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Beiträge aus der Kategorie ‘HS20’

«Mehr oder weniger» Psychotherapie auf Distanz

Die Grundversicherung unterscheidet bei der Kostenübernahme zwischen Leistungen von Psycholog*innen und Ärzt*innen

Die Nachfrage nach Psychotherapie auf Distanz ist im Zuge der Schutzmassnahmen der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. Derartige Leistungen von delegiert tätigen Psycholog*innen werden jedoch nur in zeitlich beschränktem Umfang von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen. Für ambulant tätige ärztliche Psychotherapeut*innen beziehungsweise Psychiater*innen gelten nur marginale Einschränkungen.

Von André Widmer, Präsident ZüPP, Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen

Die positive Wirkung verschiedener Formen von Psychotherapie auf Distanz (zum Beispiel Online-Therapien via Skype oder Telefon) ist bei verschiedenen psychischen Störungen wissenschaftlich – auch durch Schweizer Studien – belegt; dies gilt unter anderem für Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen sowie Schlaf- und Essstörungen (FSP & FMPP, 2017). Neben kontrollierten Wirksamkeitsstudien gibt es in der noch jungen Forschung zu Online-Interventionen auch bereits eine ganze Reihe von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen (FSP & FMPP, 2017).

In der Praxis muss vor Beginn einer telepsychotherapeutischen Behandlung zuerst eine physische Begegnung mit der Psychotherapeutin oder dem Psychotherapeuten erfolgen, damit eine Diagnose gestellt werden kann. Aus rechtlichen Gründen kann dies nur im Rahmen einer persönlichen Sitzung erfolgen. Sollte eine solche Sitzung nicht möglich sein, müssen sich die ersten telepsychotherapeutischen Sitzungen auf die Kontaktaufnahme und auf eine Unterstützung ohne zugrundeliegende Diagnose beschränken. Der eigentliche therapeutische Prozess kann erst nach einer Face-to-Face-Sitzung eingeleitet werden.

Limitierung der Kostenübernahme von Psychotherapien auf Distanz

Trotz nachgewiesener Wirksamkeit von Psychotherapien auf Distanz übernimmt die Grundversicherung der Krankenkassen bei der delegierten psychologischen Psychotherapie nur Leistungen im Umfang von 240 Minuten pro Halbjahr (dies entspricht beispielsweise vier Therapiesitzungen à je 60 Minuten). Für ärztliche Psychotherapeut*innen beziehungsweise Psychiater*innen gelten diese Beschränkungen nicht. Während des Covid-19-Lockdowns in der Schweiz wurde diese für delegiert arbeitende Psychotherapeut*innen geltende Limitierung zunächst auf 360 Minuten pro Halbjahr erweitert. Im Rahmen der sukzessiven Lockerungen der Massnahmen Ende Juni wurde jene aber wieder auf die bestehende Limite reduziert. Gegen diese vorübergehende und nur marginale Erhöhung der Kostendeckung von 240 auf 360 Minuten haben verschiedene Patient*innenorganisationen, psychologische und ärztliche Berufsverbände wie auch Gesundheitsdirektionen der Kantone wiederholt ohne Erfolg beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) interveniert. Im Gegensatz zur Grundversicherung haben einzelne Zusatzversicherungen von Krankenkassen telepsychotherapeutische Leistungen von selbständigen psychologischen Psychotherapeut*innen, welche über diese 360 Minuten hinausgehen, im Rahmen ihrer Leistungserbringung während des Lockdowns teilweise übernommen.

Die FSP lässt nicht locker und verlangt Antworten

Die bei einem breiten Spektrum von psychischen Störungen nachgewiesene Wirksamkeit der Online-Psychotherapie und die positiven Erfahrungen mit Telepsychotherapie während des Lockdowns bestärken die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) sich für die Aufhebung der bestehenden Limitierung der Kostenübernahme von psychologischer Psychotherapie auf Distanz weiter einzusetzen. Nach wie vor verlangt die FSP vom Bundesrat eine Begründung für diese, gegenüber ärztlichen Psychotherapeut*innen, diskriminierende Beschränkung der Kostenübernahme. So wurde durch Nationalrätin Franziska Roth, von der SP Solothurn, und weitere Mitunterzeichnende eine Interpellation im Nationalrat eingereicht. Diese verlangt vom eidgenössischen Departement des Innern (EDI) Antworten und Begründungen zur aktuellen und zukünftigen Regelung von psychologischen Online-Interventionen. Die Beantwortung wird im Laufe der Herbstsession im kommenden September erwartet.


Literatur

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) & Foederatio Medicorum Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum (FMPP). (2017). Qualitätsstandards für Online-Interventionen. FSP. https://www.psychologie.ch/fsp-fmpp-qualitaetsstandards-onlineinterventionen-fuer-fachpersonen-psychotherapie

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). (2020, 31. Juli) Online-Interventionen. Konsultationen auf Distanz Empfehlungen für Patienten und Klienten. FSP. https://www.psychologie.ch/psychologen-finden/onlineinterventionen

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). (2020, 31. Juli) Medienmitteilung: Online-Therapie muss für alle gleich zugänglich sein. FSP. https://www.psychologie.ch/online-therapie-muss-fuer-alle-gleich-zugaenglich-sein

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). (2020, 31. Juli) Faktenblatt des BAG zur Kostenübernahme für ambulante Leistungen auf räumliche Distanz während der COVID-19-Pandemie vom 2. April 2020. FSP.

Mehr oder weniger Engagement?

Warum dein Engagement im Fachverein für dich und deine Mitstudierenden von Bedeutung ist

Als Student*in hat man so viele Dinge im Kopf, dass einem meist keine Zeit mehr bleibt, über zusätzliches Engagement an der Uni auch nur nachzudenken. Warum sich neben Klausuren, Praktika, Hobbies und der Pflege von Freundschaften auch noch mehr Arbeit zumuten?

Von Angela Pape
Lektoriert von der Redaktion

Was viele auf den ersten Blick allerdings nicht sehen: Viele Verpflichtungen im Studienalltag schliessen sich gar nicht mit ehrenamtlicher Arbeit im Fachverein aus. Klar, deine Klausuren musst du schon selbst schreiben. Aus persönlicher Erfahrung weiss ich aber, dass du im Fachverein viele Fähigkeiten erlernen kannst, die dir im Studienalltag, im Berufs- oder Privatleben zu Gute kommen. Einige möchte ich hier aufzählen:

Du profitierst von Anderen!

Im Fachverein kommen Studierende aus unterschiedlichen Semestern zusammen. Das führt zu regem, fachlichem und auch organisatorischem Austausch. Welche Seminare sind spannend? Wie kann ich mich am besten für die eine oder andere Klausur vorbereiten? Hier findest du Leute für eine Lerngruppe. Es gibt regelmässige Sitzungen oder gemeinsame Unternehmungen. Die Arbeit im Fachverein verbindet uns untereinander. Wir sind füreinander da.

Du erlernst wichtige Fähigkeiten!

Ob Parties, Spielabende oder andere Events. Im Fachverein erlernst du wichtige organisatorische Fähigkeiten. Dazu gehört das Erproben von Kommunikationsfähigkeiten mit Clubbesitzenden bis hin zu Entscheidungstragenden von Verbänden, Vereinen oder der Universität. Du lernst Zeit- und Budgetpläne zu koordinieren oder kommst mit Marketingthemen in Berührung. Das Tolle dabei: Du kannst dich voll und ganz ausprobieren, ohne Angst vor Fehlern. Denn sollte dir etwas nicht gelingen, ist es im Fachverein weniger dramatisch als in einer verantwortungsvollen Position bei deinen zukünftigen Arbeitgebenden. Du lernst mit Erfolgen und Misserfolgen umzugehen und kannst daraus lernen. Das verschafft dir viele Vorteile für deine berufliche Zukunft.

Du nimmst Einfluss!

Zum Unialltag gehören natürlich auch die Dozierenden und Professor*innen, denen wir ausserhalb von Lehrveranstaltungen oder Prüfungen eher selten begegnen, die aber in verschiedenen Gremien der Fakultät wichtige Entscheidungen über unseren Studienalltag treffen. Auch hier sind Studierende aus dem Fachverein vertreten. Wenn du also daran interessiert bist, strukturelle Änderungen in deinem Studiengang herbeizuführen, dann schaffst du das am besten über die Arbeit im Fachverein. Bei uns können Psychologiestudierende jedes Semester für ihre beiden Lieblingsdozierenden stimmen. Die beiden Dozierenden mit den meisten Nominierungen erhalten vom FAPS eine Urkunde für gute Lehre. So bleiben Professor*innen und Dozierende nicht in ihrem Elfenbeinturm und bekommen Einsicht in die Perspektive von uns Studierenden.

Du schaffst dir ein Netzwerk!

Networking is key! Wenn ich eines im Studium gelernt habe, dann dass die Pflege von Beziehungen in Form von Freundschaften, sowie Kontakten aufgrund gemeinsamer Interessen oder Zielen von enormer Bedeutung sind. Die meisten Informationen werden nämlich auf den persönlichen, informellen Kanälen weitergegeben. Durch die Arbeit im Fachverein erhältst du wichtige Infos zu Praktika, Jobangeboten und lernst spannende Menschen kennen. Im FAPS wollen wir auch unseren Kommiliton*innen durch unsere «AfterStudy»-Events die beste Entscheidungsgrundlage für die unterschiedlichen, beruflichen Wege bieten. Unsere Gäste aus verschiedenen Branchen erzählen uns dann viel aus ihrem Berufsalltag.

Wie du merkst, bringt das Engagement im Fachverein viele Vorteile – persönlich und für die Gemeinschaft. Komm vorbei und überzeuge dich selbst.

Mehr Frauen bitte!

Die Vernachlässigung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Psychopharmakologie

Frauen wurden in der Psychopharmakaforschung lange vernachlässigt, was die Annahme stärkte, dass keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bestünden und zu äquivalenten Therapien führte. Erst die Gleichberechtigung in der Forschung kann zeigen, ob die Gleichbehandlung in der Praxis angemessen ist.

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Tabea Bührer und Marie Reinecke 
Illustriert von Livia Halbeisen

Wir sind alle gleich! Definitiv. Zumindest aus politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Sicht. In der Medizin kann diese Einstellung negative Konsequenzen haben. Während in der Politik die Gleichstellung der Geschlechter angestrebt wird (BFS, 2019), gewinnt im Gesundheitswesen die individualisierte Medizin zunehmend an Bedeutung (Nieber, 2013). Aber statt vorzugreifen, nun von Anfang an.

Zu komplex für die Forschung?

Lange Zeit beschäftigte sich die Psychiatrie nicht mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen (Regitz-Zagrosek et al., 2008). So wurden Frauen bis in die 1990er Jahre aus Bioäquivalenzstudien ausgeschlossen. Der weibliche Körper wurde als zu komplex und variabel angenommen, was die interindividuelle Variabilität erhöhen und folglich größere Studienpopulationen und mehr Kapital erfordern würde (Allevato & Bancovsky, 2019). Darüber hinaus bestand die Angst, dass Frauen die Studien durch eine mögliche Schwangerschaft oder hormonelle Schwankungen verfälschen könnten (Nieber, 2013). Auch der Contergan-Skandal aus den frühen 1960er Jahren sass noch tief. Contergan war ein mildes Beruhigungsmittel, das gezielt für Schwangere empfohlen wurde, aber zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen bei Neugeborenen führte (Marts & Keitt, 2004). Diese negative Erfahrung bewirkte den Ausschluss gebärfähiger Frauen und Schwangeren von Medikamententests zu deren Schutz (Nieber, 2013). Zur Vermeidung potenzieller, fetaler Schäden wurde in einigen Studien eine orale Verhütung gefordert, was die Rekrutierung von Frauen erneut erschwerte (Holdcroft, 2007). Auch wenn die Bedenken, Experimente mit Schwangeren und Frauen im gebärfähigen Alter durchzuführen, teilweise berechtigt waren, führt die Überprotektion zu einer riesigen Wissenslücke (Bolea-Alamanac et al., 2018). Auch möglichen Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und Verhütungsmitteln wurde so keine Beachtung geschenkt (Bolea-Alamanac et al., 2018). Ein weiteres Problem bestand darin, dass Forscher der Ansicht waren, dass die Untersuchung der Physiologie von Frauen aufgrund fehlender Daten und insbesondere fehlender Replikationsstudien zu kompliziert ist (Holdcroft, 2007). Die unzureichende Berücksichtigung des Geschlechts bedingte sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Praxis die Annahme, dass nur vernachlässigbare Geschlechtsunterschiede bestehen (ZAG, 2011). Dies rechtfertigte wiederum den Ausschluss von Frauen in der Forschung und die Gleichbehandlung in der klinischen Praxis, was beides teilweise bis heute besteht.

Heute ist alles besser – oder?

Die vorklinische Forschung basiert nach wie vor überwiegend auf männlich-tierischen Krankheitsmodellen (Kokras & Dalla, 2014) und vor allem in frühen Phasen der Medikamententestung sind Frauen immer noch unterrepräsentiert, sogar bei Krankheiten, die vorwiegend Frauen betreffen (Nieber, 2013; Yoon et al., 2014; Bolea-Alamanac et al., 2018). Ein Review zeigte, dass nur knapp 40 Prozent der klinischen Studien gleich viele Männer wie Frauen rekrutierten (Phillips & Hamberg, 2016). Selbst, wenn Frauen eingeschlossen wurden, fand in mehr als 80 Prozent der Fälle keine geschlechtsspezifische Subgruppenanalyse statt (Phillips & Hamberg, 2016). Und trotz Subgruppenanalysen wird der Menstruationszyklus meist nicht berücksichtigt, was widersprüchliche Ergebnisse hervorbringt (Bolea-Alamanac et al., 2018). All dies führt zu fehlenden geschlechtsspezifischen Informationen, grossen Datenlücken und der ungerechtfertigten und möglicherweise folgenreichen Generalisierung der Ergebnisse für beide Geschlechter (Yoon et al., 2014).

Weshalb Gleichberechtigung nicht Gleichbehandlung bedeuten darf

Anfang der Jahrtausendwende wurde das Geschlecht als ein entscheidender Faktor für die Prävalenz und Schwere psychischer Gesundheitsprobleme anerkannt (WHO, 2000). Vielfältige, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Prävalenz, im Erleben, im Verlauf und in der Bewältigung psychischer Störungen wurden festgestellt (ZAG, 2011). Während bei Männern vor allem Verhaltens- und Entwicklungsstörungen in der Kindheit bzw. Suchterkrankungen im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, sind Frauen eher von Depressionen, Angsterkrankungen, PTBS, Ess- und somatoformen Störungen betroffen. Suizidversuche sind bei Frauen häufiger, bei Männern dagegen die vollendeten Suizide (Riecher-Rössler & Bitzer, 2005). Einige Störungen betreffen sogar ausschliesslich Frauen, wie beispielsweise das prämenstruelle Syndrom, das ungefähr bei 20 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter vorliegt, oder überwiegend Frauen wie die postpartale Depression (Halbreich et al., 2007). Auf der anderen Seite nehmen Frauen psychosoziale Belastungen eher wahr, haben eine höhere Bereitschaft, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben und nehmen eineinhalb mal so häufig Psychopharmaka ein, womit sie eigentlich die Hauptkonsument*innen darstellen (Bäwert et al., 2009; Metz et al., 2009; ZAG, 2011). Bei Antidepressiva ist der Unterschied besonders extrem: 70 Prozent der Konsumierenden sind Frauen. Auch ist der off-label Gebrauch von Antidepressiva bei Frauen mehr als doppelt so hoch wie bei Männern (Metz et al., 2009). Frauen leiden öfter unter Komorbiditäten, weswegen einige Frauen mehrere Medikamente einnehmen, was entsprechende Interaktionen hervorrufen kann (Bäwert et al., 2009). Gleichzeitig reagieren sie aber auch sensibler auf die Nebenwirkungen von Psychopharmaka als Männer (Regitz-Zagrosek et al., 2008). So treten Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Hyperglykämie und Herzrhythmusstörungen bei Frauen häufiger auf (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Trotz diesem verbreiteten Wissen existieren immer noch nur wenige evidenzbasierte Untersuchungen, die die geschlechtsspezifische Wirkung, Nebenwirkung und Dosierung von Psychopharmaka beurteilen (Regitz-Zagrosek et al., 2008; Nieber, 2013). Obwohl sich die Berücksichtigung der Frauen in der Forschung von Jahr zu Jahr bessert und somit das Wissen zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden stetig zunimmt, sind der Forschungsaufwand und der Forschungsstand noch unbefriedigend und die Umsetzung in der klinischen Praxis immer noch mangelhaft (Regitz-Zagrosek et al., 2008; ZAG, 2011).

Reagieren wir tatsächlich verschieden?

Die Wirksamkeit von Medikamenten hängt davon ab, wie sie im Körper aufgenommen, verteilt, verstoffwechselt und ausgeschieden werden (Robinson, 2002). Bei vielen Medikamenten wurden Geschlechtsunterschiede bei diesen Prozessen festgestellt (Robinson, 2002). Dies beeinflusst den Plasmaspiegel und somit das klinische Ansprechen sowie die Nebenwirkungen (Allevato & Bancovsky, 2019).

«However, women do have cycles, become pregnant, take exogenous hormones, and still require psychotropic medication.»

Robinson, 2002, S. 7

Aufnahme

Die Bioverfügbarkeit eines Medikaments wird durch die Geschwindigkeit und das Ausmass der Aufnahme in den Blutkreislauf bestimmt (Nieber, 2013). Einerseits ist bei prämenopausalen Frauen die Magenentleerungszeit länger als bei Männern, was die Aufnahme der Psychopharmaka verzögert (Bolea-Alamanac et al., 2018). Anderseits ist ihr Stuhlgang beschleunigt, was niedrigere Plasmaspiegel bedeuten könnte (Bolea-Alamanac et al., 2018). Darüber hinaus haben Frauen im Vergleich zu Männern eine geringere basale Magensäuresekretion, was die Aufnahme von Basen wie trizyklischen Antidepressiva erhöht und die von Säuren wie Barbituraten verringern kann (Robinson, 2002). Dazu kommt die geringere Aktivität einiger Magenenzyme, die ebenfalls das Erreichen höherer Plasmaspiegel begünstigt (Bolea-Alamanac et al., 2018). Beispielsweise ist die Aktivität der gastralen Alkoholdehydrogenase bei Männern höher, weswegen bei Frauen eine höhere Bioverfügbarkeit von Alkohol vorliegt (Gandhi et al., 2004).

Verteilung

Die Verteilung der Psychopharmaka hängt vom Gewicht, Körperfettanteil, Blutvolumen und der Bindung an Plasmaproteine ab (Allevato & Bancovsky, 2019). Das durchschnittlich geringere Gewicht und geringere Blutvolumen der Frauen führt bei gleicher Dosierung zu höheren Plasmaspiegeln (Allevato & Bancovsky, 2019). Aufgrund der Sexualhormone haben Frauen einen deutlich höheren Fettanteil als Männer, während der männliche Körper mehr Muskelgewebe und Wasser aufweist (Thürmann, 2005). Dadurch bleiben lipophile Medikamente bei Frauen länger im Fettgewebe gespeichert und (Neben-)wirkungen halten länger an (Thürmann, 2005). Anfänglich ist die Serumkonzentration im Vergleich zu Männern tiefer, nach der allmählichen Freisetzung höher (Robinson, 2002). Beispielsweise ist bei Frauen die Anfangsdosierung von lipophilen Benzodiazepinen häufig zu hoch, da sich diese in ihrem ausgeprägteren Fettgewebe anreichern (Bäwert et al., 2009). Die Plasmaproteinbindung ist bei Frauen geringer als bei Männern, was den Anteil des pharmakologisch aktiven Stoffes erhöht (Allevato & Bancovsky, 2019).

Stoffwechsel und Ausscheidung

Generell ist der Stoffwechsel von Frauen langsamer, was zu höheren Plasmakonzentrationen von Medikamenten führen kann (Allevato & Bancovsky, 2019). Dies liegt einerseits an der geringeren Durchblutung der Leber. Anderseits bestehen Unterschiede in der Aktivität von Enzymen, die Medikamente abbauen (Allevato & Bancovsky, 2019). Auch die Entgiftungsleistung der Niere ist bei Frauen geringer (Allevato & Bancovsky, 2019). Zusammengefasst verfügen Frauen in der Regel über höhere Plasmakonzentrationen, weswegen sie tendenziell tiefere Dosierungen benötigen als Männer (Kirchheiner, 2005).

Und dann auch noch die Hormone…

Die Physiologie der Frauen ändert sich während des Menstruationszyklus. Die monatlichen Schwankungen der Hormone können den Stoffwechsel, die Verteilung, die Ausscheidung und damit das Ansprechen auf die Medikamente verändern (Robinson, 2002). Beispielsweise senkt Progesteron, das nach der Menstruation in höheren Dosen vorliegt, die Magenentleerung (Sramek et al., 2016). Vor der Menstruation bestehen eine langsamere Dünndarmtransitzeit und eine Abnahme der Magensäuresekretion (Robinson, 2002). Ähnliche zyklische Schwankungen werden auch bei der Symptomatik von psychischen Störungen beobachtet (Kirchheiner, 2005). Darüber hinaus kann sich die Einnahme von oralen Verhütungsmitteln auf die Serumkonzentration gleichzeitig eingenommener Psychopharmaka auswirken, so beispielsweise bei verschiedenen Benzodiazepinen. Andersherum können Medikamente die Wirkung oraler Kontrazeptiva beeinträchtigen (Robinson, 2002). Zugleich verändern viele Psychopharmaka über Neurotransmitter wie Prolaktin, Dopamin und Acetylcholin den Hormonzyklus von Frauen und können so die Sexualfunktion, Libido und Fruchtbarkeit beeinträchtigen (Kirchheiner, 2005). Auch die Schwangerschaft, Stillzeit und die Wechseljahre können die erforderliche Dosierung und Wirkung beeinflussen (Robinson, 2002). Während der Schwangerschaft und Stillzeit müssen mögliche Effekte auf das ungeborene Kind und pharmakokinetische Unterschiede im mütterlichen Organismus beachtet werden (Kirchheiner, 2005). Das Risiko eines Rückfalls beim Absetzen muss gegen das Risiko perinataler Komplikationen abgewogen werden (Regitz-Zagrosek et al., 2008).

«The development of a sex-specific psychopharmacology as a basis for translating this type of research into clinical practice is vital to improve treatment outcomes for women.»

Bolea-Alamanac et al., 2018, S. 125

Antidepressiva – das Musterbeispiel

Depressionen werden bei Frauen, welche eine Lebenszeitprävalenz von 23 Prozent aufweisen, etwa doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern (Jacobi et al., 2004). Trotzdem wurden bei den meisten Studien zu Antidepressiva keine östrogengebundenen Variablen, wie der Menstruationszyklus oder die orale Verhütung, kontrolliert (Stahl, 2001). Basierend auf ihrem Wirkmechanismus werden Antidepressiva in Gruppen eingeteilt. Ältere Substanzen, die trizyklischen Antidepressiva, verhindern den Abbau von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Neuere Substanzen, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), verhindern den Abbau von Serotonin und Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (NSRI) von Serotonin und Noradrenalin. Dazu kommen pflanzliche Substanzen, wie Johanniskraut (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Prämenopausale Frauen sprechen besser auf SSRI an als Männer (Ebner & Fischer, 2004). Grund dafür ist die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Gewebszusammensetzung (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Da sich lipophile Substanzen im Fettgewebe stärker anreichern, führt die höhere Konzentration des Fettgewebes bei Frauen zu einer stärkeren Wirkung (Sramek et al., 2016). Dazu kommen Unterschiede im serotonergen System. Eine akute Reduktion von Tryptophan, einer Vorstufe von Serotonin, hat einen stärkeren Effekt auf die Stimmung von Frauen als von Männern. Östrogen und Progesteron, deren Konzentration bei Frauen vor der Menopause höher ist, hemmen das Enzym, das Tryptophan abbaut (Metz et al., 2009). Dies führt dazu, dass die Serumkonzentration von Tryptophan bei Frauen höher ist als bei Männern (Regitz-Zagrosek et al., 2008). SSRI haben bei Männern die Nebenwirkung der Erektions- und Ejakulationsstörungen und auch bei Frauen wurden sexuelle Beeinträchtigungen festgestellt, aber auch Verbesserungen (Entsuah et al., 2001). Trizyklische Antidepressiva sind bei Männern wirksamer als bei Frauen vor der Menopause (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Frauen weisen bei trizyklischen Antidepressiva höhere Plasmaspiegel auf und brechen die Therapie wegen vermehrten Nebenwirkungen, wie Gewichtszunahme und niedrigem Blutdruck, eher ab (Kornstein et al., 2000). Nach der Menopause wirken die Substanzen bei beiden Geschlechtern gleich gut (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Bei der Vergabe von Johanniskraut ist zu beachten, dass es die Wirkung einiger Medikamente abschwächt. Unter anderem reduziert es die Wirksamkeit der meisten oralen Kontrazeptiva um bis zu 80 Prozent (Regitz-Zagrosek et al., 2008).

Antidepressiva in der Schwangerschaft

Die Behandlung von psychischen Störungen während der Schwangerschaft ist eine der schwierigsten Situationen in der Psychopharmakologie (Allevato & Bancovsky, 2019).

Glücklicherweise sind negative Auswirkungen bei Antidepressiva gemäss neueren Studien selten (Allevato & Bancovsky, 2019). SSRI wurden zwar mit erhöhtem Risiko kleinerer Fehlbildungen in Verbindung gebracht, mittlerweile wurde aber gezeigt, dass diese eher auf die Depression und assoziierte Verhaltensweisen zurückzuführen sind (Wang et al., 2015). Während der Schwangerschaft sinken die Plasmaspiegel aufgrund grösserem Plasmavolumen, erhöhter Entgiftungsleistung der Niere und gesteigerter Aktivität der Leberenzyme (Regitz-Zagrosek et al., 2008). Teilweise sind daher höhere Dosen nötig, wobei stets die niedrigste wirksame verschrieben werden sollte (Allevato & Bancovsky, 2019). Generell sind eine Kontrolle der Plasmaspiegel und ein neonatales Monitoring sinnvoll (Metz et al., 2009).

Die geschlechtsspezifische Dosierung von Antidepressiva ist noch nicht abschliessend geklärt (Allevato & Bancovsky, 2019) und gegenwärtig liegen noch keine geschlechtsspezifischen Richtlinien zur Dosierung vor (Sramek et al., 2016). Frauen entwickeln jedoch schneller Nebenwirkungen und benötigen vermutlich zyklusabhängig geringere Dosen als Männer für die gleiche Wirkung (Allevato & Bancovsky, 2019).

Die zusammengefasste Literatur zeigt mehr als deutlich die Wichtigkeit einer gleichberechtigten Psychopharmakaforschung. Sowohl Männer als auch Frauen sollten in gleicher Zahl in die Stichproben einbezogen werden. Subgruppenanalysen zur Testung von geschlechtsspezifischen Unterschieden sollten standardmässig durchgeführt und der Menopausenstatus, Menstruationszyklus, die Verhütungsmethode und Schwangerschaft berücksichtigt werden. Denn erst eine Gleichberechtigung in der Forschung kann zeigen, ob eine Gleichbehandlung in der klinischen Praxis tatsächlich angemessen ist. Bis dahin gilt die Forderung: Mehr Frauen bitte!


Zum Weiterlesen

Allevato, M., & Bancovsky, J. (2019). Psychopharmacology and women. In J. Rennó, G. Valadares, A. Cantilino, J. Mendes-Ribeiro, R. Rocha, & A. G. da Silva (Eds.). Women’s mental health: A clinical and evidence-based guide (pp. 227-240). Springer Nature.

Bolea-Alamanac, B., Bailey, S. J., Lovick, T. A., Scheele, D., & Valentino, R. (2018). Female psychopharmacology matters! Towards a sex-specific psychopharmacology. Journal of psychopharmacology (Oxford, England), 32(2), 125–133. https://doi.org/10.1177/0269881117747578

Literatur

Allevato, M., & Bancovsky, J. (2019). Psychopharmacology and Women. In J. Rennó, G. Valadares, A. Cantilino, J. Mendes-Ribeiro, R. Rocha, & A. G. da Silva (Eds.).Women’s Mental Health: A Clinical and Evidence-based Guide (pp. 227-240). Springer Nature.

Bäwert, A., Winklbaur, B., Metz, V., & Fischer, G. (2009). Geschlechtsunterschiede bei der psychopharmakologischen Behandlung psychiatrischer Erkrankungen. Blickpunkt der Mann, 7(1).

Bolea-Alamanac, B., Bailey, S. J., Lovick, T. A., Scheele, D., & Valentino, R. (2018). Female psychopharmacology matters! Towards a sex-specific psychopharmacology. Journal of psychopharmacology (Oxford, England), 32(2), 125–133. https://doi.org/10.1177/0269881117747578

Bundesamt für Statistik. (2019). Auf dem Weg zur Gleichstellung von Frau und Mann. BFS. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann.assetdetail.8288359.html

Ebner, N., & Fischer, G. (2004). Psychiatrie. In A. Rieder & B. Lohoff (Eds.). Gender Medizin geschlechtsspezifische Aspekte für die klinische Praxis (pp.77-111). Springer-Verlag.

Entsuah, A. R., Huang, H., & Thase, M. E. (2001). Response and remission rates in different subpopulations with major depressive disorder administered venlafaxine, selective serotonin reuptake inhibitors, or placebo. The Journal of clinical psychiatry, 62(11), 869–877. https://doi.org/10.4088/jcp.v62n1106

Gandhi, M., Aweeka, F., Greenblatt, R. M., & Blaschke, T. F. (2004). Sex differences in pharmacokinetics and pharmacodynamics. Annual Review of Pharmacology and Toxicology, 44, 499-523. https://doi.org/10.1146/annurev.pharmtox.44.101802.121453

Halbreich, U., Backstrom, T., Eriksson, E., O’brien, S., Calil, H., Ceskova, E., Dennerstein, L., Douki, S., Freeman, E., Genazzani, A., Heuser, I., Kadri, N., Rapkin, A., Steiner, M., Wittchen, H. U., & Yonkers, K. (2007). Clinical diagnostic criteria for premenstrual syndrome and guidelines for their quantification for research studies. Gynecological Endocrinology, 23(3), 123–130. https://doi.org/10.1080/09513590601167969

Holdcroft A. (2007). Gender bias in research: how does it affect evidence based medicine?. Journal of the Royal Society of Medicine, 100(1), 2–3. https://doi.org/10.1177/014107680710000102

Jacobi, F., Wittchen, H., Holting, C., Höfler, M., Pfister, H., Müller, N., & Lieb, R. (2004). Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychological Medicine, 34(4), 597–611. https://doi.org/10.1017/S0033291703001399

Kirchheiner, J. (2005). Geschlechtsunterschiede in Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Psychopharmaka. Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie, 73(10), A60. https://doi.org/10.1055/s-2005-918146

Kokras, N., & Dalla, C. (2014). Sex differences in animal models of psychiatric disorders. British Journal of Pharmacology, 171(20), 4595–4619. https://doi.org/10.1111/bph.12710

Kornstein, S. G., Schatzberg, A. F., Thase, M. E., Yonkers, K. A., McCullough, J. P., Keitner, G. I., Gelenberg, A. J., Davis, S. M., Harrison, W. M., & Keller, M. B. (2000). Gender differences in treatment response to sertraline versus imipramine in chronic depression. The American Journal of Psychiatry, 157(9), 1445–1452. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.157.9.1445

Marts, S. & Keitt, S. (2004). Foreword: A historical overview of advocacy for research in sex-based biology. In Miller, V. M., Miller, V. L., & Hay, M. (Eds.). Principles of sex-based differences in physiology, 34, v-xiii.

Metz, V., Radler, D., & Fischer, G. (2009). Geschlechtsunterschiede in der Psychopharmakologie–Gendermedizin in der Psychiatrie. Psychiatrie und Psychotherapie, 5(2), 64-69. https://doi.org/10.1007/s11326-009-0058-0

Nieber, K. (2013). Mann ist nicht gleich Frau. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakotherapie. Deutsche Apotheker Zeitung. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2013/daz-36-2013/mann-ist-nicht-gleich-frau

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Regitz-Zagrosek, V., Schubert, C., & Krüger, S. (2008). Geschlechterunterschiede in der neuropsychiatrischen Pharmakotherapie. Der Internist, 49(12), 1516-1523. https://doi.org/10.1007/s00108-008-2233-6

Riecher-Rössler, A., & Bitzer, J. (2005). Epidemiologie psychischer Störungen bei Frauen. In A. Riecher-Rössler & J. Bitzer (Eds.). Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis (pp. 21-29). Elsevier, Urban & Fischer.

Robinson, G. E. (2002). Women and psychopharmacology. Medscape Women’s Health eJournal, 7(1), 264-266. http://www.anapsid.org/CND/files/genderdrug1.pdf

Sramek, J. J., Murphy, M. F., & Cutler, N. R. (2016). Sex differences in the psychopharmacological treatment of depression. Dialogues in Clinical Neuroscience, 18(4), 447.

Stahl S. M. (2001). Sex and psychopharmacology: is natural estrogen a psychotropic drug in women?. Archives of general psychiatry, 58(6), 537–538. https://doi.org/10.1001/archpsyc.58.6.537

Thürmann, P. (2005). Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik und-dynamik von Arzneimitteln. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforsch- Gesundheitsschutz 5 (pp. 536–540).

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Yoon, D. Y., Mansukhani, N. A., Stubbs, V. C., Helenowski, I. B., Woodruff, T. K., & Kibbe, M. R. (2014). Sex bias exists in basic science and translational surgical research. Surgery, 156(3), 508–516. https://doi.org/10.1016/j.surg.2014.07.001

ZAG. (2011). Leitlinien für eine geschlechtergerechte psychiatrische Versorgung in Bremen.

Papa geht es nicht gut

Warum sich die Forschung zu wenig mit paternaler Depression auseinandersetzt

Väter, die nach der Geburt ihres Kindes an einer depressiven Störung leiden, werden in der Forschung kaum thematisiert – im Gegensatz zu Müttern. Aber warum eigentlich? Und was sind die Folgen dieser Forschungslücke für die Väter und für ihre Familien?

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Rebekka Stähli

Nach der Geburt ihres Kindes stehen Eltern vor vorhergesehenen und unvorhergesehenen Herausforderungen. Weltweit leiden unter anderem deswegen bis zu 13 Prozent der schwangeren Frauen und frischgebackenen Mütter an psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen (World Health Organisation, n.d.) – Dabei spricht man von einer maternalen Depression. Kein Wunder also, dass die WHO (n.d.) maternale, psychische Störungen als eines der grössten Probleme der öffentlichen Gesundheit bezeichnet. Doch während maternale Depression einigen ein Begriff ist, sind vermutlich viele nicht mit der paternalen Depression vertraut. Diese bezeichnet eine Depressivität bei werdenden oder neu gewordenen Vätern (American Academy of Pediatrics, 2018).

Papa leidet auch

Nach der Geburt ihres Kindes stehen auch Männer vor einer herausfordernden Zeit. Genauso wie ihre Partner*innen werden sie mit dem wichtigen Übergang zur Elternschaft und allen damit verbundenen, praktischen und psychischen Herausforderungen konfrontiert (Psouni & Eichbichler, 2019). Zusätzlich wird oft von ihnen erwartet, dass sie ihr berufliches Engagement beibehalten und persönliche Bedürfnisse zurückstellen. Diese Belastung führt zu einer hohen Vulnerabilität (Psouni et al., 2017; Rominov et al., 2018), die sich in der postnatalen Zeit in Form von depressiven Symptomen manifestieren kann (Cameron et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).

«Most of the reviewed studies suffer from methodological limitations, including the small sample, the lack of a structured psychiatric diagnosis, and inclusion bias. Despite such limitations, paternal depression seems to be associated with an increased risk of developmental and behavioural problems and even psychiatric disorders in offspring.»

Gentile & Fusco, 2017, p. 325

Zu wenig Forschung

Obwohl die Vulnerabilität und die damit verbundene, potenzielle depressive Störung bestätigt sind, ist die paternale Depression an sich, wie auch deren Auswirkungen wenig untersucht (Paulson et al., 2006). Eine kurze Suche mit Hilfe von Google Scholar bestätigt die Behauptung von Paulson und Kollegen (2006), dass es wenige Studien zu diesem Thema gibt. Wird der Begriff maternal depression gesucht, werden etwa 744‘000 Treffer erzeugt. Im Vergleich dazu führt die Suche mit paternal depression nur zu circa 53’500 Treffern (Stand: 12. März 2020). Dieser massive Unterschied ist leider kein Relikt vergangener Zeit. Schränkt man die Suche durch einen aktuelleren Zeitraum ein, ist immer noch das gleiche Muster erkennbar. Interessanterweise existiert diese Diskrepanz nur in Bezug auf parentale Depression. Es gibt kaum Unterschiede in der Anzahl Treffer zwischen den Begriffen female depression und male depression. Das heisst, dass nur Männer in der Rolle als Väter und nicht Männer im Allgemeinen in der Forschung zu Depressionen vernachlässigt werden.

Die Frage nach dem Warum

Doch was sind die Gründe für diese Diskrepanz? Insgesamt kann man vier Umstände beschreiben, die als Erklärungen für die Unterschiede dienen können. Erstens haben gewisse Männer zum Teil die Neigung, ihre depressive Symptomatik als weniger stark anzugeben, als sie eigentlich ist (Seidler et al., 2016). Die Symptome werden also entweder als zu schwach oder als nicht vorhanden eingeschätzt. Dies könnte zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Männer nicht oder in geringerem Maße als Frauen an elterlichen Depressionen leiden, so dass es weniger dringlich scheint, dieses Thema spezifisch zu untersuchen.

Zweitens verspüren und zeigen Männer im Vergleich zu Frauen oftmals andere Symptome. Häufig drücken Männer Depressionen durch externalisierendes Verhalten aus (Rutz, 1996), wie Wutanfälle, Drogenmissbrauch und Risikoverhalten, oder sie zeigen stärkere körperliche Belastung durch eine Somatisierung (Danielsson & Johansson, 2005; Kim & Swain, 2007; Martin et al., 2013; Rodgers et al., 2014; Schumacher et al., 2008). Diese externalisierenden Verhaltensweisen werden von medizinischem Fachpersonal nicht immer als depressive Symptome erkannt (Rutz, 1996), so dass eine korrekte Diagnostizierung dieser Männer unwahrscheinlich ist. Zudem leiden einige Männer an weiteren, weniger offensichtlichen depressiven Symptomen, was vermehrt zu Fehldiagnosen führen kann (Psouni et al., 2017).

Risikofaktoren für paternale Depression (American Academy of Pediatrics, 2018):

  • Schwierigkeiten eine Bindung mit dem eigenen Kind aufzubauen
  • Das Fehlen eines guten männlichen Vorbildes
  • Das Fehlen von sozialer Hilfe und Unterstützung
  • Veränderungen in der Beziehung zum*r Ehepartner*in
  • Gefühle wie Eifersucht oder Exklusion aufgrund der Beziehung zwischen Ehepartner*in und Kind
  • Maternale Depression
  • Stress aufgrund von Finanzen oder Arbeit
  • Tiefes Level an Testosteron

Der dritte Grund für die Diskrepanz im aktuellen Forschungsstand bezüglich maternaler und paternaler Depression ist eng mit den erwähnten Unterschieden in der Symptomatik verknüpft. Die Messinstrumente zur Beurteilung der paternalen Depression sind nicht an die externalisierenden Symptome angepasst (Rice et al., 2013). Dadurch wird die Symptomatik nicht vollständig erfasst. Zudem werden die verfügbaren Skalen selten mit ausreichend großen Stichproben getestet und die psychometrische Entwicklung der Fragebögen sind oftmals fehlerhaft (Rice et al., 2013). Dies führt unter anderem zu stark variierenden Prävalenzraten bei väterlichen Depressionen (Cameron et al., 2016), dadurch erscheint die Notwendigkeit umfassender Forschung als zu gering.

Der letzte mögliche Grund für die Diskrepanz ist, dass Väter, im Vergleich zu Müttern, in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt an parentaler Depression erkranken (Edward et al., 2015; Psouni et al., 2017). Während maternale Depression in der Regel während der Schwangerschaftszeit oder innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes auftritt, hat die Prävalenzrate der paternalen Depression ihren Höhepunkt 12 Monate nach der Geburt des Kindes (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011). Verheerend ist hier, dass die meisten Studien zur parentalen Depressionen ihre Teilnehmer*innen nur innerhalb des ersten postnatalen Jahres untersuchen (Psouni et al., 2017). Väter werden also während ihrer kritischen Phase in vielen Studien gar nicht erst erfasst. Es ist immer noch unklar, wie eine paternale Depression nach dem ersten Jahr nach der Geburt des Kindes verläuft.

Folgen der Vernachlässigung

Was sind die Folgen der geschlechtsspezifischen Unterschiede und dem Mangel an Forschung bei parentaler Depression? Wie bereits erwähnt, scheint die depressive Symptomatik bei Männern im Vergleich zu Frauen weniger oft als solche erkannt zu werden.

Zusätzlich suchen Männer seltener Hilfe auf. In einer Studie gab weniger als die Hälfte der männlichen Teilnehmer mit depressiven Symptomen an, dass sie bereit wären, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Massoudi, 2013). Gewisse Stigmata oder Geschlechternormen könnten es Männern erschweren, als Schwächen wahrgenommene Erlebens- oder Verhaltensmuster einzugestehen(Lohan et al., 2014; Strother et al., 2012). Die daraus resultierende Behandlungslücke könnte durch den Mangel an Forschung zum Thema paternalen Depression verstärkt werden. Weniger Wissen über Verlauf und Risiken der paternalen Depression gehen vermutlich mit einem Mangel an Präventionsmöglichkeiten und spezifischen Interventionen einher. Generell gibt es weniger Interventionen, die spezifisch für Männer entwickelt wurden im Vergleich zu Frauen (Doley et al., 2020). All das kann zu einer Versorgungslücke führen, die einen noch schwerwiegenderen Eindruck hinterlässt, wenn man sich die Folgen einer paternalen Depression vor Augen führt.

Folgende Hilfsstellen können Vätern (und Müttern) helfen oder sie an die richtigen Stellen weiterleiten:

Neben zahlreichen Büchern liefern folgende Websites Informationen rund um das Thema Vater werden und sein:

Eine depressive Störung des einen Elternteils beeinflusst auch den Gemütszustand des anderen. Paternale postnatale Depression korreliert stark mit maternaler postnataler Depression (Escribà-Agüir & Artazcoz, 2011; Goodman, 2004; Ramchandani et al., 2011). Daher erhöht die Depression eines Elternteils das Risiko, dass ein Kind, mit zwei depressiven Eltern aufwächst (Letourneau et al., 2011). Dies führt zu einer höheren Vulnerabilität des Kindes (Brennan et al., 2002; Letourneau et al., 2011; Mezulis et al., 2004). Ausserdem leidet es eher unter multiplen entwicklungsschädigenden Folgen, wie weniger positiv bereicherten Aktivitäten beispielsweise das Vorlesen von Kinderbüchern (Paulson et al., 2006) oder stärker externalisierenden Verhaltensproblemen (Ramchandani et al., 2013). Daher ist zentral, dass die Forschung sich auch auf Väter konzentriert. Denn auch dem Papa sollte es gut gehen.


Zum Weiterlesen

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Literatur

American Academy of Pediatrics (Ed.). (2018). Dads Can Get Depression During and After Pregnancy, Too. https://www.healthychildren.org/English/ages-stages/prenatal/delivery-beyond/Pages/Dads-Can-Get-Postpartum-Depression-Too.aspx

Brennan, P. A., Hammen, C., Katz, A. R., & Le Brocque, R. M. (2002). Maternal depression, paternal psychopathology, and adolescent diagnostic outcomes. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70(5), 1075–1085. https://doi.org/10.1037/0022-006X.70.5.1075

Cameron, E. E., Sedov, I. D., & Tomfohr-Madsen, L. M. (2016). Prevalence of paternal depression in pregnancy and the postpartum: An updated meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 206, 189–203. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.07.044

Danielsson, U., & Johansson, E. E. (2005). Beyond weeping and crying: A gender analysis of expressions of depression. Scandinavian Journal of Primary Health Care, 23(3), 171–177. https://doi.org/10.1080/02813430510031315

Doley, J. R., McLean, S. A., Griffiths, S., & Yager, Z. (2020). Study protocol for Goodform: A classroombased intervention to enhance body image and prevent doping and supplement use in adolescent boys. BMC Public Health, 20(1), 59. https://doi.org/10.1186/s12889-020-8166-2

Edward, K.‑l., Castle, D., Mills, C., Davis, L., & Casey, J. (2015). An integrative review of paternal depression. American Journal of Men’s Health, 9(1), 26–34. https://doi.org/10.1177/1557988314526614

Escribà-Agüir, V., & Artazcoz, L. (2011). Gender differences in postpartum depression: A longitudinal cohort study. Journal of Epidemiology and Community Health, 65(4), 320–326. https://doi.org/10.1136/jech.2008.085894

Gentile, S., & Fusco, M. L. (2017). Untreated perinatal paternal depression: Effects on offspring. Psychiatry Research, 252, 325–332. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.02.064

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Paulson, J. F., & Bazemore, S. D. (2010). Prenatal and postpartum depression in fathers and its association with maternal depression: A meta-analysis. JAMA, 303(19), 1961–1969. https://doi.org/10.1001/jama.2010.605

Paulson, J. F., Dauber, S., & Leiferman, J. A. (2006). Individual and Combined Effects of Postpartum Depression in Mothers and Fathers on Parenting Behavior. Pediatrics, 118(2), 659–668. https://doi.org/10.1542/peds.2005-2948

Psouni, E., Agebjörn, J., & Linder, H. (2017). Symptoms of depression in Swedish fathers in the postnatal period and development of a screening tool. Scandinavian Journal of Psychology, 58(6), 485–496. https://doi.org/10.1111/sjop.12396

Psouni, E., & Eichbichler, A. (2019). Feelings of restriction and incompetence in parenting mediate the link between attachment anxiety and paternal postnatal depression. Psychology of Men & Masculinities. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/men0000233

Ramchandani, P. G., Domoney, J., Sethna, V., Psychogiou, L., Vlachos, H., & Murray, L. (2013). Do early father-infant interactions predict the onset of externalising behaviours in young children? Findings from a longitudinal cohort study. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 54(1), 56–64. https://doi.org/10.1111/j.1469-7610.2012.02583.x

Ramchandani, P. G., Psychogiou, L., Vlachos, H., Iles, J., Sethna, V., Netsi, E., & Lodder, A. (2011). Paternal depression: An examination of its links with father, child and family functioning in the postnatal period. Depression and Anxiety, 28(6), 471–477. https://doi.org/10.1002/da.20814

Rice, S. M., Fallon, B. J., Aucote, H. M., & Möller-Leimkühler, A. M. (2013). Development and preliminary validation of the male depression risk scale: Furthering the assessment of depression in men. Journal of Affective Disorders, 151(3), 950–958. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.08.013

Rodgers, S., Grosse Holtforth, M., Müller, M., Hengartner, M. P., Rössler, W., & Ajdacic-Gross, V. (2014). Symptom-based subtypes of depression and their psychosocial correlates: A person-centered approach focusing on the influence of sex. Journal of Affective Disorders, 156, 92–103. https://doi.org/10.1016/j.jad.2013.11.021

Rominov, H., Giallo, R., Pilkington, P. D., & Whelan, T. A. (2018). Getting help for yourself is a way of helping your baby: Fathers’ experiences of support for mental health and parenting in the perinatal period. Psychology of Men & Masculinity, 19(3), 457–468. https://doi.org/10.1037/men0000103

Rutz, W. (1996). Prevention of suicide and depression. Nordic Journal of Psychiatry, 50(37), 61–67. https://doi.org/10.3109/08039489609099732

Schumacher, M., Zubaran, C., & White, G. (2008). Bringing birth-related paternal depression to the fore. Women and Birth, 21(2), 65–70. https://doi.org/10.1016/j.wombi.2008.03.008

Seidler, Z. E., Dawes, A. J., Rice, S. M., Oliffe, J. L., & Dhillon, H. M. (2016). The role of masculinity in men’s help-seeking for depression: A systematic review. Clinical Psychology Review, 49, 106–118. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2016.09.002

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355. https://doi.org/10.1080/10640266.2012.715512

World Health Organisation. (n.d.). Maternal mental health. https://www.who.int/mental_health/maternal-child/maternal_mental_health/en/

Self-Monitoring

Haben Bewerber*innen, die sich ihrem Gegenüber in Vorstellungsgesprächen und Assessment-Centern gut anpassen können, einen Vorteil?

Das Persönlichkeitskonstrukt Self-Monitoring beschreibt, in welchem Ausmass Personen ihr Verhalten dem Verhalten der Interaktionspartner anpassen. Personen mit hoher Ausprägung passen ihr Verhalten der unmittelbaren sozialen Umgebung stark an, was in Personalauswahlverfahren vorteilhaft sein könnte.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Tabea Bührer
Illustriert von Livia Halbeisen

1974 präsentierte Snyder erstmals das Persönlichkeitskonstrukt Self-Monitoring, welches nach mehreren Revisionen auf zwei Hauptfaktoren zurückgeführt werden konnte. Hohes Self-Monitoring lässt sich mit hoher Ausprägung der Faktoren «Fähigkeit, die Selbstpräsentation zu ändern» und der «Sensitivität gegenüber dem expressiven Verhalten anderer» erklären (Lennox & Wolfe, 1984).

Self-Monitoring und damit einhergehendes Verhalten

Self-Monitoring korreliert positiv mit gewissen Verhaltensformen und Eigenschaften, die relevant in Personalauswahlverfahren sein können, darunter Faking und Lügen. Levashina und Campion (2007) trafen dabei eine Unterscheidung zwischen leichtem und schwerem Faking. Hogue et al (2013) definierten leichtes Faking als leichtes Ausschmücken von Tatsachen und das Verstellen, um zu gefallen, wohingegen schweres Faking das Erfinden oder Vorenthalten von relevanten Informationen beschreibt. Hogue et al. (2013) untersuchten, wie Geschlecht, Machiavellismus und Self-Monitoring mit Faking in Einstellungsgesprächen zusammenhängen. Bei den männlichen Probanden ging eine hohe Ausprägung von Self-Monitoring mit vermehrtem, leichtem Faking und höherer Ausprägung von Machiavellismus einher. Die absolute Ausprägung von Self-Monitoring und auch von Machiavellismus war bei den männlichen Probanden allgemein signifikant höher als bei den weiblichen Probandinnen. Ähnlich wie bei den männlichen Probanden hing auch bei den weiblichen Probandinnen Self-Monitoring positiv mit Machiavellismus zusammen, neben der zusätzlichen Beobachtung, dass bei den weiblichen Probanden schweres Faking auch positiv mit Self-Monitoring in Verbindung stand.

In einer Polizeistudie, in der es um die Beförderung in den Unteroffiziersrang ging, mussten 68 von 180 Personendatensätzen aufgrund von zu hohen Werten auf einer Lügenskala, für die eigentliche Analyse ausgeschlossen werden. Zwischen Self-Monitoring und der Punktzahl auf der Lügenskala wurde ein positiver, mittlerer signifikanter Zusammenhang gefunden (Osborn et al., 1998)

«Do Chameleons get ahead?»

Kilduff & Day, 1994, S. 1074

In Bezug auf den Arbeitsalltag wurden positiv behaftete Korrelate von Self-Monitoring gefunden. Kilduff and Day (1994) konnten beispielsweise beobachten, dass Personen mit hohem Self-Monitoring öfter unternehmensübergreifend befördert wurden und auch unternehmensintern häufiger in höhere Positionen berufen wurden. Dabei wechselten Personen mit hohem Self-Monitoring öfter den Arbeitgeber und ihren Wohnort. Day et al. (2002) fanden anhand einer Metaanalyse heraus, dass hohes Self-Monitoring auch positiv mit Führung, Arbeitsleistung und Involviertheit zusammenhängt. Allerdings erfahren Menschen mit tiefer Ausprägung von Self-Monitoring weniger Rollenambiguität und -konflikt und zeigen höheres Commitment.

Hohes Self-Monitoring – ein Vorteil?

Rein theoretisch wäre es anzunehmen, dass Personen mit hohem Self-Monitoring in Assessmentcentern bessere Leistungen im Vergleich zu Personen mit niedrigem Self-Monitoring zeigen müssten. Vor allem in Aufgaben wie Rollenspielen sollte hohes Self-Monitoring stark von Vorteil sein. Die Befundlage dazu ist dennoch nicht eindeutig. Je eine Studie zeigte einen positiven, einen gemischten (Zusammenhang nur bei weiblichen Probandinnen gefunden) und keinen Zusammenhang (zwischen Self-Monitoring und der Gesamtleistung im Assessment Center). Bei den Studien wurden jeweils nicht dieselben Aufgaben und unterschiedliche Bewertungsdimensionen verwendet, was einen Vergleich erschwert. Jedoch zeigen die unterschiedlichen Befunde klar, dass hohes Self-Monitoring kein Erfolgsgarant bei der Teilnahme an Assessment Centern ist. Im Gegenteil, Leugnerová et al. (2016) stellten fest, dass hohes Self-Monitoring mit tiefer wahrgenommener Integrität einherging und diskutierten, dass Teilnehmende, welche sich ihrem Gegenüber zu stark anpassten, als unnatürlich wahrgenommen wurden. Der oben erwähnte Geschlechterunterschied wurde von Anderson und Thacker (1985) folgendermassen erklärt: In der Studie wurden bereits eingestellte Verkäufer*innen einer grossen amerikanischen Computerfirma zur Validierung zukünftiger Assessment Center getestet. Der festgestellte Vorteil der weiblichen Probandinnen mit hohem Self-Monitoring sei aufgrund der Männerdominanz in der Branche zu beobachten gewesen. Individuen mit hohem Self-Monitoring hätten demnach in vom anderen Geschlecht dominierten Branchen aufgrund der hohen Anpassungsfähigkeit Vorteile. Die tiefe Teilnehmendenzahl mit 15 Frauen und 49 Männern verlangt allerdings nach Replikationsstudien.

In der Studie von Emrich und Diehl (2007) wurde des Weiteren zwischen dispositionellem und situativem Self-Monitoring unterschieden. In der Dispositionsbedingung wurde den Probanden mitgeteilt, dass Charakterstärke die Schlüsseleigenschaft sei, um im Assessment Center erfolgreich abzuschneiden, wo den Proband*innen in der zweiten Bedingung hingegen gesagt wurde, dass Flexibilität (situatives Self-Monitoring) die Schlüsseleigenschaft zum Erfolg im Assessment Center sei. Unabhängig von der Bedingung waren Personen mit hohem Self-Monitoring insgesamt betrachtet besser als Personen mit niedrigem Self-Monitoring. Einzig und allein in einem lösungsorientierten Zweiergespräch zeigten die Teilnehmenden in der flexiblen Bedingung signifikant bessere Leistungen als die Teilnehmenden in der Dispositionsbedingung.

In Einstellungsgesprächen scheint eine hohe Ausprägung von Self-Monitoring hingegen nicht von Vorteil zu sein. Mehrere Studien fanden keine signifikanten Zusammenhänge. Dabei waren die Interviews von unterschiedlicher Länge, Strukturierungsgrad und Form (Panel vs. Einzel). Eine Erklärung könnte darin liegen, dass Personen mit hohem Self-Monitoring bei Interviews zu wenig oder ambivalente soziale Hinweise von ihrer Umgebung, sprich den interviewenden Personen, erhalten. Es konnte jedoch festgestellt werden, dass der Einfluss von Self-Monitoring auf die Einstellungsgesprächsleistung durch die Persönlichkeit der Interviewenden moderiert wird. Ist die interviewende Person stark extrovertiert, nimmt sie hohes Self-Monitoring beim Gegenüber als positiv wahr, wo hingegen Bewertende mit niedriger Extraversion Personen mit hoher Ausprägung von Self-Monitoring negativer beurteilen (Lazar et al., 2014).

Was macht Erfolg in Personalauswahlverfahren aus?

In praktischer Hinsicht implizieren die Resultate dieser Studien, dass man sich weder als Person mit hohem noch als Person mit niedrigem Self-Monitoring vor Assessmentcentern oder Einstellungsgesprächen fürchten muss. Self-Monitoring ist schlicht nicht das entscheidende Persönlichkeitsmerkmal, wenn es darum geht, in Einstellungsgesprächen oder Assessment Centern gut bewertet zu werden. In den durchforschten Studien wurden ganz unterschiedliche Dinge neben Self-Monitoring erhoben. Levine und Feldman (2002) untersuchten beispielsweise, wie sich Augenkontakt, Lächeln und Körperhaltung auf die Sympathiebewertung der Studienteilnehmenden in einem Interviewsetting auswirkte, wobei Häufigkeitsunterschiede von 10 Prozent beim Augenkontakt schon signifikante Unterschiede ausmachten. Der Erfolg in Personalauswahlverfahren ist also höchstwahrscheinlich nicht auf ein einzelnes Merkmal zurückzuführen.


Zum Weiterlesen

Snyder, M. (1974). Self-monitoring of expressive behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 30, 526-537. https://doi.org/10.1037/h0037039

Emrich, M., & Diehl, M. (2007). Flexibel versus charakterstark: Die Effekte situativen und dispositionellen Self-Monitorings im Assessment Center. Zeitschrift für Personalpsychologie, 6, 2-11. https://doi.org/10.1026/1617-6391.6.1.2

Literatur

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Day, D. V., Schleicher, D. J., Unckless, A. L., & Hiller, N. J. (2002). Self-monitoring personality at work: A meta-analytic investigation of construct validity. Journal of Applied Psychology, 87, 390-401. https://doi.org/10.1037/0021-9010.87.2.390

Hogue, M., Levashina, J., & Hang, H. (2013). Will I fake it? The interplay of gender, Machiavellianism, and self-monitoring on strategies for honesty in job interviews. Journal of Business Ethics, 117, 399-411. https://doi.org/10.1007/s10551-012-1525-x

Kilduff, M., & Day, D. V. (1994). Do chameleons get ahead? The effects of self-monitoring on managerial careers. Academy of Management Journal, 37, 1047–1060. https://doi.org/10.2307/256612

Lennox, R. D., & Wolfe, R. N. (1984). Revision of the Self-Monitoring Scale. Journal of Personality and Social Psychology, 46, 1349-1364. https://doi.org/10.1037/0022-3514.46.6.1349

Leugnerová, M., Vaculik, M., & Prochazka, J. (2016). The influence of candidate social effectiveness on assessment center performance ratings: A field study. International Journal of Selection and Assessment, 24, 150-160. https://doi.org/10.1111/ijsa.12137

Levashina, J., & Campion, M. A. (2007). Measuring faking in employment interview: Development and validation of an interview faking behavior scale. Journal of Applied Psychology, 92, 1638–1656. https://doi.org/10.1037/0021-9010.92.6.1638

Levine, S. P., & Feldman, R. S. (2002). Women and men’s nonverbal behavior and self-monitoring in a job interview setting. Applied HRM Research, 7, 1-14.

Osborn, S. M., Field, H. S., & Veres, J. G. (1998). Introversion-extraversion, self-monitoring, and applicant performance in a situational panel interview: A field study. Journal of Business and Psychology, 13, 143-156. https://doi.org/10.1023/A:1022965721229

Resilienz

Eine kritische Auseinandersetzung mit einem flüchtigen Begriff

Von Resilienz ist zurzeit in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Artikeln und Selbsthilfebüchern die Rede, doch was steckt hinter dem Zauberwort eigentlich? Ein hilfreiches und vielversprechendes Konzept für die Psychologie oder eine gefährliche neoliberale Fantasie?

Von Noémie Lushaj
Lektoriert von Marie Reinecke und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Noémie Lushaj

Resilient. Ein Adjektiv, dem mittlerweile vermutlich fast jede*r schon mal irgendwo in seinem Leben begegnet ist. Vielleicht in einem populärwissenschaftlichen Buch, in einem Gedicht über die Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz oder in einem Artikel, der selbstverständlich von einem Bild einer, aus dem Asphalt herausstechenden Blume begleitet wurde. Vielleicht hat man sogar schon über sich selbst gehört, dass man resilient sei und sich später das Wort angeeignet. Bei mir war das so – doch als ich mal versuchte, einem Gesprächspartner zu erklären, was damit genau gemeint war, fiel mir auf, dass ich es eigentlich nur vage beschreiben konnte.

Als Psychologiestudentin habe ich schon öfters von Resilienz gehört. Aber vor allem die Bücher des französischen Neuropsychiaters Boris Cyrulnik, die ich vor ein paar Jahren gelesen habe, haben mich geprägt. Einerseits, weil sie meiner Meinung nach sehr eloquent geschrieben sind, anderseits wegen ihres bewegenden Inhalts: Die Geschichte eines Mannes, dessen Eltern im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurden, als er nur sieben Jahre alt war und der selbst nur knapp den Holocaust überlebte (Groskop, 2009). Auch in den Folgejahren hatte es der kleine Junge zwischen Tabu, Stigmatisierung und harter Arbeit auf dem Bauernhof nicht leicht. Trotzdem schaffte er es, alle Widrigkeiten zu überleben und sich sogar zu entfalten: Später studierte er Medizin in Paris, wurde Psychoanalytiker und gründete seine eigene Familie (Groskop, 2009). Er berichtete von einem starken Drang seine Vergangenheit zu verstehen, sowie anderen Menschen mithilfe seiner Lebenserfahrung und seinem erworbenen Fachwissen zu helfen. Dank seiner unglaublichen Resilienz fand Boris Cyrulnik auf seinem Lebensweg Sinn und Glück.

«The deceptively simple construct of resilience is in fact rife with hidden complexities, contradictions, and ambiguities.»

Kaplan, 2013, S. 39

Damit Resilienz entsteht, müssen laut Cyrulnik vor allem zwei Bedingungen erfüllt werden: Leiden und Aktion (Marquis, 2018). Wer nicht traumatisiert ist, kann laut seiner Definition nicht resilient sein. Trauma allein reicht aber nicht aus, denn man muss sich dazu entscheiden, die passive Opferrolle zu verlassen und eine Sinnarbeit vorzunehmen, bei der man sich mit der eigenen Vergangenheit befasst. Auch wenn man in diesem Prozess unterstützt werden kann, liegt die Verantwortung für die Verarbeitung des Traumas und für das eigene Glück schlussendlich beim Individuum selbst. Als Ergebnis des ganzen Prozesses sollte nicht der prä-traumatische Zustand wiederhergestellt werden, sondern eine ganz neue, ausserordentliche Lebensqualität entstehen, die traumatisierte Menschen von anderen Menschen unterscheidet (Marquis, 2018). Insgesamt hat das Resilienz-Konzept vielen Menschen geholfen. So verkauften Bücherläden in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere hunderttausend Exemplare zu dem Thema und deren verschiedene Autor*innen wurden von zahlreichen dankbaren Leserbriefen überflutet (Marquis, 2018). Der Anreiz der Resilienz ist nicht schwer nachzuvollziehen: Diese kann in vielerlei Hinsicht extrem ermächtigend und hoffnungsvermittelnd sein (Sinclair et al., 2020). Doch das ist nicht das Ende der Geschichte: Wie sieht die Resilienzforschung aus und was ist am Konzept der Resilienz zu kritisieren, sei es auf wissenschaftlicher oder auf moralischer Ebene?

Multiple Resilienzen

Als ich anfing, für diesen Artikel wissenschaftliche Literatur durchzusehen, realisierte ich schnell, dass meine Verwirrung um den Begriff gerechtfertigt war. Einerseits erweckt der Begriff der Resilienz den Eindruck, fast schon universell zu sein. Auf der anderen Seite scheint es jedoch fast so viele verschiedene Konzeptionen von Resilienz zu geben, wie Forscher*innen.

Seit ihren Anfängen bis heute beschäftigt sich die Resilienzforschung oft mit der gesunden Entwicklung von Kindern. So konnte man beobachten, dass manche Kinder trotz widriger Umstände gesund aufwachsen, keine Bewältigungsprobleme entwickeln und zu kompetenten und glücklichen Erwachsenen werden (Werner, 1986; Wustmann, 2011). Später wurde das Konzept erweitert und zur Vorhersage von psychischen Störungen benutzt (Masten & Cicchetti, 2012).

Insgesamt kann Resilienz als Widerstandsfähigkeit verstanden werden – eine positive Adaptation im Angesicht von Adversität (Fleming & Ledogar, 2008). Diese erlaubt es Menschen nach Schicksalsschlägen zurückzuspringen. Resilienz bezieht sich aber nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gemeinschaften und kulturelle Gruppen, die ähnliche Erfahrungen von Trauma gemacht haben (Fleming & Ledogar, 2008). In diesem Kontext wurde Resilienz unter anderem bei Menschen mit Migrationshintergrund (Adger et al., 2002), Holocaust-Überlebenden (Greene, 2002), in der Vergangenheit kritisch erkrankten Patient*innen (Maley et al., 2016) und ehemalig politischen Gefangenen (Maercker et al., 2012) untersucht.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Resilienz genetisch vererbbare Anteile hat und dass sowohl Anlage als auch Umwelt protektive Faktoren bilden (Kim-Cohen et al., 2004). Da Interaktionen zwischen Individuum und sozialem Kontext hier eine Hauptrolle spielen, ist es wichtig, kulturspezifische Variationen zu beachten (Ungar, 2006, 2013). Besonders zentral für die Entwicklung von Resilienz sind schützende Bedingungen im nahen Umfeld, wie zum Beispiel aufmerksame Eltern zu haben (Wustmann, 2011). In der Tat ist ein sogenannter acceptance-involvement Erziehungsstil, bei dem die Eltern klare Regeln aufstellen und warm mit den Kindern umgehen, ein positiver Prädiktor von Resilienz (Zakeri et al., 2010).

Täuschend einfach?

Eines ist sicher: Resilienz hat unglaublich viel Forschung angeregt und neue Wege für die Entwicklungspsychopathologie eröffnet (Vernon, 2004). Trotzdem wird sie vom wissenschaftlichen Standpunkt oft kritisiert und ihre Nützlichkeit in Frage gestellt. Gerade weil Resilienz so breitumfassend ist, lässt sie viele Fragen unbeantwortet (Kaplan, 2013). Dabei variieren die Antworten von Expert*innen extrem. Ist die Resilienz von Individuen und von Gruppen dieselbe? Ist Resilienz das Gegenteil von Vulnerabilität? Bezeichnet Resilienz die Faktoren, die mit Stress interagieren und zu Outcomes führen oder die Outcomes selber? Kaplan (2013) argumentiert, dass es notwendig sei, Resilienz mit eng fokussierten Phänomenen zu assoziieren, damit das Konzept für Theorie, Forschung und Praxis wirklich nützlich sein kann. Wird das neue Forschungsfeld solche Kritik überstehen? Wird Resilienz selbst resilient sein? Die Zukunft wird es zeigen.

Von Maschinen und Menschen

Etymologisch kommt Resilienz aus dem Lateinischen resilire und bedeutet «zurückspringen» (Khoshouei, 2009). Obwohl das Wort häufig in der Psychologie gebraucht wird, ist es relevant zu wissen, dass es ursprünglich aus dem Kontext der mechanischen Wissenschaften stammt (Alexander, 2013). Die erste englischsprachige, wissenschaftliche Verwendung des Begriffs geht auf Sir Francis Bacon zurück, im 17. Jahrhundert (Alexander, 2013). Heutzutage scheint es nichts zu geben, was Resilienz nicht kann: Diese findet eben nicht nur in menschlichen Systemen eine Anwendung, sondern auch in ökologischen (Holling, 1973), urbanen (Ribeiro & Pena Jardim Gonçalves, 2019) und sozio-technischen Systemen (Ruth & Goessling-Reisemann, 2019) – um nur ein paar zu nennen. Die Verwendungen des Konzepts, zusammen mit dessen historischen Ursprüngen, scheinen interessanterweise eine Analogie zwischen Maschinen und Menschen zu suggerieren. À bon entendeur… !

Die Tyrannei des Glücks

In den letzten Jahren ist Resilienz zu einem Modebegriff geworden, auch ausserhalb von wissenschaftlichen Kreisen. So wird das Schlagwort oft mit der Positiven Psychologie in Verbindung gebracht, bei der die Selbstoptimierung und die individuelle Verantwortung für das eigene Wohlbefinden im Vordergrund stehen (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000). Ein neoliberales Ideal (Hall & Lamont, 2013), das auf verschiedensten Kanälen verbreitet wird: Keep calm and carry on. What doesnt kill you makes you stronger. God gives his toughest battles to his stronger soldiers. Fall down seven times, stand up eight. Be resilient. Get over it. Good vibes only. Auf den ersten Blick gut gemeinte Sprüche, die nach näherer Betrachtung jedoch nicht ganz so positive Botschaften übermitteln. Zu dem vom Leben verursachten Leiden kommen für Menschen, die es eben nicht schaffen Resilienz aufzuweisen, Beleidigung und Anschuldigung hinzu (Held, 2004). Wer nicht sofort negative Ereignisse als Wachstumschance nutzt gilt nun als schwach, unangepasst und «psychisch unreif» (Schediwy, 2018). Dabei anerkennt die Psychologie schon lange die wichtige Rolle von Emotionen, positiv oder negativ, für das Lernen, das Zusammenleben in sozialen Gruppen und das Überleben (Lazarus, 1991). Warum also dieser Selbstoptimierungszwang, diese toxische Positivität um jeden Preis?

Einen bedingungslosen Positivismus zu predigen kann sehr konkrete, negative Konsequenzen haben: Zum Beispiel kann ein optimistisches Bias die Opfer häuslicher Gewalt gefährden, wenn diese aufgrund ihrer positiven Einstellung die Gravität ihrer Situationen leugnen und ihre abusive Beziehungen nicht verlassen (Sinclair et al., 2020). Stark sein ist gut – sicher sein ist besser. Auch auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene können die Folgen einer unüberlegten Verbreitung solcher Ideen problematisch sein: Indem Resilienz zu einem Vorbild von gutem, staatsbürgerlichem Verhalten wird, verschiebt sich der Lokus der Verantwortung von Systemen auf Individuen (Diprose, 2015). So sollte man sich mit dem Status quo zufriedenstellen, Ungleichheiten und Armut brav akzeptieren und bei sich selber nach Lösungen suchen: Wer nicht glücklich ist, ist selber schuld.

«The psychological specificity of the term has been diffused into a pop-psych DIY ethos that is starting to sound a lot like a national pep talk on endurance.»

Diprose, 2015, S. 44

Für einige Expert*innen, wie Boris Cyrulnik, ist Traumatisierung eine Vorbedingung von Resilienz. Während Durchschnittsmenschen ihre normalen, oberflächlichen Existenzen weiterleben, so würden Menschen, die Schicksalsschläge erlebt haben, vorher unerreichbare Niveaus von Weisheit und Glück entdecken, erklärt Marquis (2018). Dafür kann man doch nur dankbar sein, oder? Eher nicht. Die Idee, dass man wegen seiner Traumata zu der starken Person wurde, die man nun verkörpert, ist verständlicherweise für viele Menschen anziehend (Mancini, 2016). Doch es sprechen Beweise dafür, dass das wahrgenommene, posttraumatische Wachstum eine Coping-Strategie an sich sein könnte, um mit traumatischen Ereignissen besser umzugehen, also nicht zwingend einen realen Wachstum wiederspiegelt (McFarland & Alvaro, 2000). Abgesehen davon darf man nicht vergessen, dass Trauma in erster Linie schädlich ist und massive psychische, physische und soziale Konsequenzen mit sich zieht (Banyard et al., 2001; Schnurr & Green, 2004). Grosse Vorsicht ist also geboten, wenn man versucht, Trauma fast als etwas Wünschenswertes darzustellen. Forschung hat gezeigt, dass post-traumatic growth und post-traumatic depreciation, also die jeweils positiven und negativen Folgen von Trauma, sich nicht ausschliessen, sondern koexistieren (Zięba et al., 2019). Dementsprechend sollten beide Phänomene in der Wissenschaft und in der Therapie nuanciert betrachtet werden: Nur so kann man der Komplexität von Traumatisierung und von individuellen Situationen gerecht werden.

Zu Resilienz gibt es vieles zu sagen und es ist nicht einfach, ein Fazit zu ziehen. Ein Begriff, der auf den ersten Blick rein positiv erschien, erwies sich nämlich voller Widersprüche und Ambivalenzen (Kaplan, 2013). Für Rutter (1999) ist der Begriff eine Kristallisierung des sozialen, kulturellen und moralischen Kontexts. Wenn Resilienz verwirrend ist, dann weil das Leben es auch ist. Damit das Konzept nützlich bleibt und vor allem zu keinen Schäden führt, ist es essenziell, dass Forscher*innen ihre Begrifflichkeiten klar definieren und abgrenzen, und dass sich die Gesellschaft der potenziellen Gefahren der Resilienz bewusst ist.

Für mich sollte Resilienz also bittersüss sein. Eine Resilienz, die keine Wunderlösung ist und es gerne zugibt. Eine Resilienz, bei der man sich auch mal wütend und zerbrechlich zeigen kann. Eine Resilienz, die inklusiv ist und Trauma nicht auf ein Podest stellt. Eine Resilienz, die ermächtigend ist und es Menschen trotzdem erlaubt, gegen unfaire Strukturen zu rebellieren. Eine Resilienz, die man fördert und schätzt, aber nicht aufdrängt.


Zum Weiterlesen

Cyrulnik, B. (2013). Rette dich, das Leben ruft!

Literatur

Adger, W. N., Kelly, P. M., Alexandra, W., Luong Quang, H., & Catherine, L. (2002). Migration, remittances, livelihood trajectories, and social resilience. AMBIO: A Journal of the Human Environment, 31(4), 358-366. https://doi.org/10.1579/0044-7447-31.4.358

Alexander, D. E. (2013). Resilience and disaster risk reduction: An etymological journey. Natural Hazards and Earth System Sciences, 13(11), 2707-2716. https://doi.org/10.5194/nhess-13-2707-2013

Banyard, V. L., Williams, L. M., & Siegel, J. A. (2001). The long-term mental health consequences of child sexual abuse: An exploratory study of the impact of multiple traumas in a sample of women. Journal of Traumatic Stress, 14(4), 697-715. https://doi.org/10.1023/A:1013085904337

Diprose, K. (2015). Resilience is futile. Soundings, 58, 44-56. https://doi.org/10.3898/136266215814379736

Fleming, J., & Ledogar, R. J. (2008). Resilience, an evolving concept: A review of literature relevant to Aboriginal research. Pimatisiwin, 6(2), 7-23. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20963184

Greene, R. R. (2002). Holocaust survivors. Journal of Gerontological Social Work, 37(1), 3-18. https://doi.org/10.1300/J083v37n01_02

Groskop, V. (2009, 18.04.). Escape from the past. The Guardian. https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2009/apr/18/boris-cyrulnik-children-trauma

Hall, P. A., & Lamont, M. (2013). Social resilience in the neoliberal era. Cambridge University Press.

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Khoshouei, M. S. (2009). Psychometric evaluation of the Connor-Davidson Resilience Scale (CD-RISC) using Iranian students. International Journal of Testing, 9(1), 60-66. https://doi.org/10.1080/15305050902733471

Kim-Cohen, J., Moffitt, T. E., Caspi, A., & Taylor, A. (2004). Genetic and Environmental Processes in Young Children’s Resilience and Vulnerability to Socioeconomic Deprivation. Child Development, 75(3), 651-668. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2004.00699.x

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Maercker, A., Gäbler, I., O’Neil, J., Schützwohl, M., & Müller, M. (2012, 10/19). Long-term trajectories of PTSD or resilience in former East German political prisoners. Torture, 23(1), 15-27. https://doi.org/10.5167/uzh-71813

Maley, J. H., Brewster, I., Mayoral, I., Siruckova, R., Adams, S., McGraw, K. A., Piech, A. A., Detsky, M., & Mikkelsen, M. E. (2016). Resilience in survivors of critical illness in the context of the survivors‘ experience and recovery. Annals of the American Thoracic Society, 13(8), 1351-1360. https://doi.org/10.1513/AnnalsATS.201511-782OC

Mancini, A. (2016, 01.06.). The trouble with Post-Traumatic Growth. Psychology Today. https://www.psychologytoday.com/intl/blog/rethinking-trauma/201606/the-trouble-post-traumatic-growth

Marquis, N. (2018). La résilience comme attitude face au malheur : Succès et usages des ouvrages de Boris Cyrulnik. SociologieS. http://journals.openedition.org/sociologies/6633

Masten, A. S., & Cicchetti, D. (2012). Risk and resilience in development and psychopathology: The legacy of Norman Garmezy. Development and Psychopathology, 24(2), 333-334. https://doi.org/10.1017/S0954579412000016

McFarland, C., & Alvaro, C. (2000). The impact of motivation on temporal comparisons: Coping with traumatic events by perceiving personal growth. Journal of Personality and Social Psychology, 79(3), 327-343. https://doi.org/10.1037/0022-3514.79.3.327

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Ruth, M., & Goessling-Reisemann, S. (2019). Handbook on resilience of socio-technical systems. Edward Elgar Publishing. https://books.google.ch/books?id=HgyEDwAAQBAJ

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Schediwy, D. (2018, 08.03.). Die unbedingte Selbstoptimierung. taz. https://taz.de/Psychotherapie-Kongress-in-Berlin/!5487676/

Schnurr, P. P., & Green, B. L. (2004). Trauma and health: Physical health consequences of exposure to extreme stress. American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/10723-000

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Sinclair, E., Hart, R., & Lomas, T. (2020). Can positivity be counterproductive when suffering domestic abuse?: A narrative review. International Journal of Wellbeing, 10(1), 26-53. https://doi.org/10.5502/ijw.v10i1.754

Ungar, M. (2006). Resilience across cultures. The British Journal of Social Work, 38(2), 218-235. https://doi.org/10.1093/bjsw/bcl343

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Werner, E. E. (1986). Resilient offspring of alcoholics: A longitudinal study from birth to age 18. Journal of Studies on Alcohol, 47(1), 34-40. https://doi.org/10.15288/jsa.1986.47.34

Wustmann, C. (2011). Resilienz in der Frühpädagogik – Verlässliche Beziehungen, Selbstwirksamkeit erfahren. In Z. M. (Ed.), Handbuch Resilienzförderung. Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92775-6_15

Zakeri, H., Jowkar, B., & Razmjoee, M. (2010). Parenting styles and resilience. Procedia – Social and Behavioral Sciences, 5, 1067-1070. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/j.sbspro.2010.07.236

Zięba, M., Wiecheć, K., Biegańska-Banaś, J., & Mieleszczenko-Kowszewicz, W. (2019). Coexistence of post-traumatic growth and post-traumatic depreciation in the aftermath of trauma: Qualitative and quantitative narrative analysis. Frontiers in psychology, 10, 687-687. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.00687

Professor*innen gefragt

Wovon braucht es mehr und wovon weniger?

Gesammelt von Noémie Lushaj
Lektoriert von der Redaktion

Prof. Dr. Mike Martin

Der Prozess des Alterns ist charakterisiert durch Komplexität und Heterogenität, sowohl innerhalb der gleichen Person über die Zeit als auch über verschiedene Personen hinweg. Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit werden aber noch immer häufig allein daran ausgerichtet, ob jemand zur Gruppe der über 65-jährigen gehört. Damit wird ein einziges Merkmal, das chronologische Alter, zur Beschreibung eines komplexen Phänomens herangezogen. Zusätzlich werden Personen häufig von Forschungsvorhaben aufgrund ihres Alters ausgeschlossen. Damit wird ein strukturelles Ungleichgewicht unseres Wissens über die Grundlagen der Lebensqualität zwischen jüngeren und älteren Personen weiter verstärkt. Wir benötigen daher mehr Daten, die die Komplexität des Alterns über 65 Jahre objektivieren und für Forschende und Entscheidungsträger zugänglich machen, damit wir weniger Personen allein aufgrund ihres Alterns stereotypisieren. Diese Daten bilden die Grundlage für neue Langlebigkeits-Innovationen, die die Unterschiedlichkeit des Phänomens Altern nutzen statt sie zu ignorieren.

Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker

Diese Frage spricht die psychische Fähigkeit zur Balance an. Menschen erleben Gutes und Schlechtes, und das Schlechte ist bekanntermassen steigerungsfähig bis hin zum Traumatischen. Als wir in unserer Abteilung 2015 am Kohärenzsinn-Konzept gearbeitet haben – es soll ja die Bewältigungsfähigkeit durch ein möglichst umfassendes Verstehen und Einordnen negativer Erfahrungen messen –, haben wir das ursprüngliche Konzept von Aron Antonowsky um die Balance-Fähigkeit erweitert. Die Items im Antonowsky-Konzept waren hauptsächlich Optimismus-Items und der Originalfragebogen ist aus mehreren methodischen Gründen eigentlich obsolet. Bei der Balance geht es um das Anerkennen und Berücksichtigen, dass jeder Person Schlechtes und Gutes passiert und dass niemand um so etwas herumkommt. Ein US-Kollege aus der Trauma- und Resilienzforschung, George Bonanno, wollte einmal einen seiner Fachartikel den Titel geben «Shit happens». Er hat es dann aber doch nicht so gemacht – was nichts an der Grundaussage ändert, dass man manchmal einen funktionalen Fatalismus braucht, anstelle des Wunsches von den guten Sachen ganz viel und von Schlechtem gar nichts haben zu wollen.      

Prof. Dr. Klaus Oberauer

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit (also den Menschen, die nicht selbst Wissenschaft betreiben) ist nicht so gut, wie es sein könnte. Um dem abzuhelfen, brauchen wir mehr guten Wissenschaftsjournalismus: Texte (und Bilder?), die erklären, dass wissenschaftliche Erkenntnisse keine unverrückbaren Wahrheiten sind, sondern revidierbar und kritisierbar – und doch unsere beste Chance, die Welt zu erkennen (ein gutes Beispiel ist der Artikel «Nicht in Stein gemeisselt» in der ZEIT vom 30. Juli). Wir brauchen mehr Journalistinnen und Journalisten, die sich Zeit nehmen, die verschiedenen wissenschaftlichen Standpunkte zu einer Frage zu recherchieren und gegenüber zu stellen. Wir brauchen weniger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die den Medien grob vereinfachte griffige Geschichten – oft weit jenseits ihrer fachlichen Expertise – anbieten. Wir brauchen weniger Journalistinnen und Journalisten, die solche Geschichten dankbar übernehmen und unkritisch verbreiten.

Prof Dr. Guy Bodenmann

In der Familie braucht es mehr positive Signale, Zeichen der Zuneigung, des Interessens und des Verständnisses und weniger das Paar- und Familienklima vergiftende Animositäten, Reibereien und Zänkereien. Es braucht mehr Toleranz und Großzügigkeit den Macken der anderen Familienmitglieder gegenüber und mehr Konzentration auf das Wesentliche, auf das, was man aneinander hat. Eine Studie zeigt, dass ein Verhältnis von 5:1 (Positivität gegenüber Negativität) zu längerfristiger Partnerschaftszufriedenheit und Beziehungsstabilität beiträgt. Ein Verhältnis von mindestens 2:1 geht zudem mit weniger Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und weniger emotionalen Problemen (Ängsten, Depressionen) einher. Ein wohlwollendes von gegenseitigem Respekt, wechselseitiger Wertschätzung und liebevoller Zuneigung getragenes Miteinander geht mit höherer Lebenszufriedenheit und besserem psychischen und physischen Befinden einher. Davon braucht es mehr – von diesen kleinen Momenten der Achtsamkeit für die anderen.

Prof. Dr. Moritz Daum

Die Geschichte «Die drei Bären» handelt, je nach Version, von einem kleinen Mädchen, Goldlöckchen, Englisch Goldilocks, die in das Haus einer Bärenfamilie, ja man muss sagen, einbricht und dort vom gerade zubereiteten Brei probiert. Der Brei in der Schüssel des Bärenvaters ist zu heiss, der der Bärenmutter zu kalt, während der Brei des Bärenkindes genau richtig ist. Die Geschichte geht so weiter, Stuhl und Bett des Bärenvaters sind zu hart, der Bärenmutter zu weich und des Bärenkindes genau richtig.

Diese Geschichte haben Celeste Kidd und Kollegen in ein experimentelles Design überführt und bei Säuglingen im Alter von 7 bis 8 Monaten ihre Aufmerksamkeit zu unterschiedlichen komplexen Mustern untersucht (Kidd et al., 2012). Die Aufmerksamkeit der Säuglinge war am grössten bei visuellen Stimuli von mittlerer Komplexität. Bei zu viel Komplexität wandten sich die Säuglinge ab, bei zu wenig fanden sie es langweilig. Die Interpretation der Autor*innen: Bereits im ersten Lebensjahr versuchen Kinder ihr Lernen zu optimieren, in dem sie auf für sie ideale Informationsmengen fokussieren.

Im Grunde ist das nichts Neues. Schon unser entwicklungspsychologischer Übervater Jean Piaget argumentierte, dass sich Kinder in einem Zusammenspiel von Assimilation und Akkommodation neue Information effizient verarbeiten und dass entsprechend Lerngelegenheiten an den kognitiven Entwicklungsstand eines Kindes angepasst werden sollten. Auch der russischer Entwicklungspsychologe Lew Wygotskij beschreibt mit seinem Scaffolding nichts anderes als dass für ideales Lernen eine kompetentere Person einem Kind ein Rahmengerüst bietet, welches dem Kind hilft, eine Aufgabe zu lösen. Wichtig ist, dass dieses Rahmengerüst nicht zu viel und nicht zu wenig Spielraum lässt.


Referenzen:

Kidd, C., Piantadosi, S. T., & Aslin, R. N. (2012). The Goldilocks effect: Human infants allocate attention to visual sequences that are neither too simple nor too complex. PLoS ONE, 7(5), e36399. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0036399

Vincent will meer

Ein Film über Zwänge, Freundschaft und Tourette

Die deutsche Komödie Vincent will meer (2010) dreht sich um einen jungen Mann, der am Tourette-Syndrom leidet. Er begibt sich auf eine Reise nach Italien, die ihn und alle anderen verändert.

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Julia Küher und Marina Reist

«F*tze» schreit Vincent während der Beerdigung seiner Mutter. Sein Vater blickt ihn vorwurfsvoll an, die anderen Trauernden tuscheln schockiert. Wütend stürmt Vincent hinaus und flucht weiter. In der Kirche stimmen die Anwesenden ein geistliches Lied an und versuchen weiterhin den Schein zu wahren. Mit dieser Szene beginnt der Film Vincent will meer.

Vincent ist 27 Jahre alt, ist traumatisiert vom Tod seiner alkoholkranken Mutter und leidet an Tourette. Sein Vater schiebt Vincent kurzerhand in eine Klinik ab, in der vergeblichen Hoffnung, Vincent könnte von seiner «Behinderung» geheilt werden. Die Beziehung zwischen Vincent und seinem Vater ist überaus dysfunktional. Nicht nur ein gegenseitiges Unverständnis herrscht vor, sondern auch eine ganze Menge Vorwürfe, unerfüllte Erwartungen über Vincents Zukunft und ein Mangel an Bereitschaft, sich mit ihrer Beziehung auseinander zu setzen. In der Klinik trifft Vincent auf Alex, der an einer Zwangsstörung leidet, und auf Marie, die anorektisch ist. Bereits nach kurzer Zeit flieht das ungleiche Trio mit dem Auto der Therapeutin Dr. Rose aus der Klinik. Ihr Ziel ist das Meer, wo Vincent die Asche seiner Mutter hinbringen möchte. Eine dramatische Reise beginnt, auf welcher sich alle drei Charaktere gegenseitig unterstützen, aber auch manipulieren und beleidigen. Zeitgleich machen sich Dr. Rose und Vincents Vater auf, um die Ausreisser wieder einzufangen. Auch sie müssen sich im Verlauf der Reise ihren Dämonen stellen. Für alle fünf Charaktere wird der Weg zum eigentlichen Ziel.

Der Zwang

Eines der interessanten Themen, die der Film aufgreift, ist das des Zwangs. Vincent, Marie und Alex leiden alle an einer psychischen Störung, die sie zwingt, gewisse Dinge zu tun oder nicht zu tun. So muss Alex permanent putzen, Vincent kämpft gegen seine Ticks und seine aggressiven Ausbrüche und Marie isst nichts. Hinzu kommt der Zwang, gesund zu werden und in eine Gesellschaft hineinzupassen, in welcher sie alle hauptsächlich auf Unverständnis oder Abneigung stossen. Aber auch Dr. Rose und Vincents Vater leiden unter einem Zwang. Dr. Rose ist sehr um Marie besorgt und verkrampft sich darauf, eine gute Therapeutin zu sein. Der Vater von Vincent lässt sich sein Leben durch die permanenten Arbeitsanrufe diktieren. Während sich bei den jüngeren Figuren diese Zwänge durch die Freiheit ihrer Reise und die Beziehung untereinander zum Teil lösen, müssen Dr. Rose und der Vater von Vincent zuerst einen Verlust erleiden, bevor sie frei werden. So verliert der Vater sein Handy und Dr. Rose ihre Patientin, bevor die Entwicklung der Figuren einsetzt. Doch auch sie verhelfen einander durch Gespräche zur Einsicht. Aber nicht alle schaffen es, ihre Zwänge zu überwinden.

«Ich hab’n Clown im Kopf, der mir ständig zwischen die Synapsen scheisst!»

Huettner, 2010

Die Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit

Einige Inhalte werden im Film nicht korrekt dargestellt. So mag es einem beispielsweise schleierhaft sein, wie jemand mit Tourette-Syndrom einen Platz in einer Klinik erhält oder wie jemand mit schwerer Anorexie die Initiative für sexuelle Handlungen ergreift. Eine der Hauptfragen, die man sich als Zuschauer*in stellen mag, ist, was Komödien alles dürfen. Ist es wirklich okay, sich über die Ticks von Vincent oder die Putzzwänge von Alex zu amüsieren? Da der grosse Leidensdruck der drei jungen Charaktere kaum bis gar nicht thematisiert wird, mag die Antwort auf diese Frage verzerrt sein. Allgemein werden die negativen Seiten der psychischen Störungen kaum thematisiert, was den Film leichter verdaulich macht, aber auch etwas oberflächlich wirken lässt. Hinzu kommt, dass die Figuren mit eher gesellschaftlich akzeptierten Diagnosen behaftet sind. Die Balance zwischen der Leichtigkeit einer Komödie und der Ernsthaftigkeit psychischer Störungen zu finden, mag schwer zu erreichen sein. Der Film hätte provokativer sein dürfen. Dennoch ist er sehenswert.


Zum Weitersehen

Huettner, R. (Director). (2010). Vincent will meer [Motion Picture]. Constantin Film.

«Ich wollte doch nur helfen!»

Die sekundäre Posttraumatische Belastungsstörung – eine Berufskrankheit?

Nach Katastrophen und Unfällen liegt der Fokus auf den Opfern. Doch auch die Helfer*innen wurden mit dem traumatischen Ereignis konfrontiert und können Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln. Haben «Helfer-Berufe» also auch eine Schattenseite?

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Mandana Fröhlich 
Illustriert von Janice Lienhard

Das Auftreten von Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, obwohl die Person selbst nicht das Opfer des Geschehens war, wird in der Literatur unter anderem als sekundäre Posttraumatische Belastungsstörung (sPTBS) bezeichnet (Reinhard & Maercker, 2004; Sabel & Roschinski, 2010). Mögliche Betroffene sind Zeug*innen und Helfer*innen bei Unfällen und Katastrophen, zum Beispiel Einsatzkräfte wie Polizist*innen, Feuerwehr- und Rettungspersonal (Klimley et al., 2018). Selbst Personen, die in der Situation nicht anwesend waren, sondern lediglich von dem traumatischen Ereignis wissen, können eine sPTBS entwickeln, beispielsweise Familienangehörige und behandelnde Psychotherapeut*innen (Pausch & Matten, 2018; Ehlert & Brönnimann, 2019). Entscheidend ist die Konfrontation mit mindestens einem traumatischen Ereignis, das einer anderen Person widerfahren ist, entweder als Zeug*in oder als Mitwisser*in (Andreatta & Unterluggauer, 2010). So reicht die Bandbreite der sekundär Betroffenen von helfenden Berufsgruppen in der Akutphase bis zu Anbietern längerfristiger, therapeutischer Angebote. Diese Berufsgruppen, die aufgrund ihrer Tätigkeit viel häufiger und stärker mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, weisen somit ein höheres Risiko für die Entwicklung dieser Störung auf (Andreatta & Unterluggauer, 2010; Ehlert & Brönnimann, 2019). Während in der Allgemeinbevölkerung weniger als 3,5 Prozent an einer (s)PTBS leiden, zeigte ein Review mit 28 Studien eine Prävalenz von 10 Prozent bei Rettungskräften (Berger et al., 2012). In der Forschung fand diese Tatsache lange keine Beachtung. Die Aufmerksamkeit entstand erst durch die Erkenntnis, dass Menschen mit andauerndem, intensivem Kontakt zu Traumatisierten teilweise selbst ähnliche Symptome entwickeln (vgl. Reinhard & Maercker, 2004). Im beruflichen Alltag wird dieser Problematik jedoch immer noch zu wenig Beachtung geschenkt. Sowohl von den Arbeitnehmer*innen, als auch auf der Vorgesetztenebene (Sabel & Roschinski, 2010).

Ein Phänomen mit 24 Namen

Ein Grund für die mangelnde Beschäftigung in der beruflichen Praxis ist sicherlich die Begriffsverwirrung (Rixe, 2013). Neben sPTBS wird unter anderem auch von «sekundärer Traumatisierung», «berufsbedingter Traumatisierung» oder «Mitgefühlserschöpfung» gesprochen (Sabel & Roschinski, 2010; Andreatta & Unterluggauer, 2010). Lemke (2010) fand sogar 24 assoziierte Begrifflichkeiten.

«Ich bin Polizist und sitze am Schreibtisch. Gott sei Dank ist mein Arbeitsplatz der Schreibtisch.»

Quaas, 2010, S. 15

Selbst die sPTBS wird unterschiedlich definiert (Rixe, 2013). Umstritten ist, ob nur eine sPTBS vorliegt, wenn keine direkten sensorischen Eindrücke des Ausgangstraumas stattfanden, wie es beispielsweise bei Psychotherapeut*innen der Fall ist (Rixe, 2013). Die Forschung hat die entsprechende Erweiterung der PTBS Definition unterstützt. So macht dies seit der Veröffentlichung des DSM-5 faktisch keinen Unterschied mehr (Roden-Foreman et al., 2017). Unabhängig davon, ob die Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis direkt, indirekt, mit oder ohne sensorische Eindrücke erfolgt, wird eine PTBS diagnostiziert (APA, 2013).

Das Gleiche, aber nicht Dasselbe

Im Kontext ihrer Arbeit werden die gefährdeten Berufsgruppen im Gegensatz zu den Opfern meist erst nach dem eigentlichen Geschehnis dessen Folgen ausgesetzt (Reinhard & Maercker, 2004). Ihre Prognose ist aufgrund höherer Vorhersehbarkeit, Kontrolle und Erfahrung besser (Daniels, 2008). Sie sind gut ausgebildet, auf Extremsituationen vorbereitet (Sendera & Sendera, 2013) und wissen, wann sie sich in eine möglicherweise traumatische Situation begeben bzw. davon hören werden (Daniels, 2008). Sie können die Umstände besser kontrollieren (z. B. eine Therapiesitzung) und aufgrund ihres Fachwissens bei Symptomen einer sPTBS schneller reagieren. Der wichtigste Unterschied liegt wohl darin, dass ein indirekt erlebtes Trauma meist eine weniger starke Folgesymptomatik bedingt (Reinhard & Maercker, 2004). Generell werden bei den gefährdeten Berufsgruppen sehr hohe Prävalenzen für die einzelnen Symptomgruppen gefunden, nicht aber für eine umfassende Beeinträchtigung (Reinhard & Maercker, 2004; Klimley et al., 2018). Beispielsweise wurde bei Notfallmediziner*innen eine sPTBS Prävalenz von 13 Prozent festgestellt, wobei weitere 34 Prozent mindestens ein Symptomcluster auf klinischer Ebene aufwiesen (Roden-Foreman et al., 2017). Auch eine solche subklinische Störung kann jedoch das Funktionsniveau stark beeinträchtigen (Klimley et al., 2018).

Risiko- und Schutzfaktoren

Etwa jedem Zweiten widerfährt mindestens einmal in seinem Leben ein traumatisches Ereignis (Kessler et al., 1995), aus den gefährdeten Berufsgruppen fast jedem (Ehlert & Brönnimann, 2019). Dennoch entwickeln nicht alle eine sPTBS (Reinhard & Maercker, 2004). Traumatisierend sind Umstände, die zu einer Identifikation mit dem Opfer und damit zu emotionaler Überflutung führen, so beispielsweise, wenn die Situation an eigene Lebensumstände erinnert (z. B. Umfall eines Kindes, wenn man selbst Kinder hat) oder das Opfer persönlich gekannt wird (Sendera & Sendera, 2013). Nicht selten sind Menschen mit eigener Traumageschichte in helfenden Berufen zu finden. Diese Vorgeschichte wirkt zwar als Motivation, kann allerdings auch die Einhaltung der nötigen Distanz erschweren und eine sPTBS begünstigen (Sendera & Sendera, 2013).

«(…) als Verantwortliche muss ich mich dann vor Ort um alle Details kümmern; stressig, echt nervenaufreibend, die Leichen, oder das was noch übrig ist. (…) irgendwann steckst du das dann nicht mehr weg.»

Kriminalbeamtin aus Sabel & Roschinski, 2010, S. 35

Oft entsteht die sPTBS aber schleichend durch die Akkumulation vieler traumatischer Erlebnisse oder Informationen über einen längeren Zeitraum (Sabel & Roschinski, 2010). Die Anzahl und Schwere der traumatischen Ereignisse, die sogenannte Traumadosis, wird als Risikofaktor angesehen, obwohl nicht immer ein signifikanter Effekt gefunden wurde (Geronazzo-Alman et al., 2017). Möglicherweise können viele Erlebnisse im Sinne höherer Berufserfahrung immunisierend und somit auch schützend wirken (Reinhard & Maercker, 2004; Krutolewitsch et al., 2015). Weitere Risikofaktoren sind gemäss Schwarzer (2010) eine hohe Empathiefähigkeit ohne innerliche Distanz, hohe Dissoziationsneigung, fehlende Problemlöse- und emotionale Bewältigungsstrategien. Vor allem schlecht angepasstes Coping, wie Ablenkung, Selbstbeschuldigung und Substanzkonsum scheinen mit sPTBS assoziiert zu sein (Skeffington et al., 2017). Riessinger (2015) nennt als weitere Einflussfaktoren die allgemeinen Lebensumstände, wie Stress und die psychische Gesundheit, Merkmale des sozialen Umfeldes und demografische Faktoren. Burnout-Symptome werden als aufrechterhaltende und verstärkende Bedingungen vermutet (Reinhard & Maercker, 2004). Soziale Variablen, wie wahrgenommene soziale Unterstützung und Anerkennung, konnten dagegen als starke Schutzfaktoren identifiziert werden. Die Anpassung an ein traumatisches Erlebnis ist besser, wenn die Betroffenen das Gefühl haben, dass ihre Arbeit von der Gesellschaft wertgeschätzt wird (Krutolewitsch et al., 2015).

«There is a cost to caring.»

Figley, 1995

Die rote Liste der Risikoberufe

Die gefährdeten Berufsgruppen sind den traumatischen Ereignissen auf unterschiedliche Weise ausgesetzt (Krutolewitsch et al., 2015; Klimley et al., 2018). In der Forschung werden im Zusammenhang mit sPTBS vor allem Ersthelfer*innen, wie Rettungspersonal, Polizei und Feuerwehr genannt, da sie viele Stressoren gleichzeitig erleben (Berger et al., 2012). Einerseits tätigkeitsabhängige Belastungen, wie die Verantwortungsübernahme für das Leben von anderen, der Zeitdruck, die unvorhersehbaren, unkontrollierbaren, mehrdeutigen Situationen, Informationsüberflutung oder -mangel und der starke, kontinuierliche Entscheidungsdruck (z. B. wer als Erstes versorgt wird) (Andreatta & Unterluggauer, 2010; Sendera & Sendera, 2013). Und andererseits der extreme Stressor der Konfrontation mit leidenden, verletzten oder toten Menschen (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Die Ersthelfer*innen müssen empathisch auf die Opfer und Angehörigen eingehen, eine Beziehung aufbauen und dennoch zum Selbstschutz eine gewisse Distanz wahren (Sendera & Sendera, 2013). Die Rolle des Helfers kann im Sinne übersteigerter Erwartungen zusätzlich zur Belastung werden (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Falls es nicht möglich ist zu helfen, beispielsweise bei zu spätem Eintreffen, können irrationale Kognitionen und Schuldgefühle entstehen (Reinhard & Maercker, 2004). Darüber hinaus kann nicht nur die Katastrophe selbst, sondern auch das Versagen der Technik, des Teams oder der eigenen Person traumatisierend wirken (Sendera & Sendera, 2013).

Gleichzeitig sind Ersthelfer*innen aber gut ausgebildet und verfügen über eine Persönlichkeitsstruktur, die eine höhere psychische Belastung erlaubt als in der Allgemeinbevölkerung (vgl. Krampl, 2007; Ehlert & Brönnimann, 2019). Sie haben eine hohe Stresstoleranz, Sozialkompetenz und Kontrollüberzeugung, ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung, einen ausgeprägten Ordnungssinn aber auch die Tendenz, die eigene Belastung zu bagatellisieren (Ehlert & Brönnimann, 2019).

Es hat sich klar gezeigt, dass Krankenwagenpersonal und Mitarbeiter des Notdienstes stärker von sPTBS betroffen sind und eine schlechtere psychische und körperliche Gesundheit aufweisen als Feuerwehr und Polizei (Berger et al., 2012; Krutolewitsch et al., 2015). Das Krankenwagenpersonal erlebt höheren Druck und Stress, muss auf mehr Notrufe reagieren und erlebt engeren Kontakt zu den Opfern. Dies kann die Identifizierung fördern und möglicherweise das Schuldgefühl verstärken, falls nicht geholfen werden konnte (Berger et al., 2012). Auch ungünstigere Coping-Strategien (z. B. vermehrter Alkoholkonsum) können verantwortlich sein (Teegen 2003). Polizisten sind in der Gruppe der Ersthelfer*innen die am wenigsten gefährdeten (Klimley et al., 2018). Möglicherweise handelt es sich bei Polizist*innen aufgrund strengerer Auswahlkriterien um eine resilientere Personengruppe (Berger et al., 2012). Bezüglich ehrenamtlicher Ersthelfer*innen liegen widersprüchliche Ergebnisse vor. Sie erleben vermutlich weniger soziale Unterstützung, können sich aber einfacher aus der Arbeit zurückziehen (Berger et al., 2012; Ehlert & Brönnimann, 2019).

Erschüttertes Selbst- und Weltbild

Ein gewisses Mass an Illusion hilft, unseren Alltag zu bewältigen und schützt vor der Konfrontation mit der eigenen Verwundbarkeit. Obwohl wir über den Tod, Gewalt usw. Bescheid wissen, schätzen wir unsere Umgebung als wohlwollend ein und gehen nicht davon aus, dass uns Schlimmes widerfahren wird. Die Geschehnisse der Welt werden als bedeutungsvoll und sinnhaft angesehen, was in der Annahme einer gerechten und kontrollierbaren Welt resultiert. Helfende Berufsgruppen vertrauen aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung auf ihr Team und ihre eigene Belastbarkeit. Die eigene Vulnerabilität wird durch das stereotype Bild des*r Held*in überdeckt. In der Auseinandersetzung mit traumatisierenden Ereignissen werden jedoch Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit erlebt. Die Grundannahmen über das Selbst und die Welt können dadurch erschüttert und die eigene Vulnerabilität und Hilflosigkeit vor Augen geführt werden, was eine sPTBS bedingen kann (Andreatta & Unterluggauer, 2010).

Die zweite in der Literatur häufig besprochene Berufsgruppe sind die Psychotherapeut*innen (Daniels, 2010). Die Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen anderer gehört zu ihrem Arbeitsalltag. Im Gegensatz zu den Ersthelfer*innen erlebt diese Gruppe keine direkten sensorischen Eindrücke des Ausgangstraumas. Es wird angenommen, dass meist erst die Kumulation von Erfahrungen der Ungerechtigkeit traumatischer Ereignisse, gepaart mit hoher Empathiefähigkeit traumatisierend wirkt (Andreatta & Unterluggauer, 2010). Die Datenlage ist aber widersprüchlich. Nur jede zweite Studie fand einen Zusammenhang zwischen der Traumadosis und der sPTBS bei Psychotherapeut*innen (Jurisch et al., 2009). Jurisch und Kollegen (2009) betonen daher, dass die generelle Warnung vor sPTBS bei Psychotherapeut*innen nicht gerechtfertigt ist und vermuten, dass die PTBS-Symptome dieser Berufsgruppe eher auf eigene traumatische Erfahrungen und die Traumafokussierung in der Therapie zurückzuführen sind. Weitere gefährdete Berufsgruppen sind Sozialarbeiter*innen, Kriminalbeamt*innen, Krankenpfleger*innen, Soldat*innen, Richter*innen, Lokomotivführer*innen, Seelsorger*innen und Pfarrer*innen (Sabel & Roschinski, 2010). Auch Journalist*innen und Anwält*innen werden als häufig von sPTBS Betroffene diskutiert (Ehlert & Brönnimann, 2019).

Fakt ist, dass die genannten Berufsgruppen häufig mit traumatischen Ereignissen oder Informationen darüber konfrontiert werden. Daraus resultiert ein hohes Risiko für die Entstehung einer (subklinischen) sPTBS. Die Forschung hat Risiko- aber auch Schutzfaktoren, sowie Eigenheiten der einzelnen Berufe aufgedeckt. Um die Betroffenen zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer für die Gesellschaft überaus wertvollen Arbeit nachgehen können, muss der Fokus von den Opfern gelöst und weitere Forschung getätigt werden. Die Ergebnisse sollten dann in die Ausbildungen einfliessen, damit wann immer möglich, statt einem verzweifelten «Ich wollte doch nur helfen!», ein zufriedenes «Ich habe geholfen!» ertönen kann.


Zum Weiterlesen

Ehlert, U., & Brönnimann, R. (2019). Traumafolgestörungen bei gefährdeten Berufsgruppen. In G. H. Seidler, H. J. Freyberger, H. Glaesmer, & S. B. Gahleitner (Eds.). Handbuch der Psychotraumatologie. – 3. Aufl. Klett-Cotta.

Wagner, R. (2010). Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko. Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Literatur

American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5®). American Psychiatric Pub.

Andreatta, P. & Unterluggauer, K. (2010). Das Phänomen der sekundären Traumatisierung. In R. Wagner (Eds.). Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko? Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen (pp. 47-60). Friedrich-Ebert-Stiftung.

Berger, W., Coutinho, E. S., Figueira, I., Marques-Portella, C., Luz, M. P., Neylan, T. C., Marmar, C. R., & Mendlowicz, M. V. (2012). Rescuers at risk: a systematic review and meta-regression analysis of the worldwide current prevalence and correlates of PTSD in rescue workers. Social psychiatry and psychiatric epidemiology, 47(6), 1001–1011. https://doi.org/10.1007/s00127-011-0408-2

Daniels, J. (2008). Sekundäre Traumatisierung. Psychotherapeut, 53(2), 100-107.

Daniels, J. (2010). Sekundäre Traumatisierung von Pflegerinnen und Pflegern. PPH, 16(4), 202-205.

Ehlert, U., & Brönnimann, R. (2019). Traumafolgestörungen bei gefährdeten Berufsgruppen. In G. H. Seidler, H. J. Freyberger, H. Glaesmer, & S. B. Gahleitner (Eds.). Handbuch der Psychotraumatologie. – 3. Aufl. Klett-Cotta.

Geronazzo-Alman, L., Eisenberg, R., Shen, S., Duarte, C. S., Musa, G. J., Wicks, J., Fan, B., Doan, T., Guffanti, G., Bresnahan, M., & Hoven, C. W. (2017). Cumulative exposure to work-related traumatic events and current post-traumatic stress disorder in New York City’s first responders. Comprehensive psychiatry, 74, 134-143.

Figley, C. R. (1992). Secondary traumatic stress and disorder: Theory, research, and treatment. In First World Meeting of the International Society for Traumatic Stress Studies.

Figley, C. R. (1995). Compassion Fatigue: Coping with Secondary Traumatic Stress Disorder in those who treat the Traumatized. Brunner.

Jurisch, F., Kolassa, I. T., & Elbert, T. (2009). Traumatisierte Therapeuten? Ein Überblick über sekundäre Traumatisierung. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 38(4), 250-261.

Kessler, R. C., Sonnega, A., Bromet, E., Hughes, M., & Nelson, C. B. (1995). Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey. Archives of general psychiatry, 52(12), 1048-1060.

Klimley, K. E., Van Hasselt, V. B., & Stripling, A. M. (2018). Posttraumatic stress disorder in police, firefighters, and emergency dispatchers. Aggression and violent behavior, 43, 33-44.

Krampl, M. (2007). Einsatzkräfte im Stress. Auswirkungen von traumatischen Belastungen im Dienst. Asanger Verlag GmbH.

Krutolewitsch, A., Horn, A. B., & Maercker, A. (2015). Trauma-Ausmaß und ausgewählte Prädiktoren in einer Studie mit Feuerwehr-und Rettungskräften. Trauma, 13(3), 78-91.

Lemke, J. (2010). Sekundäre Traumatisierung. Klärung von Begriffen und Konzepten der Mittraumatisierung (3. Aufl.). Asanger Verlag GmbH.

Pausch, M. J., & Matten, S. J. (2018). Krankheitsprävention und primäre/sekundäre Traumatisierung. In Trauma und Traumafolgestörung (pp. 99-101). Springer.

Reinhard, F., & Maercker, A. (2004). Sekundäre Traumatisierung, Posttraumatische Belastungsstörung, Burnout und Soziale Unterstützung bei medizinischem Rettungspersonal. Zeitschrift für Medizinische Psychologie, 13(1), 29-36.

Riessinger, S. (2015). Sekundäre Traumatisierung und der Umgang mit Überlastungsphänomenen. Hans-Wendt-Stiftung.

Rixe, J. (2013). 60. Sekundäre Traumatisierung: Der Preis des Helfens?. Blick zurück und nach vorn, 273.

Rixe, J., & Luderer, C. (2017). Das Trauma aus zweiter Hand: Sekundäre Traumatisierungen von psychiatrisch Pflegenden. Pflege & Gesellschaft, 3, 213-230.

Roden-Foreman, J. W., Bennett, M. M., Rainey, E. E., Garrett, J. S., Powers, M. B., & Warren, A. M. (2017). Secondary traumatic stress in emergency medicine clinicians. Cognitive Behaviour Therapy, 46(6), 522-532.

Sabel, B., & Roschinski, A. (2010). Sekundäre Traumatisierung–Berufsrisiko der Helfer. In R. Wagner (Eds.). Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko? Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen (pp. 35-46). Friedrich-Ebert-Stiftung.

Schwarzer, S. (2010). Prävention – Schutz – Heilung. In R. Wagner (Eds.). Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko? Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen (pp. 61-70). Friedrich-Ebert-Stiftung.

Sendera, A., & Sendera, M. (2013). Sekundäre Traumatisierung–Besonderheiten der Sekundären Posttraumatischen Belastungsstörung. In Trauma und Burnout in helfenden Berufen (pp. 79-86). Springer, Vienna.

Skeffington, P. M., Rees, C. S., & Mazzucchelli, T. (2017). Trauma exposure and post‐traumatic stress disorder within fire and emergency services in Western Australia. Australian Journal of Psychology, 69(1), 20-28.

Teegen, F. (2003). Posttraumatische Belastungsstörungen bei gefährdeten Berufsgruppen: Prävalenz-Prävention-Behandlung. Huber.

Quaas, S. (2010). Eindrücke von der Fachtagung – Zwei Hintergrundberichte. In R. Wagner (Eds.). Sekundäre Traumatisierung als Berufsrisiko? Konfrontation mit schweren Schicksalen anderer Menschen (pp. 15-20). Friedrich-Ebert-Stiftung.

Zwanghaftes Horten

Wenn man den emotionalen Wert von Gegenständen inadäquat einschätzt

Zwanghaftes Horten oder Hoarding Disorder beschreibt eine Erkrankung, bei der Betroffene sich nicht von scheinbar wertlosen Dingen trennen können und auch die Neubeschaffung von oftmals wertlosen Dingen ein Problem darstellt. Im Folgenden wird das Krankheitsbild näher vorgestellt.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Marie Reinecke und Laura Trinkler
Illustriert von Alba Lopez

Eigentlich wollte ich diesen Artikel mit einer Anspielung auf das Horten von Toilettenpapier – eine Tätigkeit, welcher nicht zu wenige unserer Mitmenschen zu Anfang der Corona-Pandemie nachgegangen sind – eröffnen. Eine Extremform des Sammelns und auch der Akquise neuer Gegenstände stellt zwanghaftes Horten dar. Was manche von uns schon in fragwürdigen Sendungen gesehen haben, ist ausserhalb der Reality-TV-Welt bitterer Ernst, welcher mit grossem Leidensdruck für die Betroffenen und ihr Umfeld verbunden ist. Zwanghaftes Horten findet im DSM-V eine eigene Diagnose, zuvor war es als eine Ausprägung einer Zwangsstörung definiert.

Krankheitsbild

Betroffene Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie anhaltende Schwierigkeiten haben, persönliche Gegenstände fortzugeben oder wegzuwerfen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert. Sie haben das Gefühl, ihre Besitztümer aufbewahren zu müssen und erfahren massive Anspannung beim Versuch, sich der Besitztümer zu entledigen. Das Behalten von diesen wertlosen Dingen führt zu dem Bild, welches man von Messie-Wohnungen hat. Betroffene wohnen oftmals in einer überfüllten Wohnung, wovon viel Wohnbereich auch mit Müll okkupiert sein kann. Die Kriterien können auch bei einer aufgeräumten Wohnung zutreffen, wobei die Ordnung auf Dritte zurückgeführt werden können muss. Um die Kriterien des DSM-V für pathologisches Horten zu erfüllen, muss des Weiteren eine Beeinträchtigung im häuslichen, sozialen oder arbeitsbezogenen Alltag vorhanden sein (Külz & Voderholzer, 2018).

Im Unterschied zum Messie-Syndrom ist beim zwanghaften Horten häufiger die Akquirierung neuer Gegenstände Bestandteil der Krankheit. Personen mit dem Messie-Syndrom sind zudem nicht nur bei der Ordnung im Wohnbereich desorganisiert, sondern auch beim Einhalten von Terminen, der sozialen Einbindung und der Umsetzung von Handlungsplänen im Allgemeinen (Külz & Voderholzer, 2018).

Sammeln und auch Überfluss an Dingen liegt zu einem gewissen Grad in der menschlichen Natur (wie uns die Toilettenpapiersituation anno Corona zeigte). Das Sammeln von Dingen unterscheidet sich jedoch gegenüber Horten dahingehend, dass Sammeln nicht als das eigene Wohlergehen oder das Wohlergehen anderer als negativ beeinträchtigend gilt (Külz & Voderholzer, 2018).

Die Bindung an scheinbar wertlose Dinge an sich ist nichts Aussergewöhnliches. Gewisse Besitztümer können mit Personen oder Ereignissen in Verbindung gebracht werden und haben daher emotionalen Wert. Oder man identifiziert sich mit einem Gegenstand, so dass das Entledigen desselben sich wie die Vernichtung eines Teils seiner selbst anfühlt (Külz & Voderholzer, 2018). Während diese objektiv wertlosen Dinge mit grossem subjektiven Wert bei klinisch unauffälligen Personen dünn gesät sind, verspüren Betroffene diese Verbindungen zu einer Vielzahl von Dingen, wie alten Zeitschriften oder abgetragenen Kleidungsstücken.

Befundlage

Nordsletten und Kollegen (2013) fanden des Weiteren, dass Betroffene im Vergleich zu klinisch Unauffälligen signifikant häufiger Schulden hatten, geschieden oder verwitwet waren und häufiger staatliche Finanzhilfe in Anspruch nahmen. Zusätzlich wurde festgestellt, dass die körperliche Gesundheit bei Betroffenen schlechter war als die der Kontrollgruppe. Timpano und Kollegen (2011) berichteten, dass bei Nicht-Hortenden gelegentliches Stehlen mit 6.2 Prozent deutlich tiefer lag als bei pathologisch Hortenden mit 25.3 Prozent. Auch das impulsive Kaufen von Dingen oder das Mitnehmen von Gratisprodukten wurde bei pathologisch Hortenden häufiger festgestellt.

In einer retrospektiven Studie fanden Landau und Kollegen (2011) heraus, dass Personen, welche unter pathologischem Horten leiden, mehr stressige oder traumatische Ereignisse erlebt hatten als Personen mit einer Zwangsstörung oder aus der Kontrollgruppe. Die Exposition gegenüber traumatischen Ereignissen korrelierte dabei stark mit der Ausprägung des Hortverhaltens. Zwischen materieller Entbehrung in der Vergangenheit und Hortverhalten wurden keine signifikanten Zusammenhänge festgestellt.

Neurologische Grundlage

Tolin und Kollegen (2014) führten mit Personen, welche unter einer Zwangsstörung oder pathologischem Horten litten und Kontrollpersonen ein Experiment durch, in welchem die Probanden an einer Go/no-Go-Aufgabe teilnahmen. Bei dieser Aufgabe wurde mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Stimulus präsentiert, nach welchem von den Probanden die Reaktion gefordert wurde, einen Knopf zu drücken. Die Stimuli wurden in einer kurzen zeitlichen Abfolge präsentiert und alle 10-15 Sekunden wurde ein Stimulus präsentiert, bei dem keine Aktion gefordert war. Bei den Probanden zeigten sich unterschiedliche Hirnaktivierungen in Bezug auf die response inhibition. Bei den Studienteilnehmern, welche mit zwanghaftem Horten diagnostiziert worden waren, stellten die Forschenden im Vergleich zu den anderen Probanden eine Hypoaktivität im Frontalkortex fest. Dieses Muster konnte auch bei anderen Tests, bei welchen es nicht um das Behalten oder Wegwerfen von Dingen geht, festgestellt werden und könnte laut Tolin und Kollegen (2014) eine Erklärung für die beobachtbare, geminderte, allgemeine Motivation und das mangelhafte Einsichtsvermögen bei Betroffenen sein.

«Together, these regions are thought to be part of a functionally connected network of structures used to identify the emotional significance of a stimulus, generate an emotional response, and regulate affective state.»

Tolin et al., 2012, S. 838

In einer weiteren Studie von Tolin und Kollegen (2012) mussten Probanden in Bezug auf fremde und eigene wertlose Gegenstände entscheiden, ob sie weggeworfen oder behalten werden sollen. Bei den Probanden mit zwanghaftem Horten wurde eine vergleichsweise hohe Aktivität im anterioren cingulären Cortex sowie in der Insula festgestellt, wenn es um Entscheidungen bezüglich eigener Gegenstände ging. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die Entscheidungsschwierigkeit, welche Personen mit zwanghaftem Horten beim Wegwerfen von Besitztümern erfahren, neurologisch widerspiegeln. Die betroffenen Hirngebiete sind unter anderem bei Entscheidungsprozessen, Salienzbestimmung von Stimuli und emotionalen Entscheidungen von Bedeutung (Tolin et al, 2012). Zusammengefasst sind die neuronalen Strukturen, welche dazu dienen, Gegenständen einen emotionalen Wert adäquat beizumessen, eine emotionale Reaktion hervorzurufen und den affektiven Zustand zu regulieren, bei Menschen mit zwanghaftem Horten in Bezug auf Besitztümer auffällig.

Besserung der Symptomatik

In einer Metaanalyse fanden Tolin, Frost, Steketee und Muroff (2015) heraus, dass kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung von zwanghaftem Horten gute Resultate hervorbringt. Vor allem fällt es den Betroffenen nach einer Therapie leichter, sich von Dingen zu trennen und die Vermüllung des Wohnraumes nimmt ab. Eine vollständige Heilung im Sinne von Skalenergebnissen in Bezug auf Hortungsverhalten, welche dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, wird allerdings nicht erreicht.

Zwanghaftes Horten kann für direkt und indirekt Betroffene grossen Leidensdruck verursachen. Es geht mit spezifischen, neuronalen Mustern einher und unterscheidet sich explizit von einer Zwangsstörung. Die Häufigkeit der Erkrankung wird mit einer Prävalenz zwischen 2 Prozent bis 6 Prozent sehr unterschiedlich eingeschätzt (Timpano et al., 2011). Die Menschen, die dabei am stärksten betroffen sind, sind vermutlich die gleichen Personen, denen die Einsicht zu ihrem Problem fehlt (Nordsletten et al. 2013).


Zum Weiterlesen

Külz, A. K., & Voderholzer, U. (2018). Pathologisches Horten. Hogrefe Verlag. https://doi.org/10.1026/02785-000

Tolin, D. F., Witt, S. T., & Stevens, M. C. (2014). Hoarding disorder and obsessive–compulsive disorder show different patterns of neural activity during response inhibition. Psychiatry Research: Neuroimaging, 221, 142-148. https://doi.org/10.1016/j.pscychresns.2013.11.009

Literatur

Landau, D., Iervolino, A. C., Pertusa, A., Santo, S., Singh, S., & Mataix-Cols, D. (2011). Stressful life events and material deprivation in hoarding disorder. Journal of Anxiety Disorders, 25, 192-202. https://doi.org/10.1016/j.janxdis.2010.09.002

Nordsletten, A. E., Reichenberg, A., Hatch, S. L., de la Cruz, L. F., Pertusa, A., Hotopf, M., & Mataix-Cols, D. (2013). Epidemiology of hoarding disorder. The British Journal of Psychiatry, 203, 445-452. https://doi.org/10.1192/bjp.bp.113.130195

Timpano, K. R., Exner, C., Glaesmer, H., Rief, W., Keshaviah, A., Brahler, E., & Wilhelm, S. (2011). The epidemiology of the proposed DSM-5 hoarding disorder: Exploration of the acquisition specifier, associated features, and distress. The Journal of Clinical Psychiatry, 72, 780-786. https://doi.org/10.4088/JCP.10m06380

Tolin, D. F., Frost, R. O., Steketee, G., & Muroff, J. (2015). Cognitive behavioral therapy for hoarding disorder: A meta-analysis. Depression and Anxiety, 32, 158-166. https://doi.org/10.1002/da.22327

Tolin, D. F., Stevens, M. C., Villavicencio, A. L., Norberg, M. M., Calhoun, V. D., Frost, R. O., Steketee, G., Rauch, S. L., & Pearlson, G. D. (2012). Neural mechanisms of decision making in hoarding disorder. Archives of General Psychiatry, 69, 832-841. https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2011.1980