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Beiträge aus der Kategorie ‘HS19’

Bulimie

Wenn die Speiseröhre brennt, wird die Seele endlich still.

Menschen mit Bulimie leben ein Doppelleben. Sie vollführen einen täglichen Balanceakt zwischen dem Aufrechterhalten ihrer Normalitäts-Maske und dem Ausleben der Ess-Brech-Phasen. Eine junge Frau und vier Fachpersonen schenken Einblick in die Welt einer manifestierten Bulimie und in Wege zur Gesundheit.

Von Hannah Löw
Lektoriert von Selina Landolt und Noémie Szenogrady
Illustriert von Rebecca Beffa und Hannah Löw

Im Feierabendtrubel steuert sie auf ihr Ziel zu – den Einkaufsladen. Sie nimmt die Menschenmasse, die sie umgibt, kaum wahr. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie die Lebensmittel klar vor sich, die sie für ihren nächsten Ess-Brech-Anfall braucht. Sie kennt ihre Liste in- und auswendig. Mit einem Tunnelblick rauscht sie durch die Reihen der Regale und packt ihren Hamstereinkauf in den Einkaufskorb. Zuhause angekommen, reisst sie eine Packung nach der anderen auf und schlingt das Essen in sich hinein. Alle Gedanken und Gefühle werden damit zugestopft. Erst als sie einen stechenden Schmerz in ihrer Magengegend spürt, hört sie auf zu Essen. Gekrümmt kriecht sie zur Toilette, erbricht den vollen Einkaufswagen in die Kloschüsselund spült ihn in die Kanalisation. Das Rauschen der Klospülung hört sich an wie das Rauschen in ihrem Kopf. Ihr Körper ist zu erschöpft, um weiterhin zu denken, geschweige denn, zu fühlen. Sie empfindet bloss das Pochen ihrer Schläfen und den Schwindel durch den Elektrolytverlust. Ihr Hals brennt. Sie wäscht sich Gesicht und Hände. Ihr Blick fällt in den Spiegel. Durch die Anstrengung zeigen sich die Verästelungen ihrer geplatzten Äderchen in ihren rot unterlaufen Augen. Die geschwollenen Speicheldrüsen quellen ihre Wangen auf. Der Handrücken zeigt schwulstige Spuren ihrer Zähne, durch das Stecken ihrer Finger in den Hals beim Erbrechen. Doch sie weiss, dass ein Erholungsschlaf viel vertuschen wird. Die leeren Verpackungen der Lebensmittel verschwinden im Abfall. Lediglich ihre innere Leere bleibt, welche für sie nur schwer auszuhalten ist. Sie kehrt in die Küche zurück und öffnet erneut den Kühlschrank (adaptiert aus einem Gespräch mit einer ehemaligen Bulimie-Patientin des Universitätsspital Zürich, 2019).

Zum Kotzen

Das Erbrechen ist eine physiologische Reaktion des menschlichen Körpers. Ein verdorbenes Mittagessen, eine Magen-Darm-Grippe oder eine Migräne-Attacke: In allen drei Fällen kann die Folge eine Entleerung des Mageninhaltes sein (Janiak & Fried, 2007). Die Erleichterung, wenn darauf die Übelkeit endlich stoppt, ist auch für nichtbulimische Personen keine Unbekannte.

Im Sprachgebrauch taucht die Thematik des Erbrechens ebenfalls auf. Wie schnell finden wir Situationen «zum Kotzen» oder denken, dass uns das Schicksal «übel mitgespielt» hat. Gesten, wie das Anzeigen, die Finger in den Hals stecken zu wollen, verleihen unserem Ekel Ausdruck. Bereits hier lässt sich erkennen, dass das Übergeben des Chymus [Speisebrei] in unserer Sprache gefestigt ist. Worte, Gesten und Taten liegen manchmal nahe beieinander. Was im Sprachgebrauch «zum Kotzen» empfunden wird, kann sich bei bulimischen Menschen als Alltagsverhalten niederschlagen (Hinsen, 2010). So zählt auch das Verhalten der eingangs vorgestellten Bulimie-Patientinzu einem pathologischen, willentlich hervorgerufenen Brechreiz. Sieist eine der Personen, die die hohe Dunkelziffer der Bulimia Nervosa bilden.

Die Bulimia Nervosa [Ess-Brech-Sucht] gehört imICD-11 for Mortality and Morbidity Statisticszu den Essstörungen [feeding and eating disorders] (World Health Organization, 2019). Die Begriffe Fressanfälle und deren Kompensation, Kontrollverlust, Gewicht, Körperwahrnehmung tauchen regelmässig in der Fachliteratur über bulimisches Verhalten auf. Auch Hinsen (2010) erwähnt in ihrer Beschreibung der bulimischen Symptomatik Zeiten von übermässiger Nahrungszufuhr, die anschliessenden Gegenmassnahmen sowie einen körpergerichteten Aufmerksamkeitsfokus. Diese Episoden tauchen nach der WHO mindestens einmal pro Woche auf und bleiben über 4 Wochen oder länger bestehen (WHO, 2019, 6B81).

Die allgemeine Definition der Bulimie zeigt grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Betroffenen auf. Doch Bulimie besteht aus einem komplexen Netzwerk von Denkstrukturen, Verhaltensmustern und Wahrnehmungsfiltern. Jede|r Betroffene erlebt seine Bulimie individuell. Die Ausprägung variiert nicht nur in Häufigkeit und Dauer der Essstörung. Auch die Strategien der Kompensation von Fressanfällen unterscheiden sich und müssen nicht ausschliesslich über Erbrechen erfolgen. So können übermässiges Treiben von Sport oder der Missbrauch von Abführmitteln zeitweise bulimisches Verhalten begleiten (Hinsen, 2010). Die einen durchleben zuerst eine Phase der Diät oder Ernährungsumstellung, für andere können diese Phasen zu einem anderen Zeitpunkt auftauchen oder überhaupt keine Rolle in ihrer Bulimie spielen. Bulimie versteht sich als ein Ausdruck personenspezifischen Leidens. Der rote Faden, der sich durch alle Formen der Bulimie zieht, spinnt sich unter anderem durch die Heimlichkeit zusammen. Betroffene leben ihre Bulimie mit allen möglichen Strategien der Vertuschung aus. Nicht selten dienen dafür auch Lügen (Schätzl, 2015).

Geht es dir gut?

Wenn auf diese Frage immer wieder die Resonanz erfolgt, dass alles in Ordnung sei, scheint es das wohl auch zu sein. Wer möchte seinem|seiner Freund|in nicht glauben, dass es ihm|ihr gut gehe? Vielleicht hat er|sie sich wirklich den Magen verdorben und sich deshalb übergeben, als die Mitbewohner|innen unerwartet nachhause kamen? Vielleicht hat er|sie wirklich mehrmals an einem Tag Sport getrieben und deshalb schon wieder geduscht?

Das Rauschen der Dusche kann die Geräuschkulisse einzelner Brechanfälle vertuschen, doch mit der Zeit werden Ausreden rar. Leichter als neue Ausreden zu finden, ist folglich die Vermeidung sozialer Kontakte. Die Bulimie entwickelt sich immer stärker zu einer eigenständigen, dominierenden Beziehung im Leben der Betroffenen. Dies wird im folgenden Zitat deutlich:

«Meine Essstörung und ich waren ein gutes Team. Wir hatten einen täglichen Ablauf und unsere eigenen Rituale. Wie ein Ehepaar, nur friedlicher. Meine Lebenspartnerin Bulimie hatte, im Gegensatz zu meinen männlichen realen Partnern, nur positive Seiten. Sie kümmerte sich um mich. Sie war meine bessere Hälfte, die mir auf ihre Art eine Pause von all dem Chaos in meinem Kopf gab, wann immer es nötig war.» Schätzl, 2015, S. 69

Dunkelziffer

Im Unterschied zu anderen Essstörungen, wie Anorexia Nervosa oder Binge Eating Disorder (siehe Kästchen «Abgrenzung zu anderen Essstörungen»), liegt das Gewicht bulimischer Menschen meist im Normalbereich. Auf den ersten Blick lässt sich diese Essstörung also nicht erkennen.

In einer Schweizer Studie des Universitätsspital Zürich erfassten Schnyder, Milos, Mohler-Kuo und Dermota (2012) im Auftrag des Bundesamt für Gesundheit (BAG) 10’038 Probandinnen und Probanden in einer Stichprobe zur Untersuchung der Prävalenz von Essstörungen in der Schweiz. 3,5 Prozent der Untersuchten gaben an, in ihrem Leben bereits einmal an einer Bulimia Nervosa, Anorexia Nervosa oder Binge Eating Disorder gelitten zu haben. Die höchste Prävalenz wies in dieser Studie mit 1,7 Prozent aller befragten Personen die Bulimia Nervosa auf. Schnyder und Kollegen schliessen, dass die niedrige Zahl der bekannten Fälle einer Essstörung in der Allgemeinbevölkerung auf der mangelnden Einsicht der Betroffenen beruhe und dem darauf folgenden Ausbleiben der Aufsuche professioneller Unterstützung. Welche innere Motivation braucht es, damit sich Menschen mit Bulimie Unterstützung suchen?

Leidensdruck

Ihr Leben gestaltet sich fast nur noch aus stundenlangem Ausüben ihres Rituals – Hamstereinkäufe, Fressattacke, Erbrechen. Es bleibt kaum noch Zeit oder Energie für anderes. Selbst wenn sie esversucht, findet sie nur schwer Freude darin, Freunde zu treffen. Im Gegenteil: Andere Menschen entwickeln sich zu einem potentiellen Störfaktor im Ausleben ihrer Bulimie. Sie plant ihre Tage rund um die Ess-Brech-Attacken herum. Soziale Kontakte bringen diesen Plan durcheinander.

Doch je mehr sie sich übergibt, desto mehr beginnt sie ihre Bulimie zu verabscheuen. Ein Leben ohne Bulimie scheint allerdings genauso unvorstellbar zu sein. Inzwischen spürt sie die körperlichen Folgen. Nicht selten gelangt mit den Speiseresten auch Blut aus ihrem Magen in die Kloschüssel. Bei manchen Fressanfällen begleitet sie die Überzeugung, dass nun die kritische Schwelle ihres Magenvolumens überschritten ist und dieser platzen könnte. Die Müdigkeit hängt wie ein Schatten an ihr. Der ständige Verlust von lebensnotwendigen Körpersalzen in der Magensäure hat ihren Elektrolythaushalt aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie wünscht sich, dass es endlich aufhört und gleichzeitig sitzt die Angst vor einer Therapie fest in ihrem Nacken. Doch die Erschöpfung wächst. Der anfängliche Höhenflug, den sie bei der Kontrolle ihres Essens erlebte, ist verschwunden. Schon lange kontrolliert die Bulimie sieund nicht anders herum. Sie kann essen, so viel sie will und wird doch niemals so viel erbrechen können, um all den Schmerz und die Leere loszuwerden. Sie kann nicht mehr. Sie will so nicht mehr. Aus diesem Loch steigt in ihr der Wunsch nach Veränderung auf. Mit diesem Wunsch und einer tiefen Verzweiflung sucht sie sich nach mehreren Jahren heimlicher Bulimie Hilfe an einer psychologischen Beratungsstelle (adaptiert aus einem Gespräch mit einer ehemaligen Bulimie-Patientin des Universitätsspital Zürich, 2019).

Therapie einer Bulimie –im Gespräch mit Fachpersonen (28.06.2019)

Mit…

Dipl. Arzt Patrick Pasi (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Oberarzt am Zentrum für Essstörungen(ZES) des Universitätsspital Zürich (USZ)), 

Susanne Nicca (Leiterin Ernährungsberatung / Therapie am Universitätsspital Zürich (USZ)), 

Melanie Sprenger (Stv. Leiterin Ernährungsberatung / Therapie am Universitätsspital Zürich (USZ)) und 

Dr. med. univ. Lara Robetin (Oberärztin Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich (USZ) mit Spezialgebiet Allgemeine Innere Medizin u.a. Essstörungen).

«Bulimie kann man häufig erfolgreich therapieren. Es ist eine Chance, die man packen kann.», findet Sprenger. Pasi teilt diese Ansicht: «Ja, und es ist eine Erkrankung, nicht einfach ein Mangel an Disziplin. Wenn es dabei auch um Scham geht und mit dem Gefühl, man sei alleine mit dieser Erkrankung, kann es hilfreich sein, zu einem|einer Spezialisten|in zu gehen. Wenn man vorher das Gefühl hat, niemand versteht einen, kann man dort auf Spezialisten|innen treffen, die sich mit dem Thema auskennen.»

Eines möchten alle vier Fachpersonen des Universitätsspital Zürich (USZ) von Anfang an hervorheben: Eine Therapie am Zentrum für Essstörungen (ZES) erfolgt immer über ein sogenanntes «Drei-Bein-System». Es setzt sich aus der psychotherapeutischen, ernährungstherapeutischen und medizinisch/internistischen Begleitung zusammen. Je nach Schweregrad der Bulimie erfolgt es auf Wunsch des Patienten ambulant oder stationär.

Bulimie-Patienten|innen erhalten am USZ regelmässig medizinische Kontrollen, um den körperlichen Zustand zu überwachen. «Dies kann auch als Einstieg dienen für Patienten|innen, die noch nicht bereit sind, sich auf eine Therapie einzulassen», berichtet Robetin. Wichtig sei hierbei, dass die Prävention der körperlichen Folgen einer Bulimie im Zentrum liege. Akut-medizinische Massnahmen können am USZ jederzeit in die Wege geleitet werden. Vielmehr sollen die regelmässigen Termine aber eine Konstante ermöglichen, die verhindert, dass überhaupt weitere Massnahmen eingeleitet werden müssen.

In der vollständigen Therapie finden zusätzlich zu den medizinischen Kontrollen regelmässige psychotherapeutische, sowie ernährungstherapeutische Sitzungen statt. Die enge Zusammenarbeit innerhalb des Fachteams bietet den Patienten|innen «ein Auffangnetz als Möglichkeit, dass sie in stabile Beziehungen kommen», so Robetin.

Wer sich in dieses «Auffangnetz» des USZ begibt, trifft auf Fachkompetenz, die den|die Patienten|in in seiner|ihren individuellen Situation wahrnimmt. «In der verhaltenstherapeutischen Therapie ist weniger oft mehr. Man fängt nicht von heute auf morgen an, gar nicht mehr zu erbrechen, sondern Schritt für Schritt. Aber nicht wir bestimmen das, sondern in Begleitung zusammen mit dem|der Patienten|in.», findet Nicca. Dabei erhalten die Patienten|innen keine grammgenauen Ernährungspläne, sondern der Fokus liegt vielmehr auf Gefühlen rund um das Essen. «Es geht um den Umgang mit normalen Portionen und eine Bestätigung, um wieder mit dem normalen Essen starten zu können. Auch Motivationsthemen im Umgang mit dem Gefühl direkt nach dem Essen. Wie fühlt man sich mit einem vollen Bauch? Wie fühlt sich ein Sättigungsgefühl und das Hungergefühl an? Solche Themen nehmen einen grossen Teil der Ernährungsberatung/Therapie ein», erklärt Sprenger. Ernährungspläne mit genauen Mengenangaben finden Nicca und Sprenger schwierig, weil dies einen neuen Fixierungspunkt kreieren würde. Die Patienten|innen mit Bulimie werden darin unterstützt, «Freiheit und Grosszügigkeit gegenüber sich selbst in Bezug auf das Essen» zu lernen. 

Die Psychotherapie schenkt anschliessend Raum für bisher verdrängte Themen. Pasi erläutert: «Konflikte, die wegen eines Harmoniebedürfnisses nicht zur Sprache kommen, können sich in der Bulimie zeigen.» Dabei bildet Bulimie oft eine «Möglichkeit der Emotionsregulation. Wenn man Mühe hat, mit negativen Gefühlen umzugehen, ist die Bulimie eine Möglichkeit, diese Emotionen weniger zu spüren und zu dämpfen. Autonomiegefühle können in der Bulimie ausgelebt werden, um eine Möglichkeit zur Abgrenzung von anderen und eine gewisse Stärke zu verspüren. Es ist ihr persönlicher Ort, wo den Betroffenen niemand reinreden kann. Bei Bedarf (Konflikte, Ablösung) kann man das Feld der Einzeltherapie auch zur Paar-/Familientherapie erweitern.»

Den «Kern in der Bulimie» sieht Pasi als eine Art der Selbstverletzung. Die Bulimie diene als ein «Ausdruck des tiefen Selbstwertgefühls» der Betroffenen. Über Achtsamkeit liessen sich Triggerfaktoren aus dem Alltag erschliessen. Oft seien den Bulimie-Patienten|innen die Auslöser der Ess-Brech-Attacken nicht bewusst und durch Notizbücher könne dies in der Psychotherapie gemeinsam analysiert werden. Um sich Stück für Stück aus einer Bulimie zu befreien, benötigt es alternative Problembewältigungsstrategien. Diese müssen die Patienten|innen zwar nicht alleine suchen, sondern erhalten durch Gespräche Unterstützung dabei, doch das darauffolgende Ausprobieren bleibt in der Eigenverantwortung der Betroffenen. Die Versuche der Alternativanwendungen werden hinterher aber immer ausführlich besprochen, um aufsteigende Gefühle, Ängste und Schwierigkeiten zu bearbeiten. Dass dieser Mechanismus für den Umgang mit Emotionen nicht von heute auf morgen verschwindet, berichten alle deutlich. Doch wie gelingt es, dem eigenen Gesundungsprozess Geduld zu schenken? Pasi hat darauf folgende Antwort: «Ich glaube, das ist nicht nur bei Bulimie ein Thema. Erkrankungen, die ein Potential für langfristige Phasen haben, benötigen diese Thematisierung. Man kann nicht alles sofort erreichen. Bei Bulimie ist des Öfteren einen Perfektionismus dabei, den die Patienten|innen mitbringen. Sie haben den Anspruch, in der Therapie möglichst schnell und effizient zu sein. Wir versuchen den Patienten|innen zu vermitteln, dass es ein Prozess ist, der Zeit braucht und die allgemeine, persönliche Entwicklung betrifft. Wir ermutigen die Patienten|innen kleine Veränderungsschritte zu sehen und diese würdigen zu lernen −nichtnur das Endziel zu sehen und dann enttäuscht sein, weil dieses noch nicht erreicht wurde. Es sind die kleinen Schritte, die dann Stück für Stück zum Ziel führen.» Auch Sprenger schliesst sich an und findet, dass «die positive Sichtweise hilft. Die kleinen Schritte zu würdigen und zu schauen, was funktioniert bereits. Normalerweise ist es umgekehrt, also dass man auf das schaut, was noch fehlt bis zum Ziel.»

Gesundheit in Bezug auf Bulimie bedeutet für Robetin, dass «Patienten|innen in der Lage sind, ihr Leben gut und alleine zu meistern. […] die eigenen Vorstellungen verwirklicht werden können und Zukunftsperspektiven bestehen.» Wichtig ist bei einem Schritt in Richtung Therapie, dass Betroffene sich an fachkompetente Stellen wenden, die sich mit Bulimie auskennen. Nicca ergänzt: «Mit genügend gemeinsamer Zeit hat man die Chance, verschiedene Wege aus der Bulimie zu finden. Die Haltung dazu ist wichtig. So lange man die Haltung hat, in guter Begleitung zu bleiben, glaube ich, wird es sich auch positiv entwickeln.»

Alle vier Fachpersonen begrüssen jeden Menschen, der diese Unterstützung in Anspruch nehmen möchte. Sie betonen, dass im «Drei-Bein-System» des USZ eine Möglichkeit liege, mit kleinen, selbstbestimmten Schritten zu der persönlichen Freiheit der Strategiewahl zu gelangen. Wer tief in einer Bulimie stecke, der habe nicht die Freiheit zu wählen, ob er erbrechen will oder nicht. Dann ist die Krankheit übermächtig. Abschliessend ermutigt Sprenger: «Emotionen, die man spürt, können auch schön sein. Es lohnt sich an dieser Freiheit zu arbeiten, um das eigene Leben bewusst selbst bestimmen zu können. Wir begleiten im Dreier-Setting-Team gerne alle Patienten|innen auf diesem Weg, um Schritt für Schritt zu dieser Freiheit zu gelangen.»

Gesundheit

«Ich wollte gesund werden, als ich meine Therapie begann. Das war meine Intention zu diesem Schritt gewesen. In einer meiner ersten Sitzungen wurde ich dann gefragt, ob ich überhaupt gesund sein wolle. Erst viel später begriff ich, wie diese Frage den Kern meiner Bulimie berührt hatte. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt um jeden Preis gesund werden, doch nicht ohne meine Bulimie!

Es folgte eine lange Zeit der Veränderung meiner inneren Einstellungen zu meiner Essstörung und zu mir selbst. Immer wieder reflektieren, immer wieder verstehen, warum die Bulimie wieder aufgetaucht ist. Allein die Akzeptanz, dass ich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht besser wusste, wie ich mir anders helfen konnte, nahm viel Zeit in Anspruch. Irgendwann konnte ich Rückfälle als Vorfälle betrachten. Die Vorfälle wurden weniger. Ich hörte auf, gegen die Bulimie zu kämpfen. Ich lernte, sie als einen Anker bei emotionaler Überforderung zu verstehen. Ich suchte Strategien, um diesen Mechanismus zu ersetzen. Es funktionierte leider nicht per Knopfdruck, dass die Bulimie von einem Tag auf den anderen verschwand und ich sie nicht mehr brauchte. Es war ein Prozess mit viel Arbeit. Es gab Höhen und Tiefen und gefühlte Millionen Rückschläge. Ich war oft hoffnungslos und wollte aufgeben. Die Menschen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, halfen mir, den Mut nicht zu verlieren. Sie haben mich immer wieder in meinen Ressourcen bestärkt. Doch ohne meine innere Entscheidung für die Gesundheit, hätte die Hilfe nicht funktioniert. Ich musste den Weg nicht alleine gehen, aber die Arbeit in mir konnte mir niemand abnehmen. Schlussendlich war es meine Entscheidung, Ja zu mir selbst zu sagen und Selbstliebe zu erlernen.

Gesundheit bedeutet für mich nicht Symptomfreiheit. Gesundheit bedeutet für mich eine liebevolle Grundhaltung in der Selbstfürsorge. Ich glaube nicht, dass jeder Mensch eine Essstörung erleben muss, um diese Fürsorge für das eigene Selbst zu entwickeln. Ich bin aber davon überzeugt, dass in jeder Essstörung die Chance liegt, sich selbst lieben zu lernen. Von Herzen wünsche ich allen, die unter dem Leidensdruck einer Bulimie stehen, dass sie den Mut finden, an sich selbst zu glauben. Es liegt so viel mehr Kraft in uns, als dass wir denken (ehemalige Bulimie-Patientin des Universitätsspital Zürich, 2019).»

Abgrenzung zu anderen Essstörungen

Anorexia Nervosa kennzeichnet sich durch Untergewicht unterhalb einer Grenze von 18,5kg/m² und Verhaltensweisen, die zur Verhinderung der Zunahme an Gewicht führen. So zum Beispiel Essensverweigerung, Missbrauch von Abführmitteln und übermässiges Sporttreiben (World Health Organization, 2019, 6B80).

Binge Eating Disorder zeigt sich durch wiederkehrende Essanfälle, die für die Betroffenen unkontrollierbar erscheinen. Anders als bei der Bulimia Nervosa werden keine Gegenmassnahmen unternommen, um die aufgenommene Nahrung zu kompensieren (World Health Organization, 2019).


Zum Weiterlesen und -schauen

Frey, D. (2013). Kotzt du noch oder lebst du schon? Mein Leben mit Bulimie. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH.

Greenwald, R. (Produzent) & Shea, K. (Regisseurin). (2000). Sharing the secret [Spielfilm]. Santa Monica, CA: Columbia Broadcasting System.

Siefert, K. (2019). SoulFood Journey. Retrieved from https://www.soulfoodjourney.de

Den, der du schon immer warst

Von Julia Schmid

Ich habe es schon immer gewusst. Gewusst, dass du anders bist. Anders als die anderen Kinder aber vor allem anders als ich. Wurden darauf angesprochen von Lehrern, von Bekannten wie komplett verschieden wir doch sind, wie erstaunlich es ist, dass wir verwandt sind, wie unglaublich, dass wir 50 Prozent unserer Gene teilen. Keiner hat bemerkt, dass wir uns eigentlich für die gleichen Dinge interessieren, über dasselbe nachdenken, uns identische Fragen stellen. Keiner, weil deine Krankheit die Wahrheit überdeckt hat.

Du bekommst endlich die richtige Therapie, die richtigen Medikamente. Es macht mich so glücklich zu sehen, wie gut es dir nun geht, dass du dich entfalten kannst, kreativ, effektiv sein kannst. Zu wissen, wie ähnlich und trotzdem total verschieden wir doch sind. Es macht mich so glücklich, dass nun auch die anderen sehen können, was ich schon immer in dir gesehen habe. Denn ich habe es schon immer gewusst. Gewusst, was für ein toller Mensch du bist.

Ein unsichtbarer Begleiter

Was eine HIV-Infizierung mit sich bringt

Dank wichtiger medizinischer Fortschritte ist eine Ansteckung mit dem humanen Immundefizienz-Virus (Human Immunodeficiency Virus, HIV) für die meisten Menschen in Industrieländern heutzutage kein Todesurteil mehr. Trotzdem stellt ein positives HIV-Testergebnis und ein möglicherweise damit einhergehender Ausbruch der AIDS-Krankheit eine massive Lebensveränderung dar. In Angesicht der gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen müssen die Betroffenen viele Hürden überwinden.

Von Noémie Lushaj
Lektoriert von Aurelia Heilmann und Vera Meier
Illustriert von Gianna Zorzini

In der Schweiz leben circa 20‘000 Menschen mit HIV (BAG, 2018). Weltweit sind es 36.9 Millionen Individuen, die von der Virusinfektion betroffen sind (WHO, 2017). Um diese Pandemie zu beenden, ist nicht nur zusätzliche medizinische Forschung notwendig, sondern auch eine Zunahme an Akzeptanz und Unterstützung für die Betroffenen und ein weltweit verbesserter Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung.

Die HIV-Infizierung

Kommt eine Person in den direkten Kontakt mit HIV-infizierten Körperfluiden wie Blut, Sperma, rektal und vaginal Fluiden, sowie Muttermilch, droht eine Ansteckung mit dem Virus (CDC, 2018). Dabei sind die häufigsten Übertragungswege ungeschützter Geschlechtsverkehr und das Teilen von Nadeln und Spritzen mit Personen, die das Virus bereits in sich tragen (CDC, 2018). Andere Mechanismen der Virusweitergabe sind relativ selten.Diese inkludieren die Transmission zwischen Mutter und Kind und Verletzungen mit kontaminierten Objekten (CDC, 2018).Dass HIV durch Wasser, Luft, Speichel, Mücken, durch das Teilen von Toiletten, Essen oder Trinken übertragen wird, sind Mythen, die sich hartnäckig halten und aufgeklärt werden müssen (CDC, 2018).

Was im Körper passiert

Ist das Virus einmal in den Körper gedrungen, greift es das Immunsystem an: Die Anzahl an CD4+ T-Helfer-Lymphozyten wird reduziert (Wasmuth, 2010). Die Hauptaufgabe dieser Zellen besteht darin, Immunantworten auszulösen, sobald bestimmte Krankheitserreger im Körperinneren erkannt werden. Wird die HIV-Infektion nicht medikamentös behandelt, folgt das nächste Erkrankungsstadium: Das erworbene Immundefizienzsyndrom (Acquired Immune Deficiency Syndrome,AIDS) (Wasmuth, 2010). Da das Immunsystem in Zuge der AIDS-Erkrankung geschwächt ist, sind die Patienten|innen anfälliger für potenziell lebensbedrohliche opportunistische Krankheiten: Diese entstehen als Folge von Infektionen, die von der Schwäche des Immunsystems profitieren, um sich zu entwickeln (Wasmuth, 2010). Auch das Risiko, Krebserkrankungen zu entwickeln steigt aus demselben Grund (Wasmuth, 2010). Gezielte Behandlungen von opportunistischen Erkrankungen sowie eine Tritherapie (siehe nächster Abschnitt) können lebensrettend sein (Wasmuth, 2010).

Die Tritherapie als Rettung

Als die AIDS-Erkrankung in den 1980er Jahren erstmals ausbrach, galt ein positives HIV-Testergebnis als Todesurteil (Wang et al., 2015). Doch mit der Entwicklung der antiretroviralen Therapie (Antiretroviral Therapy, ART) im Jahr 1996 hat sich das Leben der Betroffenen radikal verändert (Wang et al., 2015). Mittels ART kann die Replikation von HIV in den CD4+ T-Helfer-Lymphozyten unterdrückt werden, was die Schwächung des Immunsystems verlangsamt (Trickey et al., 2017). Als Konsequenz ist die Lebenserwartung von Patienten|innen in Europa und Nordamerika zwischen 1996 und 2010 um zehn Jahre gestiegen (Trickey et al., 2017): Diese liegt mittlerweile nur noch circa zehn Jahre unter der Lebenserwartung gesunder Menschen. Auch ist die Lebensqualität von Patienten|innen in verschiedener Hinsicht deutlich besser geworden (Jin et al., 2014). Liegt die Infektion unter der viralen Schwelle, so ist beispielsweise das Übertragungsrisiko in serodiskordanten Partnerschaften, also in Partnerschaften, in denen nur ein|e Partner|in mit HIV infiziert ist, minimal (Loutfy et al., 2013). Auch ist es möglich, die Wahrscheinlichkeit von Mutter-Kind-Übertragungen unter ein Prozent zu senken. Dies unter der Bedingung, dass HIV-positive, schwangere Frauen entsprechend medikamentös behandelt werden, ihre Kinder durch einen Kaiserschnitt geboren werden, und die Mütter ihre Babys nicht stillen (ECS, 2005). Gegenwärtig werden 21.7 Millionen Patienten|innen, das sind 59 Prozent der global Betroffenen, medizinisch behandelt (WHO, 2017). Obwohl die gesundheitlichen Konsequenzen von AIDS heute sehr gut kontrolliert werden können und die Krankheit im Alltag somit beinahe unsichtbar ist, sind die psychosozialen Folgen nicht zu vernachlässigen.

«The prevalence of mental illnesses in HIV-infected individuals is substantially higher than in the general population. […] HIV/AIDS imposes a significant psychological burden.» WHO, 2008, S. 2

Stigma und Diskriminierung

Manche somatische und psychische Erkrankungen werden mehr stigmatisiert als andere. Dabei zählen Geschlechtskrankheiten wie AIDS zu den meist stigmatisierten Erkrankungen (Pettit, 2008). Diese Tatsache kann durch Schuldzuweisungen erklärt werden: Die Verantwortung für eine HIV-Infizierung wird den Betroffenen selbst zugeschrieben, was die Empathie ihnen gegenüber reduziert (McDonell, 1993).Überdies ist davon auszugehen, dass das Stigma eine adäquate Gesundheitsversorgung der Betroffenen verhindert, was schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann (Sartorius, 2007). Diskriminierungen bei der Arbeit aufgrund des HIV-Status scheinen ebenfalls weit verbreitet zu sein (Sprague, Simon, & Sprague, 2011). Um unfaire Behandlungen zu vermeiden, sollten Antidiskriminierungsmassnahmen weltweit implementiert werden, denn es gibt starke Evidenz dafür, dass diese gegen institutionelle Diskriminierung wirksam sind (Dubois-Arber & Haour-Knipe, 2001). Diskriminierungen, die von Individuen ausgehen, sind mittels solcher Massnahmen dagegen nicht so leicht aus der Welt zu schaffen (Dubois-Arber & Haour-Knipe, 2001).

Psychische Folgen – und Ursachen

HIV/AIDS und mentale Gesundheit sind eng miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig (WHO, 2008). Zum Beispiel erhöhen psychische Probleme wie Substanzabhängigkeitsstörungen das Risiko einer Infizierung mit dem Virus und erschweren die Krankheitsbehandlung (WHO, 2008). Überdies ziehen HIV/AIDS sowie die damit einhergehende Stigmatisierung und Diskriminierung psychische Folgen nach sich. In einem systematischen Review über die mentale Gesundheit von HIV-Patienten|innen in Afrika wurde gezeigt, dass etwa die Hälfte der Befragten an einer psychiatrischen Störung litten, wobei Depressionen am häufigsten waren (Brandt, 2009). Der HIV-Status konnte ebenfalls in Verbindung mit Angststörungen gebracht werden (Brandt et al., 2017). Auch kann eine HIV-Diagnose Suizidgedanken und -handlungen mit sich ziehen (WHO, 2008). Somit wird nicht nur die Ansteckungswahrscheinlichkeit durch psychische Faktoren beeinflusst, sondern HIV/AIDS kann auch gravierende Folgen für die mentale Gesundheit der Betroffenen haben und auf diesem Weg gar ihr Leben gefährden. Soziale Unterstützung, religiöses Coping oder wahrgenommener Stress beeinflussen unter anderem das psychische Wohlbefinden und die Krankheitsentwicklung der Patienten|innen und sollten bei der Krankheitsbehandlung berücksichtigt werden (Dalmida, Koenig, Holstad, & Wirani, 2013).

«Ending the AIDS epidemic will inspire broader global health and development efforts, demonstrating what can be achieved through global solidarity, evidence-based action and multisectoral partnerships.» UNAIDS, 2014, S. 1

Pandemie eliminieren: Global denken

Während die HIV-Pandemie durch die ART schon gebremst werden konnte, ist es das Endziel, die AIDS-Krankheit voll und ganz zu eliminieren. In diesem Zusammenhang verfolgt das Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (Joint United Nations Programme on HIV and AIDS, UNAIDS, 2014) das ambitiöse Ziel, die HIV-Pandemie bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts eingedämmt zu haben (siehe Kästchen «90-90-90»). Der Erfolg dieser Strategie basiert auf der Qualität des Zugangs zur erforderlichen Medikation in Entwicklungsländern: In der Tat sind die Versorgungslücken in vielen Weltregionen weiterhin sehr gross (UNAIDS, 2014). Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations International Children’s Emergency Fund, UNICEF) sowie das UNAIDS arbeiten zusammen «towards universal access»: Alle Patienten|innen sollen uneingeschränkten Zugang zu medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, sozialer Unterstützung und Präventionsprogrammen haben (WHO, 2007). Dabei wird insbesondere der Prävention grosse Bedeutung zugeschrieben (siehe Kästchen «Vorbeugen ist besser als heilen»).

Vorbeugen ist besser als heilen
Durch sogenannte safer sex practices, wie der Verwendung von Kondomen, kann das HIV-Ansteckungsrisiko deutlich vermindert werden (Davis & Weller, 1999). Für Risikogruppen, wie zum Beispiel homosexuelle Männer, Partner|innen von HIV-positiven Menschen, injizierende Drogenkonsumenten|innen, und Sexarbeiter|innen, ist die Einnahme von HIV-Präexpositionsprophylaxe (Pre-Exposure Prophylaxis, PrEP) eine mögliche Lösung: PrEP reduziert vorbeugend das Risiko einer HIV-Infizierung mittels Medikamenten (AWMF, 2018). HIV-Bildungsprogramme machen unterschiedliche Gruppen auf bestehende Angebote und auf die Wirksamkeit von Verhaltensänderungen aufmerksam (Kirby, Laris, & Rolleri, 2007).

90-90-90
Im Jahr 2020 sollten…
… 90% der HIV-infizierten Menschen ihren Status kennen.
… 90% der Personen, die eine HIV Diagnose haben, mit ART behandelt werden.
… 90% der behandelten Patienten|innen eine nicht mehr detektierbare Virusbelastung aufweisen.
Sollten diese Ziele 2020 tatsächlich erreicht werden, so wären laut UNAIDS (2014) bei 73 Prozent der HIV-positiven Patienten|innen weltweit die krankheitserregenden Viren unterdrückt und es wäre möglich, die HIV/AIDS-Pandemie bis 2030 zu beenden.


Zum Weiterlesen

Brandt, R. (2009). The mental health of people living with HIV/AIDS in Africa: A systematic review. African Journal of AIDS Research, 8(2), 123-133. doi: 10.2989/ AJAR.2009.8.2.1.853

Brandt, C., Zvolensky, M. J., Woods, S. P., Gonzalez, A., Safren, S. A., & O’Cleirigh, C. M. (2017). Anxiety symptoms and disorders among adults living with HIV and AIDS: A critical review and integrative synthesis of the empirical literature. Clinical Psychology Review, 51, 164-184. doi: 10.1016/j.cpr.2016.11.005.

World Health Organization (WHO). (2008). HIV/AIDS and mental health. Abgerufen am 01. Februar 2019 von http://apps.who.int/gb/archive/pdf_files/EB124/B124_6-en.pdf

Literatur

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). (2018). Deutsch-Österreichische Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe (AWMF Register Nr. 055-008). Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1/deutsch-oesterreichische-leitlinien-zur-hiv-praeexpositionsprophylaxe

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Wenn ich rot sehe, wird mir schwarz

Entstehung und Wirkmechanismen der Blut-Spritzen-Verletzungsphobie

Ich versuchte dagegen anzukämpfen. Bilder und Stimmen auszublenden. Doch die Hitze stieg in mir empor, liess mich schneller atmen. Mein ganzer Körper kribbelte. Meine Hände waren taub. Übelkeit und Schwindel wurden stärker. Benommen versuchte ich mich abzulenken. Schaute angestrengt aus dem Fenster, doch der Pausenplatz verschwamm. Verschwamm zu tiefem Schwarz.

Von Julia Schmid
Lektoriert von Loriana Medici und Marie Reinecke
Illustriert von Daniel Skoda und Gianna Zorzini

Wenn ich mich in einer Situation wiederfinde, in der ich wohl oder übel von meiner Phobie erzählen muss, stosse ich nicht immer auf Verständnis. Manchmal erhalte ich ein belächelndes «Ach, wie süss», oder die typische «Ich-finde-Blut-auch-nichts-Schönes-Reaktion». Bei letzterer muss ich immer an Spinnen denken, daran, dass ich diese auch nicht für schöne Tier halte, aber trotzdem nicht kreischend aus dem Zimmer renne, behalte meine Gedanken aber für mich und antworte mit einem knappen «Ja, kann ich verstehen», denn das tue ich wirklich.

Wie bei jeder Phobie ist also das Ausmass der Angst, die Intensität und der Leidensdruck entscheidend (Becker, 2011). Als Kind wurde mir relativ schnell klar, dass mein Empfinden bei blutigen Geschichten und Arztbesuchen nicht ganz der Norm entsprach. Es gab viele kleine Anzeichen wie Schwindel bei kleinen Schnittwunden oder Weinanfälle vor einer anstehenden Impfung. Diese Vorboten mündeten darin, dass meine Familie das Wort «Blut» in meiner Anwesenheit nicht mehr benutzen durfte. Sie wollten es durch «Tomate» ersetzen, doch die Assoziation von Tomate zu Rot zu Blut war mir zu eng. So war bei uns zu Hause monatelang nur noch von «Salat» die Rede. Aber auch diese Massnahme änderte nichts daran, dass ich sobald ein entsprechendes Thema angeschnitten wurde, sicherheitshalber den Raum verliess.

Auch bei Gesunden ziehen Blut und Verletzungen automatisch selektive Aufmerksamkeit auf sich und werden bevorzugt vom visuellen System verarbeitet. Als Grund dafür wird die Handlungsrelevanz solcher Reize genannt (Schäfer, Nils, Sanchez, & Philippot, 2010). Verletzungen lösen bei vielen Menschen ein ungutes Gefühl aus. Bei Betroffenen einer Blut-Spritzen-Verletzungsphobie (BSV-Phobie) ist die Angst aber so stark, dass sie, wie an dem genannten Beispiel ersichtlich, ein Vermeidungsverhalten mit sich zieht. Diese Vermeidung kann zu negativen gesundheitlichen Folgen führen, da zum Beispiel notwendige Vorsorgemassnahmen nicht eingehalten werden (Schienle & Leutgeb, 2012).

Nach DSM-V und ICD-10 wird die BSV-Phobie zu den Spezifischen Phobien gezählt. Charakteristisch für diese Klasse ist die intensive, schwer kontrollierbare, anhaltende Angst vor einem spezifischen Reiz oder einer spezifischen Situation. Im Falle der BSV-Phobie richtet sich die Angst gegen den Anblick von Blut und Verletzungen, Spritzen, Blutabnahmen, Krankenhäusern und medizinischen Eingriffen (Schienle & Leutgeb, 2012). Oft empfinden Betroffene bereits Schilderungen der genannten Situationen als unerträglich. Die Befürchtungen schliessen die Angst vor einer Ohnmacht, Schmerzen, Behandlungsfehlern oder davor sich zu verletzen mit ein (Schienle & Leutgeb, 2014). Diese Angst führt, obwohl sie von erwachsenen Betroffenen als übertrieben erkannt wird, neben dem bereits genannten Vermeidungsverhalten zu grossem Leid und Einschränkungen im täglichen Leben. Zum Beispiel werden Tätigkeiten mit Verletzungsrisiko gemieden, da eine Ersthilfe bei sich selbst oder anderen unmöglich wäre (Schienle & Leutgeb, 2012). 

Wenn es plötzlich Schwarz wird

Es gab mehre Situationen, in denen ich spürte, dass es bald so weit sein würde. Bald würde ich bewusstlos werden. Die klaren Anzeichen veranlassten mich dazu gegenzusteuern, mich abzulenken. Diese Vorboten einer Ohnmacht (Präsynkope) und die Ohnmacht selbst (vasovagale Synkope) gelten als Besonderheiten der BSV-Phobie und grenzen sie von allen anderen spezifischen Phobien ab. Die Präsynkope, zu der unter anderem Schwindel, Wärmegefühl, Übelkeit und Hyperventilation zählen, führt aber nicht in jedem Fall zu einer Ohnmacht. Dennoch haben 75 Prozent der Betroffenen eine Synkope erlebt. Bei den restlichen spezifischen Phobien liegt die entsprechende Zahl unter einem Prozent.

Erklärt wird die Bewusstlosigkeit durch eine diphasische Reaktion, wobei anzumerken ist, dass die grundlegenden Mechanismen noch nicht vollständig geklärt sind. Wie bei den restlichen spezifischen Phobien führt die phobische Situation zu erhöhtem Blutdruck und Herzfrequenz (Tachykardie). Diese Reaktion wird typischerweise bei einer angstauslösenden Situation erwartet. Der Sympathikus wird aktiviert und bereitet auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion vor. Bei der BSV-Phobie hält die Sympathikusaktivierung jedoch nur wenige Sekunden an. Es folgt ein schnelles Absinken der Herzrate (Bradykardie) und des Blutdrucks (Hypotension) aufgrund einer Gefässerweiterung. Dies führt zu einer drohenden Minderdurchblutung des Gehirns. Der Verlust des Bewusstseins tritt als Selbstschutzmechanismus ein, durch den der Körper in eine waagrechte Position gerät, was den Blutfluss zum Gehirn verbessert. Die Ohnmacht hält meist nur wenige Sekunden an und führt zu Erschöpfung. Das Gesundheitsrisiko ist jedoch, abgesehen von der Verletzungsgefahr bei einem ohnmachtsbedingten Sturz, gering.

Bei der Konfrontation mit dem phobischen Reiz kommt es zu einer Ohnmachtsspirale. Darunter versteht man die gegenseitige Verstärkung negativer Gedanken und körperlicher Symptome (Schienle & Leutgeb, 2014). Die aufgetretenen körperlichen Symptome gehen der Angstentwicklung voraus, werden wahrgenommen und negativ bewertet, was zu ihrer Verstärkung führt und mit zunehmenden negativen Gedanken einher geht (Kleinknecht & Lenz, 1989). Manche Betroffene beginnen in diesen Situationen zu hyperventilieren, was den Vorgang verstärkt (Schienle & Leutgeb, 2014).

«Negative Erlebnisse sind für die Entstehung der Störung relevant.» Schienle & Leutgeb, 2012

Zusätzlich führt die Möglichkeit einer Ohnmacht zur Angst vor der Ohnmacht selbst und davor sich zu verletzen oder zu blamieren (Schienle & Leutgeb, 2014). Anhand vergangener Ohnmachtsepisoden und erwarteter weiterer Episoden kann das Vermeidungsverhalten vorausgesagt werden (Kleinknecht & Lenz, 1989).

Als ohnmachtsrelevante Situationen werden von Betroffenen Antizipation, Betrachten, Hören oder Lesen störungsrelevanter Reize genannt. Dies zeigt, dass die Ohnmacht häufig bei indirektem Kontakt zum phobischen Reiz oder bei entfernter Bedrohung eintritt. Somit sind emotionale Stressoren relevant (Schienle & Leutgeb, 2014).

Auf der Suche nach Antworten

Ich wollte schon immer die Gründe dafür kennen, warum ich auf Blut anders reagiere. Heute kenne ich mehrere Theorien und weiss, dass ich mit dieser Phobie nicht alleine bin. Die Punktprävalenz beträgt etwa drei Prozent, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer (Schienle & Leutgeb, 2014). Bei der BSV-Phobie handelt es sich um eine chronische Erkrankung. Meist beginnt sie in der Kindheit mit etwa zehn Jahren (Schienle & Leutgeb, 2014). Bei 45 Prozent der Betroffen gehen der Phobie negative Erfahrungen voraus («Universität Köln», n.d.). Zusätzlich kann von einer familiären Häufung der Ekel- und Ohnmachtsneigung, genereller Ängstlichkeit und der Phobie selbst ausgegangen werden. Dies spricht einerseits für einen Einfluss der Genetik, anderseits zeigt es auch, dass das Vorleben der Eltern einen Einfluss auf die Einstellung der Kinder hat. So übernehmen sie zum Beispiel die Vorbehalte der Eltern gegenüber Arztbesuchen (Schienle & Leutgeb, 2014). Eigene negative Erfahrung hat sich aber als relevanter erwiesen (Kendler et al., 2008). Laut einem weiteren lerntheoretischen Ansatz handelt es sich bei den Befürchtungen der BSV-Phobie um entwicklungsgebundene Ängste, die bei Kindern zwischen fünf und sieben Jahren auftreten. Solche Ängste sind normal und verschwinden von alleine wieder. Werden sie jedoch nicht überwunden, kann eine Phobie entstehen (Schienle & Leutgeb, 2014).

Wie bereits angedeutet, spielt neben dem Angstempfinden auch das Ekelempfinden eine entscheidende Rolle. Oswald und Reinecker (2004) konnten zeigen, dass nur bei der BSV-Phobie spezifisches Ekelempfinden vorliegt. Betroffene berichten meist von gleich stark ausgeprägtem Angst- und Ekelempfinden. Dies könnte die Ohnmachtsreaktion erklären, denn im Gegenteil zur Angst geht Ekel mit einem Absinken der Herzrate und des Blutdrucks einher (Schienle & Leutgeb, 2014). Laut Page (1994) kann die Ohnmacht mit einer extremen Ekelreaktion gleichgesetzt werden.

Weiter zeigen Betroffene eine erhöhte Aufmerksamkeit beim Anblick störungsrelevanter Reize (Schienle et al., 2003). Gleichzeitig liegt eine präfrontale Hypoaktivität vor, was ihr Defizit in der Emotionskontrolle erklären könnte (Hermann et al., 2007). Eine neuere Studie deutet auf einen spezifischen Verarbeitungsstil hin, der aus früher selektiver Enkodierung und später kognitiven Vermeidung besteht (Sarlo, Buodo, Devigili, Munafo, &Palomba,2011).

«Reduktion des systolischen Blutdrucks und Hyperventilation sind Merkmale der BSV-Phobie.» Schienle & Leutgeb, 2012

Meine hartnäckige Begleiterin

Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass meine Phobie, wie bei vielen Betroffenen, mit einer negativen Erfahrung in der Kindheit zusammenhängt. Die Frage, warum die Symptome danach nicht wieder verschwunden sind, bleibt bestehen. Nach mehreren aversiven Erfahrungen gehen Menschen dem auslösenden Reiz aus dem Weg, weshalb keine positive Lernerfahrung mehr stattfinden kann. Wird die Situation vermieden, bleibt die Angst aus, was das Gefühl auslöst, das Richtige getan zu haben. Dies führt zur Verstärkung des Vermeidungsverhaltens und verfestigt die Annahme, dass die Situation wirklich gefährlich war. Vermeidungsverhalten führt somit neben der Aufrechterhaltung der Störung sogar zu deren Verstärkung (Schienle & Leutgeb, 2014). Als weitere aufrechterhaltende Faktoren gelten wenig einfühlsamer Umgang mit den Betroffenen und Kontrollverlust beim Ohnmachtserleben (Schienle & Leutgeb, 2012). Dazu kommt, dass viele Betroffene aus Scham oder Angst vor Zurückweisung erst spät oder gar keine Hilfe suchen (Schienle & Leutgeb, 2014).

Opfer der Evolution

Auf der Suche nach Antworten erschien es mir wichtig einen weiteren Schritt zurückzugehen. Angst und ihre körperlichen Symptome sind biologisch sinnvolle Schutzreaktionen. Ihre Aversion verhindert, dass sich Menschen in gefährliche Situation begeben. Zusätzlich bereiten sie eine Kampf- oder Fluchtreaktion vor (Schienle & Leutgeb, 2014). Ist eine Flucht jedoch nicht mehr möglich oder zweckmässig, kann es zu einer Ohnmacht kommen. In der Entstehungsgeschichte hatte dies einen Überlebensvorteil. Stilles Liegen bei einer Verletzung wirkt dem Blutverlust entgegen und fördert die Blutgerinnung (Schienle & Leutgeb, 2014). Kardiovaskuläre Studien konnten jedoch zeigen, dass sich Ohnmacht erst nach Verlust von ca. 30 Prozent des Blutvolumens einstellt, was gegen diese Theorie spricht (Schienle & Leutgeb, 2012).

Ein weiterer Ansatz nennt die BSV-Phobie als Überbleibsel des Totstellreflexes. Das stille Liegen führt dazu, dass der Angreifer das Interesse an seiner Beute verliert.

Auch das Erleben von Ekel ist biologisch sinnvoll. So schützt er beispielsweise vor übertragbaren Krankheiten. Dafür spricht das Ekelprinzip, nach welchem alles was dem ursprünglichen Ekelreiz ähnelt, abgelehnt wird (zum Beispiel Tomatensuppe). Dementsprechend könnte es sich bei der BSV-Phobie um eine übersteigerte und nicht mehr adaptive Reaktion handeln (Schienle & Leutgeb, 2014). Die «Ich-finde-Blut-auch-nichts-Schönes-Reaktion» hingegen ist aus evolutionärer Sicht völlig normal.

Blinzelnd öffnete ich die Augen. Erkannte den grauen Schulhausgang. Ich hatte keine Ahnung wie ich hierhergekommen war. Nur die ekligen Bilder schwirrten in meinem dröhnenden Kopf. Erneut wollte ich sie verdrängen. «Denk an etwas Schönes», sagte ich zu mir selbst, versuchte tief durchzuatmen und schaute ich mich verwirrt um. Erst da bemerkte ich, dass mein Lehrer und meine Banknachbarin über mich geneigt, besorgt auf mich herunterschauten. «Wie geht es dir, ich hole dir Wasser», stotterte mein Biolehrer, sichtlich mit der Situation überfordert und marschierte zurück ins Schulzimmer. 

Nach diesem Vorfall wurde ich von jeglichen Sezieraktionen suspendiert und bei blutigen Videos vorgewarnt. Für meine Klasse war dies das Ereignis des Jahres. Immer wieder wurde ich auf meine damalige Blässe angesprochen und noch Monate danach wurden Szenen des Films, den wirdamals geschaut hatten, nachgespielt. Heute weiss ich, welche dieser Geschehnisse förderlich und welche wohl doch eher hinderlich waren auf meinem Weg zu einem Phobie-freien Leben.


Zum Weiterlesen

Schienle, A., & Leutgeb, V. (2012). Fortschritte der Psychotherapie: Band 50. Blut-Spritzen-Verletzungsphobie. Göttingen: Hogrefe

Schienle, A., & Leutgeb, V. (2014). Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie: Band 29. Angst vor Blut und Spritzen. Göttingen: Hogrefe

Literatur

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Hermann, A., Schäfer, A., Walter, B., Stark, R., Vaitl, D., & Schienle, A. (2007). Diminished medial prefrontal cortex activity in blood-injection-injury phobia. Biological Psychology. 75(2), 124-130. doi:10.1016/j.biopsycho.2007.01.002

Hochschulambulanz für Psychotherapie an der Universität zu Köln. (n.d.).Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobie: Ursachen. Retrieved from http://blog.hf.uni-koeln.de/angstambulanz/blut-verletzungs-und-spritzenphobie-ursachen/

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Kleinknecht, R. A., & Lenz, J. (1989). Blood/injury fear, fainting and avoidance of medically-related situations: A family correspondence study.Behaviour Research and Therapy27(5), 537-547. doi:10.1016/0005-7967(89)90088-0

Osswald, S., & Reinecker, H. (2004). Der Zusammenhang von Ekel und Ekelempfindlichkeit mit Spinnen-und Blut-Spritzen-Verletzungsängsten. Verhaltenstherapie. 14(1), 23-33.doi:10.1159/000078028

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Sarlo, M., Buodo, G., Devigili, A., Munafo, M., & Palomba, D.(2011). Emotional sensitization highlights the attentional bias in blood-injection-injury phobics: An ERP study. Neuroscience Letters. 490(1). 11-15.doi:10.1016/j.neulet.2010.12.016

Schäfer, A., Nils, F., Sanchez, X., & Philippot, P. (2010). The effectiveness of a large database of emotion-eliciting films: A new tool for emotion researchers. Cognition and Emotion. 24(7), 1152-1172.doi:10.1080/02699930903274322

Schienle, A., Schäfer. A., Stark, A., Walter, B., Kirsch, P., & Vaitl, D. (2003). Disgust Processing in Phobia of Blood-Injection-Injury. Journal of Psychophysiology 17(1), 87-93.doi:10.1027/0269-8803.17.2.87

Schienle, A., & Leutgeb, V. (2012). Fortschritte der Psychotherapie: Band 50. Blut-Spritzen-Verletzungsphobie.Göttingen: Hogrefe

Schienle, A., & Leutgeb, V. (2014). Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie: Band 29. Angst vor Blut und Spritzen.Göttingen: Hogrefe

Stigmatisierung

Auswirkungen von Stigmata auf Kinder und Erwachsene mit Depressionen und ADHS 

Depressionen und ADHS gehören zu den in der Kindheit am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Obwohl ADHS oft als reine Kinderkrankheit angesehen wird, bleiben beide Störungen oft über die Kindheit hinaus bestehen. Beide werden stark stigmatisiert, was sich erheblich auf Betroffene auswirkt.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Sarah Ihn und Lisa Makowski
Illustriert von Kerry Willimann

Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind die beiden meistdiagnostizierten emotionalen und verhaltensbezogenen Störungen im Kindesalter. Sie werden zudem extrem stigmatisiert, wobei sich gängige Stereotypen auf Gefährlichkeit, Inkompetenz und Störverhalten beziehen (Mukolo, Heflinger, & Wallston, 2010). In Übereinstimmung damit nehmen Jugendliche depressive Peers als gefährlicher wahr (Walker, Coleman, Lee, Squire, & Friesen, 2008). Vergleichsweise werden Peers mit ADHS als Faulenzer gesehen und als anfälliger dafür, in Schwierigkeiten zu geraten (Wiener et al., 2012). Zwar werden lebenslange Störungen wie ADHS im Allgemeinen eher stigmatisiert als temporäre, jedoch zeigt sich bei Depressionen eine stärkere Stigmatisierung als bei ADHS (Walker et al., 2008).

Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen

In einer Studie, in der die Ansichten von Kindern bezüglich Ursachen von Depressionen und ADHS untersucht wurden, waren 25-33 Prozent der teilnehmenden Kinder der Meinung, dass «sich nicht genug anstrengen» eine Ursache für eine kindliche Störungen sei (Coleman, Walker, Lee, Friesen, & Squire, 2009).

«[…] for a child with depression or ADHD, at least one in four peers believes the child is to blame for the condition.» Coleman et al., 2009

Da störendes Verhalten von Kindern generell weniger toleriert wird als das von Erwachsenen, ist es leider keine Überraschung, dass Depressionen bei Kindern negativer bewertet werden als Depressionen bei Erwachsenen, wobei jüngere Kinder einer stärkeren Stigmatisierung ausgesetzt sind als ältere Kinder (Walker et al., 2008; Mukolo et al., 2010).

ADHS-Symptome werden von Erwachsenen vielfach grundsätzlich stigmatisiert. Zusätzlich gibt es eine generelle Skepsis gegenüber ADHS-Medikamenten, basierend auf der Behauptung, dass die Erkrankung überdiagnostiziert werde (Wiener et al., 2012). Typische Argumente von Skeptikern beinhalten, dass ADHS eine Folge schlechter Erziehung oder zu vielen Videospielen sei, oder gänzlich von der Pharmaindustrie erfunden wurde (Masuch, Bea, Alm, Deibler, & Sobanski, 2018). Darüber hinaus werden die Symptome von ADHS-Kindern oft fälschlicherweise als kontrollierbar angesehen, was bei Eltern, Lehrern und Peers Wut und Frustration auslösen kann. Dies kann wiederum zu Strafreaktionen von Lehrern führen, die glauben, dass das Verhalten an Klassenzimmerstandards angepasst werden könnte (Wiener et al., 2012). Vielen Lehrern fehlen akkurate Informationen über die Vielfalt von ADHS-Symptomen, da sie sich auf das Fernsehen, Zeitschriften oder Freunde und Verwandte als primäre Wissensquellen über die Störung verlassen (Bell, Long, Garvan, & Bussing, 2010).

Insgesamt werden psychische Störungen bei Kindern gleichermassen gnadenlos stigmatisiert wie bei Erwachsenen. Dies zeigt sich in negativen Reaktionen der Gesellschaft wie etwa vermehrten strafenden Reaktionen von Erwachsenen gegenüber Kindern mit psychischen Erkrankungen. Nicht selten wird die Familie für die Probleme des Kindes verantwortlich gemacht, und aussenstehende Erwachsene beschreiben eine Präferenz für soziale Distanz zum Kind und seiner Familie sowie eine Vorliebe für striktere Behandlungsmethoden, einschliesslich der Behandlung in restriktiven Settings, wie beispielsweise stationäre Therapien (Mukolo et al., 2010).

Direkte Folgen von Stigmatisierung

Laut Wiener et al. (2012) fühlen sich Kinder mit ADHS aufgrund ihres Verhaltens oft anders behandelt. Sie spüren die mit ihrer Diagnose verbundenen Stigmata und schämen sich – ein Gefühl, das ihre Eltern oft teilen. Negative elterliche Reaktionen auf Depressionen und ADHS können sich nachteilig auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken (Mukolo et al., 2010). Die von Betroffenen wahrgenommene Stigmatisierung ist mit geringerem Selbstwertgefühl und höherem Risiko für soziale Ablehnung verbunden (Wiener et al., 2012). Wichtiger noch, Kinder verinnerlichen bereitwillig negative Auffassungen anderer und haben daher eher stigmatisierende Ansichten bezüglich ihres eigenen psychischen Zustandes – ein Umstand, dem sich Therapeuten und Angehörige bewusst sein sollten (Coleman, 2009). Der Zusammenhang von internalisierten Stigmata und niedrigerem Selbstwert bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen (Masuch et al., 2018).

Stigmatisierung per Assoziation und Behandlungszugang

Obwohl Depression die häufigste emotionale Störung in der Kindheit ist, bleiben 75 Prozent der jugendlichen Betroffenen undiagnostiziert. Darüber hinaus werden nur 70 Prozent der mit Depressionen und 50 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Kinder tatsächlich therapeutisch unterstützt (Pescosolido et al., 2008). Dies ist zum Teil auf die starke Stigmatisierung der beiden Störungsbilder zurückzuführen, welche sich massgeblich darauf auswirkt, wie die Eltern auf kindliche Probleme reagieren. Dies beeinflusst sowohl den Zugang des Kindes zu psychologischen Hilfsangeboten, sowie deren Inanspruchnahme (Mukolo et al., 2010). Kinder sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, um professionelle Unterstützung zu erhalten, was zu verschiedenen Problemen führen kann (Mukolo et al., 2010). Zum einen erleben Familienmitglieder eines Kindes mit einer psychischen Erkrankung oft eine Stigmatisierung per Assoziation (Wiener et al., 2012). Dies führt dazu, dass Eltern sich sorgen, für die Probleme ihres Kindes verantwortlich gemacht zu werden, sollten Menschen in ihrem sozialen Umfeld herausfinden, dass ihr Kind psychologische Hilfe benötigt. Des Weiteren äussern Eltern Besorgnis darüber, marginalisiert zu werden, falls die Diagnose ihres Kindes publik würde. Darüber hinaus unterliegen auch Psychotherapeuten selbst einer Stigmatisierung, was ein weiteres Hindernis für die Inanspruchnahme psychologischer Dienste darstellt (Mukolo et al., 2010).

Ein- und Aufrechterhaltung der Behandlung

Wissensmangel, Misstrauen und uninformierte Urteile begünstigen Stigmatisierung und machen damit die (Un-)Fähigkeit der Gesellschaft, psychische Erkrankungen zu erkennen und verstehen, zu einer Determinante für die Entstehung von Stigmata. Dementsprechend ist die Fähigkeit zur Symptomerkennung der Eltern und deren Wissen über Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung ob professionelle Hilfe gesucht wird oder nicht (Pescosolido et al., 2008). Bedauerlicherweise kann die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern auch nach dem Überwinden all dieser Hindernisse von Stigmata beeinträchtigt werden. So werden z.B. Zielsetzungen und Methoden, die nicht mit elterlichen Überzeugungen übereinstimmen, behindert oder gänzlich abgelehnt. Infolgedessen stellt die Beteiligung der Familie für Therapeuten oft eine Herausforderung dar (Pescosolido et al., 2008).

Ein besonders stigmatisierter Aspekt der Therapie sind Psychopharmaka. Jugendliche mit einer psychiatrischen Diagnose schämen sich oft für ihren Zustand und den daraus resultierenden Medikationsbedarf. Sie tendieren dazu, sowohl ihre Diagnose als auch ihren Medikamentengebrauch geheim zu halten, was zu einer Reduktion von Interaktionen mit Peers führen kann, denen sie nicht vollständig vertrauen (Kranke, Floersch, Townsend, & Munson, 2010).

Spezifische Stigmata gegen ADHS bei Erwachsenen

Während die Validität von ADHS als psychische Störung im Allgemeinen bezweifelt wird, sind Erwachsene mit ADHS mit besonders ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert, da ADHS allgemein als Störung des Kindesalters gilt. Da ADHS angeblich «bei Erwachsenen nicht existiert», wird ihnen häufig vorgeworfen ihre Symptome zu fingieren, um an Stimulanzien zu gelangen (Masuch et al., 2018). Während viele Stereotypen aus dem Kindesalter bestehen bleiben, beinhalten die Attributionsüberzeugungen über ADHS bei Erwachsenen zusätzlich auch Drogenmissbrauch als vermeintliche Ursache für die Störung (Masuch et al., 2018).

Hürden bei der Hilfesuche für Erwachsene

Während Diskriminierung am häufigsten im Arbeits- und Bildungskontext antizipiert wird, befürchten viele Erwachsene mit ADHS auch, von medizinischen Fachkräften diskriminiert zu werden (Masuch et al., 2018). Die aktive Verleugnung von ADHS bei Erwachsenen durch bestimmte Ärzte verstärkt diese Angst und könnte eine mögliche Erklärung für den signifikanten Unterschied zwischen administrativer und epidemiologischer Prävalenz von ADHS sein (Masuch et al., 2018).

Bei erwachsenen Patienten mit Depression sind Selbststigmata ein wichtiger Faktor für die Suche nach psychologischer Hilfe (Barney, Griffiths, Jorm, & Christensen, 2006). Schamgefühle wegen der Einholung professioneller Hilfe sowie erwartete negative Reaktionen aus dem Umfeld sind bei depressiven Patienten weit verbreitet und können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, mit der um professionelle Unterstützung gebeten wird (Barney et al., 2006). Wahrgenommene Stigmatisierung zu Beginn der Therapie hängt signifikant mit dem späteren Behandlungsverhalten der Patienten zusammen (Sirey et al., 2001).

Ein Stigma kann definiert werden als die Ansicht, dass eine bestimmte Abweichung von der Norm bezüglich physikalischer Eigenschaften, Verhalten oder Charakter unerwünscht ist und ein negatives Gesamtergebnis darstellt. Es kann unterschieden werden zwischen öffentlichem Stigma, das sich in der Regel durch Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ausdrückt, und Selbststigmatisierung, die auftritt, wenn das stigmatisierte Individuum beginnt, diese verzerrten Ansichten zu akzeptieren. Öffentliche Stigmata variiert je nach Art der psychischen Störung, bleiben aber auch dann bestehen, wenn bekannt ist, dass eine Behandlung wirksam oder unnötig ist.


Zum Weiterlesen

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry49(2), 92–103. doi:10.1016/j.iaac.2009.10.011

Bowers, E. (2012, August 15). Countering the Social Stigma of Depression [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.everydayhealth.com/hs/major-depression/facing-social-stigma-of-depression/

Tartakovsky, M. (2018, July 8). Breaking the Silence of ADHD Stigma [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://psychcentral.com/blog/breaking-the-silence-of-adhd-stigma/

Literatur

Barney, L. J., Griffiths, K. M., Jorm, A. F., & Christensen, H. (2006). Stigma about depression and its impact on help-seeking intentions. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry40(1), 51–54. doi: 10.1080/j.1440-1614.2006.01741.x

Bell, L., Long, S., Garvan, C., & Bussing, R. (2010). The impact of teacher credentials on ADHD stigma perceptions. Psychology in the Schools48(2), 184–197. doi: 10.1002/pits.20536

Coleman, D., Walker, J. S., Lee, J., Friesen, B. J., & Squire, P. N. (2009). Children’s beliefs about causes of childhood depression and ADHD: A study of stigmatization. Psychiatric Services60(7), 950–957. doi: 10.1176/ps.2009.60.7.950

Kranke, D., Floersch, J., Townsend, L., & Munson, M. (2010). Stigma experience among adolescents taking psychiatric medication. Children and Youth Services Review32(4), 496–505. doi: https://doi.org/10.1016/j.childyouth.2009.11.002

Masuch, T. V., Bea, M., Alm, B., Deibler, P., & Sobanski, E. (2018). Internalized stigma, anticipated discrimination and perceived public stigma in adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders. doi: 10.1007/s12402-018-0274-9

Moses, T. (2010). Being treated differently: Stigma experiences with family, peers, and school staff among adolescents with mental health disorders.Social Science & Medicine70(7), 985–993. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.12.022

Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,49(2), 92–103. doi: https://doi.org/10.1016/j.jaac.2009.10.011

Pescosolido, B. A., Jensen, P. S., Martin, J. K., Perry, B. L., Olafsdottir, S., & Fettes, D. (2008). Public knowledge and assessment of child mental health problems: Findings from the national stigma study-children.Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry47(3), 339–349. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318160e3a0

Sirey, J. A., Bruce, M. L., Alexopoulos, G. S., Perlick, D. A., Raue, P., Friedman, S. J., & Meyers, B. S. (2001). Perceived stigma as a predictor of treatment discontinuation in young and older outpatients with depression. American Journal of Psychiatry158(3), 479–481. doi: 10.1176/appi.ajp.158.3.479

Walker, J. S., Coleman, D., Lee, J., Squire, P. N., & Friesen, B. J. (2008). Children’s stigmatization of childhood depression and ADHD: Magnitude and demographic variation in a national sample. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,47(8), 912–920. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318179961a

Wiener, J., Malone, M., Varma, A., Markel, C., Biondic, D., Tannock, R., & Humphries, T. (2012). Childrens perceptions of their ADHD symptoms. Canadian Journal of School Psychology27(3), 217–242. doi: 10. 1177/0829573512451972

Mein Handy weiss, wie es mir geht

Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps für die individuelle Gesundheit

Die Digitalisierung verändert sämtliche Bereiche unseres Lebens in rasanter Geschwindigkeit.
Auch das Gesundheitswesen befindet sich in einer Revolution (Jörg, 2018). Wie hat es sich bisher entwickelt und welche Rolle spielen dabei die beliebten Gesundheits-Apps?

Von Julia Schmid
Lektoriert von Cynthia Jucker und Marcia Arbenz
Illustriert von Kerry Willimann

2015 informierten sich 60 Prozent der Deutschen im Internet über verschiedene Gesundheitsaspekte (Erdogan, 2016). Messungen aus dem Jahre 2017 zeigen, dass mehr als die Hälfte der befragten Personen mindestens einmal pro Monat das Internet bei Gesundheitsfragen konsultierte (Bertelsmann Stiftung, 2018). Dank dem riesigen Angebot an Gesundheit-Apps – über 325’000, mit steigender Tendenz («Research2Guidance», 2017) – kann man sich nicht nur informieren, sondern auch die eigenen Daten erfassen. Dieses Angebot wird laut Albrecht (2018) von jeder dritten Versuchsperson genutzt.

In diesem Text wird nur auf Apps eingegangen, die von gesunden Personen im Sinne einer Lifestyleoptimierung angewendet werden. Diese beziehen sich auf Bereiche wie Fitness, Wellness, Schlaf, Ernährung oder Verhütung (Jörg, 2018). Sie erfassen Körper- und Fitnessdaten anhand von Sensoren (z. B. in Fitnessarmbändern oder Smartwatches) und Fragebögen (Jörg, 2018). Die gesammelten Daten, unter anderem Anzahl Schritte, Kalorienverbrauch, Pulsfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz und Schlafdauer, werden auf das Handy oder Tablet übertragen, miteinander in Verbindung gebracht und analysiert (Jörg, 2018).

Über Prävention und fehlende Qualitätsstandards

Gesundheits-Apps werden im Gesundheitsförderungs- und Präventionsbereich grosses Potenzial zugeschrieben. Sie vermitteln Wissen über den Körper, Verhalten und deren Zusammenhänge, können nachweislich die Bewegungsmotivation steigern und helfen, gesünder zu leben (Meidert et al., 2018). Bereits das Mitführen eines Schrittzählers erhöht die Bewegungstendenz (Graf, Bauer, & Schlepper, 2015). Dies dient als Grundlage von Verhaltensänderungen und führt zu einem erheblichen Fortschritt in der Prävention verschiedener Krankheiten wie zum Beispiel Typ-2-Diabetes (Jörg, 2018). Viele Apps werden aber bereits nach kurzer Zeit nicht mehr gebraucht (Meidert et al., 2018). Die empirische Evidenz zur Langzeitwirkung liegt noch nicht vor.

«Wenn Menschen sich immer mehr an ihren gemessenen Daten orientieren, birgt es aber auch Risiken.» Mandy Scheermesser, 2018

Zurzeit fehlen Qualitätsstandards und der Markt ist sehr intransparent (Draeger, 2016). Hinzu kommt die hohe Fehleranfälligkeit(Steinmetz, 2016). Für den privaten Gebrauch mag die Genauigkeit ausreichen, doch für die Forschung – die von der grossen Datenmenge profitiert und zunehmend Apps anwendet – ist sie häufig unzureichend (Jörg, 2018). Je nach Tätigkeit werden die Anzahl Schritte über- oder unterschätzt, wie beim Tisch abwischen (Steinmetz, 2016). Auch beim Kalorienverbrauch handelt es sich um eine grobe Schätzung und die Herzratenmessungen liegen bis zu 25 Herzschläge daneben (Jörg, 2018). Diagnosen, die anhand von Apps erstellt werden, behalten nur jedes dritte Mal recht (Jörg, 2018). 

Gesundheits-Apps mit Sensoren, welche Puls, Blutdruck oder den Sauerstoffgehalt bei gesunden Laien ohne ärztliche Aufsicht messen, sind aufgrund mangelnder Datenqualität und möglicher Fehlinterpretationen fragwürdig (Jörg, 2018). Die Hypothese, dass die riesige, zum Teil fehlerhafte Menge an Gesundheitsdaten zu Hypochondrie führt, wurde bisher aber nicht bestätigt (Jörg, 2018).

Auch ist zur Zeit der Datenschutz nicht gewährleistet. Häufig werden die Daten an Dritte weitergegeben (Bork, Weitz, & Penter, 2018). Vor allem Krankenkassen und Versicherungen könnten Interesse an diesen Daten zeigen, um so Risikoprofile zu erstellen (Jörg, 2018).

Risiko der Selbstvermessung

Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, ihre Körperfunktionen zu messen und zu analysieren (Meidert et al., 2018). Diese Selbstvermessung wird mit dem Drang nach Erkenntnissen über sich selbst, nach Selbstoptimierung und -Management erklärt (Timmer, Kool, & van Est, 2015). Die erhobenen Daten dienen als Entscheidungsgrundlage, Ansporn, Dokumentation und zum Austausch mit Gleichgesinnten (Meidert et al., 2018). Risiken dieses Trends bestehen darin, dass durch häufiges Messen das Gefühl für den eigenen Körper verloren gehen, ein Messzwang entstehen oder Ängstlichkeit und Stress verstärkt werden können (Meidert et al., 2018).

Auch könnte die zunehmende Selbstvermessung den Anschein erwecken, dass der eigene Gesundheitszustand komplett selbst bestimmt werden kann. Anreizsysteme der privaten Krankenversicherungen (z. B. tiefere Prämie bei Benutzung einer Gesundheits-App) könnten dies noch verstärken (Meidert et al., 2018). Eine Entwicklung Richtung Diskriminierung von Menschen mit Krankheiten oder Behinderung, Entsolidarisierung und Zugangsungerechtigkeit ist möglich (Meidert et al., 2018).

Abschliessend lässt sich sagen, dass Gesundheits-Apps ein grosses Potenzial besitzen. Damit dieses genutzt werden kann, müssen die Qualität gesichert und einige Fragen, wie die Eingliederung ins Gesundheitssystem, geklärt werden. Bis dahin ist ein kritischer Umgang empfohlen.


Zum Weiterlesen

Jörg, J. (2018). Digitalisierung in der Medizin. Wie Gesundheits-Apps, Telemedizin, künstliche Intelligenz und Robotik das Gesundheitswesen revolutionieren.Berlin: Springer Verlag.

Meidert, U., Scheermesser, M., Prieur, Y., Hegyi, S., Stockinger, K., Eyyi, G., …Becker, H. (2018). Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin. Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich.

Literatur

Albrecht, U. V. (2018). Gesundheits-Apps. Fachübergreifende Qualitätskriterien sind unabdingbar. Deutsches Ärzteblatt, 115(3), 61–62.

Bertelsmann Stiftung. (2018). Das Internet: Auch Ihr Berater für Gesundheitsfragen? –Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zur Suche von Gesundheitsinformationen und zur Reaktion der Ärzte. doi: 10.11586/2017052

Bork, U., Weitz, J., & Penter, V. (2018). Apps und Mobile Health. Deutsches Ärzteblatt, 115(3), 57–60.

Draeger, F. (2016). Gut vernetzt. Apotheken-Umschau, 1(16), 13–17.

Erdogan, B. (2016). „Dr. Google hat jetzt Zeit für Sie!“ – Aufbruch in die digitale Medizin? Rheinisches Ärzteblatt, 3(1), 12–14.

Graf, C., Bauer, C., & Schlepper, S. (2015). „10.000 Schritte für Ihre Gesundheit“. Bewegungsempfehlungen kommen. Rheinisches Ärzteblatt, 10(1), 17–19.

Jörg, J. (2018). Digitalisierung in der Medizin. Wie Gesundheits-Apps, Telemedizin, künstliche Intelligenz und Robotik das Gesundheitswesen revolutionieren.Berlin: Springer Verlag.

Meidert, U., Scheermesser, M., Prieur, Y., Hegyi, S., Stockinger, K., Eyyi, G., …& Becker, H.(2018). Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin. Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich.

Research2guidance. (2017). mHealth App Developer Economics 2017. Retrieved from https://research2guidance.com/product/mhealth-economics-2017-current-status-and-future-trends-in-mobile-health/

Steinmetz, V. (2016). Sportlich vermessen. Der Spiegel, 5(1), 88.

Timmer, J., Kool, L., & van Est, R. (2015). Coaches everywhere. In L. Kool, J. Timmer & R. van Est (Eds.), Sincere support. The rise of the e-coach (pp. 9–26). Den Haag: Rathenau Instituut.

Blütenstaub

Von Hannah Löw
Lektoriert von Cynthia Jucker
Illustriert von Rebecca Beffa

Im zarten Winde am Morgen
tanzen grüne Stängel umher,
deren Blütenpracht ist noch verborgen,
der Luftstrom bläst in Wellen über dieses Knospenmeer.

Fern am Horizont
erscheint ein leuchtend gelbes Strahlen,
in dessen Lichte eine kleine Knospe sich nun sonnt,
holt zurück die Energie, die ihr nachts die Lüfte stahlen.

Mit neu geschöpfter Lebenskraft
streckt die Knospe ihre Blätter aus,
saugt aus der Erde ihren Lebenssaft,
zwischen samtig weichen Farben lugen die Pollen nun heraus.

Für einen kurzen Augenblick
steht die Welt ganz still,
unzerbrechlich scheint der Blumen ihr Genick,
die Wurzeln rufen, dass dieses bunte Wunder ewig bleiben will.

Das Leben lässt die Illusionen zerspringen,
denn auch das Jetzt unterliegt dem Lauf der Zeit,
muss mit Vergänglichkeit in Richtung Ende schwingen,
nichts ist für die Ewigkeit.

Doch auf jeden Abschied folgt ein Neubeginn,
der sich bildet aus den Blütenpollen,
dort findet sich der Sinn,
warum Veränderungen kommen sollen.

So wird eine neue Blütenpracht geboren,
die niemals ist das gleiche Kind,
doch Erinnerungen geh‘nim Herzen nicht verloren,
und ewig wirbeln neue Chancen als Blütenstaub im Wind.

Anordnungsmodell in Vernehmlassung

Der Bundesrat will die delegierte Psychotherapie neu regeln

In der letzten Ausgabe FS19 haben wir im Artikel «Delegierte Psychotherapie – diskriminierende Berufsbedingungen für Psychologen|innen» die Nachteile des aktuellen Delegationsmodells vorgestellt. Die psychologischen Berufsverbände unter der Führung der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) engagieren sich seit Jahren für eine bessere Lösung. Gefordert wird ein sogenanntes Anordnungsmodell. Jetzt schickt der Bundesrat einen konkreten Lösungsvorschlag in die Vernehmlassung. 

Von André Widmer, Präsident ZüPP, Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen

Der Lösungsvorschlag des Bundesrates sieht vor, dass psychologische Psychotherapeuten|innen im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung OKP (Grundversicherung) als selbständige Leistungserbringer|innen ihre Leistungen erbringen können und nicht mehr unter Aufsicht eines Arztes oder einer Ärztin arbeiten müssen. Voraussetzung ist unter anderem der eidgenössische Weiterbildungstitel «Psychotherapie». Durch die vorgeschlagene Lösung sollen sowohl die bestehenden Engpässe in der psychotherapeutischen Versorgung reduziert als auch die Berufssituation der psychologischen Psychotherapeuten|innen verbessert werden. Die Vernehmlassung des vorliegenden Entwurfs läuft bis zum 17. Oktober 2019. Grundsätzlich stösst der Vorschlag auf breite Zustimmung, auch wenn er zusätzliche Anforderungen für angehende Psychotherapeuten|innen beinhalten wird (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2019b; Föderation Schweizer Psycholginnen und Psychologen FSP, 2019).

Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung soll verbessert werden

In der Medienmitteilung des Bundes vom 26. Juni 2019 wird darauf hingewiesen, dass psychische Störungen zu den häufigsten und am meisten einschränkenden Krankheiten in der Schweiz zählen. Erhebungen und Schätzungen zeigen, dass im Laufe eines Jahres bis zu einem Drittel der Bevölkerung an einer psychischen Störung erkrankt, welche in den meisten Fällen behandelt werden sollte. Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2019b).

Durch das neue Anordnungsmodell liessen sich vor allem Versorgungsengpässe bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen in Krisen- und Notfallsituationen reduzieren. Die Anordnung durch Hausärzte|innen etc. ermöglicht einen einfacheren und früheren Zugang zur Psychotherapie als die bisher erforderliche vorgängige Konsultation bei Fachärzten|innen für Psychiatrie und Psychotherapie. Chronifizierungen können dadurch verhindert und Langzeittherapien reduziert werden (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2019b).

Vorgesehene Änderungen für Psychologen|innen

Die aktuellen Anforderungen an psychologische Psychotherapeuten|innen zur Abrechnung ihrer Leistungen über die Grundversicherung sollen wie folgt ergänzt bzw. revidiert werden: 

  • Neu wird verlangt, dass zusätzlich zum Psychotherapietitel ein weiteres Jahr klinische Erfahrung in einer psychotherapeutisch-psychiatrischen Einrichtung nach dem Erwerb des Psychotherapietitels zu leisten ist. Die Einrichtung muss über eine Anerkennung des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) der Kategorie A oder B verfügen. 
  • Leistungen von Psychotherapeuten|innen in Weiterbildung sollen neu nicht mehr über die Grundversicherung abgerechnet werden können. Dies bedeutet für Psychologen|innen in Weiterbildung, dass sie während der Weiterbildung keine Praxiserfahrungen in einer Privatpraxis mehr machen können.
  • Die Psychotherapien müssen von Ärzten|innen angeordnet werden, die der erweiterten Grundversorgung angehören. Das sind Fachärzte|innen in Allgemeiner Innerer Medizin (Hausärzte|innen), Neurologie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendmedizin sowie Ärzte|innen der psychosomatischen und psychosozialen Medizin.
  • Pro ärztliche Anordnung sollen maximal 30 Therapiesitzungen zugelassen werden. Für weitere Sitzungen ist eine Kostengutsprache durch den Versicherer erforderlich. In Krisensituationen können Leistungen bis zu zehn Sitzungen von allen Ärzten|innen angeordnet werden.
  • Die Tarife werden von den Tarifpartnern ausgehandelt (Berufsverbände der Psychologen|innen, Krankenkassen etc.) und müssen vom Bundesrat genehmigt werden. Der Bundesrat wird, wenn nötig, einen ersten Tarif verordnen, damit beim Inkrafttreten des Anordnungsmodells nicht im tariflosen Zustand gestartet wird. 

Die Kostenregelung des heutigen Delegationsmodells wird ab Gültigkeit der neuen Verordnung hinfällig. Ab dem Zeitpunkt der Einführung des Anordnungsmodells soll es noch eine Übergangszeit von zwölf Monaten geben, während der Leistungen der delegierten Psychotherapie abgerechnet werden können (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2019a).

Erschwerte Bedingungen bei Psychotherapieweiterbildungen

Negative Auswirkungen hätte die Einführung des Anordnungsmodells in der vorgesehenen Form für Psychologen|innen, die jetzt oder in den nächsten Jahren eine Psychotherapieweiterbildung starten. In Zuge ihrer Therapieweiterbildung müssen sie praktische Erfahrungen sammeln, jedoch wird sich die Zahl der zur Verfügung stehenden Praxisplätze durch den Wegfall der Plätze der delegierten Psychotherapie verringern. Das neu für eine private Tätigkeit geforderte zusätzliche Praxisjahr in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Institution wird den Engpass bei der klinischen Weiterbildungspraxis zudem verstärken. Für die psychologischen Psychotherapeuten|innen, die bei der Einführung des Anordnungsmodells ihre Weiterbildung bereits abgeschlossen und eine kantonale Praxisbewilligung (Berufsausübungsbewilligung) haben, wird sich dagegen nichts ändern (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2019a).

Fazit

Die vom Bund vorgeschlagenen Änderungen sind noch nicht definitiv. Aufgrund der Vernehmlassung, die bis zum 17. Oktober 2019 dauert, sind noch Anpassungen am Verordnungsentwurf möglich. Voraussichtlich wird der Bundesrat im nächsten Jahr eine leicht revidierte Version verabschieden, die im Jahr 2021 in Kraft treten sollte.

Klar erkennbar ist die Absicht des Bundes, die psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz zu verbessern, indem der Zugang zur Psychotherapie erleichtert wird; sowohl ärztliche als auch psychologische Psychotherapieleistungen sollen direkt von den Leistungserbringern über die Grundversicherung abgerechnet werden können. Gleichzeitig soll eine mit dem Übergang zum Anordnungsmodell unkontrollierte Mengenausweitung der angeordneten Psychotherapien und damit Kostensteigerungen in der Grundversicherung durch die zusätzlichen Anforderungen (weiteres Praxisjahr, keine Abrechnung von Leistungen durch Psychotherapeutinnen in Weiterbildung) verhindert werden.

Im Rahmen der Vernehmlassung wird sich der ZüPP zusammen mit der FSP, inklusive anderen psychologischen Berufsverbänden, dafür einsetzen, dass die psychologischen Psychotherapeuten|innen, insbesondere jene in Weiterbildung, bei der Zulassung zur Grundversicherung gegenüber ihren ärztlichen Kollegen|innen nicht unfair benachteiligt werden. Die FSP und deren Gliedverbände werden auch in den nächsten Jahren weiter gefordert sein und benötigen Unterstützung durch neue Mitglieder.


Zum Weiterlesen

Bundesamt für Gesundheit BAG. (2019a). Änderung der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV; SR 832.102) und der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV; SR 832.112.31) betreffend Neuregelung der psychologischen Psychotherapie im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) und Anpassung der Zulassungsvoraussetzungen der Hebammen sowie der Personen, die auf ärztliche Anordnung hin Leistungen erbringenBern. Retrieved August 09, 2019, from, https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/3067/KVV_KLV_Erl.-Bericht_de.pdf

Bundesamt für Gesundheit BAG. (2019b). Der Bundesrat will den Zugang zur Psychotherapie verbessern. Bern. Retrieved August 09, 2019, from,
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-75583.html

Föderation Schweizer Psycholginnen und Psychologen FSP. (2019). Medienmitteilung: Ein Meilenstein für die psychotherapeutische Versorgung ist in Griffweite. Bern. Retrieved August 09, 2019, from, https://www.psychologie.ch/medienmitteilung-ein-meilenstein-fuer-die-psychotherapeutische-versorgung-ist-griffweite-0

Die Psychotherapie, die Symptome brennen lassen will

Wieso man durch Symptombekämpfung Öl ins Feuer giesst

Die Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT), im Jahr 1986 von Steve Hayes entworfen, gehört zur dritten Welle der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT). Dieser Artikel bietet einen Einblick in ihr Menschenbild, Grundannahmen und -konzepten. Diese führen zu einem bewussten, werteorientierten und zielgerichteten Handeln im Hier und Jetzt.

Von Yésica Martínez
Lektoriert von Marie Reinecke und Laurina Stählin
Illustriert von Yésica Martínez

Die in der westlichen Psychologie verbreitete Meinung, dass Symptome bekämpft werden müssen, steht diametral entgegen der Grundannahme der ACT. Diese besagt, dass man Symptome nicht loswerden muss, nicht vermeiden und schon gar nicht kontrollieren wollen sollte (Harris, 2006). Dabei ist die Akzeptanz dessen, dass Leid zum Menschsein dazugehört, zentral. Unsere Weltgeschichte ist durchzogen von Leid und sogar davon, dass wir Menschen Leid absichtlich oder unabsichtlich erzeugen (Barlow, Allen & Choate, 2004). Hayes, Strosahl und Wilson (2012) postulieren, dass es dem Seelenheil nicht dient, die psychologische Norm «leidfrei» zu definieren. Damit verbunden betonen die Wissenschaftler, dass die Reaktion auf ein psychisches Symptom für den Verlauf der Krankheit gravierender sein kann, als das Symptom an sich (Hayes, Strosahl und Wilson, 2012). ACT-Wissenschaftler erklären überdies, dass es zentrale, übergreifende psychische Prozesse gibt, die zu Leid führen und entwarfen ein transdiagnostisches Behandlungsmodell, nach welchem man diese Prozesse erkennen und regulieren kann (Sonntag, 2005; Hayes et al., 2012). Als effektiv erwies sich die ACT für diverse Störungsbilder, darunter Depression, Zwangsstörung, Stress, chronische Schmerzen, Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung, Anorexie, Suchterkrankung und Schizophrenie (Zettle & Raines, 1989; Twohig, Hayes & Masuda, 2006; Bond & Bunce, 200, Dahl, Wilson & Nilsson, 2004; Brandstetter, Wilson, Hildebrandt & Mutch, 2004). Über verschiedene Störungsbilder hinweg ergab eine Metaanalyse von randomisierten kontrollierten Studien einen moderaten Effekt von .66 (N = 704) für die Symptomreduktion durch ACT (Hayes, Luoma, Bond, Masuda, & Lillis, 2006). Eine generelle Überlegenheit gegenüber anderen Therapieverfahren wurde nicht gefunden (Pleger et al., 2014).

Woher kommt psychisches Leiden?

Nach ACT gibt es zwei zentrale, in sich übergreifende Quellen von psychischem Leid: Sprache und Vermeidungsverhalten (Strosahl und Robinson, 2008; Hayes et al., 2012). Interessanterweise wird hervorgehoben, dass nicht psychische Störungen, sondern psychische Prozesse ausschlaggebend sind. Der Verstand und seine Sprache sind Werkzeuge, um Ereignisse einzuschätzen und unsere Erfahrungswelt daraus zu bilden. Anhand der Sprache können wir analysieren, vergleichen, bewerten, planen, erinnern, visualisieren, lügen, manipulieren, täuschen, verurteilen, Regeln kreieren und vieles mehr. In der ACT wird unter dem Titel Bezugsrahmentheorie (siehe Kästchen) die Rolle der Sprache für das Leid hervorgehoben (Torneke, 2010). Die Bezugsrahmentheorie sieht das In-Beziehung-setzen von Erfahrungen, Symbolen oder Konzepten und Emotionen als Basis unserer Sprache. Das Netzwerk an Beziehungen, das wir durch unsere Sprache erlernt haben, ist eine ernstzunehmende Fähigkeit des Verstandes. Für die Therapie ist es wichtig, dass man sich auf die Komplexität der Theorie einlässt, um Denkmuster zu durchschauen und das Netzwerk zu überschreiben oder zu erweitern. Vermeidungsverhalten kann sich nämlich im persönlichen Netzwerk von Sprache manifestieren. Beispielsweise kann man lernen, dass die Worte «Herd» mit «Hitze» oder mit «nicht Berühren» in Beziehung stehen. Dieses Vermeidungsverhalten ist in diesem einfachen Beispiel den Umständen entsprechend adaptiv und stellt daher einen Vorteil dar. Jedoch betonen Hayes et al (2012), dass persönliche sprachliche Netzwerke für interne Probleme kontraproduktiv sein können. Wilson und Kollegen (2001) heben diese negative Seite hervor: Sie nehmen das Beispiel einer Panikattacke und beschreiben, wie man durch die Angst vor einer erneuten Attacke ein Vermeidungsverhalten anstrebt, in dem alle möglichen Auslöser für physiologische Sensationen wie Herzrasen oder andere Symptome hervorgerufen, gespeichert und künftig vermieden werden. Das Risiko ist gross, dass das Netzwerk an sprachlichen Assoziationen mit der Attacke immer grösser und dadurch die Welt des Betroffenen immer kleiner wird. Zusätzlich entsteht durch Vermeidungsverhalten paradoxerweise eine verstärkte und häufigere Erfahrung des Problems, welches man eben eigentlich vermeiden möchte (Wenzlaff & Wegner, 2000). Solche kontraproduktiven Vermeidungsstrategien gilt es, durch ACT zu entdecken und aufzuheben. Hayes, Strosahl und Wilson (2012) betonen, dass es wichtig ist zu lernen, wann der Verstand hilfreich ist und wann nicht. Das Ziel von ACT ist es schliesslich, die unmittelbare Erfahrung über die analytische Sprache zu stellen und Sprache zu nutzen, ohne von ihr benutzt zu werden. Die unten erklärten sechs Grundkonzepte werden einen Einblick gewähren, wie dies erreicht werden kann.

Psychische Flexibilität

Das Grundziel von ACT ist folgendes: Personen, welche psychische Flexibilität im Repertoire haben, sollten im Hier und Jetzt präsent sein, offen und werteorientiert handeln, sowohl in angenehmen als auch unangenehmen Situationen (Harris, 2009). Menschen verbinden mit dem Wort Symptom per Definition eine Pathologie, welche man bekämpfen muss. In ACT wird diese Haltung transformiert. Symptome darf man brennen lassen, und man wird merken, dass das Feuer harmloser ist, als man vorerst gedacht hat (Harris, 2006). Es ist dabei keine blosse Verharmlosung gemeint, sondern ein ernstes Umdenken, welches den negativen Einfluss der Symptome auf den Patienten|innen mindert und dabei als Nebenprodukt Symptome mildert. Die Urheber von ACT einigten sich auf sechs Prinzipien oder therapeutische Prozesse, die allesamt orchestriert zu psychischer Flexibilität führen. Über diese bietet das so genannte Hexagon-Modell (siehe Figur) eine klare Übersicht. Das Behandlungsziel widmet sich demnach nicht den Symptomen, wie die herkömmliche KVT vorschlägt, sondern vielmehr diesen sechs Prinzipien: Akzeptanz, präsent sein, kognitive Defusion, Selbst-als-Kontext, Werte und engagiertes Handeln (Berking, 2012). Symptomreduktion passiert nebenbei. Konzeptuell gesehen gibt es keine vorgesehene Reihenfolge, nach der die transdiagnostisch anwendbare Therapie durchgeführt wird (Hayes et al., 2012). In der Therapie selbst empfiehlt es sich, den Therapieprozess den Bedürfnissen der Patienten|innen anzupassen und sich an den individuellen Eigenschaften und dem bereits bestehenden Repertoire der Patienten|innen zu orientieren.

Akzeptanz

Die Akzeptanz störender oder leiderbringender Situationen und Zustände des Lebens gilt als grundlegende Haltung, die in der ACT erlangt werden soll. Dabei steht sie entgegen der Vermeidung – der vorrangigen Bewältigungsstrategie vieler Patienten|innen (Pleger et al., 2014). Die illustrative Darstellung dieser Umgangsform zeigt auf, was konkret gemeint ist. Der|die Patient|in soll sein|ihr Problem nicht von sich fernhalten. So stark der Wille auch sein mag, das lange von sich Fernhalten beziehungsweise Verdrängen wird anstrengend und kostet viel Energie. In einer solch ungemütlicher Position lässt es sich nicht leben – so der Ansatz. Die zweite Option, die Patienten|innen auch aufzeigen könnten, ist, das Problem so nah an sich zu halten, sodass alle Sinne nur dieses erfassen können und nichts anderes daran vorbeidringen kann. Das ist eine Verbildlichung des Akzeptanzprinzips: Kein Fernhalten, kein Festklammern, sondern man lässt es wertlos auf dem Schoss ruhen, man kann es betrachten, man kann ruhig sitzen und sich damit befassen – oder eben nicht. ACT strebt an, dass die Patienten|innen ein Problem annehmen, wie es ist, ohne darüber Kontrolle erlangen zu wollen (Pleger et al., 2014). Man kann dabei eine Metapher benutzen, wie die kontraintuitive Befreiung aus Treibsand (Pleger et al., 2012).

«The fundamental challenge of being human involves learning when to follow what your mind says and when to simply be aware of your mind while attending to the here and now» Hayes et al., 2012, S. 243

Präsent-Sein

Schwierigkeiten im Präsent-Sein können aus verschiedenen Gründen resultieren. Depressive können in der Vergangenheit grübeln, Angststörungen können dazu führen, dass man sich vor der Zukunft fürchtet. Schizophrene können sich durch Halluzinationen in einer anderen Gedankenwelt befinden und Autisten können Mühe haben, den Fokus der Aufmerksamkeit flexibel zu wechseln, um überall präsent zu sein. Nichtsdestotrotz stehen in der ACT mögliche Gründe nicht im Fokus. Vielmehr sollen alle Patienten|innen gleichsam behandelt werden. Über alle psychischen Störungen hinweg gibt es nach Hayes und Kollegen (2012) verschiedene Signale, die ein Therapeut wahrnehmen kann, um Defizite im Präsent-Sein zu erkennen. Unter anderem sind dies die Fixierung auf ein Thema, Schwierigkeiten im Schenken der Aufmerksamkeit auf andere Themen, ständige Themenwechsel, schnelles Sprechen, emotionale Abgestumpftheit oder fehlender Augenkontakt (Hayes et al., 2012).

Durch Achtsamkeitstrainings schafft man in der ACT Bewusstsein für das Hier und Jetzt um dadurch offen, empfänglich und interessiert zu sein (Harris et al., 2006). Ein weiteres Ziel ist es, dass der Patient die Aufmerksamkeit flexibel instrumentalisieren kann, um verschiedene Erfahrungen im selben Moment einfangen zu können, ohne sich automatisch auf etwas zu fixieren. Beispielsweise kann man den|die Patienten|in in einem Achtsamkeitstraining fragen, was er|sie in diesem Moment gerade hört. Aber noch wichtiger ist die darauffolgende Frage, was er|sie sonst noch hört, um dadurch eine umfassendere Wahrnehmung der Sinnesempfindung zuzulassen. Flexible und willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit ist eine wichtige Fähigkeit, um präsent zu sein. Ein zentraler Punkt ist, dass man als Patient|in lernt, zwischen zwei verschiedenen Zuständen zu unterscheiden: Dem Problemlöser-Modus und dem Sonnenuntergangs-Modus – wie Hayes und Kollegen (2012) sie nennen. Im ersten Modus geschehen Denkvorgänge automatisch und schnell. Ein einfaches Beispiel ist, wenn man fragt, was zwei plus zwei ist. Ungeachtet dessen, was man als Problem sieht, macht man automatisch schnelle Entscheidungen, um das Problem zu kontrollieren und loszuwerden. Wie im Kästchen erwähnt, kann das zu adaptivem, aber auch zu maladaptivem Vermeidungsverhalten führen. Im Sonnenuntergangs-Modus sind unsere Gedanken entschleunigt, man anerkennt ein Phänomen und hält inne. Durch dieses Stoppen und Horchen werden Menschen offener. Ein Hauptziel des Präsent-Sein-Trainings ist es, vom Problemlöser zum Stopper und Horcher zu werden (Hayes et al., 2012).

«I used to think my brain was my most important organ – until I noticed which organ was telling me that» Hayes et al., 2012, S. 245

Kognitive Defusion

In einem Zustand kognitiver Fusion oder Verschmelzung ist man zu stark an Gedanken oder Gefühle gebunden und identifiziert sich mit ihnen (Sonntag, 2011). Wenn man einen Gedanken hat, wie beispielsweise «Ich bin wertlos», kann man vereinfachte Defusion betreiben, indem man denkt, «Ich denke gerade, dass ich wertlos bin». Bereits dieser feine Unterschied der Defusion kreiert eine Distanzierung. In diesem Prozess geht es nicht darum, dass man die Gedanken, die man hat, durch andere Gedanken ersetzt, wie die KVT es vorschlagen könnte (Ciarrochi & Bailey, 2008). Es geht stattdessen darum, die Sprache per se zu relativieren und als das zu sehen, was sie ist. Die Grenzen der Sprache aufzuspüren würde helfen, andere Erfahrungsquellen zu finden. Die ACT versucht zu zeigen, dass der Mensch der Hörer sein soll und nicht zu verwechseln ist mit dem Verstand, der die Rolle des Sprechers in uns hat. Der Hörer kann durch die Distanzierung den Sprecher auch sprechen lassen, ohne dem grosse Bedeutung beizumessen. Es ist nicht einfach zu wissen, wann man sich auf den Verstand verlassen kann und wann wir lieber einen Schritt zurücktreten sollen, um ihn aus der Distanz zu betrachten (Hayes et al., 2012).

«When you are too busy being what your mind says you are, stepping outside of your normal habits becomes impossible, even when it would clearly be useful to do so» Hayes et al., 2012, S. 22

Wie durch das Zitat von Hayes und Kollegen (2012) hervorgebracht, führen beide oben genannten Mechanismen zu unflexiblem Verhalten und zur Verhinderung einer distanzierten Beobachtung der internen und externen Welten. Gedanken und Gefühle sollen nicht unmittelbar das Verhalten bestimmen.

Verschmelzung ist – wie bereits für andere psychische Prozesse erwähnt – nicht per se schlecht. Sie kann aber einen Menschen daran hindern, sich beispielsweise von einem Strom an Selbstkritik zu lösen und kann das Funktionieren im Alltag stark einschränken. Wenn man mit einer Eigenschaft verschmilzt, kann man blind sein für Erfahrungen, die nicht übereinstimmend oder unähnlich sind. Es kann sogar dazu kommen, dass man Gedanken oder Gefühle vermeidet, die nicht mit denen vereinbar sind, mit welchen man sich verschmolzen hat. Diese Art von Überidentifikation mit bestimmten Inhalten kann auch dem nächsten Prinzip im Weg stehen: Dem Erkennen der Dimensionen des Selbst.

Selbst-als-Kontext

Eine weitere wichtige Fähigkeit, die Patienten|innen erlangen müssen, ist es, die Dimensionen des Selbst ergründen zu können. Eine transzendentale Sicht auf sich selbst erlangt man, wenn man einen Blick zurückwirft und die Kontinuität des Selbst erkennt. In diesem Zustand sieht man ein, dass man selbst nicht die eigenen Gedanken oder Gefühle ist, sondern dass man ein darüberstehendes, dies alles durchstehende Individuum ist. Plakativ gesagt: Wenn man zehn Sätze mit «Ich bin» beginnt, ist dieser Anfang das einzig konstant Bleibende. Wenn man sich selbst in eine beobachtende Rolle wirft, erkennt man, dass alle Gedanken oder Gefühle kommen und gehen, das Einzige, was bleibt, ist der Beobachter selbst. Diese beobachtende Haltung kreiert eine Distanz, welche es erlaubt, auch leidvolle Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle zu empfangen, ohne sich bedroht zu fühlen.

Patienten|innen, die diese Fähigkeit nicht haben, können sich schlecht in neue Perspektiven hineinversetzen, oder sie legen eine zu grosse Bedeutung auf die Sicht anderer Menschen. Auch Unwohlsein durch Ambiguität oder innere Leere können für den|die Therapeuten|in weitere Indikatoren sein, dass es an einem umfassenden Verständnis eines transzendentalen Ichs fehlt. Darunter ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass das Ich durch die Zeit Bestand hat und nicht inhaltlich durch Eigenschaften oder Erfahrungen erklärbar ist. Das Ich sei vielmehr eine konstante Perspektive, aus der man jede verbale oder nonverbale Aktivität des Lebens beobachten kann (Hayes et al., 2012). Eine der vielen Übungen, die man mit dem Patienten|innen durchführen kann, um die Dimensionen des Selbst zu ergründen und spürbar zu machen, besteht darin, eine Metapher zur Hilfe zu nehmen (Hayes et al., 2012). Patienten|innen werden aufgefordert, sich ein Schachbrett vorzustellen, auf dem die Figuren Gefühle, Gedanken oder andere Erfahrungen repräsentieren. Dabei können sie sich vorstellen, dass die schwarzen Figuren negative und die weissen positiven Erfahrungen darstellen – oder umgekehrt. Die wichtige Frage bei diesem Szenario ist, wo liegt das Ich? Die ACT sieht das Schachbrett als Ich und möchte die Patienten|innen dazu bringen, dieses Bild in sich aufzunehmen und zu verinnerlichen. Das Schachbrett hält nämlich alle Erfahrungen zusammen, es ist konstant und es kann dem Spiel zuschauen, ohne dass es bedroht werden kann. Wichtig ist, dass die Figuren nicht als Ich gesehen werden. Ein Grundsatz von ACT ist es, dass inhaltliche Auseinandersetzungen wie beispielsweise ein Bekämpfen von Erfahrungen zu einem dimensionslosen Verhalten führen und somit nicht dem Streben nach psychischer Flexibilität dienen. Als präsenter Beobachter und Träger gelangt man von einem Selbst-als-Inhalt zu einem Selbst-als-Kontext.

«The notion of board level can be used frequently to connote a stance in which the client is looking at psychological content rather than looking from psychological content» Hayes et al., 2012, S. 228

Werte und engagiertes Handeln

Das Herausbilden von individuellen Werten gibt die Orientierung in der Therapie. Werterfahrungen in der Therapie sind vielfältig produktiv. Erstens erhöhen sie die Motivation, insbesondere wenn eine Diskrepanz zwischen Wert und Verhalten erlebt wird. Zweitens wird der therapeutische Prozess begleitet von positiven Gefühlen, da der Fokus auf Defizite und Symptome schwindet, wenn fundamentale und wichtige Aspekte des Lebens besprochen werden. Drittens können Werterfahrungen die Erkenntnis stärken, dass das Leben jetzt passiert. Nicht gestern und nicht morgen, sondern bereits heute können Pläne umgesetzt und das Verhalten nach den eigenen Werten ausgerichtet werden. Viertens merkt man, dass man das Leben nicht der Kontrolle und der Vermeidung widmen soll, sondern sich dem zuwenden kann, was den Werten entspricht (Pleger et al., 2014). Tägliche Aktivitäten müssen sich nicht den Symptomen und deren Vermeidung zuwenden, sondern können sich danach orientieren, wie man sein will. Durch Fragen wie «Was ist Ihnen wichtig?» oder «Wie wollen Sie von anderen in Ihrer Abwesenheit beschrieben werden» und durch die Analyse von vorhandenen Verhaltensmustern werden Werte entdeckt und ausformuliert (Pleger, Schade, Diefenbacher & Burian, 2014). Es gibt viele verschiedene Ansätze und Techniken für Wertearbeit (z. B. von Dahl, Plumb, Stewart und Lundgren, 2009). Bei jedem Prozess ist es wichtig, dass man Werte nicht mit Zielen verwechselt. Wenn ein Patient sagt, ihm sei es wichtig, glücklich zu sein, oder einen Abschluss in einer bestimmten Fachrichtung zu erzielen, sind das keine Werte. Werte geben die Richtung an; man orientiert sich an ihnen und sie halten den tiefgreifenden Grund für das engagierte Handeln und dessen Ziele bewusst, sie verkörpern nicht ein Endprodukt. Beispielsweise kann man den Wert eines aufmerksamen, sorgsamen Familienvaters haben oder man will sich als engagierter Mitarbeiter wissen. Wichtig ist, dass man lernt, wertorientiert und engagiert zu handeln, auch wenn man psychische Leiden hat (Pleger et al., 2014). Im Gegensatz zur Erarbeitung von Werten ist das engagierte Handeln zielorientiert. Die Ziele, die in der Therapie definiert werden, sollen konkret, messbar, erreichbar und kongruent mit den erarbeiteten Werten sein (Hayes et al., 2012; Pleger et al., 2014).

Vom ruhig Sitzenden mit dem Problem auf dem Schoss, zum Stopper und Horcher, zum Schachbrett beziehungsweise Träger und Beobachter von Erfahrungen, zum Wertbewussten und schliesslich zu einem engagierten Handelnden wird ein Patient in der ACT verwandelt – mit dem Nebenprodukt, dass Symptome psychischer Störungen reduziert oder behoben werden.

Die Bezugsrahmentheorie beschreibt, wie wir Sprache benutzen, um Beziehungen zu beschreiben. Darüber hinaus erklärt sie, wie wir weitere, nicht beobachtbare Beziehungen ableiten können (Wilson, Hayes, Gregg & Zettle, 2001). Ein einfaches Beispiel für Letzteres ist Folgendes: Ich sage Ihnen, dass Amelie meine Schwester ist und Paul mein Vater. Daraus können Sie folgendes arbeiten: Ich bin die Schwester von Amelie, Ich bin die Tochter von Paul, möglicherweise ist Paul der Vater von Amelie und Amelie die Tochter von Paul. Aus zwei Informationseinheiten können sechs entstehen. Diese Induktion von neuen Beziehungen ist das grundlegende Prinzip der Bezugsrahmentheorie. Aus diesem einfachen Beispiel lässt sich auch erkennen, dass unsichere oder falsche Schlüsse möglich sind und ein Netzwerk an Beziehungen somit fehlerbehaftet sein kann.
Die Möglichkeit der Imagination lässt uns die Netzwerke in diesem Kontext komplexer gestalten. Denn durch sie können wir uns Situationen vorstellen, welche so nicht geschehen sind oder geschehen werden. Dies kann sehr weit führen, denn wir können uns dabei über weite Strecken in der blossen Vorstellung bewegen. Nicht zuletzt ist es uns Menschen so auch möglich, über Dinge emotional erregt zu werden, die uns noch gar nicht widerfahren sind.


Zum Weiterlesen

Hayes, S. C., Strosahl, K., & Wilson, K. G. (2012). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. New York: Guilford Press.

Literatur

Berking, M. (2012). Achtsamkeitsbasierte Interventionsverfahren. In M. Berling & W. Ruf (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie für Bachelor (S. 117-129)). Berlin: Springer.

Branstetter, A. D., Wilson, K. G., Hildebrandt, M., & Mutch, D. (2004). Improving psychological adjustment among cancer patients: ACT and CBT. Association for Advancement of Behavior Therapy, New Orleans, 35, 732.

Bond, F. W., & Bunce, D. (2000). Mediators of change in emotion-focused and problem-focused worksite stress management interventions. Journal of Occupational Health Psychology, 5(1), 156.

Ciarrocchi, J. V. & Bailey, A. (2008). A CBT-practitioner’s guide to ACT: How to bridge the gap between cognitive behavioral therapy and acceptance and commitment therapy. Oakland: New Harbinger Publications.

Dahl, J., Wilson, K. G., & Nilsson, A. (2004). Acceptance and commitment therapy and the treatment of persons at risk for long-term disability resulting from stress and pain symptoms: A preliminary randomized trial. Behavior Therapy, 35(4), 785-801.

Harris, R. (2009). ACT made simple. Oakland: New Harbinger Publication.

Hayes, S. C., Strosahl, K., & Wilson, K. G. (2012). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. New York: Guilford Press.

Pleger, M., Treppner, K., Fydrich, T., Schade C., Diefenbacher, A., Burian, R. & Dambacher, C. (2014). Akzeptanz und Commitment-Therapie bei psychischen Störungen. InFo Neurologie & Psychiatrie, 16 (5), 42-50.

Sonntag, R. F. (2005). Akzeptanz- und Commitment-Therapie Ein Beitrag zur dritten Welle der Verhaltenstherapie Acceptance And Commitment Therapie. A Contribution To The Third Wave Of Behavior Therapy. Psychotherapie, 10, 157-181.

Torneke, N. (2010). Learning RFT: An introduction to relational frame theory and its clinical application. Oakland: New Harbinger Publications.

Twohig, M. P., Hayes, S. C., & Masuda, A. (2006). Increasing willingness to experience obsessions: Acceptance and commitment therapy as a treatment for obsessive-compulsive disorder. Behavior Therapy, 37(1), 3-13.

Wilson, K. G., Hayes, S. C., Gregg, J., & Zettle, R. (2001). Psychopathology and psychotherapy. In Hayes, S.C., Barnes-Holmes, D., & Roche, B. (Eds.) Relational Frame Theory: A Post-Skinnerian Account of Human Language and Cognition (p. 215). New York: Plenum Publishers.

Zettle, R. D., & Rains, J. C. (1989). Group cognitive and contextual therapies in treatment of depression. Journal of Clinical Psychology, 45(3), 436-445.

Es brennt so gut

Warum sich Muskelkater gut anfühlt

Muskelkater kann sehr schmerzhaft sein und doch kommt es immer wieder vor, dass sich Leute positiv über genau jene Schmerzen äussern. Das liegt vermutlich nicht an biologischen Faktoren, sondern an unbewusster Emotionsregulation.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Cynthia Jucker und Michelle Donzallaz
Illustriert von Daniel Skoda

Was wir gemeinhin als Muskelkater bezeichnen, ist das Gefühl, welches sich nach besonders intensiven oder ungewohnten Trainings nach ein, zwei Tagen einstellt. Es handelt sich dabei um kleine Einrisse bei einem Teil der Muskelfasern (Mathias, 2018). Durch die leicht geschädigten Muskelfasern dringt langsam Wasser ein, die Fasern schwellen an und diese Dehnungen lösen Schmerz aus. Zusätzlich führen die Dehnungen zu Gefässeinengungen mit Verschlechterungen der Durchblutung, was die Schmerzen noch stärker macht (Mathias, 2018). Muskelkater zu haben, ist also nicht ein unbedingt wünschenswerter Zustand und trotzdem wird er zumindest partiell positiv bewertet. An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass es zu meiner untersuchten Frage keinerlei wissenschaftliche Artikel gab, die das angesprochene Phänomen untersucht hätten. Daher geht es hauptsächlich um die kognitive Umstrukturierung, die nötig ist, um aus Muskelschmerzen ein positives Gefühl zu ziehen.

Schmerz

Laut der International Association for the Study of Pain ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird (Merskey, 1986). Schmerz wird in den allermeisten Fällen negativ assoziiert. Muskelkater scheint dieser Definition zu genügen, da sowohl die Gewebeschädigung als auch ein unangenehmes Gefühlserlebnis vorhanden sind. In dieser Schmerzdefinition steckt ein hervorzuhebender Teil, nämlich das Erleben des Betroffenen. Schmerz ist nicht nur objektive Reizwahrnehmung. Das Schmerzerleben kann durch die Bewertung des Betroffenen anscheinend zu einem guten Gefühl führen.

Muskelkater ist vergleichsweise sicherlich ein wünschenswerter Schmerz. Er ist von kurzer Dauer, seine Ursache ist in den meisten Fällen bekannt, durch Schonung und das Auftragen von Salben u. Ä. schnell auszukurieren und unterliegt einem gewissen Gefühl der Kontrollierbarkeit, da er selbstverschuldet ist (Kröner-Herwig, 2011). Nichtsdestotrotz ist und bleibt Muskelkater auf physiologischer Ebene ein Schmerz.

Auf die Frage, warum wir Muskelkater ab und an als positiv und zumindest als nicht aversiv empfinden, gibt es keine direkte Antwort. Die Schmerzforschung beschäftigt sich vernünftigerweise mit Schmerzen, die als unangenehm empfunden werden und die Sportforschung unter anderem mit der Frage, ob Muskelkater gut für den Muskelaufbau ist.

Emotionsregulation

Emotionsregulation beschreibt die Prozesse, mit welchen Individuen beeinflussen welche Emotionen sie haben, wann sie sie haben und wie sie diese Emotionen erleben und ausdrücken (Gross, 1998). Diese emotionsregulatorischen Prozesse können automatisch oder kontrolliert und bewusst oder unbewusst sein (Gross, 1998).

Frijda (1986) hat ein Prozessmodell der Emotionsregulation erstellt, welches erklären könnte, warum Muskelkater so unterschiedlich bewertet wird. Emotionsregulationen beginnen mit der Emotion selbst. Nur wenn die Emotion als wichtig bewertet wird, kann sie auch einer Regulation unterzogen werden (Gross, 1998). Ist dieses Kriterium erfüllt, kommt es zur Situationsselektion (Gross, 1998). Darunter versteht man zum Beispiel das Aufsuchen oder Vermeiden gewisser Orte, Menschen oder Objekte. Der zweite Schritt ist die Situationsmodifikation (Gross, 1998). Bei diesem Schritt geht es darum, aktiv eine emotionsauslösende Situation zum eigenen Vorteil zu ändern. Seine Nachbarn|innen um 3:00 Uhr nachts zu fragen, ob sie die Musik leiser drehen könnten, würde unter diese Kategorie fallen. Der nächste Schritt behandelt die Aufmerksamkeitslenkung (Gross, 1998). Ganz im Sinne von «aus den Augen, aus dem Sinn» kann man seine Aufmerksamkeit von einem emotionsauslösenden Stimulus abwenden oder sie einem solchen zuwenden. Der vierte Teil ist die kognitive Umbewertung (Gross, 1998). Darunter fallen Vorgänge wie Neubewertungen oder auch die Tendenz Ereignisse als positiver zu bewerten als sie das eigentlich sind. Der letzte Teil des Prozessmodells handelt von der Reaktionsmodulation (Gross, 1998). Ein Beispiel dafür wäre, auf Traurigkeit mit Sport, anstatt mit Alkoholkonsum zu reagieren.

Innerhalb dieses Modells lässt sich eine Antwort auf die Frage finden, warum wir zumindest teilweise Positives aus Muskelkater ziehen können. Auf Schmerzen wird allgemein mit negativen Emotionen reagiert. Natürlich fallen die negativen Emotionen auf zeitweiligen Muskelschmerz weniger stark aus als auf chronische Schmerzen oder gravierende Verletzungen. Nichtsdestotrotz geht Muskelkater mit Emotionen einher, welche anscheinend als wichtig erachtet werden, ansonsten würde keine Emotionsregulation stattfinden. Die Situationsselektion bei Muskelkater beinhaltet vielleicht das Meiden oder Aufsuchen einer Sportstätte, dient allerdings nicht der Modulation negativer Emotionen auf direktem Weg. Auch bei der Situationsmodifikation wird nicht an der Emotion direkt angesetzt. Bei Muskelkater wäre ein typisches Vorgehen das Loswerden des Muskelkaters durch Bäder, Massagen und ähnliches. Auch der dritte Schritt bringt für die positive Bewertung von Muskelkater wenig. Seine Aufmerksamkeit nicht auf den Muskelkater zu verwenden scheint schwierig, da er spätestens beim nächsten Absitzen oder Aufstehen wieder zu spüren sein wird. Die Antwort auf die Frage warum wir Muskelkater teilweise als positiv bewerten liegt vermutlich im vierten Punkt, dem Umdenken.

Kognitive Umbewertung

Um aus Wahrnehmung, wie auch Schmerz eine ist, eine Emotion ziehen zu können, muss der Wahrnehmung eine Bedeutung zugeschrieben werden und es muss eine Evaluation der Ressourcen zur Bewältigung der Situation stattfinden (Gross, 1998). An diesen beiden Stellschrauben kann gedreht werden, will man eine Situation neu bewerten. Unter dem Punkt Kognitive Umbewertung fasst Gross (1998) mehrere Vorgehen zusammen; interessant für uns ist das cognitive reframing. Beim cognitive reframing geht es darum, aversive Erlebnisse in Bezug auf ein grösseres Ziel umzubewerten. Man gibt der ganzen Situation einen neuen Rahmen. In Bezug auf Muskelkater ist dies durchaus vorstellbar. Sporttreiben passiert meistens nicht ohne Grund und je nach Motivation, die indirekt zum Muskelkater führt, ist er ein notwendiges Übel auf dem Weg zu einem höheren Ziel. Ob Muskelkater positiv oder negativ bewertet wird, könnte auch davon abhängen, ob die Zielsetzung einen gewinnorientierten oder verlustvermeidenden Charakter hat. Will man Muskeln aufbauen nimmt man den Muskelkater gerne in Kauf, will man nur in Form bleiben weniger. Auch was die Ressourcen angeht, ist Muskelkater bewältigbar. Man muss eigentlich nichts machen ausser zu Warten, um ihn wieder loszuwerden.

Fazit

Auf die Frage, warum sich Muskelkater auch gut anfühlen kann, existiert bis jetzt keine wissenschaftlich geprüfte Antwort. Es ist trotzdem bemerkenswert, dass man aus Schmerzen, einem zumeist negativ assoziierten Phänomen, etwas Positives ziehen kann. Zudem passiert dies alles weitestgehend unbewusst. Ob diese Prozesse nun der Konditionierung, Gewissenskonflikten oder doch dem cognitive reframing zuzuschreiben sind, bleibt noch offen.

Masochismus als Erklärung?
Auf der Suche nach positiven Gefühlen verbunden mit Schmerzen kommt man nicht umhin den Masochismus zu erwähnen. Masochisten|innen sind Menschen, welche Lust oder Befriedigung aus ihnen zugefügten Schmerzen oder Erniedrigungen ziehen (Vetter, 2009). Die verspürte Befriedigung muss nicht immer sexueller Natur sein (Vetter, 2009). Masochismus wird in der modernen Psychologie durch Lerntheorien erklärt, also durch operante und klassische Konditionierung, und in der Psychoanalyse durch tiefenpsychologisches Abwehrverhalten von Ängsten und Gewissenkonflikten (Vetter, 2009). Zwar könnte es sein, dass Befriedigung aus Muskelkater durch Konditionierung möglich ist. Sich sportlich zu betätigen, um Schmerzen zu entwickeln, aus denen man dann Lust ziehen kann, scheint ein gar komplizierter Weg zu sein. Und dass Muskelkater und die damit verbundenen Gefühle etwas mit Tiefenpsychologie und Gewissenskonflikten zu tun haben, ist zwar nicht auszuschliessen, doch es gibt keine Evidenz dafür.


Zum Weiterlesen

Gross, J. J. (1998). The emerging field of emotion regulation: An integrative review. Review of General Psychology, 2, 271–299.

Literatur

Frijda, N. H. (1986). The emotions. Cambridge, England: Cambridge University Press.

Kröner-Herwig, B. (2011). Schmerz als biopsychosoziales Phänomen – eine Einführung. In B. Kröner-Herwig, J. Frettlöh, R. Klinger, & P. Nilges (Eds.), Schmerzpsychotherapie (pp. 3–14). Berlin, Germany: Springer.

Mathias, D. (2018) Muskelkater. In D. Mathias (Ed.), Fit und gesund von 1 bis Hundert: Ernährung und Bewegung – Aktuelles medizinisches Wissen zur Gesundheit (p. 112). Berlin, Germany: Springer.

Merskey, H. E. (Ed.). (1986). Classification of chronic pain: Descriptions of chronic pain syndromes and definitions of pain terms. Pain, Suppl 3, 226.

Vetter, B. (2009). Pervers, oder? Sexualpräferenzstörungen: 100 Fragen, 100 Antworten: Ursachen, Symptomatik, Behandlung. Bern, Switzerland: Hogrefe.