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Beiträge aus der Kategorie ‘HS21’

Was wir empfinden und wie wir sind 

Die Bedeutung von affektiven Zuständen für die Gerechtigkeit am Arbeitsplatz

Fehlende Gerechtigkeit am Arbeitsplatz ist kein seltenes Problem. Häufig führt sie zu Spannungen zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in. Deshalb befasst sich die Gerechtigkeitsforschung damit, wie Gerechtigkeit entsteht, um diese zu fördern. Folgend wird auf die Rolle von affektiven Zuständen fokussiert.

Von Anja Blaser
Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler 
Illustriert von Anja Blaser

Gerechtes Verhalten wird als Normalzustand angesehen und fällt nicht auf – bis es fehlt (Goldman & Cropanzano, 2015). Bekannt ist, dass Erfahrungen von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz bei den Betroffenen zu schlechterer Arbeitsleistung, mehr Feindseligkeit und höherer Ablenkbarkeit führen (Colquitt et al., 2014). Gerechtes Verhalten des Gegenübers ist demzufolge grundlegend für eine förderliche Arbeitsatmosphäre (Colquitt et al., 2001). Die Forschung liefert weiter einige Erkenntnisse darüber, wie beispielsweise gewisse Charakterzüge sowie die Glaubwürdigkeit und Kompetenz der handelnden Person mit deren Grad an gezeigter Gerechtigkeit verknüpft sind. Personen, die sich gerecht verhalten, werden demnach etwa kompetenter eingestuft als sich ungerecht verhaltende Personen (Zapata et al., 2013). Aber was macht Gerechtigkeit eigentlich aus?  

«Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen leben auf Erden.» 

Kant, 1797, S. 453 

Auf dem Weg zur Gerechtigkeit 

Gerechtigkeit wird meist in vier Dimensionen unterteilt: Distributiv, prozedural, informational und interpersonal. Die distributive Gerechtigkeit beschreibt das gerechte Verteilen von materiellen und symbolischen Gütern. Dabei wird es als gerecht wahrgenommen, wenn die Verteilung gewissen Regeln folgt. Bei der prozeduralen Gerechtigkeit ist vielmehr der Prozess einer Entscheidungsfindung im Fokus. Die betroffene Person wird demnach gerecht behandelt, wenn das Gefühl besteht, dass sie Einfluss auf die Entscheidung hat oder diese nach bestimmten Kriterien gefällt wird. Bei der informationalen Gerechtigkeit geht es um die Transparenz der erhaltenen Informationen. Die Handlung soll somit nachvollziehbar sein und mit den vorhandenen Informationen übereinstimmen. Die interpersonale Gerechtigkeit als letzte Dimension bezieht sich auf den zwischenmenschlichen Umgang (Colquitt et al., 2001). Auch hier wird folglich auf die interpersonale Spannung fokussiert.  

«Es kann nicht nicht kommuniziert werden.» 

Watzlawick, 2016, S. 58 

Generell haben die Erkenntnisse der organisationalen Gerechtigkeitsforschung in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen, besonders mit Blick auf die neuere Dimension – die interpersonale Gerechtigkeit (Colquitt et al., 2001). Diese wird definiert als die Einhaltung von Regeln im zwischenmenschlichen Kontakt, meist ausgeübt von Führungspersonen. Interpersonal gerechtes Verhalten beinhaltet demnach Höflichkeit, Respekt, Würde sowie Verzicht auf unangemessene Bemerkungen (Colquitt et al., 2014) und ist ein wichtiger Bestandteil verbaler Kommunikation. Kommunikation findet sich in in allen Teilbereichen der gesamten Organisation wieder. Dazu stellte Paul Watzlawick einst den Grundsatz auf, dass nicht nicht kommuniziert werden kann (Watzlawick et al., 2016). Ähnlich ist es mit interpersonaler Gerechtigkeit. Obwohl Menschen das interpersonal gerechte Verhalten nicht immer bewusst wahrnehmen, ist es immer Teil des zwischenmenschlichen Kontakts. Werden die Regeln diesbezüglich von Führungspersonen ignoriert, folgen bei den Mitarbeitenden Konsequenzen, wie etwa ein erhöhtes Krankheitsrisiko (Goldman & Cropanzano, 2015) sowie Wut und Widerstand gegenüber diesen Führungspersonen (Colquitt et al., 2001). 

Vom Gefühl zum Verhalten und wieder zurück 

Gerechtigkeit ist das objektive Mass der Beurteilung einer Handlung. Doch jede Handlung ist auch mit einem subjektiven Empfinden verbunden – der subjektiv empfundenen Fairness. Diese folgt somit nicht konkreten Regeln und ergibt sich aus den Umständen. Aus der Literatur ist bekannt, dass viele Einflussgrössen existieren, welche die Entstehung dieser subjektiv empfundenen Fairness signifikant verändern. Als Beispiel können die charismatischen Qualitäten der handelnden Person genannt werden (Rodell et al., 2017). Rodell und Kollegen (2017) begründen diesen Einfluss damit, dass Charisma positive Emotionen auslöst, welche das Fairnessempfinden positiv färben. Dass affektive Zustände die empfundene Fairness beeinflussen, wiesen zudem bereits Lind und van den Bos (2002) nach. Neben diesen Faktoren ist auch bekannt, dass Stimmung einen beachtlichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Mensch und Umwelt hat (Barsky et al., 2011).  

Früher wurde die subjektiv empfundene Fairness gleichgesetzt mit der objektiven Gerechtigkeit (Goldman & Cropanzano, 2015). Die empfundene Fairness beschreibt jedoch, wie das Verhalten von einer Person subjektiv wahrgenommen wird und ist nicht die objektive Beurteilung des Verhaltens anhand gewisser Regeln (Goldman & Cropanzano, 2015). So spiegelt sie nicht die Angemessenheit wider, sondern die subjektive Empfindung ebendieser (Colquitt & Rodell, 2015). 

Die Wirkungsweise der Stimmung 

Es existieren grundsätzlich zwei Prozesse, wie Informationen verarbeitet werden. Neben der expliziten kognitiv kontrollierten Komponente gibt es eine implizite automatische Komponente (van den Bos, 2003). Da subjektiv empfundene Fairness nicht nach eindeutigen Regeln entsteht, scheint dies somit kein rein kognitiv basierter Prozess zu sein, sondern eher ein implizit affektbasierter (Rodell et al., 2017). Dabei beeinflusst der Affekt die Beurteilung vor allem dann, wenn diese erst umfassend konstruiert werden muss. Damit ist gemeint, dass verschiedenste Quellen für mögliche Informationslücken gesammelt und genutzt werden, um diese zu schliessen und daraus eine Beurteilung zu bilden. Demnach werden Erinnerungen oder bestehendes Wissen über ähnliche Sachverhalte als Informationsquelle genutzt, da gegenüber diesen bereits ein Vertrauen für eine korrekte Einschätzung besteht (Lind & van den Bos, 2002). Einfach ausgedrückt, scheint die subjektiv empfundene Fairness ein individuelles Bauchgefühl zu sein. Dieses entsteht dadurch, dass die Person sich unbewusst an bereits ähnlich erlebte Situationen erinnert und sich daran orientiert. So wie das Gefühl bezüglich dieser Situation war, so wird es für die jetzige Beurteilung übernommen. Bisherige Forschung zeigt, dass insbesondere überdauernde Eigenschaften, wie der Charakter, Emotionen oder die Motive der bewerteten Person, ausschlaggebend sind als solche Anhaltspunkte für die Bildung der subjektiv empfundenen Fairness (Rodell et al., 2017). Verhielt sich also eine hilfsbereite Person A in der Vergangenheit gerecht gegenüber einer Person B, dann wird in der Gegenwart eine andere hilfsbereite Person C von Person B auch eher als fair wahrgenommen. Immer häufiger wird jedoch auch die momentane Stimmung als einflussreiche Information zur Entstehung der Fairnessempfindung in Betracht gezogen und nicht nur als Konsequenz derer (Barsky et al., 2011; Barsky & Kaplan, 2007; Colquitt et al., 2013). Denn die momentane Stimmung verändert, wie erwähnt, die Informationswahrnehmung und -verarbeitung einer Person (Rodell et al., 2017).  

Da Stimmungen meist keinen konkreten Auslöser haben, kann dieser Einfluss der Stimmung eine Person bei der Urteilsbildung in die Irre führen (Schwarz, 2012). Die momentane Stimmung kann dann die subjektiv empfundene Fairness erhöhen oder vermindern. Was davon eintritt, hängt von der Stimmung ab, da je nach Stimmung Informationen unterschiedlich verarbeitet werden. So führt positive Stimmung eher zu heuristischen Überlegungen und negative Stimmung eher zu sorgfältigeren Denkprozessen (Forgas & George, 2001). 

Unter einer momentanen Stimmung wird eine vorübergehende Phase eines Gefühls verstanden (Watson & Vaidya, 2003). Im Vergleich zur Emotion ist die Intensität oft geringer, hält aber länger an. Konkrete Auslöser gibt es meist nicht, vielmehr besteht ein Zyklus über den Tag hinweg (Forgas, 1992). Die Stimmung kann trotzdem leicht beeinflusst werden (Watson & Vaidya, 2003). Unterschieden wird oft zwischen den fünf Ausprägungen Vitalität, Depressivität, Müdigkeit, Wut und Ängstlichkeit nach Cranford und Kollegen (2006).  

Stimmung ist nicht gleich Stimmung 

Genauer gesagt, hat sich gezeigt, dass mit positiver Stimmung eher top-down verarbeitet wird und mit negativer Stimmung bottom-up (Schwarz, 2012). Bei der top-down-Verarbeitung orientiert sich die Person an bestehendem Wissen und Erinnerungen an ähnliche Situationen und bildet daraus eine Erwartung an künftige Situationen. Diese Erwartung gleicht die Person schliesslich mit der jetzigen Situation ab (Forgas, 1994). Bei der bottom-up-Verarbeitung hingegen gewinnt die Person ihre Informationen aus der jetzigen Situation (Forgas, 1994). Für eine Einschätzung nimmt eine negativ gestimmte Person somit die Merkmale des jetzigen Verhaltens wahr und stuft sie neu ein, woraus ein neues Bild eines (un)fairen Verhaltens entsteht. 

Der stimmungsbedingte Informationsgehalt wird jedoch nicht nur als ergänzender Wegweiser der Informationsverarbeitung betrachtet, sondern fungiert als Informations-Lückenfüller (Barsky & Kaplan, 2007; Colquitt & Zipay, 2015; Forgas, 1994). Der Literatur zufolge wird durch die momentane Stimmung die Aufmerksamkeit auf die Stimuli gelenkt, welche dieser Stimmung entsprechen.  Daraus werden dann die nötigen Informationen gewonnen, wenn solche fehlen. Urteile fallen dann entsprechend dem Fokus auf positive oder negative Stimuli auch positiver oder negativer aus (Becker & Leinenger, 2011). Diese selektive Aufmerksamkeit entsteht durch die Aktivierung entsprechender Verbindungen im Gehirn, welche mit dieser Stimmung verknüpft sind (Forgas, 1995).  

Durch diese unterschiedliche Aktivierung sowie die unterschiedlichen Informationsverarbeitungswege top-down und bottom-up resultieren je nach Stimmung also andere Beeinflussungen der Denk- und Verhaltensweise, wie bereits Forgas (1994) berichtete. 

Die top-down-Verarbeitung führt dazu, dass bestehende stereotypische Bilder mit Schlüsselinformationen aus der Situation verknüpft sowie angepasst werden und bei positiver Stimmung für die Empfindung gemeinsam genutzt werden. Zudem fokussieren positiv gestimmte Menschen eher auf Externes aus der Umgebung und nicht auf sich selbst (Sedikides, 1992). Das beeinflusst die (Selbst-)Wahrnehmung dahingehend, dass sie flexibel ist und breite Informationen einbezogen werden. So werden trotz positiver Stimmung korrekt auch negative Bewertungen gebildet und fallen nicht positiver aus (Brief & Weiss, 2002).  

Die bottom-up-Verarbeitung bei negativer Stimmung hingegen führt dazu, dass auf die momentane Situation fokussiert wird. Dadurch findet eine engere Verarbeitung statt, da bestehendes Wissen nicht einbezogen wird (Barsky et al., 2011). Insbesondere liegen hierbei die negativen Eindrücke im Zentrum der Aufmerksamkeit, da diese stimmungskongruent und somit auffallender sind (Barsky et al., 2011; Forgas, 1992). Negativ gestimmte Personen sind zudem eher selbstzentriert (Sedikides, 1992). Die (Selbst-)Wahrnehmung wird dadurch so beeinflusst, als dass diese negativiert wird durch die eigene negative Stimmung. Je depressiver beispielsweise eine Person gestimmt ist, desto weniger fair nimmt sie das Verhalten wahr (van den Bos, 2003).  

Barsky und Kaplan (2007) wiesen ebenso bereits signifikante Zusammenhänge zwischen Stimmungen und der empfundenen Fairness nach. Bei allen bisherigen Forschungsdaten ist jedoch keine eindeutig kontinuierliche kausale Richtung der Beeinflussung ersichtlich. Das heisst, es ist unklar, ob die Stimmung beeinflusst, wie fair wir etwas wahrnehmen oder ob durch die Fairnessempfindung erst unsere Stimmung verändert wird.  

Offene Fragen der Zukunft 

In Anbetracht der wachsenden Literatur, welche sich mit der Rolle der Stimmung auseinandersetzt, ist zu sehen, dass ein Grossteil der Forscher*innen die Wichtigkeit deren anerkannt hat. Trotzdem gibt es diesbezüglich noch Lücken. Meist wird der Einfluss der Stimmung nur in Bezug auf die subjektiv empfundene Fairness betrachtet oder vermehrt auch auf die objektive Komponente – die interpersonale Gerechtigkeit. Obschon diese objektiv sein sollte und klaren Regeln folgt, kann es auch von den Bewertern zu subjektiven Einschätzungen kommen, welche von Stimmungen geleitet werden könnten. Weiter fehlt bis heute die gemeinsame Betrachtung der beiden Konstrukte «Fairness» und «Gerechtigkeit» und deren Übereinstimmung. In Bezug auf bestehende Nachweise über eine Beeinflussung der empfundenen Fairness durch die Stimmung liegt es nahe, dass die Rolle der Stimmung auch bei der vermuteten Übereinstimmung zwischen der selbst empfundenen Fairness und der interpersonal gezeigten Gerechtigkeit nicht vernachlässigt werden darf. Es reicht nämlich nicht, gerecht handeln zu wollen, um dies auch wirklich zu tun. Eine Führungsperson muss demnach selbst wahrnehmen können, wie sie tatsächlich handelt, denn erst so kann sie darauf reagieren und ihr Verhalten entsprechend verändern.  


Zum Weiterlesen

Barsky, A., & Kaplan, S. A. (2007). If you feel bad, it’s unfair: A quantitative synthesis of affect and organizational justice perceptions. The Journal of Applied Psychology92(1), 286-295. https://doi.org/10.1037/0021-9010.92.1.286 

Forgas, J. P., & George, J. M. (2001). Affective influences on judgments and behavior in organizations: An information processing perspective. Organizational Behavior and Human Decision Processes86(1), 3-34. https://doi.org/10.1006/obhd.2001.2971 

Rodell, J. B., Colquitt, J. A., & Baer, M. D. (2017). Is adhering to justice rules enough? The role of charismatic qualities in perceptions of supervisors’ overall fairness. Organizational Behavior and Human Decision Processes140, 14-28. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2017.03.001 

van den Bos, K. (2003). On the subjective quality of social justice: The role of affect as information in the psychology of justice judgments. Journal of Personality and Social Psychology85(3), 482-498. https://doi.org/sedik 

Literatur

Barsky, A., & Kaplan, S. A. (2007). If you feel bad, it’s unfair: A quantitative synthesis of affect and organizational justice perceptions. The Journal of Applied Psychology92(1), 286-295. https://doi.org/10.1037/0021-9010.92.1.286 

Barsky, A., Kaplan, S. A., & Beal, D. J. (2011). Just feelings? The role of affect in the formation of organizational fairness judgments. Journal of Management37(1), 248-279. https://doi.org/10.1177/0149206310376325 

Becker, M. W., & Leinenger, M. (2011). Attentional selection is biased toward mood-congruent stimuli. Emotion11(5), 1248-1254. https://doi.org/10.1037/a0023524 

Brief, A. P., & Weiss, H. M. (2002). Organizational behavior: Affect in the workplace. Annual Review of Psychology53(1), 279-307. https://doi.org/10.1146/annurev.psych.53.100901.135156 

Colquitt, J. A., Conlon, D. E., Wesson, M. J., Porter, C. O. L. H., & Ng, K. Y. (2001). Justice at the millennium: A meta-analytic review of 25 years of organizational justice research. Journal of Applied Psychology86(3), 425-445. https://doi.org/10.1037/0021-9010.86.3.425 

Colquitt, J. A., Long, D., Rodell, J., & Halvorsen-Ganepola, M. D. K. (2014). Adding the «in» to justice: A qualitative and quantitative investigation of the differential effects of justice rule adherence and violation. The Journal of Applied Psychology100(2), 278-297. https://doi.org/10.1037/a0038131 

Colquitt, J. A., & Rodell, J. B. (2015). Measuring justice and fairness. In R. S. Cropanzano & M. L. Ambrose (Eds.), The Oxford handbook of justice in the workplace (pp. 187-202). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199981410.013.8 

Colquitt, J. A., Scott, B. A., Rodell, J. B., Long, D. M., Zapata, C. P., Conlon, D. E., & Wesson, M. J. (2013). Justice at the millennium, a decade later: A meta-analytic test of social exchange and affect-based perspectives. Journal of Applied Psychology98(2), 199-236. https://doi.org/10.1037/a0031757 

Colquitt, J. A., & Zipay, K. P. (2015). Justice, fairness, and employee reactions. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior2(1), 75-99. https://doi.org/10.1146/annurev-orgpsych-032414-111457 

Cranford, J. A., Shrout, P. E., Iida, M., Rafaeli, E., Yip, T., & Bolger, N. (2006). A procedure for evaluating sensitivity to within-person change: Can mood measures in diary studies detect change reliably? Personality & Social Psychology Bulletin32(7), 917-929. https://doi.org/10.1177/0146167206287721 

Forgas, J. P. (1992). Affect in social judgments and decisions: A multiprocess model. In M. P. Zanna (Ed.), Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 25, pp. 227-275). Academic Press. https://doi.org/10.1016/S0065-2601(08)60285-3 

Forgas, J. P. (1994). The role of emotion in social judgments: An introductory review and an Affect Infusion Model (AIM). European Journal of Social Psychology24(1), 1-24. https://doi.org/10.1002/ejsp.2420240102 

Forgas, J. P., & George, J. M. (2001). Affective influences on judgments and behavior in organizations: An information processing perspective. Organizational Behavior and Human Decision Processes86(1), 3-34. https://doi.org/10.1006/obhd.2001.2971 

Goldman, B., & Cropanzano, R. (2015). «Justice» and «fairness» are not the same thing. Journal of Organizational Behavior36(2), 313-318. https://doi.org/10.1002/job.1956 

Kant, I. (1797). Die Metaphysik der Sitten: In zwey Theilen. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Nicolovius. 

Lind, E. A., & van den Bos, K. (2002). When fairness works: Toward a general theory of uncertainty management. Research in Organizational Behavior24, 181-223. https://doi.org/10.1016/S0191-3085(02)24006-X 

Rodell, J. B., Colquitt, J. A., & Baer, M. D. (2017). Is adhering to justice rules enough? The role of charismatic qualities in perceptions of supervisors’ overall fairness. Organizational Behavior and Human Decision Processes140, 14-28. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2017.03.001 

Schwarz, N. (2012). Feelings-as-Information Theory. In P. A. M. Van Lange, A. W. Kruglanski, & E. T. Higgins (Eds.), Handbook of theories of social psychology (Vol. 1, pp. 289-308). https://doi.org/10.4135/9781446249215.n15 

Sedikides, C. (1992). Mood as a determinant of attentional focus. Cognition and Emotion6(2), 129-148. https://doi.org/10.1080/02699939208411063 

van den Bos, K. (2003). On the subjective quality of social justice: The role of affect as information in the psychology of justice judgments. Journal of Personality and Social Psychology85(3), 482-498. https://doi.org/sedik 

Watson, D., & Vaidya, J. (2003). Mood measurement: Current status and future directions. In J. A. Schinka, W. F. Velicer, & I. B. Weiner (Eds.), Handbook of psychology: Research methods in psychology (Vol. 2, pp. 351-375). John Wiley & Sons Inc. https://doi.org/10.1002/0471264385.wei0214 

Watzlawick, P., Beavin, J. H., & Jackson, D. D. (2016). Menschliche Kommunikation (13th Ed.). Hogrefe. http://doi.org/10.1024/85745-000 

Zapata, C. P., Olsen, J. E., & Martins, L. L. (2013). Social exchange from the supervisor’s perspective: Employee trustworthiness as a predictor of interpersonal and informational justice. Organizational Behavior and Human Decision Processes121(1), 1-12. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2012.11.001 

Climate Anxiety

Wenn der Klimanotstand auf die Psyche schlägt

Der Artikel stellt das neue Phänomen «Climate Anxiety» vor. Verschiedene Perspektiven und Definitionen aus den Bereichen der Psychologie, Soziologie und Philosophie werden betrachtet. Ausserdem wird ein Blick auf die Klimagerechtigkeit und Rassismus geworfen.

Von Caroline Meinshausen
Lektoriert von Laura Trinkler und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Melina Camin

Die Klimakrise ist brandaktuell. Sie zeigt sich in der Eisschmelze, Hochwasser, extremen Temperaturen und anderen heftigen Wetterereignissen (Europäische Komission, o. D.). Wer in seiner Region nicht direkt betroffen ist, bekommt meist durch die Medien mit, was der Klimawandel auf der Welt anrichtet. Das menschgemachte Phänomen hat laufend horrende Auswirkungen. Ein Blick in die Zukunft verheisst eine Vielzahl düsterer Prognosen: Artensterben, Schwinden der Gletscher, Meeresspiegelanstieg, extreme Hitze und aus alldem folgend enorme gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Schäden (Europäische Komission, o. D.).

Wie geht es uns mit diesem Wissen und den zahlreichen schlechten Nachrichten aus aller Welt – wie geht es uns damit? Ist das nicht zum Verzweifeln? Bis zur Verzweiflung geht es wohl bei den meisten Menschen (noch) nicht. Aber die drohende Zerstörung des Planeten, wie wir ihn kennen, kann belastend sein (Panu, 2020).

Seit Kurzem lässt sich dieses Phänomen durch einen Begriff beschreiben: Climate Anxiety. Im Google n-gram Viewer, der die Häufigkeit von Wörtern in digitalisierten Buchbeständen anzeigt, ist ersichtlich, wie der Begriff in den 1970ern aufkam und aktuell wieder an Popularität gewinnt.

«Climate Anxiety» im Google nGram Viewer: Mit dieser Häufigkeit wurde das Wort im grossen Buchbestand (Englisch) von 1950-2019 verwendet (nach dem Vorgehen von Lin et al., 2012).

Warum wurde das Wort Climate Anxiety schon in den 1970ern gehäuft verwendet?

Der Psychiater und Psychoanalytiker Harold Searles veröffentlichte 1960 ein Buch mit dem Titel The nonhuman environment in normal development and in schizophrenia. In diesem Werk stellte er dar, wie wichtig es ist, der nicht-menschlichen Umwelt eines Menschen Beachtung zu schenken. Searles (1960) untersuchte zum Beispiel die Bezogenheit eines Kleinkindes auf seine Umwelt und erweiterte die Perspektive um die nicht-menschlichen Dinge: Für die Entwicklung des Kindes sind zum Beispiel nicht nur die Mutter und andere Menschen relevant, sondern auch die ganze Umgebung. Auch bei der Betrachtung von schizophrenen Wahnvorstellungen entdeckte Searles (1960), dass die Umgebung der Person relevant ist, um Wahninhalte und innere Konflikte besser zu verstehen (Coleman Nelson, 1961). Dieser Hinweis auf die enge und vielfältige Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt führte zu ersten öko-psychologischen Überlegungen (Coleman Nelson, 1961).

Doch was genau ist Climate Anxiety? Es handelt sich um einen neuen Begriff, für den viele verschiedene Definitionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vorliegen (Panu, 2020). Diese können helfen, die zahlreichen Auswirkungen des Klimanotstandes auf die menschliche Psyche umfassender zu begreifen. Vorweggesagt: Das Phänomen ist so weitgreifend wie die Klimakrise selbst (Panu, 2020). In einer Studie von Ogunbode (2021) konnten in 25 westlichen und nicht-westlichen Ländern symptomatische Belastungen der psychischen Gesundheit nachgewiesen werden, welche durch Formen von Climate Anxiety ausgelöst wurden.

Was ist Anxiety?

Im Deutschen lässt sich Anxiety als ein Zustand von Sorge, Angst und Anspannung beschreiben (Panu, 2020). Hierbei ist wichtig zu betonen, dass Anxiety für sich genommen eine natürliche und gesunde Reaktion auf ein (potenziell) belastendes Ereignis ist. Eine Pathologisierung der Climate Anxiety muss unbedingt vermieden werden. Es kann sonst zu grundsätzlichen Missverständnissen um die Tragweite des auslösenden Ereignisses kommen und die Realität der Lage würde zu Unrecht in Zweifel gezogen werden. In Einzelfällen kann Climate Anxiety zu einer klinischen Angststörung werden, bei der das Ausmass der Angst und Anspannung nicht mehr im Verhältnis zum Auslöser steht. Dies kommt aber weitaus seltener vor. Es ist wichtig, das reale emotionale Erleben der Menschen angesichts der Klimakrise zu validieren – daher ist Climate Anxiety ein wichtiger Begriff, besonders weil er nicht pathologisch zu verstehen ist (Panu, 2020). Es gibt ausserdem Evidenz, dass Climate Anxiety nicht von einer stärker gefährdeten Gruppe mit erhöhter Anfälligkeit erlebt wird, sondern von Menschen allgemein (Hyry, 2019).

Psychologischer und soziologischer Blick

Angst entsteht meist durch einen konkreten Auslöser (Panu, 2020). Anxiety hingegen wird oft von starker Ungewissheit ausgelöst, die auch bei der Klimakrise sehr präsent ist. Furcht und Sorge zeigen sich als Reaktionen auf diese Ungewissheit. Climate Anxiety bezieht sich also auf das Erleben von Furcht und Besorgnis in Bezug auf verschiedene Aspekte (Panu, 2020). Einerseits kann die Zerstörung unserer (Um)Welt, wie wir sie kennen, zu grosser Furcht führen (Clayton et al., 2017). Andererseits bezieht sich diese Besorgnis auch auf unser Verhältnis zu beziehungsweise unseren Umgang mit der Umwelt (Albrecht, 2018). Die Abgrenzung von Furcht und Sorge zu Angst ist in diesem Fall schwierig zu vollziehen (Panu, 2020). Climate Anxiety bezeichnet einen umfassenden umweltbezogenen Stress. Ohnmacht und Hilflosigkeit sind ebenfalls wichtige Bestandteile der Climate Anxiety. Diese werden insbesondere durch den Umstand ausgelöst, dass die Klimakrise für kaum jemanden ein zufriedenstellendes Mass an Kontrollmöglichkeiten zulässt. Der permanente Strom von Nachrichten in den Medien trägt zum Gefühl der Überwältigung und Überforderung bei (Panu, 2020).

«[…] ‪climate change constitutes a profound challenge ‪to established ways of life in Western nations and constitutes the emergence ‪of an ongoing and expanding cultural trauma.»

Brulle, 2019, S. 899

Soziologisch gesehen, entsteht durch den Klimawandel auch eine Veränderung der sozialen Ordnung, was Angst und Stress auslösen kann (Panu, 2020). In einer Zeit, in der Traditionen und Normen sich zunehmend lockern, die Freiheit der Individuen sich erweitert und gesellschaftliche Veränderungen stattfinden, ist der*die Einzelne zunehmend mit Ungewissheit konfrontiert. Technische Neuerungen torpedieren diese Entwicklung. Das Fehlen sozialer Normen für den Umgang mit dem Klimawandel ist eine weitere Quelle von Unsicherheit oder gar Frustration (Panu, 2020).

Noch negativere Auswirkungen als fehlende Normen kann ein fehlender Austausch haben (Panu, 2020). Es entsteht ein sozial konstruiertes Schweigen, in dem Besorgnisse und Gefühle gegenüber der Klimakrise nicht geäussert werden können (Panu, 2020). Die verschiedenen Meinungen und Positionen erscheinen so widersprüchlich und unvereinbar, dass der Diskurs abgebrochen wird (Norgaard, 2011). Dies kann Climate Anxiety weiter verstärken (Panu, 2020). Nicht allein ökologische Veränderungen üben also Druck auf die menschliche Psyche aus, auch der soziale Umgang oder Nicht-Umgang mit diesen Veränderungen hat einen starken Einfluss (Panu, 2020).

Aus psychodynamischer Sicht ist hier zusätzlich der Teufelskreis von Furcht und Verleugnung interessant, der seinerseits zu einer intraindividuellen Verstärkung der Anspannung führen kann (Panu, 2020). «Environmental Melancholia» bezeichnet einen Zustand der unbewussten Trauer angesichts der Folgen des Klimawandels (Lertzman, 2015). Ob umweltbezogene Besorgnisse adressiert und bearbeitet werden können, wird auch in der Zukunft von grosser Bedeutung für die mentale Gesundheit sein (Panu, 2020). Climate Anxiety kann sogar Einfluss auf Überlegungen für oder gegen eine Familiengründung nehmen (Nairn, 2019), was den Bedarf an Aufmerksamkeit für dieses Thema und seine Reflexion unterstreicht.

Existenzielle Sichtweise

Es erscheint nicht abwegig, Climate Anxiety mit den grundlegendsten Sorgen und Ängsten zu verbinden, die wir in Bezug auf die elementaren Gegebenheiten des Lebens hegen. Der Tod ist ein zentrales Thema medialer Untergangsprophezeiungen sowie wissenschaftlicher Vorhersagen, wie etwa zum Thema der Temperaturentwicklungen (Adams, 2014). Neben der Ungewissheit in Bezug auf konkrete Entwicklungen und Herausforderungen in unserer nahen Zukunft tritt hier eine «ontologische Unsicherheit» auf. Diese Form der Unsicherheit besteht darin, dass die Strukturen, in denen wir leben, nicht von unbegrenzter Dauer und sogar konkret bedroht sind. Eine tatsächliche oder imminente Störung unserer Lebenswelt, deren Konsumverhalten mit ursächlich für die Klimakrise ist, kann starke Gefühle von Trauer und auch Schuld hervorrufen (Adams, 2014).

Moralische Emotionen und «Practical Anxiety»

Furcht und Besorgnis als natürliche Reaktionen auf eine Bedrohung können auch positive Aspekte enthalten (Kurth, 2018). «Practical Anxiety» regt Informationsbeschaffung und Problemlöseverhalten an (Kurth, 2018). Es kommt zum Beispiel zu einem Überdenken des eigenen Konsumverhaltens und Lebensstils bei Einzelpersonen wie auch in Gemeinschaften (Kurth, 2018). Als moralische Emotion zeigt Climate Anxiety einerseits an, dass etwas geschieht, das nicht recht ist (Panu, 2020). Andererseits bekräftigt sie auch die Bedeutsamkeit, sich um dieses Geschehen Sorgen zu machen. Dieses Potenzial scheint bei der Frage relevant zu sein, wie künftig mit dem Klimanotstand und seinen psychischen Folgen umgegangen werden kann. Sich um die Umwelt zu sorgen, ist ein erster Schritt für die Umwelt zu sorgen. Das kann bedeuten, Missverhältnisse zu adressieren und nicht stiller Beobachter oder Leugner der drohenden Veränderungen zu sein. Es braucht also Mittel und Wege, um die positiven und konstruktiven Seiten von Climate Anxiety für den Kampf gegen die Klimakrise dienstbar zu machen. Die lähmenden Aspekte der negativen Gefühle dagegen müssen begrenzt werden (Panu, 2020).

Climate Anxiety – ein weisses Phänomen?

Die Störung der Lebenswelt und sozialen Ordnung, die der Klimawandel bedeutet, ist per se aversiv (Panu, 2020). Sie geht mit der Infragestellung eines bisherigen Lebensstils, gesellschaftlicher Normen und Prioritäten einher und es werden existenzielle Bedürfnisse bedroht (Panu, 2020). Dr. Sarah Jaquette Ray, Autorin von A field guide to climate anxiety, weist darauf hin, dass Climate Anxiety ein sehr «weisses» Phänomen ist (Ray, 2021). Weisse Menschen sprechen und agitieren sehr viel über Klimaphänomene, wobei sie im Vergleich zu nicht-weissen Gemeinschaften erheblich weniger von den Folgen betroffen sind. Diese nicht-weissen Gemeinschaften weisen eine Resilienz auf, die den nicht-weissen fehlt – daher scheint Climate Anxiety ein weisses Phänomen zu sein (Ray, 2021).

Es muss aber beachtet werden, wie diese Resilienz entstanden ist: Unterdrückung, Marginalisierung sowie das Absprechen ihrer Existenzberechtigung haben nicht-weisse Gemeinschaften in der Vergangenheit und bis heute gezwungen, Resilienz zu entwickeln (Ray, 2021). Die Klimakrise ist nicht die erste oder grösste existenzielle Bedrohung unserer Zeit und ihre Darstellung als solche leugnet die Erfahrung nicht-weisser Gemeinschaften. Rassismus und Ausbeutung bedrohen nicht-weisse Gemeinschaften existenziell. Climate Anxiety kann daher auch als Anhaften weisser Gemeinschaften an ihren Privilegien interpretiert werden, die bisher nicht auf diese tiefgreifende Weise bedroht wurden. Diese Einsichten sind entscheidend für die Ausgestaltung unserer Reaktionen auf die Klimakrise. Die konstruktiven Aspekte von Climate Anxiety müssen zugunsten von Klimagerechtigkeit eingesetzt werden. Die Gefahr eines ökologischen Rassismus muss bewusst gemacht und aktiv abgewendet werden. Wir können die Geschichte nicht ausser Acht lassen, um die Zukunft zu retten, schreibt Ray (2021).

«We need to channel grief toward collective liberation.»

Ray, 2021, S. 2

Fazit

Climate Anxiety ist ein vielgestaltiges und wichtiges Phänomen, das als natürliche Reaktion auf die massiven, kaum kontrollierbaren Bedrohungen unserer Umwelt durch die Klimakrise auftritt (Panu, 2020). Als Motivatoren für eigenes und kollektives klimapositives Handeln können die negativen Gefühle von Besorgnis, Furcht und Angst aber konstruktiv umgewandelt werden (Panu, 2020). Beim Betrachten der existenziellen Dimension von Climate Anxiety ist zu beachten, dass diese vor allem für weisse, privilegierte Gemeinschaften gilt, die die mögliche Zerstörung ihrer Lebenswelt historisch noch nicht erfahren haben (Ray, 2021). Insbesondere dadurch sind sie also auch in der Verantwortung, an alle Reaktionen auf den Klimanotstand im Sinne der Klimagerechtigkeit zu denken. Umweltbezogene Trauer resultierend aus Klimawandel wie aus Rassismus, muss in Richtung kollektiver Befreiung gelenkt werden (Ray, 2021).


Zum Weiterlesen

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Literatur

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Konflikte

Win-Win oder gemeinsam in den Abgrund?

Konflikte begegnen uns alltäglich: In den Nachrichten, auf der Arbeit sowie im Privaten erleben wir Unvereinbarkeiten, und welch unangenehmen Folgen sie haben können. Doch was genau sind Konflikte und wie lassen sie sich differenzieren? Was führt zur Eskalation eines ursprünglich einfach definierbaren Streitpunktes?

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Jovana Vicanovic
Illustriert von Kerry Willimann

Was ist ein sozialer Konflikt?

In Glasls (2011) Buch zu Konfliktmanagement sind der Frage, was ein sozialer Konflikt ist, gleich viele Seiten gewidmet, wie der Frage, was kein sozialer Konflikt ist. Definitionen sind vorsichtig zu formulieren, da zwischen Unvereinbarkeiten in einzelnen Subaspekten von Konflikten und wahrhaften Konflikten unterschieden werden muss (Glasl, 2011). Glasl definiert einen sozialen Konflikt als «eine Interaktion

  • zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen, usw.)
  • wobei wenigstens ein Aktor
  • eine Differenz bzw. Unvereinbarkeit

im Wahrnehmen

und im Denken bzw. Vorstellen

und im Fühlen

und im Wollen

  • mit dem anderen Aktor in der Art erlebt,
  • dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will eine Beeinträchtigung
  • durch einen anderen Aktor erfolge» (Glasl, 2011, S.17)

Zusammengefasst spricht man von einem sozialen Konflikt, wenn mindestens eine Partei, welche in Interaktion mit der Konfliktpartei steht, eine Differenz oder Unvereinbarkeit in der Wahrnehmung, im Denken, im Fühlen und im Wollen (alle müssen erfüllt sein) hinsichtlich eines Ziels verspürt. Betont sei dabei, dass es um das Erleben geht – es ist also irrelevant, ob tatsächlich Differenzen vorherrschen. Die Verhinderung der Zielerreichung wird dabei der Konfliktpartei zugeschrieben. Es fällt auf, dass es sich bei den Kriterien um innere Prozesse handelt. Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Wollen sind nicht mit dem Verhalten gleichzusetzen. Daher muss es auch Teil der Definition sein, dass lediglich das Erleben einer Partei zur Konflikterklärung reicht, da dies nicht unbedingt mit einem konfliktstereotypischen Handeln einhergeht (Glasl, 2011).

Was ist kein sozialer Konflikt?

Unvereinbarkeiten können im Wahrnehmen, im Denken, im Fühlen, im Wollen und Handeln auftreten, ohne dass es sich dabei direkt um einen Konflikt handelt. Zum Beispiel wäre eine erlebte Unvereinbarkeit im Wahrnehmen und Denken ein Missverständnis – dabei muss keine Differenz im Fühlen und Wollen vorliegen. Wird die eigene Wahrnehmung und das eigene Denken der anderen Partei kommuniziert, kann das Missverständnis aufgedeckt werden. Ein weiteres Beispiel wäre ein logischer Widerspruch. Die Differenz liegt nur im Denken der beiden Parteien. Einzelne Unvereinbarkeiten, wie Spannungen oder Meinungsdifferenzen können sich allerdings zu wahrhaften Konflikten entwickeln, wenn sie nicht frühzeitig erkannt und Gegenmassnahmen ergriffen werden (Glasl, 2011).

Der Mensch im Konflikt – Gefangene unseres Innenlebens

Wer schon mal einen Konflikt austrug, hat womöglich im Nachhinein über sich selbst und das eigene Verhalten gestaunt. Konflikte können sehr belastend sein und verändern Wahrnehmungsfähigkeit, Denk- und Vorstellungsvermögen, wie auch die Gefühlswelt Betroffener. Diese Veränderungen äussern sich beispielsweise in einer geschmälerten, verzerrten und einseitigen Sicht der Dinge, ohne dass man sich dessen bewusst wäre. Konflikte sind von Gegensätzen geprägt – so verspüren auch Individuen eine Zerrissenheit zwischen Verständnis und Unverständnis sowie Sympathie und Antipathie (Glasl, 2011).

Konflikte können so stark sein, dass sie in Extremfällen zu Hass, Gewalt oder auch Krieg führen können. Die Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle und der Wille beeinflussen dabei das Verhalten, welches sich in Worten, Taten und nonverbalen Botschaften äussert. In Konflikten wird das Verhalten des Gegenübers nach seinen subjektiven und objektiven Effekten beurteilt, wobei diese Beurteilung wiederum verzerrt sein kann. So kann sich je nach Gegenreaktion eine Eskalation (griechisch σκάλα (skala), «Leiter»; französisch escalier, «Treppe») des Konfliktes ergeben, wodurch es schwieriger wird, zu einer für beide Seiten passenden Lösung zu gelangen.

«Gemeinsam in den Abgrund. Vernichtung zum Preis der Selbstvernichtung, Lust am Selbstmord, wenn auch der Feind zugrunde geht!»

Glasl, 2011, S. 237

Doch warum eskalieren Konflikte bei gleichbleibender Problematik? Glasl (2011) führt dafür fünf Gründe an. Konfliktparteien neigen dazu, die Gegenseite als Ursache aller Probleme und Frustrationen zu sehen. Gleichzeitig tritt durch unbeherrschte Aktionen auch Selbstfrustration ein. Des Weiteren bleibt die Problematik nicht die Gleiche, da immer mehr Punkte in den Konflikt miteinbezogen werden und die bereits vorhandenen Punkte komplexer und umfangreicher werden. Die Steigerung der Komplexität geht mit einer Simplifizierung der Sachlage und Ursachenanalyse einher. Zudem entfernen sich die Konfliktparteien zunehmend voneinander – es wird weniger von Angesicht zu Angesicht kommuniziert. Zu guter Letzt befeuern Konfliktparteien eine Eskalation durch falsches Handeln. Durch Erhöhung der Androhungen und der Ressourcen will man die Gegenseite zum Nachgeben bewegen und erreicht das Gegenteil. Die Abschreckung wirkt provozierend und beschleunigt die Eskalation in der Gegenreaktion.

Konfliktrahmen

Konflikte unterscheiden sich in ihrem Rahmen, je nachdem wie viele Leute daran beteiligt sind, also beispielsweise, ob Gruppen und Organisationen als Konfliktpartei fungieren oder ob es sich um Einzelpersonen handelt. Konflikte zwischen Einzelpersonen oder innerhalb von kleinen Gruppen spielen sich in einem mikro-sozialen Rahmen ab. Man kennt sein Gegenüber, es kann zu Face-to-Face Interaktionen kommen und die Beziehungen sind direkt (Glasl, 2011). Man stelle sich beispielsweise eine Geschäftsdirektion vor, bestehend aus fünf Menschen, die sich über die strategische Ausrichtung für das kommende Geschäftsjahr nicht einig wird. Auch persönliche Konflikte innerhalb eines Arbeitsteams bewegen sich in diesem Rahmen.

Konflikte im meso-sozialen Rahmen spielen sich zwischen Gruppen ab. Zumeist ist kein direkter Austausch mehr möglich – die Gruppen wählen Sprecher*innen, welche die Kommunikation übernehmen (Glasl, 2011). Im Vergleich zu im mikro-sozialen stattfindenden Konflikten sind Konflikte im meso-sozialen Rahmen komplexer, da die sich gegenüberstehenden Gruppen aus mikro-sozialen Einheiten bestehen. Das schafft weiteres Konfliktpotenzial durch Profilierungsversuche, aufwendiger gruppeninterner Kommunikation und weiterer eingebrachter Interessen, welche sich nicht auf den ursprünglichen Konflikt beziehen. Als Beispiel führt Glasl (2011) sich entgegenstehende Gruppen innerhalb von Institutionen und Organisationen an.

Die höchste Komplexität weisen Konflikte im makro-sozialen Rahmen auf. Sie spielen sich innerhalb von Bevölkerungsgruppen oder Gruppen mit gesamtgesellschaftlichen Status ab (Glasl, 2011). Die Kommunikation wird dabei zusätzlich über Medien vollführt, mehrere Stakeholder sind involviert und oft müssen zentrale Figuren für mehrere Interessensgruppen agieren (zum Beispiel Partei und Wirtschaftsverband). Mit steigender Komplexität werden auch Interventionen zur Auflösung des Konfliktes schwieriger.

Konflikttypen

Konflikte können aufgrund verschiedener Uneinigkeiten entstehen. Folgend werden vier Konflikttypen, welche in Organisationen auftreten können, nach Rüttinger und Sauer (2016) vorgestellt.

  • Beziehungskonflikte entstehen, wenn sich eine Person durch das Verhalten ihrer Interaktionspartner abgewertet oder abgelehnt fühlt. Zentral ist dabei die Kränkung des Selbstwertes. Dies kann sich beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz, Exklusion von Projekten oder durch Nicht-Wertschätzung der Arbeit äussern.
  • Beurteilungskonflikte beschreiben eine Uneinigkeit über das «Wie». Wenn zwei Parteien zwar dasselbe Ziel verfolgen, sich aber nicht einig werden, welches die beste Massnahme zur Erreichung dieses Zieles ist, liegt ein Beurteilungskonflikt vor. Zum Beispiel kann ein Unternehmen das Ziel verfolgen, rentabler zu werden. Dies kann entweder durch einen Sparkurs oder einen Investitionsschub erreicht werden.
  • Bewertungskonflikte liegen vor, wenn zwei Parteien unvereinbare Handlungspläne verfolgen wollen, weil sie das Ergebnis ihrer Handlungspläne unterschiedlich bewerten. So können sich zwei Parteien zum Beispiel einig sein, dass die Umstellung von kostenfreiem auf kostenpflichtigen Kaffee Kosten senken, aber auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden schmälern würde. Der Konflikt besteht darin, dass eine Partei mehr Wert auf Kostenersparnisse legt, während die andere Partei die Zufriedenheit der Belegschaft priorisiert.
  • Verteilungskonflikte sind geprägt von Aufteilungs- und Verteilungsproblemen. Wenn zwei Parteien den Wert eines Ereignisses gleich hoch einschätzen, es aber nicht von beiden realisiert werden kann (meistens handelt es sich um unteilbare Ressourcen) entsteht ein Verteilungskonflikt. Als Beispiel wird in der Literatur eine freie Stelle mit mehreren internen Bewerber*innen angeführt. Alle Bewerbenden wollen die Stelle, nur eine*r kann sie bekommen. Ein weiteres Beispiel wäre das OK für eine Neueinstellung, welche aber von zwei Abteilungen benötigt wird.

Alternativ unterteilen Jehn und Beversky (2003) Konflikte in Aufgaben-, Prozess- und Beziehungskonflikte, wobei sie bei Beziehungskonflikten auch jene dazuzählen, die aufgrund von

  • Persönlichkeitsinkompabilität
  • Unterschieden in politischen oder religiösen Ansichten
  • Verschiedenen Ansichten bezüglich alltäglicher Dinge, wie Mode

auftreten. Hierbei können sowohl Beziehungskonflikte als auch Aufgabenkonflikte stark emotional oder auch rational geführt werden. Aufgabenkonflikte beziehen sich rein auf Aufgaben, zum Beispiel die unterschiedliche Interpretation wissenschaftlicher Daten oder die Auswahl einer Strategie. Bei Prozesskonflikten ist das Ziel der Parteien zwar dasselbe, aber darüber, wie es erreicht werden soll, besteht Uneinigkeit.

Bei Konfliktinterventionen wird zwischen vier prinzipiellen Richtungen unterschieden. Eine Konfliktintervention kann de-eskalierend oder eskalierend gestaltet werden und wird entweder präventiv oder kurativ vorgenommen. Bei einem präventiven Vorgehen können de-eskalierend Kommunikationsmethoden trainiert werden während eskalierend Sorgen, Ängste und Unterstellungen in Anwesenheit einer moderierenden Person angesprochen werden, um eine Eskalationsstufe, in der nicht mehr kommuniziert wird zu verhindern. Kurativ kann im Sinne der De-Eskalation der Konfliktverlauf rekonstruiert werden und Sichtweisen aufgedeckt werden. Bei einer Kombination von kurativem und eskalierendem Ansatz werden bestehende Konflikte beispielsweise durch Rollenspiele überspitzt und dramatisiert (Glasl, 2011).

Am Ende des Konflikts

Je nach dem in welcher Phase ein Konflikt gelöst wird, spricht man von einer Win-Win, Win-Lose oder Lose-Lose Situation. Die ersten drei Phasen, in denen ein Konfliktende einer Win-Win Situation gleichkäme, nennen sich «Verhärtung», «Debatte/Polemik» und «Taten statt Worte» (Glasl, 2011, S. 237). Die Namen sind selbsterklärend, zu Anfang eines Konfliktes verhärten sich Standpunkte, in einer zweiten Phase werden die Gespräche hitziger und in der dritten Phase wird nicht mehr miteinander geredet, sondern gehandelt. Löst sich ein Konflikt in einer dieser drei Phasen, ist noch für keine Partei ein solch grosser Schaden entstanden, dass man von einem Loss reden würde. Vielmehr überwiegt der Gewinn durch die Lösung des Konfliktes auf beiden Seiten.

«Wenn Sympathie und Antipathie nicht gleichzeitig in uns Platz haben, dann muss das eine Gefühl dem anderen weichen.»

Glasl, 2011, S. 43

In Phase vier bis sechs, spricht man von einer Win-Lose Situation. Das heisst eine Partei gewinnt, die andere verliert. Glasl (2011, S. 237) nennt diese Phasen «Images und Koalitionen», «Gesichtsverlust» und «Drohstrategien und Erpressung». Gesichtsmerkmale dieser Phasen lassen sich dadurch erklären, dass es den Parteien einerseits um den eigenen Sieg, andererseits um die Niederlage der gegnerischen Konfliktpartei geht. Die Benennung der Phasen lässt sich durch das Werben für die eigene Partei (Image), eine grundlegende Revidierung des Identitätsbildes des Feindes und Gewalthandlungen, mit denen man den Gegner zum Aufgeben bewegen will, erklären.

Die drei letzten Stufen fallen unter den Begriff Lose-Lose: Die Stufen tragen kriegerische Namen, wie «begrenzte Vernichtungsschläge» oder «Paralysieren und Desintegrieren des gegnerischen Systems». Die letzte Stufe benennt Glasl (2011, S. 237) als «Gemeinsam in den Abgrund». Die Zerstörung des Gegners ist dabei so zentral, dass eine Selbstvernichtung zu diesem Zweck in Kauf genommen werden würde. Man bemerke, dass es in diesen Phasen nicht mehr um einen Konfliktpunkt an sich geht, sondern nur um die Zerstörung und Schwächung eines Gegners. Zur Lösung von Konflikten ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass ein Aufgabenkonflikt kein Personenkonflikt ist und es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass mit dem Verlust der Kompromissbereitschaft auch die Möglichkeit für eine Win-Win Situation verloren geht.


Zum Weiterlesen

Glasl, F. (2011). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater (10. Aufl.). Freies Geistesleben.

Literatur

Jehn, K. A. & Bendersky, C. (2003). Intragroup conflict in organizations: A contingency perspective on the conflict-outcome relationship. Research in Organizational Behavior, 25, 187–242. doi: 10.1016/s0191-3085(03)25005-x

Rüttinger, B. & Sauer, J. (2016). Konflikt und Konflikt lösen. Kritische Situationen erkennen und bewältigen (3. Aufl.). Springer Gabler. doi: 10.1007/978-3-658-07812-6

Kerngesund und trotzdem krank

Die Problematik und Ätiologie funktioneller somatischer Syndrome

Lässt sich für körperliche Symptome keine medizinische Ursache finden, kann dies die Betroffenen stark belasten und die Behandler*innen herausfordern. Teilweise wird dann von funktionellen somatischen Syndromen gesprochen. Doch was heisst das? Trotz Diagnosestellung bleibt die Frage: «Wenn nicht medizinisch, was dann?». 

Von Julia J. Schmid 
Lektoriert von Anja Blaser und Berit Barthelmes 
Illustriert von Gianna Zorzini

Schmerzen sowie andere unspezifische körperliche Symptome werden von allen Menschen ab und zu erlebt und können unterschiedlich stark belasten (Nater et al., 2016). Meist sind diese Beschwerden vorübergehend und führen nicht zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des Alltags. Allerdings werden auch schwerwiegendere Symptome wie anhaltende Erschöpfungszustände berichtet, die in Verunsicherung und Angst münden können (Nater et al., 2016). Oft sind die Betroffenen überzeugt, dass diese Ausdruck einer organischen Krankheit sind und suchen daher Hilfe bei somatisch ausgebildeten Ärzt*innen in der Hoffnung, den Grund für die Beschwerden zu erfahren (Dinkel & Lahmann, 2016; Fritzsche, 2020). Schätzungsweise erhalten jedoch bis zu zwei Drittel aller Patient*innen trotz eingehender Diagnostik nie eine biomedizinische Erklärung für ihre Symptome (Nater, 2011). Solche somatischen Beschwerden, die sich mit dem aktuellen Stand der Medizin nicht begründen lassen, werden in der Primärversorgung als «medizinisch nicht erklärbar» oder als «funktionell» bezeichnet (Kroenke & Mangelsdorff, 1989). 

Fast jedes Symptom kann auch ohne Krankheit auftreten, aber einige wie Müdigkeit sind eher funktionell als andere (Mayou & Farmer, 2002). Erstaunlicherweise sinkt mit der Anzahl der Symptome die Wahrscheinlichkeit, dass eine somatische Krankheit vorliegt (Mayou & Farmer, 2002). Je nach Konstellation der funktionellen somatischen Symptome lassen sich eine Reihe von Syndromen definieren (Nater, 2011). Zu den häufigsten funktionellen somatischen Syndromen (FSS) gehören das Reizdarmsyndrom, das Fibromyalgiesyndrom und das chronische Erschöpfungssyndrom (Nater, 2011). Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere in der Literatur beschriebene Syndrome wie Spannungskopfschmerzen, atypische Gesichtsschmerzen und das prämenstruelle Syndrom (Nater, 2011).  

«Surprisingly, the more somatic symptoms a person has, the less likely it is that these symptoms reflect the presence of disease and the more likely there is associated depression and anxiety.» 

Mayou & Farmer, 2002, S. 266 

Eine ernstzunehmende Erkrankung 

Die Prävalenz der FSS liegt in der Normalbevölkerung bei etwa zehn (Fischer et al., 2013) und in klinischen Stichproben bei bis zu über 50 Prozent (Henningsen et al., 2007). Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). FSS führen im selben Masse wie medizinisch erklärbare Beschwerden zu psychischen Beeinträchtigungen, einem reduzierten sozialen Funktionsniveau (u. a. reduzierte Teilnahme am Arbeitsleben) und der Verschreibung psychotroper Medikamente (Joustra et al., 2015; Kisely & Simon, 2006; Lahmann et al., 2015). Die Lebensqualität ist durchschnittlich sogar stärker beeinträchtigt als bei Patient*innen mit ähnlichen Beschwerdebildern, die auf eine organische Ursache zurückzuführen sind (Henningsen et al., 2007). Zudem liegen hohe Komorbiditätsraten mit psychischen Störungen, vor allem Angststörungen und depressiven Störungen, vor (Nater et al., 2016). Bei Patient*innen mit schweren Verläufen muss darüber hinaus das erhöhte Suizidrisiko beachtet werden (Wiborg et al., 2013).  

Andere Fachrichtung, andere Diagnose 

Je nach Kontext werden medizinisch nicht erklärbare körperliche Beschwerden anders bezeichnet und kategorisiert (Nater et al., 2016). Während in spezialisierten Institutionen von FSS gesprochen wird, ist im psychiatrischen und psychotherapeutischen Rahmen die Verwendung der Diagnosekategorie «Somatoforme Störungen» des DSM-IV bzw. «Somatische Belastungsstörung» des DSM-5 üblicher (Nater et al., 2016). Die Begriffe beschreiben die gleichen Krankheitsentitäten aus unterschiedlichen Sichtweisen (Mayou & Farmer, 2002; Lahmann et al., 2010). Diese Vielzahl an möglichen Bezeichnungen kann einerseits als Konsequenz der diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen sowie der noch teilweise unbekannten Ätiologie gedeutet werden (Häuser & Lempa, 2004). Anderseits werden die Diagnostik und die Therapie durch die unterschiedlichen Terminologien und diagnostischen Kriterien der beteiligten Disziplinen weiter erschwert (Häuser et al., 2004). So erhalten nur wenige Patient*innen, die die Kriterien für ein FSS erfüllen, eine entsprechende Diagnose (Kingma et al., 2013). 

Hinweise auf FSS gemäss Fritzsche (2020) 

  • Symptome folgen nicht anatomischen oder physiologischen Mustern 
  • Diffuse Schilderung der Symptome 
  • Patient*in wirkt klagend, fordernd und anklammernd 
  • Durch Nachfragen weitere funktionelle Symptome feststellbar 
  • Häufiger Arztwechsel 
  • Vorliegen aktueller Belastungen oder Stress 
  • Vorliegen mehrerer assoziierter Faktoren (u. a. weibliches Geschlecht, psychische Störungen in der Vorgeschichte, frühere Krankheitserfahrungen in der Familie (Harvey & Wessely, 2013) 

Unterdiagnostiziert 

Bei den FSS handelt es sich grundsätzlich um Ausschlussdiagnosen, die erst in Betracht gezogen werden, wenn die Suche nach einer körperlichen Ursache erschöpft ist (Harvey & Wessely, 2013; Nater et al., 2016). Die Symptomatik der FSS ist sehr komplex und kann sich über die Zeit ändern, beispielsweise von Kopf- zu Rückenschmerzen (Henningsen et al., 2007). Die Störungen können schubartig auftreten und häufig bestehen Symptome verschiedener Organsysteme gleichzeitig (Berg, 2005; Henningsen et al., 2007). Oft findet sich zusätzlich eine psychische Symptomatik (Henningsen et al., 2007). Unter anderem aufgrund dieser Komplexität und Variabilität werden die FSS erst spät oder auch gar nicht diagnostiziert. Bis zur richtigen Diagnose und anschliessend adäquaten Versorgung dauert es im Durchschnitt sieben Jahre (Henningsen et al., 2007). Die Gründe für die Unterdiagnostizierung liegen aber nicht nur bei den Symptomen, sondern auch den Ärzt*innen und Patient*innen. 

Schwierige Patient*innen? 

Typischerweise (aber nicht ausschliesslich) gehen die Patient*innen von einer somatischen Ursache ihrer Beschwerden aus (Lahmann et al., 2010). Oft haben sie kein Bewusstsein für die Zusammenhänge mit aktuellen oder früheren psychischen und sozialen Belastungen (Fritzsche, 2020). Das Versteifen auf eine organische Ursache kann auch im Wunsch begründet sein, als Patient*in ernstgenommen zu werden (Lahmann et al., 2010). Nehmen die Behandler*innen diese somatische Sichtweise auf, so werden häufig nicht indizierte, teilweise sogar risikoreiche Untersuchungen und Therapieversuche durchgeführt, was letztlich zu langwierigen Krankheitsverläufen und einer starken psychischen Belastung führt (Lahmann et al., 2010; Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Die Enttäuschung aufgrund gehäufter fehlgeschlagener Therapieversuche kann zu Unzufriedenheit mit den aktuellen Behandler*innen und damit zu Therapieabbrüchen und Arztwechseln führen (Lahmann et al., 2010). Somit bedingen FSS eine überproportionale, dysfunktionale und kostenintensive Inanspruchnahme des Gesundheitswesens (Lahmann et al., 2010). Patient*innen mit FSS werden häufiger untersucht, stärker invasiv behandelt und verursachen mehr Kosten als die durchschnittlichen Patient*innen einer Hausarztpraxis (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). 

«Funktionelle Körperbeschwerden stellen hohe Anforderungen an die Beziehung zwischen Arzt und Patient, denn das Unerklärte will dennoch erklärt und vor allem gebessert werden.»

Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003, S. 219 

«Sie haben nichts!» 

Auf Seiten der Ärzt*innen kann neben mangelnder Kenntnis der Störungsbilder das Selbstverständnis der Medizin, in erster Linie lebensbedrohliche Erkrankungen auszuschliessen, die Diagnosestellung erschweren (Dinkel & Lahmann, 2016). Aber auch die Vermutung, dass FSS vorliegen, stellt die Ärzt*innen vor eine Herausforderung (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Für ein Gespräch, um zugrundeliegende psychosoziale Probleme zu erkennen, fehlt meist die Zeit sowie die Ausbildung (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Zudem können Bemühungen um eine psychosoziale Sichtweise von den Patient*innen als Stigmatisierung oder Bedrohung ihrer Identität wahrgenommen werden (Burbaum et al., 2010). Für manche Patient*innen entsteht der Eindruck von den Ärzt*innen nicht ernstgenommen zu werden oder aufgegeben worden zu sein (Harvey & Wessely, 2013; Mayou & Farmer, 2002). Werden hingegen weitere Untersuchungen durchgeführt und Medikamente verschrieben, verdienen die Behandler*innen einerseits Geld und anderseits können die akuten Beschwerden gelindert werden (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Zwar fühlen sich die Patient*innen dadurch ernstgenommen, jedoch werden die wahren Hintergründe ihres Leidens weiter verschleiert. Eine Häufung von Untersuchungen, die ergeben, dass keine medizinisch erklärbare Krankheit vorliegt, können die Patient*innen zur Überzeugung ärztlicher Unfähigkeit führen und ihre Angst verstärken (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Eine durch Missverständnisse und gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnete Arzt-Patient-Beziehung kann die Folge sein (Nater et al., 2016). 

Therapeutische Grundhaltung bei FSS gemäss Fritzsche (2020) 

  • Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden 
  • Verständnis für Hilflosigkeit, Enttäuschung und Ärger aufbringen 
  • Unwahrscheinlichkeit einer ernsten organischen Erkrankung benennen und dennoch somatische Ebene im Blick behalten 
  • Keine vorschnelle Verknüpfung von berichteten oder vermuteten psychischen Belastungen mit den körperlichen Beschwerden 
  • Lange Krankschreibungen, unnötige Überweisungen und Eingriffe vermeiden 

Vernichtende Kritik? 

Wie bereits angedeutet, ist das Phänomen medizinisch nicht erklärbarer körperlicher Beschwerden nicht unumstritten (Nater et al., 2016). So wird von manchen Forscher*innen und Praktiker*innen der Standpunkt vertreten, dass es eine Frage der Ausführlichkeit der medizinischen Abklärung oder des medizinischen Fortschrittes sei, ob Beschwerden erklärt werden können (Nater et al., 2016). Klare Ausschlusskriterien und definitorische Grenzen scheinen zu fehlen (Lahmann et al., 2010).  

Werden die Symptombilder der FSS verglichen, wird deutlich, dass manche Symptome wie Müdigkeit, Schmerzen, kognitive Beeinträchtigungen und gastrointestinale Beschwerden bei fast allen Syndromen vorkommen und die Somatisierung bei allen FSS eine entscheidende Rolle spielt (Barsky & Borus, 1999; Henningsen et al., 2004). Gleichzeitig erfüllen einige Patient*innen die Kriterien für mehrere FSS (Henningsen et al., 2004). In diesem Kontext wird diskutiert, ob überhaupt von distinkten FSS ausgegangen werden kann oder ob es sich stattdessen um eine einzelne Störung handelt, die eine bestimmte Schnittmenge an Kernsymptomen aufweist (Häuser & Lempa, 2004; Wessely et al., 1999). Möglicherweise erhält die Symptomkonstellation je nach klinischem Setting und medizinischer Spezialisierung einen anderen Namen (Häuser & Lempa, 2004; Petzke, 2010). Trotz der beschriebenen Überlappung spricht die aktuelle Forschung dafür, dass die meisten funktionellen somatischen Syndrome valide und spezifisch genug sind, um als unabhängige Symptombilder anerkannt zu werden (Nater et al., 2016). Die gemeinsamen Symptome deuten aber zumindest auf eine teils gemeinsame Ätiologie und Pathogenese hin (Nater, 2011). 

Wenn nicht medizinisch, dann psychisch? 

Hauptkritikpunkt an der FSS-Diagnose ist, dass durch ihre Definition, als medizinisch nicht erklärbare Symptome, der Dualismus zwischen physischen und psychischen Beschwerden gefördert wird (Scamvougeras & Howard, 2020). So werde die Annahme verstärkt, dass wenn keine organische Ursache feststellbar ist, die Symptome psychischen Ursprungs sein müssen. Dabei werde einerseits nicht berücksichtigt, dass im weitesten Sinne auch psychische Prozesse physischen zugrunde liegen (Scamvougeras & Howard, 2020) und anderseits, dass aktuell im Sinne des biopsychosozialen Modells von einer multifaktoriellen Genese der FSS ausgegangen wird (Fritzsche, 2020). Psychologische, biologische und soziokulturelle Faktoren sowie deren Wechselwirkung spielen bei der Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung eine Rolle (Fritzsche, 2020). Hierbei ist anzumerken, dass bis heute die Ätiologie der FSS nicht vollständig geklärt ist (Fischer et al., 2014) und nicht bei allen Syndromen die gleiche Evidenz bezüglich der Faktoren vorliegt (Nater et al., 2016). 

Stressabhängige Störung? 

Patient*innen mit FSS berichten vergleichsweise oft von Stressoren vor, während oder nach dem Ausbruch der Symptomatik (Nater et al., 2016). Bei den meisten Patient*innen kann ein Zusammenhang zwischen dem Erleben von Stress und ihren Beschwerden festgestellt werden (van Gils et al., 2014). (Kindheits-)Traumata gehören zu den stärksten Stressoren, wurden bei einer beträchtlichen Anzahl von FSS-Patient*innen festgestellt (Afari et al., 2014; Fuller-Thomson et al., 2011) und gehen mit einem knapp dreifachen FSS-Risiko einher (Afari et al., 2014). Darüber hinaus scheinen die FSS-Patient*innen verstärkt unter chronischen Belastungen wie Mobbing, Arbeitsbelastung, Immigration oder negativen Lebensereignissen zu leiden und es zeigt sich eine Häufung der Beschwerden bei Personen mit einem tiefen sozioökonomischen Status (Nater et al., 2016). Stressfaktoren scheinen also eine überzufällig grosse Rolle im Leben von Patient*innen mit FSS zu spielen (Nater et al., 2016). 

Dies spiegelt sich auch in den Befunden zu den verschiedenen Stresssystemen wider (Nater et al., 2016). So scheint bei den Betroffenen eine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, des autonomen Nervensystems und des Immunsystems vorzuliegen, was wiederum die Anfälligkeit für Erschöpfung, Schmerzen und kognitive sowie emotionale Beeinträchtigungen erhöhen kann (Fischer et al., 2014; Mutsuura et al., 2009; Nater et al., 2016).  

Ein Erklärungsansatz für diese Auffälligkeiten setzt an den von den Patient*innen häufig berichteten traumatischen Erfahrungen in der Kindheit an (Nater et al., 2016). Möglicherweise können, basierend auf einer bestimmten Disposition, Umweltstressoren in einer kritischen und vulnerablen Phase der Entwicklung der Regulation psychobiologische Stresssysteme in dem Masse auslenken, sodass diese bei späterer Konfrontation mit Stressoren nicht mehr in der Lage sind, adäquat zu reagieren (Fischer et al., 2014; Nater et al., 2016). Die Reaktivität der biologischen und psychologischen Stressreaktionssysteme ist dadurch dauerhaft negativ verändert (Nater & Skoluda, 2013; Suárez-Hitz et al., 2012). Dies kann direkt oder vermittelt über pathophysiologische Prozesse wie Hypokortikolismus zu den typischen Beschwerden von FSS führen (Nater et al., 2016). 

«A pragmatic doctor therefore asks not whether symptoms are “physical” or “mental” but whether they are fixed or are reversible by appropriate intervention.» 

Mayou & Farmer, 2002, S. 266 

Doch medizinisch erklärbar? 

Neben den beschriebenen Auffälligkeiten der Stresssysteme wird auf physiologischer Ebene auch von einer genetischen Basis ausgegangen (Nater et al., 2016). Zudem wird eine veränderte zentralnervöse Verarbeitung nozizeptiver Impulse vermutet (Henningsen et al., 2004), wobei eine erhöhte lokale oder generalisierte Schmerzempfindlichkeit vorliegt (Petzke, 2010). Darüber hinaus können einige FSS wie das Reizdarmsyndrom und das chronische Erschöpfungssyndrom mit Infektionen in Verbindung gebracht werden (Hickie et al., 2006; Moss-Morris et al., 2006). 

Erlernte Beschwerden? 

Zusätzlich zu den genannten physiologischen Faktoren können verschiedene Lernprozesse bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von FSS eine Rolle spielen (Fritzsche, 2020). Beispielsweise können Kinder durch Modelllernen das Krankheitsverhalten der Eltern übernehmen. Zudem kann durch vermehrte Aufmerksamkeit und Zuneigung sowie die Entlastung von Anforderungen und Verpflichtungen das Einnehmen der Krankenrolle positiv bzw. negativ verstärkt werden (Fritzsche, 2020). Assoziative Lernprozesse spielen insbesondere bei FSS eine Rolle, deren Symptome an bestimmte Umweltkontexte gebunden sind (Nater et al., 2016). Dies zeigt sich beispielsweise durch kontextabhängig erhöhte Sensitivität auf bestimmte Schmerzreize (Nater et al., 2016). 

Biopsychosozialer Teufelskreis 

Bei der Aufrechterhaltung der Störung spielt die somatosensorische Verstärkung eine entscheidende Rolle (Nater et al., 2016). Dabei wird durch Fokussierung der Aufmerksamkeit auf zufällige, krankheitsbezogene oder durch Stress ausgelöste Körpermissempfindungen die Wahrnehmung ihrer Intensität und Frequenz verstärkt. Somit steigt die Wahrscheinlichkeit, sie als Krankheitssignale zu bewerten (Nater et al., 2016). Dies resultiert in einer Aufmerksamkeitsfokussierung, was ein erhöhtes psychophysiologisches Anspannungsniveau und das Empfinden von Angst zur Folge hat, die wiederum die dysfunktional attribuierte Körperwahrnehmung verstärken (Lahmann et al., 2010). Viele Betroffene verfügen zudem über ein zu eng definiertes Verständnis von Gesundheit als völlige Abwesenheit von Körpermissempfindungen (Dinkel & Lahmann, 2016). Darüber hinaus schätzen sich die Betroffenen oftmals als körperlich schwach und wenig belastbar ein (Nater et al., 2016). Durch ein abnormes Krankheitsverhalten wie erhöhte Krankheitssorgen, hohes Inanspruchnahmeverhalten, Missbrauch von Medikamenten, Absuchen des Körpers nach Krankheitszeichen und ausgeprägtem Schonverhalten (z. B. Vermeidung körperlicher Aktivität) werden die Beschwerden aufrechterhalten (Nater et al., 2016; Schaefert et al., 2014). Beispielsweise werden durch übermässiges Schonverhalten die Belastbarkeit des Körpers reduziert und die Beschwerden verstärkt (Mayou & Farmer, 2002). 

FSS stellen sowohl die Betroffenen als auch die Behandler*innen vor grosse Herausforderungen. Nach dem Ausschluss medizinischer Ursachen stellt sich die Frage: «Wenn nicht medizinisch, was dann?». Ein Blick auf die aktuellen Erkenntnisse zur Ätiologie offenbart jedoch, dass dem Störungsbild biopsychosoziale Faktoren zugrunde liegen. Die Betroffenen scheinen kerngesund und sind trotzdem krank. 


Zum Weiterlesen

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Literatur

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Eiscreme gegen Stress? 

Warum die Lieblingsserie besser gegen Anspannung helfen kann als Schokolade

Eine Packung Eis, eine Tafel Schokolade, Kekse, Chips oder am liebsten einfach alles auf einmal? Stress und starke Emotionen beeinflussen, was und wie viel wir essen. Und zwar oft ohne, dass wir es wirklich bemerken. Häufig erhoffen wir uns ein besseres Gefühl. Aber geht es uns danach wirklich besser? 

Von Kim Ankermann
Lektoriert von Jovana Vicanovic
Illustriert von Livia Halbeisen

Etwa 60 Tage kann ein Mensch überleben, bis er verhungert (Pütter, 1921). Dann versagen entweder zuerst die Organe oder das Herz (Pütter, 1921). Um das zu verhindern, hat unser Körper einen komplexen Mechanismus entwickelt (Carlson, 2016). Sobald der Blutzucker sinkt, sorgt eine Art mehrstufiges Warnsystem dafür, dass wir essen. Ein anderes ist wiederum dafür zuständig, dass wir wieder aufhören. Man kann es sich ein bisschen so vorstellen, als hätten wir an ganz vielen Stellen – im Magen, im Darm und im Blut – Sensoren, die ständig mit unserem Gehirn kommunizieren und für genügend Zucker sorgen (Carlson, 2016). 

Dieses Warnsystem mit allen dahinter liegenden hormonellen Prozessen ist mittlerweile gut erforscht (Dallmann, 2010). Allerdings ist auch klar, dass das längst nicht ausreicht, um das menschliche Essverhalten zu erklären (Dallmann, 2010). Weltweit stuft die WHO Adipositas als eines der grössten Gesundheitsrisiken ein und es wird mittlerweile sogar von einer «Adipositas-Epidemie» gesprochen (WHO, 2008). Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2017 42 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz adipös oder übergewichtig, in Deutschland waren es mit 53 Prozent mehr als die Hälfte (BFS, 2017). Neben dem automatischen Kontrollsystem muss es also einen anderen Grund geben, der erklärt, warum Menschen essen, obwohl sie eigentlich keinen Hunger haben. Als mögliche Faktoren vermuten Forscher*innen negative Emotionen, Stress und Anspannung (Dallmann, 2010). 

Bei Stress vor allem «fettig und süss» 

Nur 20 Prozent der Menschen ändern ihr Essverhalten unter Stress nicht (Spence, 2017). Wie es sich ändert, unterscheidet sich allerdings stark. Etwa 40 Prozent der Menschen neigen zum sogenannten «Stress-Essen», sie essen also mehr. Die übrigen 40 Prozent geben hingegen an, unter Anspannung weniger zu essen. Die Studienlage ist hierzu nicht eindeutigTrotzdem konnten Forscher*innen zeigen: Egal welcher Typ; unter Stress zeigt die Mehrheit – zumindest was die Essenswahl angeht – ähnliche Präferenzen. Im Labor assen Personen, die zuvor unter Stress gesetzt wurden, vor allem Fettiges und Süsses (Spence, 2017). Also Lebensmittel, die unter dem Begriff «comfort food» zusammengefasst werden können. 

Trostessen 

In Umfragen wurden bestimmte Lebensmittel besonders häufig als comfort food genannt (Spence, 2017). Wansink und Sangermann (2000) befragten mehr als 1’000 Menschen in Nordamerika. Am beliebtesten waren Kartoffelchips (24 Prozent). Auch gewählt wurden: Eiscreme (14 Prozent), Kekse (zwölf Prozent), Pizza und Pasta (elf Prozent), Rindfleisch/Steak-Burger (neun Prozent), Obst und Gemüse (sieben Prozent), Suppe (vier Prozent) und Sonstiges (neun Prozent). Auffällig waren die Geschlechterunterschiede. Frauen gaben häufiger süsse Lebensmittel an, wohingegen Männer zwar auch Eis wählten, aber fast genauso häufig warme Hauptgerichte wie Suppe und Pizza (Wansink & Sangermann, 2000). In der Forschung ist das Wissen über comfort food für verschiedene Bereiche entscheidend (Spence, 2017). Es könnte eine Möglichkeit sein, ältere Menschen, die nicht genügend Nahrung aufnehmen, zum Essen zu bringen. Im Raumfahrtbereich wird erhofft, damit das Stresslevel von Astronauten zu senken. 

Der Ausdruck comfort food wird nicht nur im Alltag verwendet, sondern ist auch in der Wissenschaft ein feststehender Begriff (Spence, 2017). Comfort food kann für jeden etwas anderes sein. Generell wird darunter aber Essen, das Trost oder ein Gefühl von Wohlbefinden vermittelt, verstanden (Spence, 2017). Es ist häufig kalorienreich und wird im «traditionellen Stil» zubereitet (Wagner et al., 2014). Für viele Menschen ist comfort food zum Beispiel das Lieblingsessen aus der Kindheit; so landen Hühnersuppe und Schokolade in Umfragen weit oben auf der Liste des beliebtesten Trostessens (Wagner et al., 2014). Forscher*innen gehen davon aus, dass Nostalgie einen grossen Einfluss darauf hat, warum wir gerade bei negativen Emotionen Lust auf dieses Essen haben (Hirsch, 1992). Oft bleibt es aber nicht bei dieser Lust und so passiert das «Stress-Essen» trotz gutem Vorsatz wie automatisch (Dallmann, 2010). Grund dafür ist die Gewohnheit (Dallmann, 2010). 

Trostessen ohne Nachdenken 

Dass bei negativen Emotionen automatisch zum Schokoriegel gegriffen wird, ist – wie vieles beim Menschen – erlerntes Verhalten (Dallmann, 2010). Neben dem vorher beschriebenen Warnsystem, das über Hormone dafür sorgt, dass genügend Energie verfügbar ist, gibt es noch weitere Faktoren, die Essverhalten auslösen. Im Gehirn gibt es vereinfacht gesagt drei Orte, die unsere Essensentscheidung beeinflussen. Es gibt den unbewussten Teil; besonders wichtig ist hier die Amygdala im limbischen System. Hier entstehen Emotionen und es werden Verknüpfungen zwischen Verhalten und Gefühlen erlernt. Ausserdem gibt es den rationalen Teil im Präfrontalkortex, der die bewusste Kontrolle übernimmt. Der dritte Ort ist der Nucleus Accumbens, das ist der Name mehrerer Kerne im Gehirn, die zu den Basalganglien zählen. Sie sind wichtig für Motivation und die Umsetzung von Gewohnheiten (Dallmann, 2010). 

«Once stress-induced feeding becomes habitual, the problem-solver, executive part of the prefrontal cortex might no longer be actively engaged in the outcome; comfort food intake can become a reflex.» 

Dallmann, 2010, S. 163   

Wenn man sich also vornimmt, bei Stress keine Schokolade mehr zu essen, sollte der kontrollierende Teil dafür sorgen, dass man dies auch nicht macht. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass bei automatischem Trostessen der rationale Teil fast gar nicht mehr mitwirkt (Dallmann, 2010). Der Körper hat gelernt, dass sich durch das Essen von Zucker oder Fett die Stressreaktion kurzzeitig reduziert. Nach dieser Erfahrung wird das Verhalten wiederholt. Irgendwann ist Trostessen als Reaktion auf Stress so fest mit einem guten Gefühl verbunden, dass gar nicht mehr darüber nachgedacht wird. Es wird laut Dallmann (2010) fast schon zum Reflex. Die zugrundeliegenden Prozesse sind vergleichbar mit denen, die bei Sucht auftreten (Dallmann, 2010). 

Das Problem bei Stress ist ausserdem, dass die ausgeschütteten Stresshormone dazu führen, dass der rationale Teil geschwächt wird, das führt dazu, eher gewohnheitsmässiges Verhalten umzusetzen (Dallmann, 2010). Es wird also noch schwerer, dem Drang nach Essen zu widerstehen. Zudem konnte in Laborexperimenten mit Tieren gezeigt werden, dass bestimmte Stresshormone die Aufnahme von fett- und zuckerhaltigem Essen fördern. Es wird vermutet, dass so früher das Überleben gesichert werden sollte. Alle Stressmechanismen sollten dafür sorgen, dass der Körper möglichst schnell viel Energie zum Überleben hat. Obwohl die Ursachen für Stress heutzutage meist woanders liegen, ist die Reaktion des Organismus geblieben (Dallmann, 2010). 

Aber fühlen wir uns nach comfort food wirklich besser? 

In einer amerikanischen Umfrage gaben mit 81 Prozent die meisten Menschen an, dass sie sich besser fühlen, wenn sie sogenanntes Trostessen gegessen haben (Spence, 2017). Eine kurzzeitige Verminderung der Stressreaktion konnte auch im Labor gezeigt werden, ebenso wie eine Freisetzung von Opiaten und Serotonin (LeMagnen, 1986). Dies kann kurz zu einer besseren Stimmung führen (Drewnowski et al., 1992). Trotzdem vermuten viele Forscher*innen, dass das beschriebene gute Gefühl nicht nur von einer körperlichen Reaktion kommt (Spence, 2017). Sie gehen vielmehr davon aus, dass die Erinnerung und die Assoziation mit sozialen Ereignissen zur Stimmungsaufhellung führen (Spence, 2017). 

Laut Gabriel (2015) gebe es Möglichkeiten, um bei negativen Gefühlen oder Stress für gute Stimmung zu sorgen, ganz ohne Süssigkeiten: «Irgendwas anderes, dass das gleiche beruhigende Gefühl von Vertrautheit vermittelt wie das erneute Lesen eines geliebten Buchs oder das Anschauen einer Lieblingsserie» (zitiert in Romm, 2015). Um die Gewohnheit zu brechen und wieder mehr Kontrolle zu bekommen, könnten Achtsamkeits- und Meditationsübungen helfen (Dallmann, 2010). Britische Forscher*innen konnten ausserdem zeigen, dass schwarzer Tee Stress reduziert (Hall, 2006; Steptoe et al., 2007). Es gibt also Möglichkeiten aus dem beschriebenen Kreislauf auszubrechen: Zum Beispiel das Lieblingsbuch zu lesen, statt Eiscreme zu essen. 


Zum Weiterlesen  

Spence, C. (2017). Comfort food: A review. International Journal of Gastronomy and Food Science9, 105–109. doi: 10.1016/j.ijgfs.2017.07.001 

Literatur

Dallmann, M. F. (2010). Stress-induced obesity and the emotional nervous system. Trends in Endocrinology & Metabolism21(3), 159–165. https://doi.org/10.1016/j.tem.2009.10.004 

Hirsch, A. R. (1992). Nostalgia: A Neuropsychiatric Understanding. ACR North American AdvancesNA-19. https://www.acrwebsite.org/volumes/7326/volumes/v19/NA-19/full 

Spence, C. (2017). Comfort food: A review. International Journal of Gastronomy and Food Science9, 105–109. https://doi.org/10.1016/j.ijgfs.2017.07.001 

Wagner, H. S., Ahlstrom, B., Redden, J. P., Vickers, Z., & Mann, T. (2014). The myth of comfort food. Health Psychology33(12), 1552. https://doi.org/10.1037/hea0000068 

Locher, J., Yoels, W., Maurer, D., & van Ells, J. (2005). Comfort Foods: An Exploratory Journey 

Into The Social and Emotional Significance of Food. Food And Foodways, 13(4), 273-297. doi: 10.1080/07409710500334509  

Pütter, A. (1921). Der Hungertod. Naturwissenschaften, 9(2), 31-35. 

Carlson, N.R., Birkett, M. (2017). Physiology of Behavior (12. Auflage), Pearson Education. 

Fast Fashion 

Trend von heute, Abfall von morgen – Die Konsequenzen des Überkonsums der Wegwerfmode 

Die Mode von heute ist der Abfall von morgen: So wirkt Fast Fashion. Wieso kursiert der Wegwerftrend in unserer Gesellschaft und welche Zielgruppe konsumiert hauptsächlich Fast Fashion? Welche Auswirkungen hat dieser Konsum auf unsere Umwelt? Wie setzten sich Einzelhändler gegen die Wegwerfmode ein und was kannst DU dagegen machen? 

Von Gioia Köppel
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Marina Reist
Illustriert von Melina Camin

Hast du schon einmal ein T-Shirt für unter zehn Franken gekauft im Wissen, dass sowohl das Material, die Herstellungskosten, der Transport und die Fixkosten vom Einzelhändler mit diesen zehn Franken proportional abgedeckt werden müssen? Es bedarf keiner grossen Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass dieser Preis nur so tief angesetzt werden kann, weil an Materialqualität, sicheren Arbeitsbedingungen bei der Herstellung oder Sozialleistungen der Arbeiter*innen gespart wird. Aber sind wir doch ehrlich, lieber zehn Shirts à zehn Franken als zwei Shirts à 50 Franken – oder doch nicht? 

Definition von Fast Fashion 

Mode ist ein zyklisches Phänomen, das von der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert wird, bis es veraltet (Bhardwaj & Fairhurst, 2010). Modetrends werden von Fashion Shows und Runways beeinflusst, die früher ausschliesslich für das Auge von Designer*innen, Einkäufer*innen und Fashion Manager*innen auf die Beine gestellt wurden (Bhardwaj & Fairhurst, 2010). Ab 1999 machten Fotos der Modeschauen in Zeitschriften und im Internet die Modetrends der Öffentlichkeit zugänglich (Mintle, 2008). Der Industriezweig «Fast Fashion» entwickelte sich aufgrund des kurzen Lebenszyklus der heutigen Modetrends und dem Druck der Einzelhändler, diese Trends so schnell wie möglich umzusetzen (Barnes & Lea‐Greenwood, 2006; Mintle, 2008).  

Der Cambridge Dictionary (o. D.) definiert Fast Fashion wie folgt: 

«Clothes that are made and sold cheaply, so that people can buy new clothes often.»  

In der Schweiz sind Zara und H&M führende Fast-Fashion-Händler, welche alle zwei bis vier Wochen neue Kollektionen präsentieren (Fast Fashion, 2020). Die Vielfalt der Optionen, die begrenzte Produktion und die niedrigen Preise von Fast Fashion erhöhen den Anreiz der Verbraucher*innen, eine grosse Menge an Kleidung zu kaufen (Crewe & Davenport, 1992; Mintle, 2008). Der Überkonsum von Bekleidung hat durch Onlineshops im letzten Jahrzehnt noch rasanter zugenommen (George & Yaoyuneyong, 2010; Lazim et al., 2020). Auch auf Social-Media-Kanälen ist man als Konsument*in stets zahlreichen Werbeanzeigen ausgesetzt, welche Impulsiv-Käufe fördern (Lazim et al., 2020). Weltweit werden jedes Jahr 80 Milliarden Kleidungsstücke aus erster Hand gekauft (Bick et al., 2018). Allein in der Schweiz fügt jede Person durchschnittlich 20 Kilogramm Kleidung (ca. 60 Stück) pro Jahr ihrem Kleiderschrank hinzu (WWF-Rating der Bekleidungs- und Textilindustrie, o. D.). Viele dieser Kleider bleiben ungetragen und landen beim Aussortieren direkt im Müll (Greenpeace-Umfrage, 2019). Dies unterstreicht das Ausmass des Kleidungsüberkonsums, welcher zu schwerwiegenden Umweltfolgen führt (z. B. Boucher & Friot, 2017). 

Doppelte Menge, halbe Tragedauer – Welche Auswirkungen hat dies auf unsere Umwelt? 

Die meisten Kleidungsstücke bestehen aus Baumwolle oder Polyester (Anbau von Baumwolle, 2016). Der Anbau und die Verarbeitung beider Stoffe verursacht Umwelt- und Gesundheitsprobleme. Baumwolle ist anfällig für Schädlinge und benötigt daher zum Anbau Pestizide, die die Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigen und das Trinkwasser verunreinigen (Anbau von Baumwolle, 2016). Die Chemikalien aus der Textilfärberei und Pestizide aus dem Baumwollanbau gefährden die Gesundheit von Menschen und Tieren vor Ort (Bick et al., 2018). Pestizide sind laut WHO (2018) eine der häufigsten Todesursachen durch Selbstvergiftung. Darüber hinaus verbraucht die Baumwollproduktion 15.000 Liter Süsswasser pro Kilo (Fast Fashion, 2020). Die Polyesterproduktion verbraucht Öl und gibt beim Waschen in der Waschmaschine Mikroplastik in die Ozeane ab. Nach Angaben der IUCN wird 35 Prozent der Mikroplastikfreisetzung in die Weltmeere durch Polyester verursacht (Boucher & Friot, 2017). Aufgrund der momentanen Konsumsituation von Fast Fashion wird erwartet, dass die CO2-Emmissionen in den nächsten zehn Jahren um 60 Prozent steigen (UNFCCC, 2018). Kinderarbeit, gewissenlose Arbeitsbedingungen und Ausbeutung sind in der Fast Fashion-Produktion alltäglich (Anbau von Baumwolle, 2016; Anguelov, 2015; Bick et al., 2018). Trotz alledem steigt der Konsum, wieso? 

Wer konsumiert Fast Fashion und wieso? 

Eine Determinante für den Konsum von Fast Fashion ist die Erschwinglichkeit und die Vielfalt der Auswahl, die soziale Norm und die intrinsische Motivation einzigartig sein zu wollen (Crewe & Davenport, 1992; McNeill & Moore, 2015; Rostiani & Kuron, 2019; Wai Yee et al., 2016). Vor allem junge, gebildete Frauen konsumieren die kurzlebigen Modetrends (Crewe & Davenport, 1992; Ma et al., 2012; McNeill & Moore, 2015; Wai Yee et al., 2016). Wieso konsumieren gebildete Individuen mehr Fast Fashion? Eine mögliche Erklärung hierfür bietet der Rigorismus. Rigorismus bezeichnet das starre Festhalten an Denk- und Handlungsweisen ohne Berücksichtigung von Situationsmerkmalen. Im Kontext übermässigen Konsums wird Rigorismus als Erklärungsversuch für die Kluft von Umweltbewusstsein und dementsprechenden Umweltverhalten herbeigezogen (Kuckartz, 2007). Die Inkonsistenz von Überzeugung und Verhalten kann zu einem unbehaglichen Gefühl führen, welches kognitive Dissonanz genannt wird. Wenn ein solches Gefühl eintritt, muss sich etwas ändern, um die Dissonanz zu beseitigen oder zu reduzieren (Festinger, 1957).  

Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz gemäss Fischer et al. (2018) 

Wie reduziert ein*e Fast Fashion-Konsument*in das unangenehme Gefühl nach den Einkäufen? 

  1. Addition von Argumenten, die das Verhalten unterstützen – «Ich möchte trendy gekleidet sein. » 
  1. Ignorieren von Argumenten, welche gegen das Verhalten sprechen – Zum Beispiel die Statistiken zu Konsequenzen von Fast Fashion in den Medien ignorieren 
  1. Andere positive Verhaltensweisen hervorheben, um das Verhalten zu kompensieren – «Ich fliege nie mit dem Flugzeug und trage so schon zu einem verminderten CO2-Ausstoss bei.» 
  1. Betonung der Wichtigkeit von unterstützenden Argumenten – «Fast Fashion trägt Umweltkonsequenzen mit sich, aber mein Wohlbefinden ist mir am wichtigsten und ich fühle mich nur in modischer Kleidung wohl.» 
  1. Verharmlosung der Wichtigkeit von Argumenten, die gegen das Verhalten sprechen – «Ich glaube, die Medien stellen die Umweltkonsequenzen von Fast Fashion übertrieben dar.» 

Was machen Einzelhändler, um den Fast Fashion-Konsum zu reduzieren? 

Damit umweltfreundliche Kleidung von Konsument*innen erkannt wird, wurden Gütesiegel kreiert. Ein Beispiel hierfür ist das Gütesiegel «GOTS – Global Organic Textile Standard», welches für eine nachhaltige Produktionskette von Rohstoff bis Verkauf einsteht (GOTS, o. D.).  

Einige Einzelhändler spezialisieren sich auf das Gegenstück von Fast Fashion, etwa Slow Fashion (Fast Fashion, 2020). Slow Fashion bezeichnet Mode, die mit recycelbaren Materialen bei nachhaltigen Bedingungen hergestellt wird. Ausserdem fokussiert Slow Fashion auf zwei Saisons im Jahr und folgt demnach nicht den stetig wechselnden Trends, sondern setzt vielmehr auf zeitlose Designs. Die Herstellung der Slow Fashion Kleidung richtet sich nach Menschen- und Arbeitsrecht, sodass weder Kinderarbeit noch Ausbeutung betrieben wird (Fast Fashion, 2020). 

Was kann man als Konsument*in machen, um den Fast Fashion-Konsum zu reduzieren? 

Genau wie das Car-Sharing in der Automobilbranche findet man in der Kleiderbranche einen Industriezweig für Kleiderverleih. In Leihboutiquen kann man nicht nur Abendkleider oder Kostüme ausleihen, sondern auch Alltagskleidung, Schuhe, Taschen und weitere Accessoires. Das Ausleihen von Bekleidung bietet eine Alternative, um an Veranstaltungen neue Kleider anziehen zu können, bei welchen man sowieso nicht die Absicht gehabt hat, diese öfters zu verwenden.  

Ein weiterer Ansatz wäre, die Lebensdauer der Fast Fashion-Kleidung zu verlängern. Dies lässt sich durch tiefe Waschtemperaturen, Auslüften statt Trocknen und selteneren Waschvorgängen erreichen. 

Secondhand Mode statt Fast Fashion wäre eine Möglichkeit, nachhaltig zu agieren und Umwelt und Ressourcen zu schonen, ohne aufs Shoppingerlebnis an sich verzichten zu müssen. Der Kauf von Secondhand-Kleidung trägt dazu bei, die Umweltfolgen von (Fast-)Fashion zu reduzieren (Farrant et al., 2010). Secondhand Mode kann auch in puncto Preis mit Fast Fashion mithalten, zumal Secondhand-Kleidung meist qualitativ hochwertiger ist und in Relation zu ihrer Qualität zu einem günstigeren Preis erworben werden kann. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil von Secondhand-Mode ist, dass sie den Wunsch nach einzigartiger Entfaltung der eigenen Persönlichkeit besser zu erfüllen vermag als Fast Fashion-Kleidung (Rostiani & Kuron, 2019). Da es sich bei Secondhand-Kleidern meist um Einzelstücke handelt, wird die Shoppingtour zur Jagd nach verborgenen Schätzen. Hört sich nach einem aufregenden Einkaufserlebnis an, oder? 


Zum Weiterlesen

Thomas, D. (2019). Fashionopolis: The price of fast fashion and the future of clothes. Head of Zeus. 

Brooks, A. (2019). Clothing poverty: The hidden world of fast fashion and second-hand clothes. Bloomsbury Publishing PLC. 

Literatur 

Anguelov, N. (2015). The dirty side of the garment industry: Fast fashion and its negative impact on environment and society (1. Aufl.). CRC Press. https://doi.org/10.1201/b18902 

Barnes, L., & Lea‐Greenwood, G. (2006). Fast fashioning the supply chain: Shaping the research agenda. Journal of Fashion Marketing and Management: An International Journal, 10(3), 259–271. https://doi.org/10.1108/13612020610679259 

Bhardwaj, V., & Fairhurst, A. (2010). Fast fashion: Response to changes in the fashion industry. The International Review of Retail, Distribution and Consumer Research20(1), 165–173. https://doi.org/10.1080/09593960903498300 

Bick, R., Halsey, E., & Ekenga, C. C. (2018). The global environmental injustice of fast fashion. Environmental Health17(1), 1-4. https://doi.org/10.1186/s12940-018-0433-7 

Boucher, J., & Friot, D. (2017). Primary microplastics in the oceans: A global evaluation of sources. IUCN International Union for Conservation of Nature. https://doi.org/10.2305/IUCN.CH.2017.01.en 

Crewe, L., & Davenport, E. (1992). The puppet show: Changing buyer-supplier relationships within clothing retailing. Transactions of the Institute of British Geographers17(2), 183-197. https://doi.org/10.2307/622545 

Farrant, L., Olsen, S. I., & Wangel, A. (2010). Environmental benefits from reusing clothes. The International Journal of Life Cycle Assessment15(7), 726–736. https://doi.org/10.1007/s11367-010-0197-y 

George, B. P., & Yaoyuneyong, G. (2010). Impulse buying and cognitive dissonance: A study conducted among the spring break student shoppers. Young Consumers, 11(4), 291–306. https://doi.org/10.1108/17473611011093925 

Lazim, N. A. M., Sulaiman, Z., Zakuan, N., Mas’od, A., Chin, T. A., & Awang, S. R. (2020). Measuring post-purchase regret and impulse buying in online shopping experience from cognitive dissonance theory perspective. IEEE International Conference on Information Managementhttps://doi.org/10.1109/ICIM49319.2020.244662 

Festinger, L., (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press. 

Fischer, P. (2018). Der Mensch als rationalisierendes Wesen: Kognitive Dissonanz und Selbstrechtfertigung. In P. Fischer, K. Jander & J. Krueger (Hrsg.), Sozialpsychologie für Bachelor (2. Aufl., S. 19–34). Springer-Verlag Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-30272-5 

Ma, F., Shi, H., Chen, L., & Luo, Y. (2012). A theory on fashion consumption. Journal of Management and Strategy, 3(4), 84–92. https://doi.org/10.5430/jms.v3n4p84 

McNeill, L., & Moore, R. (2015). Sustainable fashion consumption and the fast fashion conundrum: Fashionable consumers and attitudes to sustainability in clothing choice. International Journal of Consumer Studies39(3), 212–222. https://doi.org/10.1111/ijcs.12169 

Rostiani, R., & Kuron, J. (2019). Purchase of fast-fashion by younger consumer in Indonesia: Do we like it or do we have to like it? Journal of Indonesian Economy and Business34(3), 249–266. https://doi.org/10.22146/jieb.50554 

Wai Yee, L., Hassan, S. H., & Ramayah, T. (2016). Sustainability and philanthropic awareness in clothing disposal behavior among young Malaysian consumers. SAGE Open6(1), 1-10. https://doi.org/10.1177/2158244015625327 

Weblinks

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Cambridge Dictionary. (o. D.). Fast Fashion. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/fast-fashion 

Fast Fashion: Definition, Ursachen, Statistiken, Folgen und Lösungsansätze. (2020). Nachhaltige Kleidung. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://nachhaltige-kleidung.de/news/fast-fashion-definition-ursachen-statistiken-folgen-und-loesungsansaetze/ 

GOTS: Global Organic Textile Standard. (o. D.). Siegelklarheit. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.siegelklarheit.de/7-gots-global-organic-textile-standard 

Greenpeace-Umfrage: 72 Millionen Kleidungsstücke ungetragen in Österreichs Kleiderschränken. (2019). APA OTS. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190605_OTS0002/greenpeace-umfrage-72-millionen-kleidungsstuecke-ungetragen-in-oesterreichs-kleiderschraenken 

Kuckartz, U. (2007). Umweltbewusstsein und Umweltverhalten. Bpb – Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://m.bpb.de/lernen/grafstat/134851/info-05-09-umweltbewusstsein-und-umweltverhalten 

Mintle, S. (2008). Fast fashion is not a trend. Sydney Loves Fashion. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.sydneylovesfashion.com/2008/12/fast-fashion-is-trend.html 

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WHO. (2018). Pesticide residues in food.  Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/pesticide-residues-in-food 

WWF-Rating der Bekleidungs- und Textilbranche. (o. D.). WWF. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.wwf.ch/de/unsere-ziele/wwf-rating-der-bekleidungs-und-textilindustrie 

Bratwürstchen oder Tofu 

Spannung zwischen Moral und Verhalten 

Bratwürstchen oder Tofu? Auto oder Strassenbahn? Billiges T-Shirt oder teure Slow Fashion? Gemüse in Plastik oder unverpackt? Oft haben wir eindeutige moralische Ansichten zu bestimmten Themen (Klimawandel, Tierrechte, etc.), verhalten uns aber im Alltag nicht unbedingt danach. Das kann zu innerer Spannung führen. 

Von Madita Schindler
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Zoé Dolder
Illustriert von Andrea Bruggmann

Im Folgenden geht es um mögliche Erklärungsansätze für die Diskrepanz zwischen Moral und Verhalten und um die Auflösung dieser Spannung. Um zu verstehen, ob und wie unsere moralischen Werte und Ansichten unser Verhalten beeinflussen, lohnt sich eine Beschäftigung mit dem psychologischen Konstrukt der Einstellung: 

«Als ‹Einstellungen› bezeichnet man Bewertungen von Sachverhalten, Menschen, Gruppen und anderen Arten von Objekten unserer sozialen Welt.» 

Jonas et al., 2014, S. 198 

Einstellungen werden als etwas relativ Stabiles und Dauerhaftes angesehen (Garms-Homolová, 2020). Sie haben einen evaluativen Charakter und können eine kognitive, affektive und konative (handlungsorientierte) Komponente beinhalten. Zur kognitiven Komponente werden das Wissen über einen Sachverhalt sowie Überzeugungen oder Glaubensgrundsätze gezählt. Der affektive Teil beschreibt Emotionen und subjektive Vorlieben bezüglich des Einstellungsobjekts, die handlungsorientierte Komponente beschreibt die Verhaltensabsichten. Beispielsweise könnte eine Einstellung von Hannah sein, dass die Arbeitskräfte in vielen Textilfabriken unzumutbaren Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind (kognitive Komponente). Dies löst bei Hannah Unbehagen und Mitleid aus (affektive Komponente). Darum ergreift sie den Plan, künftig bevorzugt bei fairen Labels zu shoppen (konative Komponente). Einstellungen sparen Ressourcen, weil bei der Präsentation von bestimmten Objekten oder Objektgruppen bereits eine Bewertung vorhanden ist und das Verhalten daran ausgerichtet werden kann (Garms-Homolová, 2020). 

Einstellungen reichen nicht aus 

«Der durch die Prädiktorvariable Einstellung erklärte Varianzanteil an der Gesamtvarianz der Kriteriumsvariable Verhalten beträgt ca. zehn Prozent; die restlichen 90 Prozent der Kriteriumsvarianz fallen demnach auf unbekannte Drittvariablen.» 

Güttler, 2003, S. 192 

Der Zusammenhang ist also alles andere als eindeutig: Durch Einstellungen ist nur ein kleiner Teil des Verhaltens zu erklären. Obwohl Hannah die Einstellung hat, dass die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken unzumutbar sind und sie als Konsumentin etwas dagegen tun sollte, auch wenn dies für sie kleinere persönliche Einbussen im Alltag bedeutet, geht sie trotzdem immer wieder bei den gleichen günstigen Klamottenläden T-Shirts aus Pakistan shoppen. Warum also führen bestimmte Einstellungen oft nicht zu korrespondierenden Verhaltensweisen? 

Inkonsistente Einstellungen 

Wie oben beschrieben, haben Einstellungen drei Komponenten. Diese können aber unterschiedliche Gewichtungen haben und miteinander in Konflikt stehen. Die Einstellung zu Salamipizza dient als Beispiel: Die kognitive Komponente beinhaltet den Wunsch, Tierleid zu vermeiden, während die affektive Komponente sagt «Salamipizza ist lecker und gibt mir ein gutes Gefühl». Wenn die affektive Komponente eine stärkere Gewichtung hat, wird man in diesem Fall vermutlich zur Salamipizza greifen (Smith et al., 2019). Selbst wenn wir davon ausgehen, dass eine konsistente Einstellung vorliegt, gibt es Einflussfaktoren, die ein passendes Verhalten verhindern (Smith et al., 2019). 

Theorie des geplanten Verhaltens 

Eine der populärsten Theorien zum Zusammenhang zwischen Einstellungen und Verhalten ist die «Theory of Planned Behavior» von Ajzen (1985). Die drei Faktoren Einstellung, soziale Norm und Verhaltenskontrolle bewirken zusammen, dass sich eine Intention, also eine Verhaltensabsicht bildet. Diese führt zu einem entsprechenden Verhalten. Die soziale Norm meint die Einflüsse des sozialen Umfelds bzw. die wahrgenommenen Erwartungen anderer Personen in Bezug auf ein Verhalten. Man könnte zum Beispiel stereotypisch annehmen, dass in einer bayerischen Familie Fleisch gegessen wird. Die (wahrgenommene) Verhaltenskontrolle beschreibt die Einschätzung einer Person, wie schwierig es ist, ein Verhalten mit den vorhandenen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten auszuführen. Beispielsweise wie man die Möglichkeit einschätzt, sich fleischloses Essen zu kochen. Neben der Einstellung haben hier also noch weitere Aspekte Einfluss darauf, ob ein Verhalten letzten Endes zustande kommt (Ajzen, 1985). 

Die Theorie macht allerdings ausschliesslich Vorhersagen über bewusstes Verhalten (Graf, 2007). Sie ist also vielleicht anwendbar beim einmaligen Kauf des neuen E-Autos, bei dem eine ausführliche Reflexion angebracht ist. Die Frage ist, in wie vielen alltäglichen Situationen Entscheidungen mit moralischen Konsequenzen ganz oder zum grossen Teil unbewusst getroffen werden. 

Unbewusstes und gewohnheitsmässiges Verhalten 

«People process […] systematically only when they have both the motivation and the cognitive capacity to do so.» 

Smith et al., 2019, S. 255 

Eine bewusste Entscheidung zwischen zwei Verhaltensoptionen ist nur möglich, wenn die Motivation und die kognitive Kapazität vorhanden sind (Smith et al., 2019). In vielen Situationen im Alltag verringern Zeitdruck, die allgemeine emotionale Stimmung, Ablenkung oder das Fehlen von Informationen einen der beiden Faktoren. Wenn kein bewusstes Nachdenken möglich ist, lassen wir uns von Gewohnheiten und Heuristiken leiten. Heuristiken sind kognitive Daumenregeln, Entscheidungsverfahren, die schnell und meist unbewusst ablaufen und wenig Ressourcen benötigen. Die Rekognitionsheuristik sorgt beispielsweise dafür, dass wir uns eher für eine Alternative entscheiden, die wir kennen (Smith et al., 2019). Also für die Bratwürstchen unserer Lieblingsmarke statt für die vegane Alternative aus Tofu, die wir noch nie gegessen haben. 

Folgen von Unstimmigkeiten zwischen Einstellung und Verhalten 

In vielen Fällen verhalten wir uns also entgegen unseren moralischen Überzeugungen. Es kommt zu Spannung zwischen einer Einstellung, beispielsweise der Verurteilung von klimaschädlichen Flugreisen und einem Verhalten wie dem Kauf eines Billigflugtickets nach Mallorca (Garms-Homolová, 2020). Psychologische Konsistenztheorien bezeichnen diese Spannung als «Dissonanz» (z. B. Festinger, 2012). Es handelt sich dabei um einen subjektiv unangenehmen Zustand, der möglichst schnell reduziert werden soll. Die bekannteste Konsistenztheorie ist die «Theorie der kognitiven Dissonanz» von Leon Festinger (2012). Laut dieser Theorie gibt es verschiedene Möglichkeiten zur Dissonanzreduktion. Eine Option wäre, das zukünftige Verhalten zu ändern. Wenn sich Hannah wegen des Ticketkaufs unwohl fühlt, wird sie sich bei der nächsten Gelegenheit eher für die Bahnfahrt entscheiden. Häufiger kommt es allerdings vor, dass die Dissonanz auf eine andere Weise verringert wird, beispielsweise durch Rationalisierung: Die getroffene Wahl wird im Nachhinein als besser bewertet und die verworfene Alternative abgewertet. Im Prinzip wirkt hier also das Verhalten zurück auf die Einstellung, sodass wieder eine Konsistenz hergestellt wird. Hannah könnte zum Beispiel argumentieren, dass sie als Individuum sowieso keinen Einfluss auf den Klimawandel nehmen kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Selbstversicherung. Dabei wird das «Versagen» in einem Bereich durch die Hervorhebung eines Verhaltens in einem anderen Bereich ausgeglichen. Hannah hat zwar durch die Flugreise eine hohe CO2-Bilanz, aber dafür kauft sie immer das unverpackte Gemüse im Supermarkt. Auch die Beschaffung von neuen Informationen oder die gezielte Meidung bestimmter Informationen kann eine Möglichkeit zur Dissonanzreduktion sein (Festinger, 2012; zitiert nach Garms-Homolová, 2020). Hannah wird sich in Zukunft also einfach keine Dokumentationen über die Folgen des Klimawandels mehr ansehen. 

Es ist kompliziert 

Fassen wir also zusammen: Es reicht nicht aus, eine Einstellung zu einem Thema zu haben. Bevor es zu einer entsprechenden Handlung kommt, spielen viele weitere Faktoren eine Rolle (z. B. Smith et al., 2019). Inkonsistente Einstellungen sorgen für Ambivalenz bei der Verhaltenswahl (Garms-Homolová, 2020). Bei der «Theorie des geplanten Verhaltens» haben soziale Normen und die subjektive Verhaltenskontrolle einen Einfluss (Ajzen, 1985). Unbewusstes und gewohnheitsmässiges Verhalten wird oft ohne Nachdenken und Einbeziehen aller Informationen auf der Basis von Heuristiken ausgeführt (Smith et al., 2019). Wenn das gewählte Verhalten nicht mit den Einstellungen übereinstimmt, kommt es zu kognitiver Dissonanz, die durch verschiedene Mechanismen wie Verhaltensänderung, Selbstversicherung oder Meiden von bestimmten Informationen reduziert werden kann (Garms-Homolová, 2020). 

Definition Prädiktor & Kriterium 

Die Prädiktorvariable (oder unabhängige Variable) bezeichnet die Vorhersagevariable (Bortz & Schuster, 2010). Die Kriteriumsvariable (oder abhängige Variable) soll mithilfe der Prädiktorvariable/n vorhergesagt werden. Die unabhängige Variable wird im Experiment gezielt manipuliert und die abhängige Variable gemessen. Man kann den Prädiktor auch als Ursache und das Kriterium als Wirkung bezeichnen (Bortz & Schuster, 2010). 


Zum Weiterlesen

Kahneman, D. (2012). Thinking fast and slow. Penguin Books. 

Smith, E. R., Mackie, D. M., & Claypool, H. M. (2019). Social psychology (4. Ausgabe). Routledge. 

Literatur 

Ajzen, I. (1985). From intentions to actions: A theory of planned behavior. In Kuhl, J., & Beckman, J. (Eds.), Action Control (pp. 11-39). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-69746-3_2 

Bortz, J., & Schuster, C. (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-12770-0 

Festinger, L. (2012). Theorie der kognitiven Dissonanz (2nd ed.). Verlag Hans Huber.  

Garms-Homolová, V. (2020). Sozialpsychologie der Einstellungen und Urteilsbildung. Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62434-0 

Graf, D. (2007). Die Theorie des geplanten VerhaltensTheorien in der biologiedidaktischen Forschung. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-68166-3_4 

Güttler, P. O. (2003). Sozialpsychologie: Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen. R. Oldenbourg Verlag. https://doi.org/10.1524/9783486599268 

Jonas, K.; Stroebe, W., & Hewstone, M. (2014). Sozialpsychologie. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-41091-8 

Kahneman, D. (2012). Thinking Fast and Slow. Penguin Books. 

Smith, E. R., Mackie, D. M., & Claypool, H. M. (2019). Social Psychology (4th ed.). Routledge.  

Kinder in der Pandemie 

Erlebnisse und Gedanken eines Kinderarztes 

Welchen Preis haben Kinder in der Pandemie bezahlt? Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? Diese und weitere Fragen beantwortete uns Dr. Bruno Knöpfli – Kinderarzt und delegierender Psychotherapeut mit langjähriger Erfahrung. 

Von Sebastian Junghans und Charlotte Baldenweg 
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Berit Barthelmes
Illustriert von Shaumya Sankar

Folgendes Interview fand am 22. Juli 2021 statt. Das Interview wurde im Original auf Schweizerdeutsch geführt und anschliessend auf Hochdeutsch übersetzt. Dr. Bruno Knöpfli äusserte dabei seine freie Meinung. Seine Aussagen sind unabhängig von der Meinung der Redaktionsmitglieder des awares. 

Wie hat sich dein Job verändert durch die Pandemie? 

Ich war in der glücklichen Situation, eine grossräumige Praxis zu haben. Die grossen Behandlungszimmer waren schon immer auch Warteräumlichkeiten. Damit hatte ich eine optimal coronataugliche Praxis zur Verfügung. Niemand traf den anderen, die Patienten und Patientinnen liessen sich separieren. Der Betrieb war in diesem Sinne nicht beeinträchtigt. Im Gegensatz zu vielen aus meiner Kollegschaft, erfuhren wir sogar eine Umsatzsteigerung um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, was sehr viel ist. Erschwerend sind mehrere komplizierte Prozesse dazugekommen, welche den Aufwand erhöht haben. Für die Praxis als wirtschaftliches Unternehmen resultierte eine Steigerung. 

Aus Patientensicht ergab sich die Situation, dass viele in anderen Praxen keinen Termin bekamen. Wahrscheinlich war das der Ausdruck einer Hilflosigkeit in dem Sinne, dass viele zu ihren Hausärzten und -ärztinnen wollten, wegen den komplexeren Betriebsabläufen aber keine Termine erhalten haben. 

«Ich führte Telefonate, welche neu waren: Gespräche mit Kindern, die man überzeugen musste, sich in die Praxis zu wagen. Kinder beruhigen, die nicht mehr in die Schule gehen wollten.» 

Knöpfli, 2021 

Wie nehmen Kinder die Maske bei dir als Arzt wahr? Hat sich dieser Umgang im Laufe der Pandemie verändert? 

Für mich selbst hat das äussere Auftreten eine untergeordnete Bedeutung, wie es auch bei den meisten Kindern der Fall ist. Die Kinder können sich auch relativ gut an geänderte Bedingungen und neue Situationen anpassen. Aber natürlich lassen theoretische Überlegungen Schwierigkeiten vermuten. Ein Kind schaut zuerst auf die Augen und den Mund. Dieses Dreieck wird durch die Maske verhüllt. Es müsste einen Einfluss auf den Umgang der Kinder mit uns haben. Vielleicht gab es bei uns keinen Effekt, da ich die meisten Kinder schon vor Corona kannte. Bei Fremden könnte das durchaus anders sein.  

Auch bei Säuglingen konnte ich nichts Spezielles beobachten. Ich habe keinen Unterschied zu vergangenen Untersuchungen festgestellt. Aber ich achte auch darauf, Säuglinge bei der Untersuchung wenig zu bedrängen, in den meisten Fällen hängen die Kleinen an der Mutter, während ich untersuche. Das ist sogar essenziell für die Beurteilung. Ein Kind geringen Alters, das nicht die Mutter als Schutzort sucht, lässt eine Auffälligkeit in der Mutter-Kind-Beziehung vermuten. 

Haben neben den Besuchen aufgrund von Grippe und Erkältungssymptomen auch andere Konsultationsgründe abgenommen bzw. zugenommen? 

Ich habe tatsächlich eine Steigerung von Patienten und Patientinnen mit Husten feststellen müssen. Husten ist aber ein Symptom mit breitem ursächlichem Spektrum; er kann beispielsweise durch Asthma oder Infektionen entstehen. Die reinen Infektionen haben abgenommen. Wir hatten diesen Winter sehr viel weniger banale Infektionen als zuvor. Diese scheinen jetzt aber aufzuholen, sodass sie lediglich verspätet auftreten. So hatten wir im Frühling und Frühsommer extrem viele Patienten und Patientinnen mit Infektionen. Darüber gibt es auch Aufzeichnungen des Zürcher Kindesspitals, die zeigen, wie stark erhöht die Infektanfälligkeit in dieser untypischen Zeit geworden ist. Die Grippe selbst war vergangenes Jahr weniger stark im Vergleich zu früheren Jahren. Allerdings haben wir diesbezüglich auch wenig getestet, sondern vermehrt bezüglich Corona. 

Viele, die Atembeschwerden oder Atemstörungen haben, zeigten auch ungewöhnliche Ängste. Darin begründete Konsultationen haben massiv zugenommen. Die Kinder und vor allem deren Eltern entwickelten Ängste, dass ernsthafte Probleme entstünden. Allerdings ist es nicht so, dass bei Kindern, die Komorbiditäten oder Vorerkrankungen aufwiesen, diese auch als Risikofaktor für einen schweren Verlauf gelten; Kinder sind grundsätzlich keine Risikopatienten in dieser Pandemie. Selbst bei schwer kranken Kindern spricht man nicht von Risikopatienten. Genau diese Patienten und Patientinnen hatten aber grosse Angst. 

Ist ein Kind vorerkrankt, dann löst das auch bei anderen Familienmitgliedern eine riesige Verunsicherung aus. Es wird probiert, das betroffene Kind vor jeglichen möglichen Ansteckungsquellen fernzuhalten. Insbesondere Familien mit Asthmatikern und Asthmatikerinnen oder auch Frühgeborenen, die beatmet werden mussten, waren besonders verunsichert. Bei Patienten und Patientinnen mit Immundefiziten war diese Reaktion nachvollziehbarer; man wusste lange nicht, wie solche Patienten und Patientinnen auf eine Coronainfektion reagieren würden. Glücklicherweise sind auch diese Kinder nicht stark gefährdet. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich ungewöhnlich viele Angststörungen als Komorbidität diagnostizieren musste; unabhängig vom Verlauf ihrer Krankheiten war die Angst immens. 

Welche Symptome psychischer Erkrankungen haben bei Kindern zugenommen? Internalisiert oder externalisiert? Die Angststörungen weisen eher auf internalisierte Symptome hin. 

Ich würde das so unterschreiben. Aber jede Erkrankung ist schlimmer geworden durch Corona. Es war eine Zusatzbelastung. Und für Kranke ist eine Zusatzbelastung ein Problem, wenn sie sowieso schon am Limit sind. Dann kommt noch etwas dazu und das Fass läuft über. 

Wir werden vermutlich noch länger mit Corona leben müssen – Was kann man tun, um Kinder in ihrem Alltag mit Corona zu unterstützen? 

Ich verstehe nicht, weshalb diese Fragestellung seit dem Ausbruch von Corona derart fundamental stets von Neuem gestellt wird. Wir haben eine Tradition sowie gute Evidenz, auf Grund dessen wir eigentlich wissen sollten, wie wir mit Kindern umzugehen haben. Ausserdem haben wir eine Bundesverfassung, die besagt, dass ein Kind ein Recht auf Schulung, körperliche Aktivität und gesellschaftliche Kontakte oder Interaktionen auf einer persönlichen Ebene hat. Dass derart elementare Aspekte in Zusammenhang mit der Entwicklung von jungen Menschen in Frage gestellt werden, verstehe ich nicht und habe ich nie verstanden. Auch eine Population zu schützen, um dadurch eine andere Population in ihren Grundrechten einzuschränken, trifft bei mir auf Unverständnis. Wir müssen zurückkommen zu unseren Wertvorstellungen, die wir über Jahrzehnte sinnvoll und differenziert entwickelt haben und diese nicht einfach in einer ad hoc Reaktion über Bord werfen. Medizinisch gesehen ist das unseriös und widerspricht den heute geltenden Kriterien nach massvoller und evidenzbasierter Handlungsweise. Dies gilt auch für die Anfangsphase, als man die Gefahr noch nicht einschätzen konnte. Die Medizin basiert auf dem Prinzip, dass man bei einer Intervention abwägen muss, was das Potenzial sowohl auf der Wirkungs- wie auch auf der Nebenwirkungsseite ist. Wenn man die Nebenwirkungen nicht abschätzen kann, darf man sie nicht durchführen. Macht man sie trotzdem, ist das unethisch, sie verkommt zu einem Versuch, bei dem man nicht weiss, wie gross die Kosten sind und wer sie zu tragen hat. Jedes ethische Komitee hätte für eine Nichtdurchführung entschieden. Jetzt wurde politisch entschieden. 

«Kinder mussten drei Grundrechte aufgeben, um andere zu schützen.» 

Knöpfli, 2021 

Eltern haben ein stressiges Jahr hinter sich. Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? 

Es gibt gute wissenschaftliche Studien, welche das belastendste Alter von Menschen in der heutigen Gesellschaft untersuchten. Dabei ergab sich, dass die tragende und am massivsten belastete Bevölkerungsschicht die 30 – 50-jährigen sind. Das ist natürlich auch die Population, in der es viele Eltern von Kindern gibt. Eltern haben massive Belastungen durch Corona erfahren. Einerseits hatten sie oft keinen Job mehr; ihre Existenz war bedroht. Andererseits erlebten sie eine Doppelbelastung, weil die Kinder nicht in der Schule betreut wurden und sie sie zu Hause betreuen mussten. Zusätzlich konnten sie nicht planen. Selbst wenn Eltern in der Lage waren, sich zu organisieren, dann war die Planungsunsicherheit derart gross, dass man am nächsten Tag oft wieder vor einer anderen Situation stand. So konnten selbst die agilsten Leute sich nicht mehr auf diese Zusatzbelastungen einstellen. 

Wenn man schaut, wie das jetzt weitergeht, sehe ich kein Ende. Die Risikopopulation ist jetzt geimpft; das ist ein Privileg und sicherlich angenehm für diese Population. Andere Länder sind eine andere Strategie gefahren, wobei zuerst die Übertragenden geimpft wurden und die Risikopopulation dazu instruiert wurde, sich möglichst nicht anzustecken. Theoretisch hätte man so den Infekt schneller im Griff gehabt. Wir haben jetzt zuerst die Risikopopulation geimpft und dann die Übertragenden. Wer überhaupt noch nicht drangekommen ist, sind die Kinder. Das heisst, dass Eltern ungeimpfter Kinder nun dauerhaft am Testen sind, damit sie wenigstens ein bisschen Bewegungsfreiheit haben. Sie müssen sich umständlich organisieren, um an gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen zu können oder in die Ferien zu gehen; anderenfalls bleiben sie isoliert. 

Je jünger ein Kind ist, desto stärker hängt dessen Gedeihen von der Gesundheit der Eltern ab. Kinder, die gesunde und belastbare Eltern haben, sind meist selbst gesund und belastbar. Es gibt Kinder, die Betreuungsaufgaben übernehmen, zum Beispiel von kranken oder ausgebrannten Eltern. Diese Kinder sind natürlich massiv und inadäquat belastet. Die Auswirkungen davon sieht man meist nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit bis in ein paar Jahren. Ausserdem kann dies ein entwicklungshemmender Faktor sein. Anstatt dass die Kinder betreut werden, müssen sie selbst betreuen und werden zu Care-Givern. 

Es wird berichtet, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien ausgelastet seien. Therapieplätze für Kinder zu finden hat sich schon vor der Pandemie schwierig gestaltet. Haben die Überweisungen für Psychotherapien zugenommen? Was müsste dahingehend verbessert werden? 

Wir haben eine spezielle Situation, weil ich eine psychologische Abteilung in der Praxis habe. Das ist aber eine Ausnahmesituation. Die meisten Praxen haben das nicht. Von der Kollegschaft hört man, dass sie riesige Probleme mit psychologischen Überweisungen haben. Wir hatten zahlreiche Anfragen mehr zu übernehmen. 

Die Gesundheitspolitik befindet sich dahingehend in einem Umsturz. Die delegierende Psychotherapie und die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Psychologie wird nun eher aufgehoben und es geht in Richtung wie bei den Physiotherapeuten und -therapeutinnen. Der Doktor macht eine Verordnung und dann kann ein Patient oder eine Patientin zum Psychotherapeuten, zur Psychotherapeutin. Wenn das so laufen wird wie mit der Physiotherapie, dann ist das eine Erleichterung für die Allgemeinheit wegen der höheren Verfügbarkeit und Einfachheit. Aber so wie ich die Bundesbehörden kenne, ist wie bei anderen medizinischen Dienstleistungen der Preis ein wichtiger, wenn nicht ein dominierender Faktor. Es könnte schwieriger werden, einen Therapieplatz zu bekommen, weil es um Versicherungsgelder geht. Ob sich das insgesamt positiv auswirken wird, steht in den Sternen. 

Welchen Preis haben Kinder deiner Meinung nach in der Pandemie bezahlt? 

Kinder mussten drei Grundrechte respektive erwiesene entwicklungs-fördernde Aspekte aufgeben/einschränken, um andere zu schützen. Die drei Grundrechte sind der Anspruch auf Bildung, der Anspruch auf körperliche Aktivität und Bewegung und der Anspruch auf soziale Kontakte. Sie selbst haben kaum Profit von den massiven Einschränkungen. Kinder als Population sollten in diesem Sinne nicht mit derartig einschneidenden Coronaeinschränkungen belastet und in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden. In Diskussionsforen am Fernsehen wird aber entgegen diesen Fakten davon gesprochen, dass Kinder ohne jegliche Einschränkungen diese Massnahmen hinnehmen/überstehen können. 

Kinder erlebten Isolation, weniger Austausch mit Gleichaltrigen und Sorgen um Angehörige. Was könnten langfristige Folgen dieser speziellen Situation sein? 

Bezüglich Bildung werden wir ganz sicher einen Bildungsrückstand erfahren. Es gibt dazu Untersuchungen, bei denen Medizinstudierende ihre erste Propädeutikumprüfung absolvierten. Normalerweise sind dort 5 Prozent durchgefallen; jetzt sind es 50 Prozent. Das heisst bei der reinen Wissensvermittlung ist ganz sicher ein Defizit vorhanden. 

Bildung hat aber nicht nur ein Wissensvermittlungsauftrag, sondern auch den Auftrag, ein soziales Netzwerk zu erstellen. Im Berufsleben ist ein gutes soziales Netzwerk sehr wichtig, wenn die eigenen Grenzen ausgelotet sind. Ein intaktes Netzwerk respektive eine gute Kollegschaft kann dabei meist helfen. Wer diese Kollegen und Kolleginnen im Studium nicht kennenlernt, hat weniger Möglichkeiten. Der häufigste Kennenlernort ist nach wie vor die Schule und das Studium.  

Wenn das Studium so aussieht, dass Erstsemestrige erzählen, dass sie noch nie in einer Vorlesung waren, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Sie müssen im «Lichthof» andere Kollegen und Kolleginnen treffen und sich austauschen; sie müssen Karriereinteressen, Vertiefungsrichtungen und so weiter voneinander erfahren. Nur auf diese Weise weiss man, wen man fragen kann, wenn man ein gröberes Problem zu lösen hat. Wenn man diese Personen wirklich kennt, sind der Zugang und die Auskunft anders als bei Unbekannten. 

Als «alter Arzt», der den Nutzen von Wissen gegenüber dem des sozialen Netzwerkes abschätzen kann, schätze ich die Wichtigkeit des sozialen Netzwerkes grösser ein als die des reinen Wissens, insbesondere in einer Leitungsfunktion. 

Die grosse Frage ist, was bleibt? An was gewöhnen wir uns? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wenn soziale Kontakte nun ins Internet verlagert werden, verändert sich etwas. Ob das gut oder schlecht ist, wird sich noch zeigen. Aber ich würde meinen, um Vertrauen zu gewinnen, um einen Menschen so zu erleben, dass man genügend vertraut ist, ihn anzurufen/anzusprechen, muss man ihn wahrscheinlich persönlich gesehen haben. Eine reine Internetbeziehung zu haben langt nicht. 

«Wenn das Studium sich so gestaltet, dass Erstsemestrige sagen, sie seien noch nie in einer Vorlesung gewesen, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Das Studium dient nicht nur der Wissensvermittlung, sondern auch dem Networking, wozu persönliche Kontakte unabdingbar sind.» 

Knöpfli, 2021 

Möchtest du uns Psychologiestudierenden noch etwas auf den Weg geben? 

An psychologischen Fortbildungen treffe ich oft auf eine Vorgehensweise, bei der verschiedene psychologische Techniken besprochen werden. Es gibt ganze Kongresse über psychotherapeutische Analysen, über verhaltenstherapeutische Ansätze etc. Die Kongresse werden so geführt, dass man über ein System redet, aber nicht über die Patienten und Patientinnen. Man spricht über die Güte eines Systems, unabhängig von den zu Behandelnden. Vielleicht ist das eine Gegenbewegung zu dem, was die Medizin macht. Mediziner und Medizinerinnen beurteilen die Patienten und Patientinnen, indem sie eine Diagnostik machen und auf die Diagnostik beziehungsweise auf dem damit verbundenen «Stempel», den der Patient oder die Patientin trägt, wird die Therapie ausgerichtet. Das drehen viele Psychologen und Psychologinnen aus meiner Sicht extrem um. Eine Diagnose ist verpönt, man will nicht «stempeln» und man sieht das Ganze viel offener. Dadurch geht aber vielfach der diagnostische Ansatz verloren. Man wendet dann generelle Prinzipien auf jeden an. Man darf den Patienten als Individuum nicht vergessen. 

Ein zweiter Aspekt, den ich Psychologiestudierenden gerne auf den Weg geben würde: Wenn ein Arzt oder eine Ärztin einen Patienten betreut, dann geht er davon aus, dass er seine Informationen anderen Kollegen oder Kolleginnen im Interesse des Patienten weitergeben kann/muss. Das birgt sicher eine Datenschutzproblematik in sich. Ich meine aber, dass auch dieser Punkt in der Psychologie etwas fest verschoben ist. Das Geheimnis, das man mit dem Patienten oder der Patientin teilt, muss in der Sitzung bleiben und damit bleibt es innerhalb dieser Zweierbeziehung. Wenn man das für einen gesamtheitlicheren Aspekt von Gesundheit im Sinne einer mehr interdisziplinären Betreuung öffnen würde, würden meiner Meinung nach Patienten und Patientinnen mehr von Behandlungen profitieren; die Auflösung dieser Zweierbeziehung hinzu einer grösseren und offeneren Struktur von Betreuung und involvierten Personen wäre nützlich. 

Dr. med. Bruno Knöpfli ist seit 2011 in einer Zürcher Praxis für Kinder- und Jugend-Medizin tätig. Im Rahmen dieser Arbeit bietet er ambulante pädiatrische Grund- und Notfallversorgung an und ist in den Bereichen der pädiatrischen Pneumologie und pädiatrischen Sportmedizin tätig. Des Weiteren ist er delegierender Psychotherapeut. Dr. med. Bruno Knöpfli studierte von 1977 bis 1985 Medizin an der Universität Zürich und promovierte 1986. Er sammelte internationale Erfahrung und war unter anderem Chefarzt und Direktor der Alpinen Kinderklinik Davos. 

Das Ding 

Filmrezension zu Das Ding aus einer anderen Welt von John Carpenter 

Das Ding aus einer anderen Welt von John Carpenter aus 1982 gilt unter manchen als Filmklassiker. Eine Geschichte, die Gänsehaut, Übelkeit und Spannung hervorbringt – aber am besten in einer Fremdsprache.  

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Berit Barthelmes und Marina Reist
Illustriert von Kerry Willimann

Es ist eine idyllische, eisige Wüste in der Antarktis. Aus dem Nichts taucht ein Helikopter auf, der im endlosen Weiss landet. Ein Mann steigt aus, hält eine Schusswaffe hoch und beginnt auf einen Hund zu schiessen. Das Tier rennt weg. Es flieht bis zum Basislager der US-amerikanischen Forscher, der Helikopter fliegt hinterher. Doch auch hier findet der Hund keine Zuflucht. Entsetzt beobachten die US-Amerikaner wie der ausländische Forscher aus dem Helikopter steigt, diesen in die Luft jagt und weiter auf den Hund schiesst. Als der Fremde dabei einen der US-Amerikaner trifft, wird er kurzerhand selbst getötet.  

Die Crew freundet sich mit dem Hund an, während ein Teil der Gruppe das Lager des ausländischen Mannes sucht. Was sie finden, verspricht nichts Gutes. Das gesamte Lager wurde komplett zerstört. Abgebrannte Leichen liegen herum. Schnell wird klar: Hier ist etwas Schreckliches passiert. Die Männer kehren mit einer völlig deformierten Leiche in ihre Basis zurück. Im Zuge der Autopsie erkennen sie, dass diese einmal ein Mensch gewesen sein musste. Etwas hat die Person äusserlich völlig verändert. Dieses Etwas ist ein Ding, welches in einen Wirt eindringt, ihn auf Zellebene absorbiert, imitiert und dann wartet, bis es sich das nächste Opfer zu eigen machen kann. Es tötet seine Opfer, in dem es aus ihnen herausbricht. Nach kurzer Zeit müssen sie erkennen, dass dieses Ding bereits unter ihnen ist. Wer ist noch Mensch, wer ist bereits Ding? Wem kann man noch trauen? Und wer ist Imitation? 

«How do we know who’s human? If I was an imitation, a perfect imitation… How would you know if it’s really me?» 

The Thing, 1982, 56:30 

Misstrauen, Verfolgungswahn halten Einzug ins Lager. Versuchter Mord, Sabotage und völlige Panik bricht aus. Immer wieder müssen sich die Männer neu formatieren, hinterfragen und um ihr Überleben kämpfen. Sie isolieren sich, nehmen Drogen und Alkohol, um die Spannung auszuhalten und greifen zu verzweifelten Mitteln. Können sie eine globale Ausbreitung verhindern? Wie viel sind sie bereit aufzugeben, um das Ding aufzuhalten?  

Ist ihr Ding unser Covid-19? 

Das erste Mal schaute ich den Film mit meinem Mitbewohner in seiner Muttersprache Russisch. Befreit von den eher dürftigen Dialogen konnte ich mich auf die Gruppendynamiken und intrapsychischen Vorgängen der einzelnen Charaktere fokussieren. Es ist faszinierend, wie das Ding einerseits immer wieder die Gruppe entzweit und in der nächsten Sekunde wieder zusammenschweisst. Wer Freund oder Feind ist, wechselt im Sekundentakt. Was mir ebenfalls auffiel, waren die Parallelen zu Covid-19. Die psychische und physische Isolation voneinander, Streit, Selbstmedikation, übertriebener Egoismus und Bedachtheit auf das eigene Wohl schienen mir, wie ein stark übertriebener Spiegel der letzten Monate zu sein. Im Film, wie auch in den letzten Monaten, steht die Angst einer globalen Ausbreitung eines unkontrollierbaren, unbekanntem und tödlichen Etwas im Raum. Jede Person kann infiziert sein, ohne es zu wissen und damit andere in Gefahr bringen. Die Ungewissheit und Panik zeigen das wahre Gesicht mancher Personen. Menschen, die man seit Jahren kennt, offenbaren neue Seiten an sich – Gute wie Schlechte. Und während andere an der Krise zerbrechen, schwingen andere zu neuer Höchstleistung auf. Das zeitlose Thema des Films gepaart mit den endlosen Abgründen der menschlichen Natur machen den Streifen extrem spannend. 

Charme gepaart mit ekelhafter Spannung  

Obwohl der Film eine gewisse Aktualität mit sich bringt, stammt er unzweifelhaft aus den 80er Jahren. Veraltete Technik wie Ghettoblaster, dicke Computer, Floppy-Disks und alte Küchenmaschinen verleihen dem Film einen nostalgischen Charme. Weniger amüsant ist die übertriebene und gar nicht subtile Hintergrundmusik. Schrille Töne in den spannungsaufgeladenen Momenten lenken eher ab, anstatt die Gefühle zu katalysieren. Auch das Tempo des Films ist aus heutiger Sicht ungewohnt. Obwohl es ein actiongeladener Film ist, passieren die Handlungen eher langsam. Doch genau diese gemässigte Geschwindigkeit hat mich noch unruhiger und spannungsgeladener hinterlassen. Die Atemlosigkeit in der langsamen Erzählung ist genial und leider etwas, was man in heutigen Filmen vermisst.  

Wie bereits erwähnt, sind die Dialoge im Film relativ bescheiden. Genauso eindimensional sind die Charaktere. Der machohafte Protagonist, der lustige dunkelhäutige Koch, der intellektuelle, alte Arzt und der Marihuana-rauchende Verschwörungstheoretiker sind einem allzu bekannt. Wirklich sagenhaft ist hingegen das Konzept des Dings selbst. Ein schlummerndes Etwas, welches intelligent genug ist, um Angriffe zu planen und bewusst Zwietracht säht, lässt einem heute noch die Haare zu Berge stehen. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie das Ding aussieht. So viel sei verraten: es ist absolut übelerregend und ekelhaft. Ohne Sinn und Logik bricht es aus dem Lebewesen aus, verändert es bis zur Unkenntlichkeit und lässt sich abspalten. Das Ding ist so widerlich, dass mir teilweise die Galle hochkam. Es ist ein Meisterwerk. 

Trotz des Ekels ist der Film an manchen Stellen unfreiwillig amüsant. Gewisse Momente sind so absurd, dass man einfach Lachen muss. Beispielsweise als der Flammenwerfer nicht angehen will, obwohl sie das Ding extra gereizt haben, um es zu töten oder als das Ding den Kopf eines der Opfer benutzt, um wegzurennen. Somit schafft es der Film, eine grosse Bandbreite an Gefühle auszulösen und muss dabei nicht auf ein übertriebenes Setting, Hintergrundgeschichten oder billige Tricksereien zurückgreifen.  

Insgesamt lebt der Film von der Idee des Dings, der intra- und interpersonalen Dynamiken und der Ungewissheit, wen es bereits erwischt hat. Der Nervenkitzel, welchen der Film kreiert, ist herausragend. Dennoch würde ich empfehlen, dass man den Film in einer fremden Sprache schaut, um von den Dialogen und Charakteren befreit zu bleiben. Die Spannung ist hingegen in jeder Sprache verständlich. 


Zum Anschauen

Carpenter, J. (Director). (1982). The Thing [Film]. Universal Pictures. 

Familie und Karriere als Frau

Eine Diskussion zum Buch Professorin werden

Die dreifache Mutter Regula Kyburz-Graber schildert im Buch Professorin werden ihren herausfordernden Karriereweg. Die Geschichte handelt von enttäuschender Forschung, veralteten Rollenbildern genauso wie von Sinnhaftigkeit, Hartnäckigkeit, einem fortschrittlichen Betreuungsmodell und grossen Chancen. Den roten Faden bildet die Frage «Wie wird man Professorin?».

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Alba Lopez

Als junge angehende Wissenschaftlerin fühlte ich mich vom Buch direkt angesprochen. Nur zu gut konnte ich mich in die ambitionierte Studentin hineinversetzen, die an die Forschung den Anspruch der Sinnhaftigkeit stellt. Die überzeugt ist, mindestens genauso viel leisten zu können wie ein Mann und die Karriere und Familie nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Bereicherung versteht. So fieberte ich auf knapp 200 Seiten mit ihr mit und nahm an ihrer persönlichen Entwicklung teil. Fühlte mich beim Lesen in die Anfänge meines Studiums zurückversetzt, schwelgte in Erinnerungen an meine Erlebnisse an der Universität Zürich (UZH) und malte mir meine eigene berufliche Zukunft aus. Trotz Parallelen wurde mir schnell bewusst, dass die Welt, in die mich Regula Kyburz-Graber entführte, nicht der heutigen, nicht der meinen entspricht. Vieles, das ich als selbstverständlich annehme, war zur Zeit ihres Karriereweges noch nicht gegeben – vieles, das ihren Weg erleichtert hätte.

«Die Frauen waren die Eindringlinge in diese wohlabgeschirmte akademische Welt, sie mussten sich anzupassen wissen.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 114

Eine besondere Zeit, eine besondere Frau

Als Regula Kyburz-Graber 1970 volljährig wurde, war Frauen das Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz noch verwehrt. Die Forderung nach Gleichberechtigung war für sie stets eine Selbstverständlichkeit. Bewusst wählte sie mit Biologie an der ETH einen für Frauen untypischen Studiengang, um zu beweisen, dass Frauen genau so gut wie Männer ein naturwissenschaftliches Studium bewältigen können. Während des Studiums lernte sie Peter kennen, den sie noch vor ihrem Abschluss heiratete. Als Konkubinatspaar in Zürich eine Wohnung zu bekommen, wäre damals unmöglich gewesen. Da sie ihren Familiennamen Graber und damit ihre Herkunft und Identität nicht verlieren wollte, nutzte sie fortan den rechtlich nicht verbindlichen Doppelnamen Kyburz-Graber. Um neben dem Studium Geld zu verdienen, bewarb sie sich – obwohl sie keinerlei Erfahrung besass – erfolgreich als Lehrerin an der Bezirksschule Baden.

Enttäuscht von der Forschung

Ihre Diplomarbeit schrieb Regula Kyburz-Graber im Bereich der Molekulargenetik. Die Atmosphäre im Labor – unter all den Männern – beschreibt sie als gedämpft, trostlos und kompetitiv. Über Ängste oder Zweifel wurde nicht gesprochen und Spott gehörte zur Gesprächskultur. Ihre anfängliche Begeisterung für die Forschung schwand und der Gang zum Labor fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.

«Bis die einst glorifizierte Forschungswelt für mich einstürzte und ich mir schliesslich eines Tages eingestehen musste: So will ich nicht Forschung betreiben.» Kyburz-Graber, 2020, S. 32

Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage, so kämpfte sich sie sich durch. Trotz der enttäuschenden Erfahrung liess sie auch nach dem Abschluss des Studiums 1973 der Wunsch nicht mehr los, in der wissenschaftlichen Forschung berufliche Erfüllung zu finden.

«Aber Sinn musste die Forschung machen, einen bedeutsamen Beitrag für die Gesellschaft leisten, so malte ich mir gute Forschung in meinem jugendlichen Idealismus aus.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 33

Ihr eigener Weg, eine Sackgasse?

Die Suche von Regula Kyburz-Graber nach sinnhafter Forschung endete in der Überzeugung, dass Unterrichtsforschung ihr neues Forschungsgebiet werden sollte. Vorbilder fand sie für dieses Vorhaben keine, betont aber, dass sie sich noch nie an Vorbildern orientiert habe. Schon immer wollte sie ihren eigenen Weg gehen und liess sich selten helfen – so auch in der Forschung. Die Arbeit an der Dissertation musste sie durch Unterrichten querfinanzieren. Zu dieser Zeit dachte sie noch nicht an eine akademische Karriere. Ihr prioritäres Ziel war es, das Verständnis für ökologische Zusammenhänge bei Jugendlichen zu untersuchen und so den Ökologieunterricht voranzubringen.

«Da sass ich nun, eine 26-jährige, erwartungsvolle Wissenschaftlerin voller Tatendrang. Und niemand schien auf mich gewartet zu haben. Niemand interessierte sich für meine wissenschaftlichen Erkenntnisse.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 41

Nach ihrer Dissertation erlebte Regula Kyburz-Graber eine Durststrecke. Ihre Bewerbungen im Bereich der Lehre waren erfolglos. Vermutlich wurden Männer mit langjähriger Erfahrung und keine jungen Wissenschaftlerinnen gesucht. Sie fragte sich, ob all die Investitionen umsonst gewesen waren, und versank in Selbstmitleid, Wut, Angst und Trauer darüber, trotz bester Qualifikation ignoriert zu werden.

Türen öffnen sich

Das Blatt wendete sich, als Regula Kyburz-Graber 1977 ein Nachwuchsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds erhielt. Ein Jahr lang forschte sie an der Universität Kiel zum Thema «Schülerzentrierter Biologieunterricht». Sie nahm an wissenschaftlichen Debatten teil, erlebte eine gute Forschungsatmosphäre und lernte Autor*innen von Fachliteratur kennen. So brachte sie neue Ideen, Forschungswissen und Zuversicht nach Hause. Nach ihrem Forschungsjahr öffnete sich eine Tür nach der anderen. Unter anderem erhielt sie einen Lehrauftrag für Biologiedidaktik an der ETH, war Oberassistentin an der ETH und der UZH für Umweltlehre, leitete die Lehrplankommission «Integrierte Naturlehre», entwickelte Lehrmittel und vertrat die Schweiz an zahlreichen internationalen Konferenzen zur Umweltbildung. Nicht selten war sie dabei die Einzige oder eine der einzigen Frauen. In den Jahren darauf war sie in der Forschung an der ETH sowie in nationalen und internationalen Kooperationen tätig, Projektleiterin der Schweiz im internationalen OECD Projekt «Environment and School Initiatives» und Gastprofessorin an der Deakin University in Australien.

«Ich fühlte mich nun beflügelt und war getragen vom Gefühl, dass ich meinen Platz in der Berufswelt gefunden hatte.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 56

Ehefrau, Mutter und Wissenschaftlerin

Als Regula Kyburz-Graber heiratete, wusste sie bereits, dass sie keine traditionelle Hausfrauenrolle übernehmen würde. Peter und sie, beide wollten einer interessanten Karriere nachgehen und beide hatten einen Kinderwunsch. Mit dem Beginn der Familiengründung vereinbarten sie, die Familienarbeit partnerschaftlich zu teilen. Peter reduzierte sein Pensum zuerst auf 90 und dann auf 80 Prozent – in einer Zeit, in der dies alles andere als üblich war. Mit der Geburt von Tochter Andrea 1979 stand das Kind an erster Stelle und gab den Takt sowie die Tagesstruktur vor. Mit der Zeit lernte Regula Kyburz-Graber ihre Tätigkeiten an die Bedürfnisse von Andrea anzupassen. Schlief Andrea, erledigte sie Aufgaben, die viel Konzentration benötigten, wollte Andrea herumgetragen werden, machte sie gleichzeitig Hausarbeiten, übernahm Peter die Betreuung, kümmerte sie sich um Termine ausserhalb. Sie pendelte zwischen der Betreuung des Kindes und ihren beruflichen Tätigkeiten. Ständig fühlte sie sich unter Zeitdruck.

«Es fühlte sich an, als hätte ich gestutzte Flügel. Flügel hatte ich zweifellos, nur das Abheben gelang nicht mehr.»

Kyburz-Graber, 2020, S. 72

An manchen Tagen fragte sie sich, ob sie je wieder im Beruf aufholen könne und ob das Ohnmachtsgefühl, etwas zu verpassen, normal sei. Zugleich empfand sie Neid gegenüber den jungen Vätern, die wie bisher weiterarbeiten konnten und von der neuen Vaterrolle – die Stabilität und Verlässlichkeit verkörperte – sogar noch profitierten.

Logische Konsequenz der Gleichberechtigung

1982 kam Tochter Denise und zwei Jahre später Sohn Stephan zur Welt. Die Doppelbelastung und das Gefühl, den beruflichen Anschluss verloren zu haben sowie die Karriere zu vernachlässigen, stieg. Als Stephan drei Jahre alt war, spürte Regula Kyburz-Graber, dass sich etwas ändern müsse. Als sie dies unter Tränen der Wut und Enttäuschung ihrem Mann mitteilte, bot dieser an, sein Arbeitspensum auf 60 Prozent zu reduzieren. Regula Kyburz-Graber beschreibt dies als neue Freiheit, die sie sich gegenseitig gegeben hatten, aus Sicht der Gleichberechtigung sei es aber lediglich die logische Konsequenz. Die Reduktion des Beschäftigungsgrades führte dazu, dass Peter nicht mehr Teil der Geschäftsleitung sein konnte. Trotz dessen erarbeitete er sich eine Position als schweizweit anerkannter Spezialist für Kooperationen in der Landwirtschaft.

Frau Professorin

Eines Tages entdeckte Regula Kyburz-Graber ein Inserat der Philosophischen Fakultät der UZH, das wie auf sie zugeschnitten war. Es handelte sich um ein halbes Extraordinariat für Gymnasialpädagogik. Als nach langem Warten ihr erster Platz bestätigt wurde, war sie endlos glücklich und erleichtert. So wurde Regula Kyburz-Graber 1998 die erste Professorin an einem Höheren Lehramt in der Schweiz und die erste Professorin in der Pädagogik an der UZH. Sie baute ein interdisziplinäres Lehrstuhlteam auf, an dem unter anderem auch Psycholog*innen arbeiteten. 2004 wird sie Prodekanin für Ressourcen an der Philosophischen Fakultät, ein Jahr später ordentliche Professorin und 2007 auf eigene Initiative die neue Direktorin des Instituts für Gymnasial- und Berufspädagogik der UZH.

Forderung nach Gleichstellung

Um das Jahr 2000 wurde an der UZH die Forderung nach der Berufung von Frauen immer lauter. Um dem gerecht zu werden, wurde bei Ausschreibungen das Anstreben eines höheren Frauenanteils angegeben. Regula Kyburz-Graber war der Meinung, dass es diesen Satz nicht bräuchte, wenn Frauen in der frühen Karrierephase angemessen gefördert würden. Zudem beobachtete sie, dass Angaben zur privaten Lebenssituation für Frauen hinderlicher waren als für Männer. Waren Frauen unverheiratet, so wurde befürchtet, dass ihnen die emotionale Unterstützung fehle. Hatten sie keine Kinder, wurden Fragen zur Situation des Mannes gestellt, hatten sie Kinder, wurde ihre Verfügbarkeit und Belastbarkeit bezweifelt.

Obwohl aktuell 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, beträgt der Frauenanteil unter den Professor*innen lediglich 23 Prozent (Schärer, 2021). Stets arbeitet die UZH an der Chancengleichheit, beispielsweise werden zunehmend Teilzeitprofessuren angeboten (Gull, 2020). Mehr dazu unter http://www.gleichstellung.uzh.ch.

Als Regula Kyburz-Graber 1998 Professorin wurde – 30 Jahre nach der Berufung der ersten Professorin an die UZH – waren lediglich sieben Prozent der Professor*innen Frauen und dies, obwohl der Frauenanteil unter den Studierenden bei knapp 50 Prozent lag. Professorinnen mit Kindern gab es laut Regula Kyburz-Graber nur ganz selten. Zudem beschreibt sie, dass die Professorinnen keinen besonderen Kontakt untereinander pflegten und sich daher Solidarität unter Frauen kaum entwickelte. Jede ging ihren eigenen Weg.

Steinig, aber lohnend

Regula Kyburz-Graber verdeutlicht in ihrem Buch «Professorin werden», dass sie es als Frau und Mutter auf dem akademischen Karriereweg nicht immer einfach hatte und bestimmt schwerer als Männer mit ähnlichen Qualifikationen. Das Buch ist voller lebhafter Anekdoten, die diese Schwierigkeiten veranschaulichen. Gleichzeitig macht sie den Leser*innen klar, dass sich dieser Weg für sie gelohnt hat, und sie glücklich auf ihn zurückblickt. Sie zeigt auf, wie viel sich seit ihrem Karrierebeginn geändert hat, aber auch, wie viel sich noch ändern muss. Veraltete Rollenbilder, Vorurteile und strukturelle Hürden. Auf subtile Weise hält sie den Leser*innen den Spiegel vor und regt sie zum Nachdenken an. Habt ihr je (innerlich) einen Vortragenden für seine Kleidung kritisiert? Und eine Vortragende? Habt ihr je Defizite in der Lehre eines Professors mit hoher Fachkompetenz entschuldigt? Habt ihr je darüber nachgedacht, dass Frauen ohne Militärerfahrung einen Karrierenachteil haben, aufgrund fehlender Führungserfahrung und verpasster Chance, ein Netzwerk aufzubauen?

Trotz zahlreicher Einblicke in das Leben von Regula Kyburz-Graber bleibt ihre Gefühlswelt den Leser*innen in vielen Situationen verwehrt. Was hat sie wohl empfunden, als ihr Mann zum wiederholten Mal als Herr Professor angesprochen und sie als die treu besorgte Ehefrau angenommen wurde? Auch lässt sie die Leser*innen leider nicht daran teilhaben, wie sie den Stress der Doppelbelastung und der Unsicherheit bewältigte und ihre psychische Gesundheit schützte.

Mutmacher für junge Wissenschaftler*innen?

Trotz vielen Herausforderungen haben Regula Kyburz-Graber und ihr Mann ihr Ziel erreicht. Beide übten eine berufliche Tätigkeit aus, die sie erfüllte und konnten parallel die Entwicklung ihrer Kinder unterstützen. Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: «Wenn es damals ohne unterstützende gesellschaftliche Rahmenbedingungen möglich war, dann heute erst recht!». Ferner beschreibt sie, wie ihre Familie ihre Karriere positiv beeinflusste. Sie habe dank der Familie gelernt, flexibel zu sein, sich zu organisieren, genau zuzuhören, gemeinsam nach geeigneten Lösungen zu suchen sowie Entscheide, wenn nötig, zu revidieren. Überdies demonstriert sie, dass sinnhafte Forschung es wert ist, sich dafür einzusetzen und, dass auch scheinbar zerstückelte Biografien am Ende zusammenpassen sowie wenig gradlinige Karrierewege erfolgreich sein können. Diese Ausführungen können junge Wissenschaftler*innen im Hinblick auf ihre Karriere zuversichtlich stimmen.

Manche Leser*innen mögen die vielen Hürden, denen Regula Kyburz-Graber auf ihrem Karriereweg begegnete, vielleicht eher abschrecken. So erzählt sie, dass ihre drei Kinder ihre akademische Karriere aufgrund der riesigen Doppelbelastung und der Unsicherheiten als nicht nachahmenswert empfinden.

Ratgeber für junge Wissenschaftler*innen?

Regula Kyburz-Graber macht mehr als klar, wie wichtig es für ihre Karriere war, die Familienarbeit mit ihrem Mann zu teilen. Dieses partnerschaftliche Familienmodell ist gemäss ihr der Schlüssel zur Karriere als Frau und damit zur Gleichstellung. Wenn Männer nicht die gleiche Verantwortung in der Familie übernähmen, würde die grosse Arbeitslast mit Berufs- und Familienarbeit weiterhin einseitig bei den Frauen liegen, schreibt sie. Damit dies möglich ist, müssen beide Partner*innen bereit sein, ihren Beschäftigungsgrad zu reduzieren und die Arbeitgeber*innen müssen solche Teilzeitstellen zur Verfügung stellen.

Auch weitere Ratschläge lassen sich dem Buch entnehmen. So beschreibt Regula Kyburz-Graber beispielsweise, wie wichtig es ist, sich immer wieder über seine kurz- und langfristigen Ziele bewusst zu werden. Sie teilt mit, dass man seinen eigenen – für sich sinnhaften – Weg gehen soll und betont, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. Zudem empfiehlt sie an Diskussionen aktiv teilzunehmen, um Kontakte zu knüpfen sowie Impulse zu erhalten. Auch das Verbinden von Empathie und Selbstbewusstsein, einen interdisziplinären Forschungsansatz und ein hohes Mass an Flexibilität gibt sie als bedeutsam an.

Dankbarkeit

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, verspürte ich Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber Regula Kyburz-Graber und allen anderen Frauen, die den Weg für zukünftige Generationen ebneten. Die einerseits bewiesen, dass Frauen erfolgreich akademische Karrieren einschlagen können und anderseits, dass sich diese mit dem Gründen einer Familie verbinden lässt. Dankbarkeit für all die Entwicklungen der letzten Jahre, die das Kombinieren von Karriere und Familie erleichterten und den Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung antrieben. Besser denn je verstand ich nun die Wichtigkeit von kleinen und grossen strukturellen Veränderungen wie Blockzeiten, Mittagstischen, Homeoffice und Teilzeitarbeit auf der einen Seite, und Entwicklungen in der Einstellung der Gesellschaft, wie verständnisvollen Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen, von Frauenförderung sowie partnerschaftlichen Familienmodellen auf der anderen. Das Ziel der Gleichstellung ist noch nicht erreicht, aber es wird besser. Wenn ich heute durch die Gänge der UZH laufe, fühle ich mich nicht als Eindringling in diese akademische Welt, sondern als Teil davon.


Zum Weiterlesen

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt.

Literatur

Gull, T. (2020). Buchvernissage Professorin werden. Universität Zürich. https://www.news.uzh.ch/de/articles/2020/buchvernissage_professorin_werden.html

Kyburz-Graber, R. (2020). Professorin werden. Hier und Jetzt. Schärer, A. (2021). Gleichstellung und Diversität. Universität Zürich. https://www.gleichstellung.uzh.ch/de/gleichstellungsmonitoring