmen. Bei dieser Aufgabe wurde mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Stimulus präsentiert, nach welchem von den Probanden die Reaktion gefordert wurde, einen Knopf zu drücken. Die Stimuli wurden in einer kurzen zeitlichen Abfolge präsentiert und alle 10-15 Sekunden wurde ein Stimulus präsentiert, bei dem keine Aktion gefordert war. Bei den Probanden zeigten sich unterschiedliche Hirnaktivierungen in Bezug auf die response inhibition. Bei den Studienteilnehmern, welche mit zwanghaftem Horten diagnostiziert worden waren, stellten die Forschenden im Vergleich zu den anderen Probanden eine Hypoaktivität im Frontalkortex fest. Dieses Muster konnte auch bei anderen Tests, bei welchen es nicht um das Behalten oder Wegwerfen von Dingen geht, festgestellt werden und könnte laut Tolin und Kollegen (2014) eine Erklärung für die beobachtbare, geminderte, allgemeine Motivation und das mangelhafte Einsichtsvermögen bei Betroffenen sein.
«Together, these regions are thought to be part of a functionally connected network of structures used to identify the emotional significance of a stimulus, generate an emotional response, and regulate affective state.»
Tolin et al., 2012, S. 838
In einer weiteren Studie von Tolin und Kollegen (2012) mussten Probanden in Bezug auf fremde und eigene wertlose Gegenstände entscheiden, ob sie weggeworfen oder behalten werden sollen. Bei den Probanden mit zwanghaftem Horten wurde eine vergleichsweise hohe Aktivität im anterioren cingulären Cortex sowie in der Insula festgestellt, wenn es um Entscheidungen bezüglich eigener Gegenstände ging. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die Entscheidungsschwierigkeit, welche Personen mit zwanghaftem Horten beim Wegwerfen von Besitztümern erfahren, neurologisch widerspiegeln. Die betroffenen Hirngebiete sind unter anderem bei Entscheidungsprozessen, Salienzbestimmung von Stimuli und emotionalen Entscheidungen von Bedeutung (Tolin et al, 2012). Zusammengefasst sind die neuronalen Strukturen, welche dazu dienen, Gegenständen einen emotionalen Wert adäquat beizumessen, eine emotionale Reaktion hervorzurufen und den affektiven Zustand zu regulieren, bei Menschen mit zwanghaftem Horten in Bezug auf Besitztümer auffällig.
Besserung der Symptomatik
In einer Metaanalyse fanden Tolin, Frost, Steketee und Muroff (2015) heraus, dass kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung von zwanghaftem Horten gute Resultate hervorbringt. Vor allem fällt es den Betroffenen nach einer Therapie leichter, sich von Dingen zu trennen und die Vermüllung des Wohnraumes nimmt ab. Eine vollständige Heilung im Sinne von Skalenergebnissen in Bezug auf Hortungsverhalten, welche dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, wird allerdings nicht erreicht.
Zwanghaftes Horten kann für direkt und indirekt Betroffene grossen Leidensdruck verursachen. Es geht mit spezifischen, neuronalen Mustern einher und unterscheidet sich explizit von einer Zwangsstörung. Die Häufigkeit der Erkrankung wird mit einer Prävalenz zwischen 2 Prozent bis 6 Prozent sehr unterschiedlich eingeschätzt (Timpano et al., 2011). Die Menschen, die dabei am stärksten betroffen sind, sind vermutlich die gleichen Personen, denen die Einsicht zu ihrem Problem fehlt (Nordsletten et al. 2013).
Tolin, D. F., Witt, S. T., & Stevens, M. C. (2014). Hoarding disorder and obsessive–compulsive disorder show different patterns of neural activity during response inhibition. Psychiatry Research: Neuroimaging, 221, 142-148. https://doi.org/10.1016/j.pscychresns.2013.11.009
Literatur
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Timpano, K. R., Exner, C., Glaesmer, H., Rief, W., Keshaviah, A., Brahler, E., & Wilhelm, S. (2011). The epidemiology of the proposed DSM-5 hoarding disorder: Exploration of the acquisition specifier, associated features, and distress. The Journal of Clinical Psychiatry, 72, 780-786. https://doi.org/10.4088/JCP.10m06380
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Tolin, D. F., Stevens, M. C., Villavicencio, A. L., Norberg, M. M., Calhoun, V. D., Frost, R. O., Steketee, G., Rauch, S. L., & Pearlson, G. D. (2012). Neural mechanisms of decision making in hoarding disorder. Archives of General Psychiatry, 69, 832-841. https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2011.1980
Psychopathie und Machiavellismus sind beides zwei Persönlichkeitsmerkmale der Dark Triad. Auch sonst haben sie viele Gemeinsamkeiten und nur sehr wenige Unterschiede. Sind sie nur ein Produkt uneinsichtiger Forschung oder sind sie tatsächlich zwei voneinander unabhängige Traits?
Von Marcia Arbenz und Sophia Scheele Lektoriert von Loana Brestel und Niko Läderach Illustriert von Andrea Bruggmann
Das Konzept der Dark Triad wurde 2002 von Paulhus und Williams begründet. Sie fassten drei Persönlichkeitsmerkmale zusammen: Psychopathie, Machiavellismus und Narzissmus. Diese drei Merkmale wurden gewählt, da sie einander ähnlich sind (personal communication with D.L. Paulhus, 2020), beispielsweise im Ausnutzen anderer Personen (Jonason et al., 2009). Doch bald schon entbrannte eine Diskussion, ob diese drei Merkmale nicht zu ähnlich sind. Besonders Psychopathie und Machiavellismus sind oftmals nicht distinkt. Eine Zusammenfassung.
Das grösste Übel: Psychopathie
Eine psychopathische Person besitzt eine antagonistische Persönlichkeit, die sich durch Manipulationen, egoistisches Verhalten und Gefühlslosigkeit auszeichnet (Furnham et al., 2013; Jones & Figueredo, 2013). Zudem zeigt sie impulsives, riskantes, thrill-seeking Verhalten und besitzt wenig Empathie, wie auch Ängste (Glenn & Sellbom, 2015; Paulhus & Williams, 2002; Vize et al., 2018). Mitleid sucht man bei ihr vergeblich. Hinzu kommen ein schlechtes Urteilsvermögen und pathologischer Egozentrismus (Cleckley, 1988). Trotz dieser kaum wünschenswerten Eigenschaften wirken psychopathische Personen oft sympathisch, da sie einen aussergewöhnlichen Charme besitzen (Cleckley, 1988). Im Allgemeinen wird Psychopathie als das Übelste der Dark Triad bezeichnet (Furnham et al., 2013). Mit der Psychopathie entstehen zahlreiche ungünstigste Folgen. Beispielsweise haben diese Personen oft Probleme mit dem Gesetz (Williams et al., 2001) und betreiben Mobbing und Cybermobbing (Goodboy & Martin, 2015; Williams et al., 2001). Oft sind sie auch in den höheren Führungsebenen zu finden (Boddy, 2011; Chiaburu et al., 2013), benutzen harte Manipulationstechniken wie Erpressung (Jonason et al., 2012; Spain et al., 2014) und zeigen Counterproductive workplace behaviour (CWB), wie das Fällen von unethischen Entscheidungen, Unehrlichkeit oder Betrug (Schilbach et al., 2020). Auch in romantischen Beziehungen zeigen sie auffälliges Verhalten. So haben sie generell eine höhere Anzahl an Sexualpartner*innen, sind eher untreu und machen sich oft der sexuellen Belästigung schuldig (Muris et al., 2017; Williams et al., 2005). Sie sind äusserst missbräuchlich wie auch unvorhersehbar in Einstellungen und Verhalten (Williams et al., 2005).
Doch wie misst man diese Einstellungen und Verhaltensweisen? Es gibt einige Messinstrumente für Psychopathie, beispielsweise die Self-Report Psychopathy scale (SRP, Paulhus et al., 2014). Diese basiert auf der Psychopathy Check-List (Hare, 1991), dem Goldstandard für klinische Psychopathie. Die 64 Items lassen sich in vier Faktoren unterteilen: unbeständiger Lebensstil (bspw. «I enjoy taking risk»), interpersonelle Manipulationen (bspw. «It’s fun to see how far you can push people before they get angry»), gleichgültiger Affekt (bspw. «I am often rude to people») und kriminelle Tendenzen (bspw. «I avoid paying for things, such as movies, bus or train») (Muris et al., 2017). Zudem gibt es Fragebögen, wie die Dirty Dozen (DD, Jonason & Webster, 2010), die alle drei Merkmale der Dark Triad erfassen. Die psychometrischen Eigenschaften der Dirty Dozen sind jedoch sehr umstritten (Jonason & Webster, 2010; Lee et al., 2013). Vorgeworfen wird der Skala unter anderem, dass sie durch repetitive Formulierungen künstlich die Reliabilität erhöht (Credé et al., 2012) und dass die Korrelationen zwischen den einzelnen Persönlichkeitseigenschaften zu hoch sind (Jonason & Webster, 2010). Die Short Dark Triad (SD3, Paulhus & Jones, 2015) wird im Allgemeinen besser bewertet, jedoch scheinen auch hier noch weitere Untersuchungen nötig zu sein (Furnham et al., 2014). Ein mögliches Problem der SD3 ist, dass sich die Items für Psychopathie auf Verhalten fokussieren (bspw. «I’ll say anything to get what I want», Jones & Paulhus, 2015, p. 569)), während die Items für Machiavellismus Einstellungen erheben («Most people can be manipulated», Jones & Paulhus, 2015, p. 569). Diese Trennung zwischen Verhalten und Einstellung der beiden Merkmale ist jedoch frei von der theoretischen Grundlage.
Ein anderes Übel: Machiavellismus
Machiavellismus ist wie die Psychopathie durch eine antagonistische Persönlichkeit und durch Manipulationen, Gefühlskälte und Egoismus gekennzeichnet (Furnham et al., 2013; Jones & Figueredo, 2013). Doch während Psychopathie durch klinische Beobachtungen entwickelt wurde, stammt Machiavellismus von einer historischen Figur und dessen Buch ab. Niccolo Machiavelli schrieb das Buch «Der Fürst», in dem Ratschläge erteilt werden, wie man durch Manipulationen Macht gewinnen und erhalten kann. Aussagen wie «When they believe no longer, it may be possible to make them believe by force» (Machiavelli, 2001, p. 30) oder «It is much safer to be feared than loved, when, of the two, either must be dispensed with» (Machiavelli, 2001, p. 66) zeigen den manipulativen Führungsstil auf, den Machiavelli vorschlägt. Die kalten, explorativen und manipulativen Aussagen des Buchs wiederspiegeln die Charakteristika des Machiavellismus (Glenn & Sellbom, 2015). Personen mit Machiavellismus sind unaufrichtig und beuten andere Menschen für ihren eigenen Gewinn aus (Christie & Geis, 1970). Dabei können sie ihre Impulse kontrollieren und besitzen einen langfristigen Fokus (Jones & Paulhus, 2009; Rauthmann, 2011). Sie sind vorsichtig und kontrolliert (Jones & Paulhus, 2009). Zudem sind sie in ihrem Verhalten flexibel (Bereczkei, 2015), können sich also an neue Umstände gut anpassen. Auch sie haben psychopathische Züge (Muris et al., 2017) und Probleme mit Gewalt, Aggressionen und kriminellen Tendenzen (DeLisi, 2009). Im Arbeitskontext zeigt eine Person mit Machiavellismus einen autoritären und missbräuchlichen Führungsstil (Kiazad et al., 2010). Dabei zeigen sie einen weichen Manipulationsstil, und Counterproductive workplace behaviour (Jonason et al., 2012). In anderen Worten: Machiavellismus ist ein weiteres Übel.
«The close relation between Machiavellianism and psychopathy is not surprising given that both traits are indicative of malicious interpersonal behaviour»
Muris et al., 2017, p. 188
Es gibt unzählige Fragebögen, die Machiavellismus erfassen. Ein Beispiel dafür ist die MACH-V scale (Christie & Geis, 1970). Die 20 Items erfassen drei Faktoren: manipulative Taktiken («It is wise to flatter important people»), zynische Sicht auf die menschliche Natur («Anyone who completely trusts anyone is asking for trouble») und Missachtung konventioneller moralischer Ansichten («Sometimes one should take action even when one knows that it is not morally right»). Die Validität der MACH-V scale hängt generell von der Korrelation mit den Subskalen der Short Dark Triad und der Dirty Dozen ab (Christie & Geis, 1970).
Viele, viele Gemeinsamkeiten
Beim Lesen der Zusammenfassungen der beiden Persönlichkeitsmerkmale mögen bereits einigen die vielen Gemeinsamkeiten der Beiden aufgefallen sein. Kein Wunder also, dass die beiden Merkmale in vielen Studien hoch miteinander korrelieren (Muris et al., 2017; O’Boyle et al., 2015; Vize et al., 2018). Machiavellismus korreliert auch mit den Subfaktoren von Psychopathie (Jakobwitz & Egan, 2006; McHoskey et al., 1998). Im Allgemeinen zeigte eine Faktorenanalyse, dass alle drei Merkmale der Dark Triad mit einem einzigen Faktor korrelieren (Hodson et al., 2009; Jonason & Webster, 2010). Insgesamt gibt es jedoch grosse Unterschiede zwischen den Studien, basierend auf den verschiedenen Messmethoden und Probanden, die verwendet wurden (Furnham et al., 2014). Vor allem scheinen die Fragebögen ein Problem darzustellen: einige inkludieren fälschlicherweise Aspekte des anderen Merkmals oder Fragebögen für Psychopathie und Machiavellismus beinhalten fast identische Items (Glenn & Sellbom, 2015; Kavish et al., 2019). Neben den Methoden überlappen auch die Konzepte der beiden Persönlichkeitsmerkmale (Paulhus & Williams, 2002; Vize et al., 2018). Dies könnte das Produkt der Forschung sein, die sich jeweils nur auf ein Merkmal fokussiert und dieses expandieren, ohne dabei auf andere Merkmale Rücksicht zu nehmen (Jones & Paulhus, 2011a). Den beiden Autorinnen dieses Artikels ist zudem aufgefallen, dass in den unterschiedlichen Studien zu Psychopathie und Machiavellismus nie eine standardisierte Definition für die Merkmale verwendet wurde. Dies erschwert vermutlich eine klare Abgrenzung und einen wissenschaftlichen Diskurs noch zusätzlich.
Wieso gibt es Psychopathie?
Es mag einem schleierhaft vorkommen, wie es möglich ist, dass sich die Psychopathie in der Natur durchsetzen konnte. Schliesslich scheinen psychopathische Personen ihrem Umfeld nur zu schaden (Paulhus & Williams, 2002). Doch eine evolutionäre Sicht bietet eine mögliche Erklärung. Es wird vorgeschlagen, dass Psychopathie einen Überlebens- und Reproduktionsvorteil schafft (Krupp et al., 2013). Die Personen würden eine cheater strategy benutzen, in dem sie andere Individuen ausnutzen (Hare, 1996). Der Erfolg dieser Strategie hängt jedoch von der Häufigkeit des Merkmals ab (Walker & Jackson, 2017). Nur wenn wenige Personen sie benutzen, ist sie erfolgreich. Der Grund dafür ist, dass die Strategie von der Gutmütigkeit der Mehrheit anderer Personen abhängt, welche psychopathische Personen nicht besitzen (Walker & Jackson, 2017). Wenn zu viele Menschen Psychopathie aufweisen würden, gäbe es niemanden zum Ausnutzen.
Es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen Psychopathie und Machiavellismus. Beide Persönlichkeitsmerkmale beinhalten substantielle, genetische Komponenten (Petrides et al., 2011; Vernon et al., 2008; Veselka et al., 2011) und treten häufiger bei Männern als bei Frauen auf (Cale & Lilienfeld, 2002). Beide stehen in Verbindung zu moralischen Problemen und antisozialen Taktiken (Muris et al., 2017), wie auch zu emotionalen und empathischen Defiziten (Ali et al., 2009; Andrew et al., 2008; Barlow et al., 2010). Neben zahlreichen weiteren gemeinsamen Korrelationen, zeichnen sich die Merkmale auch durch ein ähnliches Profil in anderen Persönlichkeitstheorien wie dem Five Factor Model (Paulhus & Williams, 2002), dem HEXACO Model (Spain et al., 2014) und dem Interpersonal Circumplex Model (Jones & Paulhus, 2011a) aus.
Es wird in verschiedenen Quellen diskutiert, ob Psychopathie und Machiavellismus nicht denselben Kern beinhalten. Jedoch herrscht nach wie vor Uneinigkeit, was dieser Kern sein sollte. Vorgeschlagen wird Kaltherzigkeit und Manipulation (Jones & Figueredo, 2013), Böswilligkeit (Muris et al., 2017) oder das Fehlen von Empathie (Wai & Tiliopoulos, 2012). Andere behaupten, dass Psychopathie und Machiavellismus dasselbe sind (Miller et al., 2017). Wiederum andere vermuten eine hierarchische Struktur, wobei Machiavellismus eine Untereigenschaft wäre (Glenn & Sellbom, 2015) oder Psychopathie den dominanten Faktor darstellt (Muris et al., 2017). Andere vermuten, dass Machiavellismus als sekundäre Psychopathie gehandhabt werden sollte (Glenn & Sellbom, 2015; Vize et al., 2018).
Drei grosse Unterschiede
Trotz all dieser Gemeinsamkeiten gibt es auch ein paar Unterschiede. Insbesondere lassen sich drei Unterschiedlichkeiten vermerken: Impulsivität, Verhaltensflexibilität und Zeitorientierung. Während psychopathische Menschen sehr impulsiv sind und somit auch Defizite in der Selbstkontrolle aufweisen (Hare, 1991; Jones & Paulhus, 2011b), besitzen Personen mit Machiavellismus eine Impulskontrolle (Jones & Paulhus, 2009). Generell sind Individuen mit Psychopathie dysfunktional impulsiv – das heisst, sie besitzen die Fähigkeit in Situationen schnell zu reagieren, in denen es nicht von Vorteil ist (Dickman, 1990). Damit in Zusammenhang stehen auch schlechte Selbstkontrolle, Rücksichtslosigkeit und Defizite in Vermeidungsorientierung (Brunas-Wagstaff et al., 1995). Der Link zwischen Psychopathie und Impulsivität lässt sich auch anhand des Behavioral Inhibition System (BIS) und Behavioral Activation System (BAS) aufzeigen. Das BIS kennzeichnet sich durch eine Sensitivität für Bestrafungen und Neuheiten, während das BAS eine Sensitivität und Strebung nach Belohnung beinhaltet (Gray, 1982). Psychopathie ist assoziiert mit einer niedrigeren Sensitivität für Bestrafung und einem höheren Fokus auf Belohnung (Carver & White, 1994). Dahingegen korreliert Machiavellismus entweder mit keinem der beiden Systeme (Neria et al., 2016), nur mit dem BIS (Jonason & Jackson, 2016) oder nur mit dem BAS (Stenason & Vernon, 2016) . Dadurch, dass Personen mit Machiavellismus sensitiver auf Bestrafungen sind, lässt sich eine Erklärung für den Unterschied zur Impulsivität erahnen.
Der zweite Unterschied, die Verhaltensflexibilität, beinhaltet erneut ein Defizit auf Seiten der Psychopathie. Personen mit Psychopathie fehlt diese Flexibilität und sie besitzen einen kurzsichtigen Fokus (Bereczkei, 2015). Individuen mit Machiavellismus können ihr Verhalten verändern, so dass sie sich an externale Faktoren anpassen. Dadurch können sie allfällige Bestrafungen oder Belohnungen in ihre Entscheidungsfindung miteinbeziehen (Bereczkei, 2015). Mehrere Studien belegen, dass die Versuchspersonen mit hohen Werten in Machiavellismus sich nur dann egoistisch verhalten, wenn sie wissen, dass sie für ihr Verhalten nicht bestraft werden können (Bereczkei, 2015; Spitzer et al., 2007). Sobald diese Garantie nicht mehr gewährleistet wurde, verhielten sie sich nicht länger egoistisch. Gleichzeitig verhielten sich dieselben Personen prosozial, falls es mit ihren persönlichen Zielen übereinstimmte (Spitzer et al., 2007). In anderen Studien konnte das Fehlen von Verhaltensflexibilität bei psychopathischen Personen durch die Assoziation mit passivem Vermeidungslernen aufgezeigt werden. Menschen mit Psychopathie verfolgten weiterhin ihr Ziel, auch wenn es Hinweise für eine allfällige Bestrafung gab (Smith & Lilienfeld, 2015). In älteren Studien wurden ähnliche Ergebnisse gefunden (Lykken, 1957; Newman & Kosson, 1986).
«Overall, despite some differences in the theoretical descriptions of psychopathy and Machiavellianism, relatively few empirical differences have emerged. »
Miller et al., 2017, p. 440
Beide dieser Unterschiede, Impulsivität und Verhaltensflexibilität, stehen in Zusammenhang mit der letzten Unterscheidung: der Zeitorientierung. Während psychopathische Personen kurzzeitige Orientierung aufweisen, fokussieren sich Personen mit Machiavellismus auch auf langzeitige Ziele (Jones & Paulhus, 2011b).
Ein paar weitere Unterschiede lassen sich erwähnen. Psychopathie und Machiavellismus korrelieren mit unterschiedlichen Arten der Manipulation. Während Psychopathie mit harten Manipulationstaktiken, wie beispielsweise Drohungen, in Verbindung steht, ist Machiavellismus mit weichen Manipulationen, wie das Anbieten von Gefälligkeiten, assoziiert (Jonason et al., 2012). Des weiteren spannen psychopathische Individuen eher jemand anderem den*die Partner*in aus, werden aber auch öfters für andere Personen verlassen (Jonason et al., 2010). Machiavellismus hingegen ist assoziiert mit einem vermeidenden Bindungsstil (Ináncsi et al., 2015). Personen mit Machiavellismus sind dadurch eher distanziert gegenüber anderen Personen und vermeiden emotionale Verpflichtungen (Christie & Geis, 1970) im Vergleich zu Menschen ohne Machiavellismus. Dadurch formen sie strategische Allianzen und versuchen einen positiven Ruf zu wahren (Jones & Paulhus, 2011b). Psychopathische Personen hingegen sind durch ihre Impulsivität leichtfertiger darin andere zu verlassen und achten nicht auf ihren Ruf (Hare & Neumann, 2008).
Kein Ende in Sicht?
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Psychopathie und Machiavellismus sind also mannigfaltig. Hinzu kommt, dass die beiden Persönlichkeitsmerkmale in unterschiedlichen Kontexten untersucht werden. Psychopathie findet man oft in klinischen Studien wieder (Miller et al., 2017), während Machiavellismus oft in der Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie oder in der Arbeits- und Organisationspsychologie studiert wird (D’Souza & Jones, 2017). Das macht freilich ein abschliessendes Urteil, ob die beiden Merkmale zwei distinkte Konstrukte oder doch nur ein Persönlichkeitsmuster sind, nicht einfacher. Hinzu kommen die methodischen Mängel. Das Fehlen von standarisierten Definitionen und die oftmals ungenügenden psychometrischen Werte der Instrumente (Miller et al., 2017) lassen kaum ein Ende der Diskussion in Sicht kommen. Vorerst mögen die Unterschiede zwischen Psychopathie und Machiavellismus ausreichen, um von zwei distinkten Persönlichkeitsmerkmalen auszugehen.
Zum Weiterlesen
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