Zum Inhalt springen

Beiträge aus der Kategorie ‘HS22’

Projekt Gehirn

Gehirnentwicklung bei Teenagern – oder was sie so besonders macht

«Was gibt’s Neues?» Wohl jeder Teenager hört diese Frage täglich. Die Antwort kommt trotzig und kurz angebunden: «Nichts». Die Atmosphäre beim Abendessen? Zerstört. Launische und impulsive Reaktionen sind Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens – doch was passiert während der Pubertät im Gehirn eigentlich genau?

Von Stéphanie Loeffel
Lektoriert von Norzin Bhusetshang und Noomi Heilmann
Illustriert von Stéphanie Loeffel und Yannick Albrecht

Die Adoleszenz ist eine Zeit enormer Veränderungen, voller Risiken und Chancen, neuer Eindrücke und Erfahrungen. Während die Pubertät für die primär biologische Entwicklung steht, die weitgehend genetisch determiniert ist und mit der Erreichung der Geschlechtsreife abgeschlossen ist, ist die Adoleszenz mit Erlangen der Geschlechtsreife noch nicht beendet (Lohaus, 2018). Zu der Adoleszenz gehören neben körperlichen Veränderungen auch die Identitätsfindung, eine Integration in Gesellschaft und Kultur und eine allgemeine psychosoziale Entwicklung. Mit einer abgeschlossenen Hirnreifung gilt die Adoleszenz als beendet. Interessanterweise ist dies nur beim Menschen der Fall; bei anderen Spezies ist die Hirnentwicklung bereits gleichzeitig zum Erlangen der sexuellen Reife abgeschlossen, also in der Entwicklung deutlich früher als beim Menschen (Lohaus, 2018). Dieser Umstand verdeutlicht die Bedeutung der Gehirnentwicklung beim Menschen und deutet darauf hin, dass sich ein Jugendlicher bis zum Ende der Adoleszenz einigen Veränderungen stellen muss, wobei die Umstrukturierung des Gehirns mit verschiedensten Verhaltensweisen einhergeht, die auch für das Individuum selbst sehr verwirrend sein können. Denn mit dieser Entwicklung ist es dem Menschen möglich, sich von seinen Wurzeln zu lösen und die Welt selbst zu erkunden.

Körperliche Veränderungen

Um die Entwicklung im Gehirn besser zu verstehen, müssen zuerst die zahlreichen Veränderungen im Körper während der Pubertät betrachtet werden. Von zentraler Bedeutung ist hier das Hypothalamus-Hypophysen-System, ein Zusammenspiel im zentralen Nervensystem, das mehrere Kaskaden von Hormonen auslösen kann (Pinel, Barnes & Pauli, 2019). Der Hypothalamus liegt im Zwischenhirn und steuert zusammen mit der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, die Sekretion verschiedener Hormone. Durch die Sekretion von sogenannten Gonadotropin-Releasing Hormones (GnRH) des Hypothalamus zu Beginn der Pubertät wird die Hypophyse dazu angeregt, Gonadotropine, also Sexualhormone, auszuschütten. Somit werden ab einem Alter von etwa zwölf bis dreizehn Jahren vermehrt Testosteron, Östrogen und Gestagen ausgeschüttet, die bei den Jugendlichen geschlechtstypische körperliche und auch psychische Veränderungen auslösen (Schneider, Jacobi & Thyen, 2020). Eine bekannte Entwicklung bei Jugendlichen ist auch die Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus. Eine im Tagesablauf verspätete Ausschüttung des Hormons Melatonin, das den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, führt dazu, dass Jugendliche später müde werden und somit auch verspätet einschlafen (Lohaus, 2018). Die Konsequenz: Morgenmüdigkeit – und ein Grund, warum Teenager am Morgen gereizt sein können. Mit diesen Veränderungen sind nur einige Komponenten kurz umschrieben. Aber während der Adoleszenz ändert sich alles, das gesamte Selbstkonzept wird über den Haufen geworfen und neu arrangiert. Diejenigen, die noch nicht allzu weit davon entfernt sind, wissen wahrscheinlich noch ungefähr, wie es sich angefühlt hat – nach Chaos. 

«Die Entwicklung des Gehirns erinnert während der Pubertät an eine Großbaustelle.»

Markus C. Schulte von Drach, 2018

Strukturelle Veränderungen im jugendlichen Gehirn  

Nicht unabhängig von hormonellen Veränderungen geschehen während der Adoleszenz auch neuroanatomische Umstrukturierungen. Grob können die neuronalen Prozesse in dieser Zeit in zwei Klassen aufgeteilt werden: die Entwicklung der grauen und der weissen Substanz.

Im Gehirn eines Jugendlichen findet sich ein Anstieg des Volumens der weissen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz (Mills et al., 2016). Der grundlegende Prozess dahinter besteht in der sogenannten Myelinisierung der Axone von Neuronen. Neurone sind Nervenzellen, die untereinander über Synapsen kommunizieren. Dabei wird die Infor-mation über das Axon an das nächste Neuron weitergeleitet. Diese Axone werden nun bereits ab der Geburt, im Laufe der Kindheit und bis zum Ende der Adoleszenz von einer Fettschicht ummantelt, wodurch sie isoliert werden und die Informationsweiterleitung stark beschleunigt wird. Diese Fettschicht, das Myelin, lässt sich unter der sogenannten weissen Substanz zusammenfassen. Der Prozess der Myelinisierung findet aber während unterschiedlichen Zeitpunkten statt, je nachdem welche Region des Gehirns betrachtet wird. Sie beginnt im Innersten des Gehirns, im Hirnstamm, und wandert dann immer weiter Richtung Cortex, von innen nach aussen (Siegler et al., 2016). Als letztes reift also – wir erahnen es – der Frontalcortex, jener Teilbereich des Gehirns, der insbesondere in Kontrollprozesse, Planung und exekutive Funktionen eingebunden ist.

Gleichzeitig spielt die zweite Klasse der Veränderung eine grosse Rolle: Der Abbau der grauen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz. Als graue Substanz werden die Zellkörper der Axone bezeichnet, unter anderem auch die Synapsen. Das Volumen der grauen Substanz ist in der Kindheit am höchsten, nimmt dann in der Adoleszenz ab und stabilisiert sich in den Zwanzigern (Mills et al., 2016). Dieser Prozess wird auch Pruning genannt und beschreibt den Abbau derjenigen Synapsen, die weniger genutzt werden und auf die das Gehirn verzichten kann (Kandel, 2018). Dies ist nicht im Sinne eines Verlusts zu betrachten, sondern stellt eine Verbesserung von bereits existierenden Netzwerken dar. Diejenigen Verbindungen, die häufig genutzt werden, verstärken sich und die wenig gebrauchten werden nach dem Prinzip «use it or lose it» abgebaut. So kann sich das jugendliche Gehirn bestens in Abhängigkeit seiner Umwelt formen und weiterentwickeln. Die späteste Stabilisation zeigt sich auch hier unter anderem im Präfrontalcortex (Keshavan et al., 2014), wobei dessen Teilbereiche entscheidend sind für die Aufmerksamkeitslenkung, Impulskontrolle, das Einschätzen von Konsequenzen und das Setzen von Prioritäten (Siegler et al., 2016).

Durch das Zusammenspiel der Veränderungen der grauen und weissen Substanz lassen sich möglicherweise einige typische Verhaltensweisen von Jugendlichen erklären. Teilweise wirken Teenager uneinsichtiger, impulsiver und verständnisloser als Kleinkinder. Dieser nichtlineare Verlauf der Entwicklung kann dadurch erklärt werden, dass die verschiedenen Hirnregionen während der Adoleszenz unterschiedliche Reifegrade aufweisen. Zum Beispiel reift das limbische System, welches unter anderem mit der Amygdala und dem Nucleus accumbens von zentraler Bedeutung für Emotions- und Belohnungsverarbeitung ist (Galván, 2021), früher als der Frontalcortex. Dieser würde jedoch die zentrale Rolle der Kontrolle und Planung einbringen (Casey et al., 2019). Die unterschiedlich schnelle Entwicklung dieser zentralen Hirnsysteme könnte erklären, weshalb Jugendliche gerade bei emotionalen Sachverhalten risikofreudig und scheinbar unbedacht handeln können. In diesem Alter verfügen sie über ein weitgehend ausgeprägtes Belohnungssystem und jagen somit dem Dopamin förmlich hinterher. Gleichzeitig fehlt jedoch die Rolle der Planung, Kontrolle und Risikoeinschätzung von Seiten des Frontalcortex, da hier die zwei genannten Prozesse – Abbau der grauen und Aufbau der weissen Substanz – als letztes abgeschlossen sind. Hier sei erwähnt, dass der Höhepunkt des Volumens der grauen Substanz bei Frauen im Vergleich zu Männern früher erreicht ist, was zu einer unterschiedlich schnellen Gehirnentwicklung zwischen den Geschlechtern führt (Vijayakumar et al., 2018).

«Adolescence is a developmental window ripe with opportunity and creativity.»

Galván, 2021, p. 843

Plastizität als Chance

Obwohl die Adoleszenz von sowohl dem Individuum als auch dem Umfeld als sehr anstrengende und stressige Zeit erlebt wird, sollte gelegentlich ein Perspektivenwechsel stattfinden. Lange wurde die Gehirnentwicklung in der Adoleszenz auch in der Wissenschaft von einer negativen Seite beleuchtet (Galván, 2021). Die Forschung fokussierte sich darauf, die impulsiven und launischen Reaktionen zu erklären, die trotzigen Antworten und das problematische Verhalten zu relativieren und das Chaos der Pubertät darzustellen. Doch lässt sich die gesamte Entwicklung auch von einer ganz anderen Seite betrachten: Die Plastizität des Gehirns in dieser Zeit ist enorm. Die Möglichkeiten, sich in Abhängigkeit von Erfahrung weiterzubilden und zu lernen, Eindrücke der Umwelt aufzunehmen und zu integrieren sind während der Adoleszenz riesig, da das Gehirn noch sehr wandelbar ist.

Die neuronale Plastizität ist etwa bis zum sechzehnten Lebensjahr am stärksten ausgeprägt (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021), bleibt aber während des gesamten Lebens bestehen. Vom Beginn der Pubertät bis Mitte Zwanzig zeigt das Gehirn eine aussergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, was als enorme Chance zu betrachten ist (Galván, 2021).

Genaueres zur Plastizität

Die Plastizität des Gehirns ist die «Fähigkeit des Gehirns, sich zu reorganisieren» (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021, S. 279). Es gibt mehrere Formen der Plastizität. Die funktionelle Plastizität beschreibt, wie sich die Reaktion des Gehirns auf gewisse Stimuli in Abhängigkeit von Erfahrung verändert. Dabei können stärkere oder schwächere Aktivierungen in betroffenen Hirngebieten die Folge sein, zum Beispiel wenn ein Experte für die gleiche Aufgabe weniger Hirnleistung braucht als ein Laie (Jäncke, 2013). Dagegen versteht man unter der strukturellen Plastizität, wie sich die effektive Struktur des Gehirns als Resultat von dem, was wir sehen und erleben, verändern kann. Darunter fallen Veränderungen in der grauen und weissen Substanz, also zum Beispiel, wenn sich neue Synapsen an den Nervenzellen bilden. Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist aussergewöhnlich und ermöglicht uns lebenslanges Lernen.

Was das für Eltern bedeutet

Wie kann man nun diesen Veränderungen und deren Konsequenzen zum Beispiel als Eltern begegnen? Um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen: Was sagen wir nun am besten, damit wir wenigstens ein bisschen am Leben der Jugendlichen teilnehmen können? In der Literatur existieren einige Tipps, die ein solches Gespräch erleichtern können. Einer davon: Zuhören. Klingt einleuchtend, aber es steckt so einiges dahinter. Jugendliche äussern oft das Gefühl, nicht richtig verstanden zu werden und fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten alleine (Lohaus, Fridrici & Domsch, 2017). Das letzte, was ein Teenager dann von Elternseite hören will: «Klar, das war bei mir in der Pubertät auch so!» Unerwünscht sind voreilige Lösungsvorschläge und unbedachte Äusserungen. Lieber – ganz im Sinne von «weniger ist mehr» – zuhören und Empathie zeigen. Als weiteren Punkt beim Thema Gespräche führen nennen Lohaus, Fridrici und Domsch (2017) sogenannte «Türöffner» und «Türschliesser». Jugendliche sind manchmal schon beim Gesprächsbeginn darauf aus, die Fragen möglichst schnell zu beantworten, damit sie danach in Ruhe gelassen werden. Vermeiden Sie also einfache Fragen, die mit einem Wort beantwortet werden können. Besser sind «Türöffner»: Offene Fragen stellen, die Interesse bekunden und den Teenagern zeigen, dass tatsächlich nach einer Meinung gefragt wird, z.B. «Wie hast du das gelöst?». Mit diesen Tipps gibt es eine Chance auf ein Gespräch. Wichtig ist nach wie vor, dass die Jugendlichen die Präsenz der Familie spüren (Kattan, 2020), trotz allem, was gerade in ihren Köpfen vorgeht. Und es hat etwas Beruhigendes, zu wissen, dass der Frontalcortex letztlich reifen wird. Und vielleicht können am Ende der Adoleszenz beide Seiten, Eltern und Heranwachsende, gemeinsam auf gewisse Verhaltensweisen zurückschauen und darüber lachen.


Zum Weiterlesen

Casey, B. J., Heller, A. S., Gee, D. G., & Cohen, A. O. (2019). Development of the emotional brain. Neuroscience Letters, 693, 29–34. https://doi.org/10.1016/j.neulet.2017.11.055

Galván, A. (2021). Adolescent brain development and contextual influences: A decade in review. Journal of Research on Adolescence, 31(4), 843–869. https://doi.org/10.1111/jora.12687

Lohaus, A. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1

Literatur

Casey, B. J., Heller, A. S., Gee, D. G., & Cohen, A. O. (2019). Development of the emotional brain. Neuroscience Letters, 693, 29–34. https://doi.org/10.1016/j.neulet.2017.11.055

Drach, M. C. S. von. (2018, Januar 10). Pubertät Großbaustelle Gehirn. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/wissen/pubertaet-grossbaustelle-gehirn-1.1833081

Galván, A. (2021). Adolescent brain development and contextual influences: A decade in review. Journal of Research on Adolescence, 31(4), 843–869. https://doi.org/10.1111/jora.12687

Jäncke, L. (2013). Lehrbuch kognitive Neurowissenschaften (1. Aufl). Huber.

Kandel, E. R. (2018). The disordered mind: What unusual brains tell us about ourselves (First edition). Farrar, Straus and Giroux.

Kattan, C. (2020). Durch die Pubertät von A bis Z: Wie Sie Ihr Kind bestmöglich begleiten und unterstützen. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28133-5

Keshavan, M. S., Giedd, J., Lau, J. Y. F., Lewis, D. A., & Paus, T. (2014). Changes in the adolescent brain and the pathophysiology of psychotic disorders. The Lancet Psychiatry, 1(7), 549–558. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(14)00081-9

Lohaus, A. (Ed.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1

Lohaus, A., Fridrici, M., & Domsch, H. (2017). Jugendliche im Stress. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-52861-7

Mills, K. L., Goddings, A.-L., Herting, M. M., Meuwese, R., Blakemore, S.-J., Crone, E. A., Dahl, R. E., Güroğlu, B., Raznahan, A., Sowell, E. R., & Tamnes, C. K. (2016). Structural brain development between childhood and adulthood: Convergence across four longitudinal samples. Neuroimage, 141, 273–281. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2016.07.044

Pinel, J. P. J., Barnes, S. J., & Pauli, P. (2019). Biopsychologie (10., aktualisierte und erweiterte Auflage). Pearson.

Schloffer, H., Prang, E., & Frick-Salzmann, A. (Hrsg.). (2021). Gedächtnistraining: Theoretische und praktische Grundlagen. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62300-8

Schneider, H. J., Jacobi, N., & Thyen, J. (2020). Hormone – ihr Einfluss auf mein Leben: Wie kleine Moleküle Liebe, Gewicht, Stimmung und vieles mehr steuern. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58978-6

Siegler, R., Eisenberg, N., DeLoache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (S. Pauen, Hrsg.). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47028-2

Vijayakumar, N., Op de Macks, Z., Shirtcliff, E. A., & Pfeifer, J. H. (2018). Puberty and the human brain: Insights into adolescent development. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 92, 417–436. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2018.06.004

Was denkt sich der Affe?

Von der Sprache und der Intelligenz der Primaten

Affen sind die nächsten Verwandten des Menschen und doch unterscheiden sich die Methoden der Kommunikation beträchtlich. Ob sich diese Unterschiede auch im Denken widerspiegeln, ist wegen der Sprachbarriere schwer festzustellen. Dank der Findigkeit des Menschengibt es dennoch einige Kenntnisse dazu.

Von Lea Frischknecht
Lektoriert von Niko Läderach und Michelle Regli
Illustriert von Lea Frischknecht

Mit den frontal ausgerichteten Augen erinnert das Gesicht eines Affen unweigerlich an das eines Menschen. Auch seine Hände, mit denen er seine Familienmitglieder laust oder sich durch die Äste schwingt, ähneln stark den Händen, die über Computertastaturen huschen oder nach einem Treppengeländer greifen. Diese äußerliche Verwandtschaft legt die Vermutung nahe, dass auch kognitive Ähnlichkeiten zum Menschen vorhanden sind. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden alle nichtmenschlichen Primaten als Affen bezeichnet, obwohl sie nur eine Untereinheit der Primaten ausmachen. Einfachheitshalber wird das auch in diesem Artikel so übernommen.

Die Kommunikationsweisen der Affen

Eine Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Kognitionen der Affen zu ziehen, bietet ihre verbale Kommunikation. Diese unterscheidet sich maßgeblich von der menschlichen Sprache und lange Zeit gingen die Forschenden davon aus, dass es den Tieren schon aufgrund ihrer vokalen Anatomie nicht möglich sei, eine derart komplexe Sprache zu benutzen (Bergman et al., 2019). Neuere Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass zumindest einige Primaten, darunter der Rhesusaffe und der Guinea-Pavian, einen sprechfähigen Vokaltrakt besitzen. Insgesamt bedienten sich Primaten trotzdem eines weniger breiten Spektrums an Sprachlauten als der Mensch und nutzten nur einen Bruchteil ihrer Laute, um Lautkombinationen herzustellen (Bergman et al., 2019). Ob neben dem Menschen auch andere Primaten beim Lautkombinieren Regeln anwenden, die einer Syntax ähneln, ist bisher noch nicht vollständig geklärt (Bergman et al., 2019), jedoch konnten Rhesusaffen in einem Experiment statistische Regeln für Reihenfolgen von bis zu acht visuellen Reizen lernen (Heimbauer et al., 2018). Bei Menschen wird diese Fähigkeit für die Syntax und Grammatik der Sprache verwendet und auch Schimpansen kombinierten Rufe, um sowohl über ihre Identität und als auch das Vorhandensein von Futter zu informieren (Leroux et al., 2021).

Affenrechte

Das Great Ape Projekt (GAP) hat zum Ziel, den vier Menschenaffenarten Schimpanse, Bonobos, Gorilla und Orang-Utan das Recht des Lebens und der Freiheit zu verschaffen (Glendinning, 2008). Erste Erfolge wurden in Spanien erreicht, wo seit 2008 keine Versuche mehr an diesen Affenarten durchgeführt werden dürfen (Glendinning, 2008) In Argentinien wurde in einem Gerichtsprozess dem Orang-Utan-Weibchen Sandra das Recht auf bessere Lebensbedingungen zugesprochen (Espanol, 2015). 

Früher galt die Vokalisation der nichtmenschlichen Primaten als angeboren und unflexibel. Dagegen spricht, dass sich bei den jungen Weißbüschelaffen wie bei menschlichen Babys eine Art Brabbeln zeigte (Gultekin & Hage, 2017). Um das erwachsene Rufverhalten zu entwickeln, brauchten sie die Kommunikation mit älteren Tieren. Die richtigen Rufe mussten zumindest teilweise gelernt werden und waren nicht komplett angeboren (Gultekin & Hage, 2017). Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass die soziale und ökologische Umwelt einen Einfluss auf die Verwendung von Lauten haben kann (Cattaneo, 2019) und die Menschenaffen teilweise sogar dazu fähig waren, neue artuntypische Laute zu lernen (Bergman et al., 2019).

Andererseits schienen die Affen im Vergleich zu Menschen wenig bis keine Motivation zu verspüren, Informationen mit ihren Artgenossen zu teilen, die ihnen selbst keinen direkten Vorteil bringen (Burkart et al., 2018). Eine Ausnahme bildeten verschiedene Arten der Krallenaffen, die einen regen Informationsaustausch betrieben und bereitwillig die anderen Tiere ihrer Gruppe über eine Nahrungsquelle informierten, um mit ihnen zu teilen, ohne einen direkten Nutzen für sich selbst daraus zu ziehen.

Gestik, beim Menschen ein sehr wichtiger Bestandteil der Kommunikation, wurde auch bei Affen beobachtet. Erwachsene Schimpansen und ein- bis zweijährige Kinder zeigten bei der Verwendung von absichtlichen Gesten eine Übereinstimmung von fast 90% (Kersken et al., 2019). Die jungen Schimpansen benutzten Gesten am häufigsten beim sozialen Spielen, erwachsene Schimpansen zusätzlich beim Reisen, bei der Fellpflege und bei der Brautwerbung (Kersken et al., 2019).

Die kognitiven Fähigkeiten der Affen

«After decades of research, it remains controversial whether any nonhuman species possess a theory of mind.»

Kano, 2019, S.1

Unter Theory of Mind (ToM) wird das Vermögen verstanden, mithilfe von Kenntnissen über die Absichten, Bedürfnisse und Überzeugungen eines anderen Individuums, dessen Verhalten vorherzusagen (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Eine wichtige Voraussetzung für ToM ist das Wissen, dass Lebewesen unterschiedliche mentale Repräsentationen der physikalischen Realität haben können (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Genau wie Menschen nehmen Primaten von physikalischen Objekten an, dass diese eine feste Existenz haben und sich nicht einfach in Luft auflösen (Drayton & Santos, 2018). Dieses Wissen schreiben sie auch ihren Artgenossen zu und erwarten z.B., dass diese sich an verstecktes Futter erinnern. Jedoch stoßen Primaten wohl an eine Grenze, wenn es darum geht, dass ihr Gegenüber eine falsche Vorstellung von einer Situation hat. Sieht ein Kind, wie Süßigkeiten von einer Dose in eine Schublade umgeräumt werden, kann es ab einem gewissen Alter schlussfolgern, dass sein Geschwister, das diesen Moment verschlafen hat, die Süßigkeiten trotzdem noch in der Dose suchen wird. Bei Affen dagegen ist die Befundlage nicht eindeutig. In vielen Experimenten hatten sie bei Aufgaben dieser Art Schwierigkeiten und schienen nicht vorhersagen zu können, wo eine Person in dieser Situation suchen wird (Drayton & Santos, 2018). Allerdings konnte in einem Experiment bei Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich der Entscheidung einer Person, die eine Veränderung der Position eines Objekts nicht mitbekommen hat, festgestellt werden (Kano et al., 2019).

Auch auf kognitive Flexibilität wurden Affen untersucht. Das Vermögen, bei einer Kartensortieraufgabe die Regeln zu wechseln, entwickelten Kinder mit drei Jahren, wenn die Regeln auf der gleichen Dimension bleiben, z.B.: vom Aussortieren blauer Figuren zum Aussortieren roter Figuren. Ab fünf Jahren konnten Kinder auch bei Metaregeln switchen, also zuerst Figuren nach Farben und danach nach Formen sortieren. Affen konnten beides, auch wenn ihnen das Switchen intradimensionaler Regeln leichter fiel (Fragaszy, 2022).  

Eine mentale Fähigkeit, die zuvor abgesehen vom Menschen erst bei einem einzigen  Graupapagei eindeutig festgestellt werden konnte, ist das Verstehen des Disjunktiven Syllogismus (Ferrigno et al., 2021). Wie bereits erwähnt, nehmen Primaten von realen Gegenständen an, dass diese eine feste Existenz haben und nicht einfach so verschwinden (Drayton & Santos, 2018). In einem Experiment wurden Paviane darauf getestet, ob sie schlussfolgern können, dass Futter, wenn es nicht im aufgedeckten Versteck ist, im einzigen anderen sein muss (Ferrigno et al., 2021). Drei der vier Paviane, die das Experiment durchführten, stellten sich dabei sehr gut an.

Charaktereigenschaften

Um die verschiedenen Primatenarten aufgrund ihrer Persönlichkeit zu vergleichen, wurden Fragebogen wie der Hominoid Personality Questionnaire (HPQ) (Wilson et al., 2018) entwickelt. Damit kann man den Primatenarten unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Beispielsweise erreichen vor allem Neuweltaffen und sozial lebende Menschenaffen hohe Werte in der Dimension Gewissenhaftigkeit (Wilson et al., 2018).

Dass, wie bei Menschen, nicht alle Affen einer Art die gleichen kognitiven Fähigkeiten haben, zeigte sich auch in einem anderen Experiment bei dem nicht alle Schimpansen einer gefangen gehaltenen Gruppe einen neuen, für die Art untypischen Laut lernen konnten (Bergman et al., 2019). Dabei besaßen diejenigen, die dazu fähig waren, einen größeren Anteil grauer Substanz in Bereichen des Frontallappens, die eine wichtige Rolle bei der willentlichen Sprachproduktion spielt (Bergman et al., 2019).

Schlussendlich lässt sich sagen, dass es noch ein weiter Weg ist, bis die kognitiven Fähigkeiten Affen vollständig erforscht sind. Ein wichtiger Bestandteil dieser Forschung wird sein, die Kommunikation und Sprache der Affen besser verstehen zu lernen.


Zum Weiterlesen

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Literatur

Bergman, T. J., Beehner, J. C., Painter, M. C., & Gustison, M. L. (2019). The speech-like properties of nonhuman primate vocalizations. Animal Behaviour, 151, 229–237. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2019.02.015

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Burkart, J., Guerreiro Martins, E., Miss, F., & Zürcher, Y. (2018). From sharing food to sharing information: Cooperative breeding and language evolution. Interaction Studies. Social Behaviour and Communication in Biological and Artificial Systems, 19(1–2), 136–150. https://doi.org/10.1075/is.17026.bur

Cattaneo, C. (2019). Internal and external barriers to energy efficiency: Which role for policy interventions? Energy Efficiency, 12(5), 1293–1311. https://doi.org/10.1007/s12053-019-09775-1

Drayton, L. A., & Santos, L. R. (2018). What do monkeys know about others’ knowledge? Cognition, 170, 201–208. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2017.10.004

Espanol, E. G., Special to CNN. (2015). Orangutan granted controlled freedom by Argentine court. CNN. Abgerufen 2. August 2022, von https://www.cnn.com/2014/12/23/world/americas/feat-orangutan-rights-ruling/index.html

Ferrigno, S., Huang, Y., & Cantlon, J. F. (2021). Reasoning Through the Disjunctive Syllogism in Monkeys. Psychological Science, 32(2), 292–300. https://doi.org/10.1177/0956797620971653

Fragaszy, D. M. (2022). Rules and metarules: Adult cotton-top tamarins (Saguinus oedipus) and 5-year-old children (Homo sapiens) can master both. Journal of Comparative Psychology. https://doi.org/10.1037/com0000324

Glendinning, L. (2008, Juni 26). Spanish parliament approves „human rights“ for apes. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2008/jun/26/humanrights.animalwelfare

Gultekin, Y. B., & Hage, S. R. (2017). Limiting parental feedback disrupts vocal development in marmoset monkeys. Nature Communications, 8(1), 14046. https://doi.org/10.1038/ncomms14046

Heimbauer, L. A., Conway, C. M., Christiansen, M. H., Beran, M. J., & Owren, M. J. (2018). Visual artificial grammar learning by rhesus macaques (Macaca mulatta): Exploring the role of grammar complexity and sequence length. Animal Cognition, 21(2), 267–284. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1164-4

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Kersken, V., Gómez, J.-C., Liszkowski, U., Soldati, A., & Hobaiter, C. (2019). A gestural repertoire of 1- to 2-year-old human children: In search of the ape gestures. Animal Cognition, 22(4), 577–595. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1213-z

Leroux, M., Bosshard, A. B., Chandia, B., Manser, A., Zuberbühler, K., & Townsend, S. W. (2021). Chimpanzees combine pant hoots with food calls into larger structures. Animal Behaviour, 179, 41–50. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2021.06.026

Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie. (2019). https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/theory-of-mind

Watzek, J., & Brosnan, S. F. (2018). (Ir)rational choices of humans, rhesus macaques, and capuchin monkeys in dynamic stochastic environments. Cognition, 178, 109–117. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2018.05.019

Wilson, V. A. D., Inoue-Murayama, M., & Weiss, A. (2018). A comparison of personality in the common and Bolivian squirrel monkey (Saimiri sciureus and Saimiri boliviensis). Journal of Comparative Psychology, 132(1), 24–39. https://doi.org/10.1037/com0000093

Muscle Dysmorphia

Wenn es keine realistische Selbstsicht mehr gibt

Muscle Dysmorphia ist eine Körperschemastörung, die häufig im Fitnesskontext auftritt und in den letzten Jahren besonders bei Männern vermehrt diagnostiziert wurde. Im Folgenden werden die Symptome, mögliche Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren sowie verschiedene Behandlungsmöglichkeiten der Störung beschrieben. 

Von Madita Schindler
Lektoriert von Arne Hansen und Julia Küher
Illustriert von Shaumya Sankar

Der Wunsch nach dem idealen Körper

In einer Gesellschaft, die nach dem perfekten Erscheinungsbild strebt, sei es mit Hilfe von Make-up, Schönheitschirurgie oder exzessivem Sport, wird einem athletischen Körper viel Bedeutung beigemessen. Die Mitgliedschaften im Gym steigen jährlich (Wienke, 2014). Die sozialen Medien sind voll von fitspirational quotes wie «the pain you feel today will be the strength you feel tomorrow». Doch gibt es auch ein Zuviel an Sport? In vereinzelten Fällen kann der Fitnesswahn ein wahrhaftiger Wahn sein.

«I don´t stop when I´m tired. I stop when I´m done.»

David Goggins, 2018

Wie äussert sich Muscle Dysmorphia?  

Body Dysmorphic Disorder (BDD) beschreibt eine psychische Erkrankung, die durch ein verzerrtes Selbstbild in Bezug auf den eigenen Körper und die ständige Beschäftigung mit meist eingebildeten Makeln charakterisiert werden kann. Im DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders) ist BDD in der Kategorie der «obsessive-compulsive disorders», also der Zwangsstörungen, klassifiziert. Zu den Symptomen gehören unter anderem die andauernde Beschäftigung mit eingebildeten oder in übertriebener Weise wahrgenommenen Makeln des eigenen Körpers und repetitive Verhaltensmuster wie ein zwanghafter Blick in den Spiegel oder eine exzessive Körperhygiene. Diese Gedanken und Verhaltensweisen müssen klinisch relevanten Stress auslösen, also das Leben der betroffenen Person erheblich beeinträchtigen, um als Störung diagnostiziert zu werden. BDD kann abgegrenzt werden von Essstörungen, bei denen allgemeine Sorgen um das Gewicht im Vordergrund stehen (American Psychiatric Association, 2013).

Bei BDD kann prinzipiell jedes Körperteil betroffen sein, die häufigsten «Problemzonen» sind jedoch Haut, Haar oder Nase (Bjornsson et al., 2022). Eine spezifische Form der BDD ist Muscle Dysmorphia (MD). Hier bezieht sich die Verzerrung des Selbstbildes auf den gesamten Körper und die Idee, nicht muskulös genug zu sein, obwohl die betroffene Person meist überdurchschnittlich viel Muskelmasse besitzt. Dabei kreisen die Gedanken stundenlang um dieses Thema, können nur schwer oder gar nicht kontrolliert werden und führen zu Stress und Angstzuständen (American Psychiatric Association, 2013).

«My only fixation was what I looked like. I would think about that numerous times throughout the day. I would panic if I couldn’t make a gym session.»

Micky David in Dawson, 2021

Als Folge des verzerrten Selbstbildes wird häufig versucht, den eigenen Körper mit weiter Kleidung zu verdecken oder Orte wie das Schwimmbad, in denen der Körper für andere besonders sichtbar ist, zu vermeiden (Phillips, 2005). Zudem wird exzessiv Sport betrieben, um endlich das gewünschte Erscheinungsbild zu erreichen. Dieses übertriebene Training hat nichts mehr mit Freude am Body Building zu tun. Personen mit MD fokussieren sich so stark auf einen konstanten, dauerhaft meist nicht gesundheitsförderlichen Trainingsplan und eine strikte Diät, dass andere wichtige Aspekte des Lebens hintenangestellt werden müssen. Oft gehen Beziehungen zu Bruch oder der Job wird vernachlässigt. Wenn an einem Tag kein Sport getrieben werden kann, führt das zu extremen Angstzuständen oder Wut. Es kommt zu ständigen Vergleichen mit anderen Personen und Blicken in den Spiegel. In vielen Fällen werden Anabolika eingenommen, in der Hoffnung, damit endlich den eigenen Ansprüchen zu genügen (Pope et al., 1997). Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass MD mit vermehrten Suizidgedanken, aggressivem Verhalten und Substanzmissbrauch einhergeht (Bjornsson et al., 2022).

«Exercise becomes dangerous when it takes away from other things that people might want to enjoy, like being with their friends or family. It becomes a disorder when this problematic behavior really reduces their quality of life.» 

Professor Jason Nagata in Dawson, 2021

Wer ist von der Störung betroffen?

MD tritt schätzungsweise bei 1,4-2,2 Prozent der Bevölkerung auf (Mitchison et al., 2021). Im Kontext von Body Building wird sie deutlich häufiger diagnostiziert (Guerra-Torres & Arango-Vélez, 2015). Während Frauen von der generellen BDD tendenziell häufiger betroffen sind als Männer (Bjornsson et al., 2022), scheint MD deutlich öfter bei Männern aufzutreten (Grieve, 2007). Eine plausible Erklärung hierfür ist, dass der gesellschaftliche Druck, gross und muskulös zu sein für Männer höher ist als für Frauen (Pope et al., 1997). Es ist schwierig zu sagen, ob die Störung heute häufiger auftritt als früher oder einfach öfter erkannt und diagnostiziert wird (Pope et al., 1997).

Mögliche Ursachen

In der Entwicklung einer MD können sowohl biologische als auch soziale und individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Laut einigen Studien gibt es eine genetische Disposition, die Störung zu entwickeln (Olivardia, 2001).

Individuelle Risikofaktoren, die in Zusammenhang mit MD stehen, sind unter anderem ein geringes Selbstbewusstsein, ein hohes Level an Perfektionismus, die Internalisierung von muskulösen Idealen und das Betreiben von Kraftsport (Olivardia, 2001). In einer Studie von Olivardia und Kollegen (2004) war geringes Selbstbewusstsein assoziiert mit einer stärkeren Ausprägung von MD. Zudem wurde beobachtet, dass besonders die Abhängigkeit des Selbstbewusstseins von der körperlichen Erscheinung mit vermehrtem Kraftsporttraining einherging (Crocker, 2002). Der Risikofaktor Perfektionismus ist charakterisiert durch das Verfolgen von unrealistischen Zielen. In diesem Sinne ist es plausibel, dass Perfektionist*innen dazu prädestiniert sind, sich unrealistisch hohe Ziele bezüglich ihrer Muskelmasse zu setzen. Henson (2003) zeigte in einer Studie, dass die Ausprägung von Perfektionismus das Level an MD der Studienteilnehmer*innen vorhersagte. Des Weiteren wurde gefunden, dass die Internalisierung von traditionell maskulinen Normen bei Männern den wahrgenommenen sozialen Druck, muskulös zu sein, erhöhen kann (Bégin et al., 2019) und mit einer höheren Ausprägung von MD-Symptomen einhergeht (Blashill et al., 2020). Ein weiterer Faktor, der mit MD verbunden wird, ist das Betreiben von Kraftsport oder Sportarten, welche viel Kraft erfordern (Pope et al., 1993; Cerea et al., 2018). Es ist schwierig zu bestimmen, in welche Richtung der Effekt wirkt. Es ist plausibel, dass der Fitnesskontext selbst die Entwicklung von MD begünstigt, weil man dort regelmässig besonders sportlichen und muskulösen Körpern ausgesetzt ist. Alternativ kann es sein, dass Individuen, welche Symptome von MD zeigen, wahrscheinlicher extensiven Kraftsport betreiben. Eine dritte Erklärung ist, dass Personen im Kraftsport Charaktereigenschaften wie Perfektionismus teilen, welche die Entwicklung von MD wahrscheinlicher machen. Vermutlich spielen alle Erklärungsansätze eine Rolle. Generell kann man sagen, dass das Ausüben von Kraftsport allein nicht direkt zu der Entwicklung einer MD führt. Es kann aber aufgrund verschiedener Mechanismen und in Kombination mit anderen Faktoren die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung begünstigen (Olivardia, 2001).

In Bezug auf soziale Faktoren gibt es Hinweise darauf, dass Familie und Gleichaltrige sowie die Medien relevant für die Vermittlung eines körperlichen Idealbildes sind (Grieve, 2007) und indirekt die Entwicklung einer MD beeinflussen können (Olivaria, 2001). Im Hinblick auf die zunehmende Verlagerung unserer Leben in die digitale Welt liegt es nahe, dass das Internet hier einen wachsenden Einfluss hat. Soziale Medien wie Facebook, Instagram und TikTok sind in der Hinsicht besonders relevant, weil sie mithilfe von Algorithmen die persönlichen Interessen der Nutzer*innen ermitteln und gezielt passende Inhalte vorschlagen (Pariser, 2011). Infolgedessen wird einer Person, die selbst Sport treibt, vermehrt Fitnesscontent angezeigt.

Während Fitnessinhalte prinzipiell motivierend sein können, gibt es Hinweise darauf, dass sie auch negative Auswirkungen haben (Easton et al., 2018). Beispielsweise gibt es Studien, die zeigen, dass häufig unrealistische Körperstandards vermittelt werden (Harrison & Cantor, 1997). Eine Theorie ist deshalb, dass die Darstellung von scheinbar perfekten und muskulösen Körpern in den Medien zu einem Vergleich des eigenen Körpers mit einem nicht zu erreichenden Ideal und demnach zu Unzufriedenheit führen kann (Pope et al., 1997). Gerade bei Männern ist dies aufgrund des gesellschaftlichen Ideals von Grösse und Stärke der Fall. In einer Studie von Leit und Kollegen aus dem Jahr 2002 wurde dies bestätigt: Einer Gruppe von männlichen Studenten wurde entweder Werbung mit muskulösen Männern oder mit neutralen Inhalten gezeigt. Anschliessend wurden die Teilnehmer zu ihrem Körperbild befragt. Das Ergebnis zeigte, dass die Studenten, welche vorher muskulöse Männer gesehen hatten, eine deutlich höhere Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung ihres Körpers und ihrem Wunschkörper aufwiesen. Das lässt darauf schliessen, dass das Betrachten muskulöser Ideale in den Sozialen Medien einen negativen Einfluss auf das eigene Körperbild hat und zur Aufrechterhaltung von MD-Symptomen beitragen kann (Schoenenberg, 2020).

Wie kann Personen mit MD geholfen werden?

Weil viele der oben genannten Faktoren dafür sorgen, dass die Symptome von MD aufrechterhalten werden oder sich verstärken, ist der Verlauf der Erkrankung typischerweise chronisch und verbessert sich nicht von allein. Obwohl die Störung seit vielen Jahren bekannt ist, wurde bislang nur wenig Forschung zu Behandlungsmöglichkeiten durchgeführt (Bjornsson et al., 2022) und die aktuellen Empfehlungen beruhen hauptsächlich auf Fallstudien (Olivardia, 2007). Higgins und Wysong (2018) merken an, dass vermeintlich schnelle Interventionen wie chirurgische Eingriffe keine dauerhafte Lösung darstellen, weil die Ursache des Problems dadurch nicht behoben wird. Zu den aktuell empfohlenen Optionen zählen unter anderem die pharmakologische Behandlung mit SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; Phillipou & Castle, 2015) und kognitiv-behaviorale Psychotherapie. In der Therapie wird unter anderem versucht, perfektionistische Denkmuster oder Schwarz-Weiss-Denken („Wenn ich nicht perfekt aussehe, bin ich hässlich und ein*e Versager*in.“) zu ändern und die emotionale Selbstregulation zu verbessern (Cunningham et al., 2017).

Zwangsstörungen

Zwangsstörungen sind gekennzeichnet durch sogenannte Obsessionen und Kompulsionen. Obsession wird als Besessenheit definiert, die sich in zwanghaft wiederkehrenden, unerwünschten Gedanken oder Bedürfnissen äussert. Kompulsion beschreibt ein nach strengen Regeln ausgeführtes Verhalten oder auch eine geistige Handlung auf Basis dieser Besessenheit. Während der Inhalt der obsessiven Gedanken und Zwänge sehr unterschiedlich sein kann, gibt es einige häufig auftretende Motive wie Sauberkeit oder Symmetrie (American Psychiatric Association, 2013).

Fazit

Die oben erläuterte Unterform der BDD, Muscle Dysmorphia, ist eine psychologische Störung, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Sie äussert sich in einer Abweichung der Körperwahrnehmung von der Realität und in rigiden Versuchen, muskulöser zu werden oder den eigenen Körper zu verstecken. Männer sind häufiger von MD betroffen als Frauen, da besonders das männliche Schönheitsideal Muskelmasse und Stärke einschliesst. In der Entwicklung einer MD wirken verschiedene biologische, individuelle und soziale Einflüsse zusammen, wobei Ursache und Effekt oft schwierig zu bestimmen sind und viele Faktoren in beide Richtungen wirken. Zur Behandlung der Störung werden pharmakologische Therapien sowie Psychotherapien empfohlen, wobei die Forschung in diesem Bereich nicht umfangreich ist.


Zum Weiterlesen

https://www.healthline.com/health/muscle-dysmorphia

Literatur

American Psychiatric Association. (2013). Obsessive-compulsive and related disorders. In Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5. Ausg.). https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425787

Bégin, C., Turcotte, O., & Rodrigue, C. (2019). Psychosocial factors underlying symptoms of muscle dysmorphia in a non-clinical sample of men. Psychiatry Research272, 319-325. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2018.12.120

Bjornsson, A. S., Didie, E. R., & Phillips, K. A. (2022). Body dysmorphic disorder. Dialogues in clinical neuroscience. https://doi.org/10.31887/DCNS.2010.12.2/abjornsson

Blashill, A. J., Grunewald, W., Fang, A., Davidson, E., & Wilhelm, S. (2020). Conformity to masculine norms and symptom severity among men diagnosed with muscle dysmorphia vs. body dysmorphic disorder. PloS one15(8), e0237651. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237651

Cerea, S., Bottesi, G., Pacelli, Q. F., Paoli, A., & Ghisi, M. (2018). Muscle dysmorphia and its associated psychological features in three groups of recreational athletes. Scientific reports8(1), 1-8. https://doi.org/10.1038/s41598-018-27176-9

Crocker, J. (2002). The costs of seeking self–esteem. Journal of social issues58(3), 597-615. https://doi.org/10.1111/1540-4560.00279

Cunningham, M. L., Griffiths, S., Mitchison, D., Mond, J. M., Castle, D., & Murray, S. B. (2017). Muscle dysmorphia: An overview of clinical features and treatment options. Journal of Cognitive Psychotherapy31(4), 255-271. https://doi.org/10.1891/0889-8391.31.4.255

Dawson, B. (2021, August 22). Eating disorders are stereotyped as only impacting women and girls. But young men are also obsessing about dieting and appearance leading to muscle dysmorphia. Insider. https://www.insider.com/muscle-dysmorphia-makes-me-feel-way-a-man-should-feel-2021-8

Easton, S., Morton, K., Tappy, Z., Francis, D., & Dennison, L. (2018). Young people’s experiences of viewing the fitspiration social media trend: Qualitative study. Journal of medical Internet research20(6), e9156. https://doi.org/10.2196/jmir.9156

Festinger, L. (1957). Social comparison theory. Selective Exposure Theory16. http://www.bahaistudies.net/asma/selective_exposure-wiki.pdf#page=18

Grieve, F. G. (2007). A conceptual model of factors contributing to the development of muscle dysmorphia. Eating disorders15(1), 63-80. https://doi.org/10.1080/10640260601044535

Guerra-Torres, J. H., & Arango-Vélez, E. F. (2015). Muscle dysmorphia among competitive bodybuilders. Revista Politécnica11(20), 39-48. https://revistas.elpoli.edu.co/index.php/pol/article/view/487

Harrison, K., & Cantor, J. (1997). The relationship between media consumption and eating disorders. Journal of communication47(1), 40-67.  

https://doi.org/10.1111/j.1460-2466.1997.tb02692.x

Henson, C. (2003). Potential antecedents of muscle dysmorphia. Masters Theses & Specialist Projects. Paper 598. https://digitalcommons.wku.edu/theses/598

Higgins, S., & Wysong, A. (2018). Cosmetic surgery and body dysmorphic disorder–an update. International journal of women’s dermatology4(1), 43-48. https://doi.org/10.1016/j.ijwd.2017.09.007

Leit, R. A., Gray, J. J., & Pope Jr, H. G. (2002). The media’s representation of the ideal male body: A cause for muscle dysmorphia?. International Journal of Eating Disorders31(3), 334-338. https://doi.org/10.1002/eat.10019

Mitchison, D., Mond, J., Griffiths, S., Hay, P., Nagata, J. M., Bussey, K., … & Murray, S. B. (2021). Prevalence of muscle dysmorphia in adolescents: findings from the EveryBODY study. Psychological Medicine, 1-8. https://doi.org/10.1017/S0033291720005206

Olivardia, R. (2001). Mirror, mirror on the wall, who’s the largest of them all? The features and phenomenology of muscle dysmorphia. Harvard review of psychiatry9(5), 254-259. https://doi.org/10.1080/hrp.9.5.254.25

Olivardia, R. (2007). Muscle Dysmorphia: Characteristics, Assessment, and Treatment. In J. K. Thompson & G. Cafri (Eds.), The muscular ideal: Psychological, social, and medical perspectives (pp. 123–139). https://doi.org/10.1037/11581-006

Olivardia, R., Pope Jr, H. G., Borowiecki III, J. J., & Cohane, G. H. (2004). Biceps and body image: the relationship between muscularity and self-esteem, depression, and eating disorder symptoms. Psychology of men & masculinity5(2), 112. https://doi.org/10.1037/1524-9220.5.2.112

Pariser, E. (2011). The filter bubble: What the Internet is hiding from you. Penguin UK.

Phillipou, A., & Castle, D. (2015). Body dysmorphic disorder in men. Australian Family Physician44(11), 798-801. https://search.informit.org/doi/10.3316/informit.585209858722018

Phillips, K. A. (2005). The broken mirror: Understanding and treating body dysmorphic disorder. Oxford University Press, USA.

Pope Jr, H. G., Gruber, A. J., Choi, P., Olivardia, R., & Phillips, K. A. (1997). Muscle dysmorphia: An underrecognized form of body dysmorphic disorder. Psychosomatics38(6), 548-557. https://doi.org/10.1016/S0033-3182(97)71400-2

Pope Jr, H. G., Katz, D. L., & Hudson, J. I. (1993). Anorexia nervosa and “reverse anorexia” among 108 male bodybuilders. Comprehensive psychiatry34(6), 406-409. https://doi.org/10.1016/0010-440X(93)90066-D

Schoenenberg, K., & Martin, A. (2020). Bedeutung von Instagram und Fitspiration-Bildern für die muskeldysmorphe Symptomatik. Psychotherapeut65(2), 93-100. https://doi.org/10.1007/s00278-020-00403-3

Wienke, K. (2014). Welchen Einfluss hat Social Media auf einen möglichen Erfolg von Fitnessstudios: eine Bestandskundenanalyse von Fitnessstudios (Doctoral dissertation, Hochschule Mittweida).

Eine gesunde Organisation – gibt es das?

Wenig Stress und hohes Wohlbefinden bei der Arbeit – der Traum eines jeden Arbeitnehmenden. Doch wie realistisch ist dieser Traum?

Stress am Arbeitsplatz ist heutzutage mehr die Regel als die Ausnahme. Neueste Technologien, unglaubliche Schnelllebigkeit, steigende Erwartungen, eine globale Pandemie. Diese Bedingungen können sich auf die (mentale) Gesundheit auswirken. Was können die Beteiligten tun, um gesundes Arbeiten zu erleichtern?

Von Alina Sophie von Garrel
Lektoriert von Julia Küher und Natalie Birnbaum
Illustriert von

Gesundheit ist ein viel- und vor allem mehrschichtiger Begriff und beschreibt einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen (Wendt, 2013). Gesundheit gegenüber steht Stress als häufiger Grund ihrer Gefährdung (Greiner et al., 2012). Am Arbeitsplatz kann Stress aus Belastungen durch physische Faktoren (z. B. Umgebungsbedingungen), Arbeitsaufgaben und -organisation (z. B. Zeitdruck), soziale Stressoren (z. B. Mobbing) und organisationale Bedingungen (z. B. Ungerechtigkeiten) entstehen (Bartholdt & Schütz, 2010). Die resultierende negative Beanspruchung kann sich dabei auf körperlicher, gedanklicher, emotionaler und/oder auf Verhaltensebene ausdrücken (Greiner et al., 2021).

Die Relevanz von Stress wird deutlich, wenn man sich dessen Konsequenzen vor Augen führt: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Stress eines der grössten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts (WHO, 2022). Es wird geschätzt, dass europaweit ungefähr 60 Prozent aller Fehlzeiten auf beruflichem Stress beruhen (Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, 2013). Durch die sich wandelnde Arbeitswelt und die damit einhergehende Arbeitsintensivierung, Flexibilisierung und Kommunikationsverdichtung nehmen Arbeitsunfähigkeitstage und Frühverrentungen zu (Lohmann-Haislah, 2012). Die Kosten für stressbedingten Arbeitsausfall werden allein für deutsche Unternehmen auf jährlich 20 Milliarden Euro geschätzt (Kläser, 2015). Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz auf die körperliche Gesundheit der Arbeitnehmer*innen zeigen sich dabei in Form von medizinischen Krankheiten wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch psychischen Erkrankungen mit längerfristigen Folgen wie Nervosität, Ermüdung, Angst oder Depression (Böhm & Böhm, 2004). Die Produktivität und Kreativität der Arbeitnehmer*innen lassen unter solchen Bedingungen erheblich nach (Böhm & Böhm, 2004).

Wie kann diesen negativen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz entgegengewirkt werden? Liegt es an den Mitarbeiter*innen, etwas zu verändern? An der Organisation? Oder an der gesamten Gesellschaft? Auf diese komplexe Frage gibt es natürlich keine einfache Antwort. Sicherlich ist es sinnvoll, an jedem der genannten Hebel anzusetzen, um die Situation zum Besseren zu verändern. Interessant ist daher der «Health-oriented Leadership» (HoL) Ansatz von Franke et al. (2014). Hier werden zwei Konzepte unterschieden, die sowohl die Führungskraft (und damit die Verantwortung der Organisation) als auch die einzelnen Mitarbeiter*innen adressieren. Diese Konzepte sind 1) Self-Care (Selbstführung) und 2) Staff-Care (Mitarbeiterführung), an denen gesundheitsförderliche Führung auf den Dimensionen Wichtigkeit, Achtsamkeit und Verhalten ganzheitlich ansetzt. Die Idee ist, dass durch die Anwendung von Self-Care, d. h. «gesundheitsförderlicher Selbstführung, die beschreibt, wie das Individuum (…) mit der eigenen Gesundheit umgeht» (Franke et al., 2015), einerseits eine Vorbildwirkung bzw. Modellfunktion der Führungskraft entsteht und andererseits eine Grundlage für Staff-Care, d.h. «die Beeinflussung von Einstellungen und Verhalten einzelner Personen in Organisationen sowie die Steuerung und Koordination der Zusammenarbeit in und zwischen Gruppen» (Franke & Felfe, 2011a), geschaffen wird. Mit Staff-Care wiederum kann zudem Self-Care der Mitarbeiter*innen, d. h. eigenständiges und selbstverantwortliches gesundheitsförderliches Handeln und Auftreten, etabliert werden (Franke & Felfe, 2011b).

Führung & Staff-Care

Auch wenn eine uniforme Definition für Führung bisher fehlt (Stippler et al., 2011), steht fest, dass die Führungsqualität einen erheblichen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen hat (Franke et al., 2015). Dieser Einfluss lässt sich in vier Felder der Führungsbedeutung bzw. vier Wirkmechanismen unterteilen: direkter Einfluss (Verhalten und Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter*innen), indirekter Einfluss (Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch die Führungskraft), Vorbildfunktion (Mitarbeiter*innen schauen sich Verhalten etc. der Führungskraft ab, die als Modell fungiert) und eigene Betroffenheit (durch die eigene Aussetzung von Risiken können Führungskräfte selbst zum Gesundheitsrisiko durch z. B. eigene Überforderung für Mitarbeiter*innen werden) (Felfe et al., 2014). Neuere Studien bestätigen die Effektivität des HoL-Konzepts für die Gesundheitsförderung in Unternehmen (Franke & Felfe, 2011a).

«Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts»

Arthur Schopenhauer (angeblich)

Damit gesunde Führung Früchte trägt, sollte sie auf einer ganzheitlichen Werteorientierung des Unternehmens gründen und unternehmensübergreifend etabliert werden (Badura et al., 2017). Die Führungskräfte stehen an der «Front» der berufsalltäglichen Umsetzung mit der Herausforderung, Sach- bzw. Leistungswerte (im Interesse der Organisation, z. B. Effizienz und Qualität) und Beziehungswerte (wichtig für eine positive zwischenmenschliche Beziehung, z. B. Vertrauen und Respekt) in Einklang zu bringen (Badura et al., 2017). Zentral im direkten Umgang mit Mitarbeiter*innen ist hierbei der Abbau von Stressoren und Belastungen sowie die Förderung von Ressourcen (als Puffer für Stress) bei gleichzeitiger Wertschätzung der eigenen sowie der Gesundheit der Mitarbeitenden (Felfe et al., 2014). Konkrete Handlungsfelder, die unterschieden werden und in denen Führungskräfte aktiv werden sollten, wenn sie gesund führen wollen, können in direktes Führungshandeln, Gesundheitsklima der Organisation, Unternehmenskultur, Charakteristika von Arbeitsplatz und Arbeitsprozessen sowie der Gestaltung von Veränderungsprozessen unterschieden werden (Badura et al., 2017).

Self-Care

Was können Mitarbeitende selbst für sich tun, um Stress zu reduzieren? Eine sehr populäre, wenig aufwendige und anwendungsfreundliche Methode ist die Meditation (Valosek et al., 2018). In Studien konnte gezeigt werden, dass Meditation als Wellness-Programm am Arbeitsplatz wirksam ist, um die emotionale Intelligenz zu verbessern und den wahrgenommenen Stress der Mitarbeiter*innen zu reduzieren (Valosek et al., 2018). Vermutlich auch deshalb, weil die Konzentration auf körperliche oder geistige Entspannung allgemein als Methode zur Bewältigung von Stressfolgen gesehen wird (van der Klink et al., 2001). Auch im Vergleich mit anderen Methoden überzeugt die Meditation: In einer Studie von Murphy (1996) ergab sie die konsistentesten Ergebnisse über alle Outcomes (i. d. R. Stressreduktion) hinweg.

Auch Atemtechniken können im Rahmen der Stressreduktion sehr wirksam sein (Techniker Krankenkasse, 2017). Ruhige Atmung wirkt entspannend. Sie bringt Sauerstoff und Energie in den Körper, während ungünstige Atmung (z. B. flach, schnell oder unruhig) Hyperventilation (Muskelkrämpfe durch gesteigerte Atmung) fördert (Techniker Krankenkasse, 2017).

Exkurs Meditation

Eine einfache Meditation ist die Mantra-Meditation (Techniker Krankenkasse, 2021). Diese Meditationstechnik verwendet nur einen einzelnen Begriff: das Mantra. Dieses Wort fungiert als Anker, auf dem die gesamte Zeit die Aufmerksamkeit liegt. Geeignet als Mantra sind inhaltlich neutrale Wörter (z. B. ein Zahlwort). Setze dich für diese Meditationspraxis aufrecht und entspannt hin. Schliesse die Augen und atme sanft ein und aus. Sage dann das Mantra mehrmals leise zu dir selbst. Dann stelle es dir nur in deinem Kopf vor und spüren seinem Klang nach. Diesen Prozess wiederholst du für etwa 15 Minuten. Danach öffnest du langsam wieder deine Augen und kehrst bewusst in die Realität zurück. Je regelmässiger du diese Übung machst, desto mehr Routine bekommst du darin, sodass die Meditation irgendwann wie von selbst abläuft. Probiere also gerne aus, wie es ist, den Alltag kurz zu pausieren und neue Energie zu tanken (Techniker Krankenkasse, 2021).

Daneben sind noch viele weitere Ressourcen hilfreich für ein gesundes Stressmanagement. Zu diesen zählen zum Beispiel regelmässige sportliche Betätigung, gesunde Ernährung oder ein stabiles soziales Netzwerk. Woran man zunächst arbeiten möchte, sollte jede Person für sich selbst entscheiden – auch unter Berücksichtigung, was in der eigenen Situation realistisch umsetzbar ist (Techniker Krankenkasse, 2017).

Gibt es also eine gesunde Organisation? Jede Art von Arbeit bringt gewisse Risiken und Stressfaktoren mit sich und nicht alle lassen sich vollständig eliminieren. Andererseits gibt es Ansätze wie den HoL-Ansatz, die wichtige Richtlinien und Verhaltensweisen vorschlagen, mit denen Ressourcen gestärkt und Stress reduziert werden können. Jede Person trägt letztendlich aber selbst die Verantwortung für die eigene Gesundheit und hat diverse Möglichkeiten, um aktiv zu werden und sich selbst zu stärken.

Zum Weiterlesen

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Lück, P., Eberle, G., & Bonitz, D. (2009). Der Nutzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus der Sicht von Unternehmen. In Badura, B., Schröder, H. & Vetter, C. (Hrsg.). Fehlzeiten-Report 2008 (S. 77–84). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-69213-3_8

Literatur

Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Eds.). (2017). Fehlzeiten-Report 2017: Krise und Gesundheit-Ursachen, Prävention, Bewältigung. Springer.

Bartholdt, L., & Schütz, A. (2010). Stress im Arbeitskontext: Ursachen, Bewältigung und Prävention. Beltz. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54632-1

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Böhm, B., & Böhm, A. (2004). Stress—was im Berufsalltag wirklich weh tut. In Betriebliche Gesundheitsförderung (pp. 137–150). Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91349-4_9

Felfe, J., Ducki, A., & Franke, F. (2014). Führungskompetenzen der Zukunft. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Meyer, M. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2014 (pp. 139–148). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-43531-1

Franke, F., & Felfe, J. (2011a). Diagnose gesundheitsförderlicher Führung – Das Instrument „Health-oriented Leadership “. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Macco, K. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2011 (pp. 3–13). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-21655-8

Franke, F., & Felfe, J. (2011b). How does transformational leadership impact employees’ psychological strain? Examining differentiated effects and the moderating role of affective organizational commitment. Leadership7(3), 295–316. https://doi.org/10.1177/1742715011407387

Franke, F, Ducki, A. und Felfe, J. (2015). Gesundheitsförderliche Führung. In J. Felfe (Eds.), Trends in der psychologischen Führungsforschung, (pp. 253–264). Hogrefe.

Greiner A., Langer S., Schütz A. (2012) Grundlagen zur Stressentstehung, Stressreaktion und Stressbewältigung. In Greiner A., Langer, S. & Schütz, A. (Eds.), Stressbewältigungstraining für Erwachsene mit ADHS. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-25802-2_2

Lohmann-Haislah, A. (2013). Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden1. https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd68.pdf?__­blob=publicationFile

Lück, P., Eberle, G., & Bonitz, D. (2009). Der Nutzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus der Sicht von Unternehmen. In Badura, B., Schröder, H. & Vetter, C. (Eds.). Fehlzeiten-Report 2008 (pp. 77–84). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-69213-3_8

Murphy, L. R. (1996). Stress management in work settings: A critical review of the health effects. American journal of health promotion11(2), 112­–135.

Stippler, M., Moore, S., Rosenthal, S., & Dörffer, T. (2011). Führung-Überblick über Ansätze, Entwicklungen, Trends: Bertelsmann Stiftung Leadership Series. Bertelsmann Stiftung.

Techniker Krankenkasse. (Juli, 2017). Stress Belastungen besser bewältigen. https://www.tk.de/resource/blob/2023234/5535b9478a9be8fcabb0a1c6ea7f677e/tk-broschuere-stress-data.pdf

Techniker Krankenkasse. (01. September, 2021). Medi­ta­ti­ons­übungen (2/4). https://www.tk.de/techniker/magazin/life-balance/aktiv-entspannen/meditationsuebungen-2007100?tkcm=ab

Valosek, L., Link, J., Mills, P., Konrad, A., Rainforth, M., & Nidich, S. (2018). Effect of meditation on emotional intelligence and perceived stress in the workplace: A randomized controlled study. The Permanente Journal22.

Van der Klink, J. J., Blonk, R. W., Schene, A. H., & Van Dijk, F. J. (2001). The benefits of interventions for work-related stress. American journal of public health91(2), 270.

Wendt C. (2013) Gesundheit und Gesundheitssystem. In Mau S., Schöneck N. (Hrsg.) Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18929-1_23

Wild, E., & Möller, J. (2014). Pädagogische Psychologie. Springer.

Türen öffnen mit psychedelischer Therapie

Was hat es mit der psychedelischen Renaissance auf sich?

Worum handelt es sich bei Psychedelika, was sind die Hintergründe psychedelischer Forschung und was gibt es für neue Erkenntnisse zum Thema Therapie mit Psychedelika? Was passiert, wenn man diese Türen öffnet? Welche Möglichkeiten und Risiken bergen bewusstseinserweiternde Drogen?

Von Anna Boeker
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Arne Hansen
Illustriert von Katrin Grings

Menschen verwenden Psychedelika schon seit Tausenden von Jahren (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016). Psilocybin-haltige Pilze sind zum Beispiel auf allen Kontinenten der Erde zu finden. Ihre Verwendung wurde von präkolumbianischen mesoamerikanischen Gesellschaften wie den Azteken und Mayas ausführlich dokumentiert (Grof & Grof, 2010; Nichols & Barker, 2016).

Ein weiteres Psychedelikum ist NN-DMT, eine Substanz, die in vielen Pflanzenarten vorkommt (Drug Enforcement Administration, 2019) und einer der wichtigsten Bestandteile des beliebten psychedelischen Gebräus namens Ayahuasca ist. Dieses wird in den Regionen des Amazonas seit mindestens 1000 Jahren verwendet (Miller et al., 2019). Bei vielen Ureinwohnern wurden diese Psychedelika häufig zu Heilzwecken und zu religiösen oder spirituellen Zwecken verwendet (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016) und spielten in einigen kulturellen Ritualen eine wichtige Rolle (Grof, 2019).

Betrachtet man den Zeitraum von den ersten Belegen für die Verwendung von Psychedelika durch Menschen bis zur Gegenwart, so wurden die psychedelischen Praktiken grösstenteils im Kontext der einheimischen Kulturen ausgeübt und von Personen wie Mystikern, Priestern, Ältesten, Schamanen, Heilern und Medizinmännern entwickelt. Westliche Gesellschaften fingen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, Psychedelika zu verwenden und eigene Praktiken zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass die Psychedelika Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurden (Grof, 2019).

«die legale psychedelische Therapie wird kommen»

Cormier, 2022

Ein neueres Beispiel ist LSD. Albert Hofmann, ein Schweizer Chemiker, synthetisierte LSD 1938 bei Sandoz Chemicals. Er glaubte, dass LSD die Psychiatrie revolutionieren und eine Generation von Künstlern und Intellektuellen inspirieren könnte (Grof, 2019). Sandoz Chemicals, sowie andere Forschungsstellen, gaben die Droge damals zu Forschungszwecken kostenlos an amerikanische Psychiater ab.

Zwischen 1953 und 1960 wurden tausende Personen mit einer Alkoholabhängigkeit unter kontrollierten Bedingungen einer Behandlung mit LSD unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass fast die Hälfte der behandelten Personen noch mehr als ein Jahr später alkoholabstinent war. Obwohl diese Forschung in einigen Kreisen Zustimmung fand, wurde sie in anderen Kreisen angegriffen. Ähnliche Studien konnten die Ergebnisse nicht reproduzieren und deshalb äußerte auch die konservative Ärzteschaft Kritik (MAPS, 2012). Jahrzehnte später stehen wir immer noch an einer ähnlichen Stelle. Wie Menschen auf die Substanz und das mögliche Potenzial reagieren, hängt womöglich von weit mehr ab als der Substanz selbst (MAPS, 2012).

Als die Forschenden das Verständnis für die klassischen Psychedelika und auch Cannabis weiterentwickelten, wurden diese Substanzen auch in der Öffentlichkeit bekannter und ihr Konsum wurde schließlich in der Kulturbewegung der Hippies in den 1960er und 1970er Jahren weit verbreitet (Encyclopaedia Britannica, 2022)

1971 wurde dann das Verbot der klassischen Psychedelika, wie auch der meisten anderen heute illegalen Drogen, durch das UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe weltweit verabschiedet (UNODC, 1971).

Innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts wandelte sich die Einstellung der Menschen gegenüber Psychedelika von Neugier und Faszination hin zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung dieser Substanzen. Die zahlreichen Folgen dieses Bruchs sind noch heute spürbar, denn das Verbot schränkt zum Beispiel stark ein, was und wie heutzutage mit Psychedelika geforscht werden darf. Trotzdem stieg das Interesse an diesen «unspezifischen Verstärkern» in den letzten Jahrzehnten wieder an (Cormier, 2022)

Seitdem wurde dieses erneut erwachte Interesse an der psychedelischen Forschung am Menschen von Organisationen wie der Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies (MAPS), der Johns Hopkins University und vielen anderen Verbänden, auch außerhalb der USA, gefördert (Cormier, 2022; Grof, 2019).

In Onlineforen wie actualized.org teilen Menschen anonym ihre Erfahrungen mit Psychedelika

«I had previously reported no insights on my initial acid trip and a month later took the same dose. For some reason I’ve had these amazing mind-blowing awakenings on ganja.  I took a week off from smoking and smoked again and had another God Realization awakening that really rocked me hard. However, despite not having any immediate insights after dropping LSD, the longterm effect has been a total cessation of drinking alcohol. I no longer pick up a single beer for after work and I’ve been avoiding going out for drinks…not out of some weird kind of willpower but because it no longer appeals to me. A week or two ago I walked into a liquor store to buy lager beer and some tequila.  I bought nothing because it just didn’t appeal to me. I’ve been struggling with alcohol addiction for years and I’m SO fucking ELATED that I don’t desire it anymore. I’m still shocked and blown away by this in a great way. All that struggle and after two LSD sessions it’s gone. Wow!» (Ramu, 2022)

Darüber hinaus wurde das medizinische Potenzial von Psychedelika 2017 und 2018 anerkannt, als die US-amerikanische Food and Drugs Administration (FDA) psychotherapeutische Verfahren mit MDMA (MAPS, 2017) und Psilocybin (COMPASS Pathways, 2018) als «bahnbrechende Therapien» einstufte.

Außerdem wurde vor allem in Nordamerika eine Welle von Gesetzesreformen auf den Weg gebracht, die den legalen Zugang zu Psychedelika entkriminalisieren und/oder ermöglichen (Lewis-Healey, 2021). Im Rahmen dieser neuen Gesetze wurden die Fälle, in denen bestimmte Psychedelika für religiöse oder spirituelle Zwecke in den USA verwendet werden durften – insbesondere meskalinhaltiger Peyote für die indianische Kirche und Ayahuasca für die brasilianische indigene Kirche União do Vegetal – eingeführt (Nichols & Barker, 2016).

«Psychedelic experience — like all other intense life events — may offer the potential for growth and change. How people respond, however, depends on far more than a drug. »

MAPS, 2012

Mit dem derzeitigen Paradigmenwechsel, den laufenden klinischen Studien und der Entwicklung einer ganzen Industrie rund um Psychedelika gewinnt der Begriff psychedelische Renaissance weiter an Popularität. Dennoch sind Psychedelika in den meisten Teilen der Welt auch 2022 noch illegal und die Mehrheit der Konsumenten bezieht sie vom Schwarzmarkt (Cormier, 2022).

Letztes Jahr konnte eine Studie des Imperial College London zeigen, dass Psilocybin bei der Bekämpfung von Depressionen genauso wirksam ist wie Escitalopram (auch Lexapro genannt), welcher ein gängiger Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ist (Carhart-Harris, 2021). Zu beachten ist, dass sich die Symptomatik in beiden Patientengruppen verbesserte. Diese Verbesserung zeigte sich unabhängig davon, ob Psilocybin oder Escitalopram verabreicht wurde. Beide Patientengruppen erhielten außerdem fast 40 Stunden Psychotherapie. Hier könnte kritisiert werden, dass dies weit mehr Stunden sind, als ein*e durchschnittliche*r Patient*in erhält, die in Behandlung mit SSRIs ist (Cormier, 2022).

Nicht nur in akademischen Kreisen sind Psychedelika ein Thema. Bereits mehr als 50 börsennotierte Unternehmen, die an der Entwicklung oder Verabreichung psychedelischer Substanzen arbeiten, sind heute in Amerika tätig – drei von ihnen werden bereits mit jeweils über 1 Milliarde Dollar bewertet: Angermayers ATAI Life Sciences, Compass Pathways und GH Research (Cormier, 2022).

Es entsteht die Sorge, dass es den meisten dieser Unternehmen nur um den wirtschaftlichen Gewinn geht und nicht um die Behandlung von Patient*innen. Es könnte zu einem Streit um Patente, Lizenzen und Rechten kommen. Zusätzlich zu den noch nicht ausreichend erforschten Risiken der Substanzen selbst, kommen so noch Risiken der wirtschaftlichen und ethischen Umsetzung. Es scheint, als öffneten Psychedelika nicht nur im Bewusstsein, sondern auch für den Markt neue Türen.

Es muss als zentral verstanden werden, Psychedelika nicht selbst als Heilmittel zu betrachten. Eine andere Art von Medikation, egal bei welchem Störungsbild, sollte nicht als Möglichkeit gesehen werden, Therapiezeiten zu verkürzen (Cormier, 2022). Risiken müssen ausreichend erforscht und kommuniziert werden und die Integration psychedelischer Erfahrungen selbstverständlich sein. Trotzdem dürfen die neuen Erkenntnisse und die Suche nach Alternativen zu herkömmlichen Medikamenten nicht abgetan werden und


Zum Weiterlesen

Cormier, Z. (2022). The Brave New World of Legalized Psychedelics Is Already Here. https://www.thenation.com/article/society/legal-drugs-psychedelics-corporate/

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Literatur

Carhart-Harris, R., Giribaldi, B., Watts, R., Baker-Jones, M., Murphy-Beiner, A., Murphy, R., … & Nutt, D. J. (2021). Trial of psilocybin versus escitalopram for depression. New England Journal of Medicine384(15), 1402-1411.

COMPASS Pathways. (2018, October 23). COMPASS Pathways receives FDA Breakthrough Therapy designation for psilocybin therapy for treatment-resistant depression. COMPASS Pathways. https://compasspathways.com/compass-pathways-receives-fda-breakthrough-therapy-designation-for-psilocybin-therapy-for-treatment-resistant-depression/

Cormier, Z. (2022). The Brave New World of Legalized Psychedelics Is Already Here. https://www.thenation.com/article/society/legal-drugs-psychedelics-corporate/

Drug Enforcement Administration. (2019). N,N-DIMETHYLTRYPTAMINE. https://www.deadiversion.usdoj.gov/drug_chem_info/dmt.pdf

Encyclopaedia Britannica. (2022). hippie subculture. Britannica. https://www.britannica.com/topic/hippie

Grof, S., & Grof, C. (2010). HOLOTROPIC BREATHWORK A New Approach to Self-Exploration and Therapy. State University of New York Press.

Grof, S. (2019). The Way of the Psychonaut – Encyclopedia for Inner Journeys V1 (Vol. 1). Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies.

Lewis-Healey, E. (2021). The Legal Status of Psychedelics Around the World. Psychedelic Spotlight. https://psychedelicspotlight.com/legal-status-of-psychedelics-around-the-world/

MAPS. (2012). LSD May Help Treat Alcoholism. MAPS. https://maps.org/news/media/lsd-may-help-treat-alcoholism/

MAPS. (2017). FDA Grants Breakthrough Therapy Designation for MDMA-Assisted Therapy for PTSD, Agrees on Special Protocol Assessment for Phase 3 Trials. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-fda-grants-breakthrough-therapy-designation-for-mdma-assisted-psychotherapy-for-ptsd-agrees-on-special-protocol-assessment-for-phase-3-trials/

MAPS. (2020). Psychedelic Research Fundraising Campaign Attracts $30 Million in Donations in 6 Months, Prepares MDMA-Assisted Therapy for FDA Approval. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-psychedelic-research-fundraising-campaign-attracts-30-million-in-donations-in-6-months-prepares-mdma-assisted-psychotherapy-for-fda-approval/

Miller, M. J., Albarracin-Jordan, J., Moore, C., & Capriles, J. M. (2019). Chemical evidence for the use of multiple psychotropic plants in a 1,000-year-old ritual bundle from South America. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 166(23), 11207–11212. https://doi.org/10.1073/pnas.1902174116

Nichols, D. E., & Barker, E. L. (2016). Psychedelics. Pharmacological Reviews, 68(2), 264–355. https://doi.org/10.1124/pr.115.011478

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Ramu (2022). LSD and Alcohol. Actualized.Org Forum. https://www.actualized.org/forum/topic/83595-lsd-and-alcohol/

UNODC. (1971). Convention on Psychotropic Substances, 1971. https://www.unodc.org/pdf/convention_1971_en.pdf

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Was gibt’s zu essen?

Und was macht das mit der Psyche und dem subjektiven Wohlbefinden?

«Du bist, was du isst». Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, hat grossen Einfluss auf unser tagtägliches Leben. Die Forschung berichtet von diversen Zusammenhängen zwischen Ernährung und Gesundheit. Wie sieht es mit mentaler Gesundheit und subjektivem Wohlbefinden aus?

Von Isabelle Bartholomä
Lektoriert von Marina Reist und Andrea Frei
Illustriert von Alba Lopez

«Was gibt’s heute zu essen?» Diese Frage stellen wir uns alle täglich in verschiedenen Kontexten. Sei es, weil wir zum Abendessen bei Bekannten eingeladen sind, weil die Gedanken nach stundenlangem Büffeln in der Bibliothek abschweifen, oder einfach, weil wir gerade ein Hungergefühl verspüren. Was wir in welcher Situation dann tatsächlich essen, hängt von vielen verschieden Faktoren ab: von Körpergefühl, Körperwahrnehmung, Geschmacksvorlieben, Lebensalter, Geschlecht, Gewohnheiten, Alltagsabläufen, soziokultureller Zugehörigkeit, aktuell verfügbarer Zeit, persönlichem Wissen, Fertigkeiten, Nahrungsangebot und so weiter (Sauter, 2020). Je nach Person fliessen zu unterschiedlichem Ausmass in die Entscheidung auch Wissen und Überzeugungen zu gesunden Ernährungsweisen ein. Kein Fleisch zu essen ist beispielsweise mit vielen Vorteilen für die körperliche Gesundheit verbunden, wie zum Beispiel einem geringeren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, tieferem Blutdruck und reduziertem Risiko für Übergewicht, Typ 2 Diabetes und Dickdarmkrebs (Costa et al., 2019). Gibt es darüber hinaus Zusammenhänge mit Variablen psychischer Gesundheit?

Nährstoffe und psychische Gesundheit

Bei einer Lebenserwartung von 75 Jahren und drei Mahlzeiten pro Tag nimmt der Mensch in seinem Leben ungefähr 80‘000 Mahlzeiten zu sich (Sauter, 2020). Dabei wirkt sich sowohl das Essverhalten auf die Psyche aus als auch umgekehrt die Psyche auf das Essverhalten. Alkohol hebt die Stimmung, enthemmt oder macht aggressiv. Schokolade kann Glücksgefühle hervorrufen. Andererseits essen und trinken Menschen nicht nur, weil sie Hunger und Durst haben, sondern auch aus Trauer, Langeweile, Freude, Geselligkeit, Stress oder weil sie sich belohnen wollen. Mahlzeit haben auch eine starke soziale Komponente. So kann beispielsweise ein gemeinsamer Kaffee als Hilfsmittel zur Beziehungsaufnahme dienen (Sauter, 2020). Obwohl es also beim Essen um deutlich mehr geht als nur die Aufnahme von Nährstoffen, sind diese durchaus von Bedeutung, wenn es um Variablen psychischen Wohlbefindens geht.

Firth und Kollegen (2020) liefern einen Überblick über die komplexen Einflüsse von Ernährung und Nährstoffen auf das Gehirn und die Psyche. So zeigt beispielsweise längsschnittliche Forschung einen Zusammenhang zwischen raffinierten Kohlenhydraten und dem Einsetzen von depressiven Symptomen. Kalorienreiches Essen, das reich an gesättigten Fettsäuren ist, scheint das Immunsystem zu aktivieren und entzündende Effekte zu haben, die wiederum mit kognitivem Abbau, Dysfunktion des Hippocampus (einer Hirnstruktur, die mit dem Gedächtnis in Zusammenhang steht) und Beeinträchtigungen der Blut-Hirn-Schranke zusammenhängen. Umgekehrt können antiinflammatorische Nährstoffe und Ernährungsweisen (z. B. mediterrane Ernährung, siehe auch Owen & Corfe (2017)) depressive Symptome reduzieren. Dieser Zusammenhang ist jedoch sehr komplex und wird beispielsweise durch Stressoren und die persönliche Krankheitsgeschichte mit Depressionen beeinflusst. Firth und Kollegen (2020) fassen zusammen, dass sich möglicherweise eine vermehrt gesunde, nährstoffreiche Ernährung und die gleichzeitige Reduktion von stark verarbeiteten «Junkfoods» über die bekannten Vorteile für die körperliche Gesundheit hinaus auch in einem verbesserten psychologischen Wohlbefinden zeigen können.

Beziehungen von Vegetarier*innen

Vegetarismus ist nicht nur eine Ernährungsform, sondern kann einen wichtigen Teil der sozialen Identität darstellen (Nezlek & Forestell, 2020). Insofern gibt es auch Zusammenhänge mit sozialen Beziehungen. Beispielsweise erleben Vegetarier*innen Sticheleien von Freund*innen und Familienmitgliedern, sowie Mikroaggressionen (Pfeiler & Egloff, 2020). Ausserdem können die Unterschiede in den Werten zu «vegetarian threat» führen, also dass Fleischessende eine Bedrohung ihrer eigenen Werte durch Vegetarier*innen wahrnehmen (Nezlek, Cypryanska, & Forestell, 2021). Bleiben Letztere also vermehrt unter sich? Eine Reihe von Studien von Nezlek, Cypryanska und Forestell (2021) mit Amerikaner*innen und Pol*innen zeigt, dass Vegetarier*innen deutlich wahrscheinlicher vegetarische Freunde haben. Ausserdem haben sie mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine*n vegetarische*n Partner*in, im Vergleich zu 4 Prozent der Fleischessenden. Tatsächlich scheinen Vegetarier*innen also Beziehungen zu Personen mit ähnlichem Ernährungsstil zu präferieren.

Vegetarische und vegane Ernährungsweise

Spezifische Ernährungsweisen, welche zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten, sind einerseits die vegetarische Ernährung, die auf Fleisch verzichtet, und andererseits die vegane Ernährung, die alle tierischen Produkte aus dem Menüplan streicht. In der Forschung werden diese Ernährungsformen oft nicht getrennt untersucht, sondern in einen Topf geworfen, oder der Fokus wird nur auf Vegetarier*innen gelegt. Nezlek und Forestall (2020) schlagen vor, Vegetarismus als soziale Identität im Sinne der Social Identity Theory nach Taijfel und Turner (1979, zitiert nach Nezlek & Forestell, 2020) zu betrachten. Das beinhaltet, dass Personen sich und andere in Gruppen kategorisieren, die Ideen, Meinungen, Wissen und Überzeugungen – in diesem Fall zur fleischlosen Ernährung – teilen, und die eigene Gruppe als besser und heterogener als andere Gruppen wahrgenommen wird. Vegetarismus als soziale Identität geht also über ernährungsbezogene Präferenzen hinaus. Vielmehr hat die Wahl der Ernährung auch die Funktion, Ideale und Identitäten auszudrücken, und kann die breitere Lebensphilosophie einer Person repräsentieren (Nezlek & Forestell, 2020).

«Being a vegetarian is more socially visible and has more implications for one’s social life than eating less meat has.»

Nezlek & Forestell, 2020, 47

Auch Veganismus kann eine Form von Aktivismus, beziehungsweise eine politische Ernährung werden, mit der Personen ihre Ernährung mit ihren ethischen und moralischen Einstellungen in Einklang bringen können (Costa et al., 2019). Aus Interviews mit zehn australischen Veganerinnen leiten Costa und Kollegen (2019) ab, wie junge Frauen sich auf ihrem Weg zum Veganismus verändern. Zunächst verfügen die Frauen über starke ethische Einstellungen bezüglich Tierrechten. Sie identifizieren sich mit der veganen Subkultur und verändern ihren eigenen Lebensstil deutlich, nicht nur bezogen auf Ernährung, sondern auch auf ihre Identität. Die Frauen erleben einige positive Veränderungen in der Beziehung zu sich selbst, anderen Personen, Tieren und der Umwelt. Die Identifikation als Veganerin scheint ihre Beziehung zum Essen zu verbessern, genauso wie ihr Wohlbefinden (Costa et al., 2019).

Menschen, die sich freiwillig vegetarisch ernähren, weisen eher liberale politische Sichtweisen auf, legen Wert auf Umweltschutz, Gleichbehandlung und soziale Gerechtigkeit und sind gegen Autoritarismus, die Todesstrafe und Gewalt im Allgemeinen (Nezlek & Forestell, 2020). Sie sind empathischer und altruistischer als Fleischessende. Jedoch zeigt die Forschung, dass Vegetarier*innen auch schlechter angepasst, neurotischer, depressiver und ängstlicher sind, sowie häufiger schlechte Stimmung haben. Dafür gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten. Einerseits kann es sein, dass Nährstoffmangel aufgrund vegetarischer Ernährung zu Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit führt. Eine andere Erklärung besteht darin, dass Vegetarier*innen als soziale Minderheit – sie machen in westlichen, industrialisierten Ländern maximal 10 Prozent der Population aus – abgewertet werden und oft soziale Ablehnung und Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft, den Fleischessenden, erfahren. Ausserdem könnte das geringere Wohlbefinden daraus resultieren, dass die ausgeprägtere prosoziale Haltung und das Klimabewusstsein der Vegetarier*innen sie mehr unter den bestehenden sozialen und umweltbezogenen Missständen leiden lassen. Es stellt sich somit auch die Frage der Kausalitätsrichtung, also ob die vegetarische Ernährung zu schlechterem Wohlbefinden führt, oder ob Personen mit geringerem Wohlbefinden sich eher vegetarisch ernähren (Nezlek & Forestell, 2020).

Es gibt jedoch auch Zweifel daran, ob Vegetarier*innen tatsächlich ein geringeres subjektives Wohlbefinden aufweisen. Beispielsweise kann die Diskriminierung als Vegetarier*in oder Veganer*in zu erhöhter Identifikation mit der jeweiligen Gruppe führen und dadurch das Wohlbefinden steigern (Pfeiler & Egloff, 2020). Pfeiler und Egloff (2020) stellten fest, dass Studien zu diesem Thema sehr inkonsistente und teilweise widersprüchliche Ergebnisse liefern und haben sich der Fragestellung mit zwei repräsentativen Stichproben aus Deutschland und Australien angenommen. Die Vegetarier*innen wiesen jeweils leicht höhere Werte in negativem Affekt auf, jedoch auch in Zufriedenheit mit ihrem Gesundheitszustand und in der deutschen Stichprobe auch mit Lebenszufriedenheit. Bei positivem Affekt gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Vegetarier*innen und Fleischessenden. Da jedoch das subjektive Wohlbefinden und die Ernährungsweise auch mit Variablen wie Alter und Geschlecht zusammenhängen, wurde in einem zweiten Analyseschritt für demografische Variablen kontrolliert, also der Effekt derselben statistisch herausgerechnet. Danach zeigte sich nur noch ein sehr kleiner Effekt beim negativen Affekt, was darauf schliessen lässt, dass die Effekte der Ernährung auf das subjektive Wohlbefinden vernachlässigbar sind, zumindest gemittelt über eine grosse Stichprobe hinweg (Pfeiler & Egloff, 2020). Interessant wäre es zu untersuchen, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Vegetarier*innen gibt.

Auch Rossa-Roccor und Kollegen (2021) fanden keinen Zusammenhang zwischen pflanzenbasierter oder tierischer Ernährungsweise mit Indikatoren für mentale Gesundheit und Lebensqualität in einer kanadischen Stichprobe. Da selbstberichtete Essgewohnheiten jedoch typischerweise zu einer Unterschätzung der Effektgrössen führt, fordern die Autor*innen zu weiterer Forschung hierzu auf.

Biolebensmittel

Mit dem Zusammenhang zwischen Biolebensmitteln und subjektivem Wohlbefinden haben sich Apaolaza und Kollegen (2018) beschäftigt. In zwei Studien mit einer spanischen und einer australischen Stichprobe fanden sie heraus, dass das Konsumieren von Biolebensmitteln zu einem erhöhten subjektiven Wohlbefinden führt, wobei die Überzeugung, dass «bio» gesund ist, und das Interesse an der eigenen Gesundheit eine Rolle spielten. Dabei könnte es sich rein um einen Labeleffekt handeln, da sich der Unterschied auch zeigte, als zwei Versuchspersonengruppen den gleichen konventionellen Orangensaft mit oder ohne Biolabel tranken. Da Biolebensmittel zusätzlich zur Wohlbefindenssteigerung auch besser für die Umwelt sind, scheint es dennoch sinnvoll, den Konsum derselben zu fördern (Apaolaza et al., 2018).

«Still, even with only a psychological label effect in place, an increase in subjective wellbeing should be welcomed.»

Apaolaza et al., 2018, 59

Genuss

Ein weiterer Ansatz zur Herangehensweise an eigene Essensentscheidungen besteht darin, den Genuss zu maximieren. Laut Schönberger und Schmitt (2008) macht das vor dem Hintergrund der Betrachtungsweise von Gesundheit als über die Abwesenheit von Krankheit hinausgehend auch Sinn. Denn Genuss, hier gekennzeichnet von Sinnlichkeit, Lust und Reflexivität – also auch von Selbstkontrolle und Masshalten – kann Einfluss auf die Widerstandsressourcen gegen Stressoren haben und somit auch auf das Wohlbefinden (Schönberger & Schmitt, 2008). Schuldgefühle hingegen, die beispielsweise durch das Nicht-Erreichen von Ernährungszielen wie Vegetarismus ausgelöst werden könnten (Pfeiler & Egloff, 2020), können Stress erzeugen. Insofern plädieren Schönberger und Schmitt (2008) dafür, einen schuldfreien Umgang mit Genuss anzustreben.

  

Was gibt’s?

Die Antwort auf die Frage «Was gibt’s heute zu essen?» ist individuell und in jeder Situation abhängig von vielen Faktoren. Unsere Ernährungsweise kann mehr oder weniger stark unsere Identität bestimmen. Die Zusammenhänge mit psychischen Variablen wie mentaler Gesundheit und Wohlbefinden sind komplex. Die vielleicht einfachste und beste Antwort könnte also sein: «Etwas, das Freude bereitet».


Zum Weiterlesen

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Eat organic – Feel good? The relationship between organic food consumption, health concern and subjective wellbeing. Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Literatur

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Costa, I., Gill, P. R., Morda, R., & Ali, L. (2019). “More than a diet”: A qualitative investigation of young vegan Women’s relationship to food. Appetite, 143, 104418. https://doi.org/10.1016/j.appet.2019.104418

Firth, J., Gangwisch, J. E., Wootton, R. E., & Mayer, E. A. (2020). Food and mood: how do diet and nutrition affect mental wellbeing? BMJ, 369, m2440. https://doi.org/10.1136/bmj.m2382

Nezlek, J. B., Cypryanska, M., & Forestell, C. A. (2021). Dietary similarity of friends and lovers: Vegetarianism, omnivorism, and personal relationships. The Journal of Social Psychology, 161(5), 519-525. https://doi.org/10.1080/00224545.2020.1867042

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Owen, L., & Corfe, B. (2017). The role of diet and nutrition on mental health and wellbeing. Proceedings of the Nutrition Society, 76, 425-426. https://doi.org/10.1017/S0029665117001057

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Rossa-Roccor, V., Richardson, C. G., Murphy, R. A., & Gadermann, A. M. (2021). The association between diet and mental health and wellbeing in young adults within a biopsychosocial framework.PLOS ONE, 16(6), e0252358. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0252358

Sauter, D. (2020). Essen und Trinken, alltäglich und existentiell. Psychiatrische Pflege, 5(2), 9-12. https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000288

Schönberger, G., & Schmitt, N. (2008). Wie viel Genuss tut gut? Fakten, Trends und Meinungen, 1. https://www.gesunde-ernaehrung.org/Themenpapiere.html