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Beiträge aus der Kategorie ‘HS18’

Klimawandel? Nein Danke

Ansatzpunkte und Hürden im Kampf gegen die Erderwärmung

Die Auswirkungen des Klimawandels betreffen uns alle. Lösungen für die Umweltprobleme werden dabei häufig in multilateralen Abkommen der Weltpolitik gesucht. Stattdessen den Fokus auf das Verhalten jedes Einzelnen zu legen, bedeutet im Fachgebiet der Psychologie nach Lösungen zu suchen.

Von Jan Nussbaumer
Lektoriert von Madeleine Lanz und Stefan Dorner
Illustriert von Kerry Willimann

2017 kündigte Donald Trump den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen an. Dies stellte einen beträchtlichen Rückschritt in der Klimapolitik dar. Das Pariser Abkommen setzte zum Ziel, die Klimaerwärmung auf unter zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Stand zu halten. Dieses Abkommen zeigt, wie in der Politik mit multilateralen Abmachungen nach Lösungen des Klimaproblems gesucht wird. Das ist notwendig, denn der ökologische Fussabdruck der Menschheit übersteigt die Kapazität der Erde. Nach unserer heutigen Lebensweise bräuchten wir 1.6 Erden, um den momentanen Ressourcenverbrauch der Menschheit zu decken (Global Footprint Network, 2016). Doch wie können wir nachhaltiger Handeln, so dass die Erde reicht, die wir haben? Auf die eine grosse Lösung zu warten scheint utopisch. Also verabschieden wir uns für einen Moment von den Abkommen der Weltpolitik, von den Masterplänen von Macron, Merkel und Konsorten und wenden uns stattdessen dem Verhalten der einzelnen Menschen zu, womit wir uns im Gebiet der Psychologie befinden.

Dies mag weniger aufregend klingen als die grossen Lösungen, doch letztlich trägt jeder von uns zu der Misere bei, die wir Klimawandel nennen. Kann die Psychologie Umweltverhalten und nachhaltiges Handeln erklären? Können wir umweltförderndes Handeln fördern, und falls wir das können – wie? Was steht nachhaltigem Handeln im Weg?

Unterschied zwischen Problembewusstsein und Verhalten

Der erste Impuls liegt meist darin, nach Schuldigen zu suchen. Wie wäre es mit Donald Trump – dem Sündenbock schlechthin? Oder allgemein den Klimaleugnern? Wenn es die nicht gäbe, hätten wir das Problem doch schon längst gelöst. Oder etwa nicht?

So einfach scheint es nicht zu sein, denn sowohl in armen als auch in reichen Ländern überwiegt die Anzahl Personen, welche den Umweltschutz über das wirtschaftliche Wachstum stellen (Dunlap, Gallup Jr., & Gallup, 1993). Auch sehen die meisten Menschen es als persönlich wichtiges Ziel an, sich um die Umwelt zu kümmern (Milfont & Schultz, 2016). Doch leider reicht das nicht. Ein hohes Bewusstsein und Sorgen um die Umwelt führen allein nicht zu umweltverträglichem Verhalten. Bamberg und Möser (2007) zeigten in ihrer Metaanalyse, dass das Bewusstsein um Umweltprobleme nur einen geringen Zusammenhang mit tatsächlichem Verhalten hat. Die Bekehrung der Klimaleugner wird demnach nicht die Lösung sein.

«Was steht nachhaltigem Handeln im Weg?»

Prägung in der Kindheit

In einem anderen Ansatz werden Faktoren in der Kindheit untersucht, welche nachhaltiges Handeln im Erwachsenenalter beeinflussen. Evans, Otto und Kaiser (2018) versuchten dem in einer zwölf Jahre dauernden Längsschnittstudie auf den Grund zu gehen. Sie untersuchten Kinder im Alter von sechs Jahren und prüften, welche Variablen in der Kindheit deren Umweltverhalten im Alter von 18 Jahren voraussagen können. Sie fanden vier Variablen, die mit dem späteren Verhalten zusammenhängen: Die Bildung der Mutter, die Zeit, die das Kind draussen spielt, die Umwelteinstellung der Mutter und das Umweltverhalten der Mutter. Die Autoren benutzten diese vier Variablen, um in einem linearen Modell die Änderung des Umweltverhaltens vorherzusagen. Wenn jedoch alle vier Variablen miteinander die Änderung des Umweltverhaltens voraussagen sollten, hatten nur noch die Bildung der Mutter und die Zeit, die das Kind draussen spielt, einen Einfluss. Dies zeigt, dass der Zusammenhang des Umweltverhaltens und der Umwelteinstellung der Mutter mit dem Umweltverhalten der Jugendlichen zwölf Jahre später, durch die Zeit, welche sie draussen verbringen und die Bildung der Mutter erklärt werden kann. Interessant ist auch, dass die politische Einstellung der Mutter keinen Einfluss auf das Umweltverhalten der Jugendlichen hatte.

Viele Hebel an denen man ansetzen kann

Generell können auch sozialpsychologische Handlungsmodelle zur Erklärung von umweltrelevantem Handeln genutzt werden. Als Beispiel sei hier die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991) genannt. Danach können Interventionen an verschiedenen Punkten ansetzen. Dies wird auch im Modell zum umweltbewussten Handeln von Fietkau und Kessel (1981) deutlich. Im Gegensatz zu den allgemeinen sozialpsychologischen Modellen handelt es sich dabei um ein spezifisches Modell für umweltrelevantes Verhalten. Dementsprechend können daraus diverse Ansatzpunkte für Interventionen einfacher abgeleitet werden (siehe Illustration). Um umweltrelevantes Verhalten zu fördern, kann nach dem Modell an fünf Punkten angesetzt werden: Als Erstes können Handlungsangebote geschaffen werden, welche Möglichkeiten bieten, umweltverträglich zu Handeln. Ohne ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz und eine intakte Bahninfrastruktur können die meisten Menschen nicht auf das Auto verzichten. Je weniger Velowege es gibt, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass wir mit dem Velo zur Arbeit fahren. Die zweite Möglichkeit besteht in der Vermittlung von umweltbezogenen Werten und Einstellungen, welche das nachhaltige Handeln fördern, denn wem die Natur nichts bedeutet und wer keinen Wert in der Artenvielfallt sieht, der wird sein Verhalten nicht danach ausrichten. Drittens kann umweltrelevantes Wissen vermittelt werden. Wenn ich nicht weiss, dass mein Auto die Umwelt belastet, komme ich nicht auf die Idee, mein Verhalten anzupassen. Der Bauer, dem die Natur wichtig ist, wird seine Produktion erst anpassen, wenn ihm bewusst ist, dass die Überdüngung von Böden und die Ausschwemmung der Nährstoffe in die Gewässer ein grosses Problem darstellen. Als Viertes können die Konsequenzen des eigenen Handelns mit Feedback sichtbar gemacht werden. Wenn ich den Wasserverbrauch während dem Duschen ablesen kann, beeinflusst das meinen Wasserverbrauch. Wenn ich die Emissionen meines Ferienfluges rückgemeldet bekomme, werde ich vielleicht auf den nächsten Flug verzichten. Fünftens können Handlungsanreize geschaffen werden. Der Staat kann mit Steuern den Verbrauch von Schadstoffen sanktionieren und den Bahnverkehr subventionieren.

Theorie des geplanten Verhaltens

Die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991) ist eine Erweiterung der Theorie des überlegten Verhaltens. Mit ihr wird bewusstes Handeln vorhergesagt. Dabei bestimmen die Einstellung gegenüber dem Verhalten, die subjektive Norm und die wahrgenommene Verhaltenskontrolle die Verhaltensabsicht. Die Verhaltensabsicht ist wiederum der Prädiktor für das Verhalten. Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle beeinflusst dabei sowohl die Verhaltensabsicht als auch das Verhalten.

Nebenwirkungen beachten!

Wer nun begonnen hat sein Handeln nachhaltiger zu gestalten, dem bleibt noch das Problem der mentalen Buchhaltung. Nach der Theorie der mentalen Buchhaltung (Thaler, 1980) wird ein umweltschonendes Verhalten als solches in der geistigen Abrechnung verbucht. Die Wahrscheinlichkeit bei einer weiteren Entscheidung das umweltschonende Verhalten zu bevorzugen sinkt, da das Konto bereits ausreichend gefüllt und somit das schlechte Gewissen getilgt ist.

«Kann die Psychologie Umweltverhalten und nachhaltiges Handeln erklären?»

Chatelain und Kollegen (2018) untersuchten den Effekt der mentalen Buchhaltung für umweltrelevantes Verhalten. Sie fanden den Effekt bei aufeinanderfolgenden Verhaltensweisen, die ähnlich sind – zum Beispiel zweimal Recycling. Wenn sich die Handlungen aber deutlich unterschieden gab es den Effekt nicht. Interessant war auch der Einfluss von Emotionen. Positive Emotionen konnten wiederholtes Umweltverhalten fördern und den Effekt der mentalen Buchhaltung kompensieren. Der Effekt der mentalen Buchhaltung zeigte sich nur bei der Gruppe, in der eine Werbung präsentiert wurde, welche negative Emotionen verursachte.

Dies zeigt, dass Angstmacherei und die Förderung von nachhaltigem Verhalten über schlechtes Gewissen keinen langfristigen Effekt haben. Umweltverhalten muss Freude bereiten. Also sorgen wir besser dafür, dass Kinder möglichst viel Zeit in der Natur verbringen und später nachhaltig und umweltbewusst handeln. Hoffentlich ist es nicht zu spät.


Zum Weiterlesen

Hänggi, M. (2018). Null Öl. Null Gas. Null Kohle. Wie Klimapolitik funktioniert. Ein Vorschlag. Zürich: Rotpunktverlag.

[An Grafik-Team: Bei den Zitaten je nach Platz 0-2 auswählen; ihr habt die Freiheit]

Literatur

Ajzen, I. (1991). The theory of planned behavior. Organizational Behavior And Human Decision Processes, 50(2), 179-211. doi:10.1016/0749-5978(91)90020-T

Bamberg, S., & Möser, G. (2007). Twenty years after Hines, Hungerford, and Tomera: A new meta-analysis of psycho-social determinants of pro-environmental behaviour. Journal Of Environmental Psychology, 27(1), 14-25. doi:10.1016/j.jenvp.2006.12.002

Chatelain, G., Hille, S. L., Sander, D., Patel, M., Hahnel, U. J., & Brosch, T. (2018). Feel good, stay green: Positive affect promotes pro-environmental behaviors and mitigates compensatory ‚mental bookkeeping‘ effects. Journal Of Environmental Psychology, 56, 3-11. doi:10.1016/j.jenvp.2018.02.002

Dunlap, R. E., Gallup, G. H., Jr., & Gallup, A. M. (1993). Of Global Concern: Results of the Health of the Planet Survey, Environment, 35(9), 7-39. doi:10.1080/00139157.1993.9929122

Evans, G. W., Otto, S., & Kaiser, F. G. (2018). Childhood origins of young adult environmental behavior. Psychological Science, 29(5), 679-687. doi:10.1177/0956797617741894

Fietkau, H.-J., & Kessel, H. (1981). Umweltlernen. Veränderungsmöglichkeiten des Umweltbewusstseins. Königstein: Hain.

Global Footprint Network. (2016). Living Planet Report 2016. Retrieved from http:// www.footprintnetwork.org/living-planet-report/.

Milfont, T. L., & Schultz, P. W. (2016). Culture and the natural environment. Current Opinion In Psychology, 8194-199. doi:10.1016/j.copsyc.2015.09.009

Thaler, R. (1980). Toward a positive theory of consumer choice. Journal of Economic Behavior & Organization, 1(1), 39-60. doi:10.1016/0167-2681(80)90051-7

Gestörtes Essverhalten bei Männern

Ein aufgrund weiblicher Stereotypisierung verkanntes Phänomen

Essstörungen tragen wegen des hohen Anteils an weiblichen Betroffenen unter Laien wie auch unter Fachpersonen den Stempel «Frauenerkrankungen». Die Symptomatik wird durch die Assoziation mit dem weiblichen Geschlecht von männlichen Betroffenen vermehrt verleugnet und von Behandlungspersonen fehlinterpretiert.

Von Nina Rutishauser
Lektoriert von Michelle Donzallaz und Yésica Martinez 
Illustriert von Daniel Skoda

Neulich fragte mich eine Freundin, ob es Essstörungen bei Männern überhaupt gebe – ein Ausdruck davon, dass diese primär mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Wer glaubt, dass sich dieser Geschlechterbias auf Laien beschränkt, der irrt sich. Der Fokus auf Mädchen und Frauen lässt sich auch in mancher Fachliteratur finden. Jacobi und de Zwaan (2011) sprechen zum Beispiel in ihrem Kapitel zu Essstörungen im umfassenden Werk Klinische Psychologie & Psychotherapie überwiegend von «Patientinnen». Essstörungen bei Jungen und Männern werden scheinbar wenig wahrgenommen und thematisiert. Dieser Artikel ist ein Versuch, das Bild der Essstörung als «Frauenerkrankung» aufzubrechen: Es wird ein Licht auf die Selbst- und Fremdstigmatisierung und die Hürden in der ärztlich-psychologischen Diagnostik und Therapie männlicher Betroffener geworfen, die durch den jahrzehntelangen Fokus auf Frauen entstanden sind.

Essstörungen bei Mann und Frau

Das Geschlechterverhältnis bezüglich Essstörungsprävalenzen erklärt, weshalb diese im Zusammenhang mit Jungen und Männern wenig Beachtung finden. Das Verhältnis von Frauen zu Männern beträgt für Anorexia nervosa (AN) 10:1 und für Bulimia nervosa (BN) etwa 20:1(Jacobi & de Zwaan, 2011). Da Essstörungen bei männlichen Patienten unterdiagnostiziert werden, ist aber davon auszugehen, dass diese Zahlen deren Anzahl unterschätzen (Murray et al., 2017; Raevuori, Keski-Rahkonen, & Hoek, 2014). Einzig von der Binge-Eating-Störung (BES) sind Frauen «nur» etwa 1.5-mal häufiger betroffen als Männer (Jacobi & de Zwaan, 2011). In Bezug auf subklinisch auffälliges Essverhalten scheint der Geschlechtsunterschied sogar fast gänzlich zu verschwinden (National Eating Disorder Association [NEDA], 2018).

Auf die Symptomatik der AN, BN und BES wird im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen. In Bezug auf die Kernsymptome scheint es aber zwischen den Geschlechtern keine bedeutenden Unterschiede zu geben (Woodside et al., 2001). Einige geschlechtsspezifische Merkmale seien dennoch erwähnt. Eine endokrine Störung, die bei AN aufgrund des Untergewichts entstehen kann, äussert sich bei Frauen zum Beispiel durch Ausbleiben der Menstruation. Das männliche Pendant ist der Libido- und Potenzverlust (Dechene, 2008). Im Unterschied zu Frauen scheinen sich anorektische Männer zudem weniger am tiefen Gewicht zu orientieren als an der Form der Figur, wobei betonte Muskeln bei einem gleichzeitig schlanken Körper eine zentrale Rolle spielen (Murray et al., 2017; Strober et al., 2006).

Im Schatten der Frau

Bereits vor 100 Jahren wurden rapide Gewichtsabnahmen und restriktives Essverhalten bei Männern in medizinischen Werken festgehalten. Gestörtes Essverhalten wurde jedoch anderen psychiatrischen Störungen untergeordnet (Murray et al., 2017). Anders als bei Frauen wurde die Körperschemastörung – die Wahrnehmung, zu dick zu sein – bei Männern lange im Kontext wahnhaften Verhaltens eingeordnet, womit Patienten, die eigentlich an einer Essstörung litten, als schizophren diagnostiziert wurden (Mangweth-Matzek, 2015). In einer Zeitperiode, in der sich Diagnostik und Behandlungsmodalitäten rapide weiterentwickelten, führte dies ausserdem dazu, dass sich klinische Studien vorwiegend an Frauen ausrichteten (Murray et al., 2017). Weniger als ein Prozent der wissenschaftlichen Publikationen zu AN sind laut Murrary, Griffiths und Mond (2016) dem männlichen Geschlecht gewidmet.

Prominente Beispiele von Essstörungen bei Männern

Zu den Männern mit Bekanntheitsgrad, die unter einer Essstörung litten, gehören beispielsweise Elton John (Sänger) und John Prescott (ehemaliger britischer Vizepremierminister). Letzterer gab in seiner Biografie an, den Stress seines Amtes jahrelang mit Essanfällen und Erbrechen bewältigt zu haben (Zeit, 2008). Caleb Followill, Lead-Sänger der Band Kings of Leon, kämpfte zum Ende seiner Adoleszenz mit Magersucht (The Irish Times, 2014). Essstörungen sind auch im Leistungssport nicht wegzudenken, insbesondere in Sportarten, in denen ein niedriges Gewicht von Vorteil sein kann wie im Eiskunstlauf und Skispringen. Bahne Rabe, Olympia-Sieger im Ruder-Achter, verstarb 2001 an den Folgen seiner Magersucht und der Skispringer Stephan Zünd «ernährte» sich vor seinem Rücktritt zugunsten einer Therapie nur noch von Wasser (Schweizer Radio Fernsehen, 2015).

Der einseitige Fokus auf Frauen hat für betroffene Männer weitreichende Konsequenzen. Die Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung ist bei Betroffenen mit Essstörungen allgemein gering, aber noch geringer bei Männern (Murray et al., 2017). Es besteht diesbezüglich die Annahme, dass Männer einem «doppelten» Stigma ausgesetzt sind: einerseits durch das Leiden an einer psychischen Erkrankung und andererseits durch die Charakterisierung der Essstörung als «weiblich» oder «schwul» (NEDA, 2018). In einer Studie in Grossbritannien gaben männliche Essstörungspatienten an, durch die Fehlvorstellung, nur «fragile jugendliche Mädchen» litten an Essstörungen, ihre Symptome nicht als essgestört erkannt zu haben (Räisänen & Hunt, 2014). Die Stereotypisierung der Essstörung verzögert die Inanspruchnahme ärztlich-psychologischer Hilfe und lässt das Fortschreiten der Symptomatik gewähren, was sich wiederum negativ auf den Störungsverlauf und das Behandlungsergebnis auswirken kann (Griffiths et al., 2015).

«[…] men with eating disorders are underdiagnosed, undertreated, and misunderstood by many clinicians who encounter them.»

Strother, Lemberg, Stanford, & Turberville, 2012, S. 346

Überwindet ein Betroffener die Hürde, sich an eine Fachperson zu wenden, bestehen weitere Schwierigkeiten in der Diagnostik. Das fehlende Bewusstsein für die Präsenz von Essstörungen in männlichen Patientenpopulationen fördert nicht nur bei den Betroffenen und deren Umfeld das Verkennen der Symptomatik. Dies kann auch bei Fachpersonen zum späten Erkennen der Essstörung beziehungsweise zu Fehldiagnosen führen (Räisänen & Hunt, 2014). Ein zusätzlicher Grund, weshalb die Symptomatik bei Männern unterschätzt wird, könnte darin liegen, dass ein Grossteil der Diagnostikinstrumente für Essstörungen (zum Beispiel strukturierte Interviews) auf Frauen ausgerichtet ist (Mangweth-Matzek, 2015). Männer erzielen tendenziell tiefere Werte auf Essstörungsskalen, obwohl sie sich in der Kernsymptomatik kaum von Frauen unterscheiden (Raevuori et al., 2014).

Vom Schatten ins Licht

Die Schulung von Fachpersonen, insbesondere von Hausärzten|innen als Ansprechpersonen, zur Früherkennung von Essstörungen bei Jungen und Männern, ist ein notwendiger Schritt zur effizienten Behandlung Betroffener. In der Diagnostik wurden bereits Fortschritte erzielt. Die Kriterien für eine AN im DSM-5 wurden geschlechtsneutral formuliert, was die Diagnosestellung bei Männern erleichtert (APA, 2013; Raevuori et al., 2014). Räisanen und Hunt (2014) schlagen zudem eine Hervorhebung der männlichen Patientenpopulation in den internationalen, klinischen Leitlinien vor. Fachpersonen können so im Behandlungsprozess «männlicher» Essstörungen besser angeleitet werden. Trotz geringer Unterschiede in der Kernsymptomatik bei Männern und Frauen wird empfohlen, in der Therapie auch geschlechtsspezifische Themen aufzugreifen. Das Verständnis darüber, wie sich körperbezogene Ideale und Sorgen zwischen Essstörungspatienten und -patientinnen unterscheiden birgt beispielsweise für die Behandlung der Körperschemastörung bei männlichen Patienten grosse Vorteile (Strother et al., 2012).

«Although 100 percent of such programs in the United States accept females, only about 20 percent also accept males with a much smaller subset offering male-only treatment groups.»

Goldstein, Alinsky, & Medeiros, 2016, S. 371

In Behandlungsinstitutionen lässt sich erwartungsgemäss eine Überzahl an Frauen finden. Dies kann bei männlichen Patienten das «kulturelle Stigma» ihrer Essstörung verstärken. Es empfiehlt sich folglich ein therapeutisches Umfeld (zum Beispiel eine Gruppentherapie) mit Betroffenen gleichen Geschlechts (NEDA, 2018), was aber noch kaum angeboten wird (siehe Goldstein et al., 2016). Rücken männliche Betroffene mehr ins Licht, kann dies den Anstoss dafür geben, auf Männer zugeschnittene Diagnostikinstrumente zu entwickeln und Behandlungssettings anzubieten. Nur wenn die Psychiatrie dieser vernachlässigten Patientenpopulation gerecht wird, vermag sich auch in der Gesellschaft der Mythos der Essstörung als «Frauenerkrankung» auflösen.


Zum Weiterlesen

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

Literatur

American Psychiatric Association [APA]. (2013). Feeding and Eating Disorders. Abgerufen auf https://www.psychiatry.org/…/APA_DSM-5-Eating-Disorders.pdf [16. Juni 2018]

Dechene, M. (2008). Essstörungen bei Männern. Blickpunkt der Mann, 6(3), 20–22.

Jacobi, C., & de Zwaan, M. (2011). Essstörungen. In Klinische Psychologie & Psychotherapie (Wittchen, H.-U., & Hoyer, J., Hrsg). Heidelberg: Springer.

Goldstein, M. A., Alinsky, R., & Medeiros, C. (2016). Males with restrictive eating disorders: Barriers to their care. Journal of Adolescent Health, 59, 371–372.

Murray, S. B., Nagata, J. M., Griffiths, S., Calzo, J. P., Brown, T. A., Mitchison, D., Blashill, A. J., & Mond, J. M. (2017). The enigma of male eating disorders: A critical review and synthesis. Clinical Psychology Review, 57, 1–11.

National Eating Disorders Association [NEDA]. (2018). Eating Disorders in Men and Boys. Abgerufen auf https://www.nationaleatingdisorders.org/learn/general-information/research-on-males [15. Juni 2018]

Räisänen, U., & Hunt, K. (2014). The role of gendered constructions of eating disorders in delayed help-seeking in men: a qualitative interview study. BMJ Open, 4(4), 1–8.

Schweizer Radio Fernsehen. (2015). Mehr Training, weniger Essen – Magersucht bei Sportlern. Abgerufen auf https://www.srf.ch/sendungen/puls/psyche/mehr-training-weniger-essen-magersucht-bei-sportlern [15. Juni 2018]

Strother, E., Lemberg, R., Stanford, S. C., & Turberville, D. (2012). Eating disorders in men: Underdiagnosed, undertreated, and misunderstood. Eating Disorders, 20(5), 346–355.

The Irish Times. (2014). The hidden problem of male anorexia. Abgerufen auf https://www.irishtimes.com/life-and-style/health-family/the-hidden-problem-of-male-anorexia-1.1753391 [11. Juli 2018]

Woodside, D. B., Garfinkel, P. E., Lin, E., Goering, P., Kaplan, A. S., Goldbloom, D. S., & Kennedy, S. H. (2001). Comparisons of men with full or partial eating disorders, without eating disorders, and women with eating disorders in the community. American Journal of Psychiatry, 158, 570–574.

Zeit. (2008). Gestanden. Abgerufen auf https://www.zeit.de/2008/18/Gestanden [15. Juni 2018]

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Halt und Stopp! Wir sind wieder da mit einer neuen aware Ausgabe.

Transitionen zwischen verschiedenen Lebensphasen bewegen und prägen uns Menschen. Sei es die Geburt eines Kindes, der erste Schultag, eine Heirat, die Menopause oder das Bewusstwerden, dass man älter wird. Wir brauchen Reserven, um durchzuhalten und im richtigen Moment brauchen wir die richtige Unterstützung.

Übergänge können auch erschwert sein, wenn ein|e Partner|in krank ist oder es plötzlich wird. Erkrankungen wie Depressionen oder auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivätsstörungen (ADHS) können Beziehungen überschatten. Eine Person mit einer Depression kann sich zu keinen gemeinsamen Aktivitäten aufraffen und jemandem mit ADHS fällt es schwer, sich richtig auszudrücken. Wie kann man für solche Menschen als Partner|in eine Unterstützung sein und die Beziehungen aufrechterhalten?

Menschen mit psychischen Erkrankungen werden oftmals stigmatisiert. So ist es für Männer in unserer Gesellschaft immer noch schwierig, sich als «Anorektiker» oder «Bulimiker» zu outen. Das Krankheitsbild einer Essstörung wird bis heute eher dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben – Männer, die unter solchen Krankheiten leiden, passen nicht ins Bild. Was ist wichtig zu wissen?

Die Klimaerwärmung ist ein allgegenwärtiges Thema. Tag ein, Tag aus bekommen wir es zu hören: Wir sollen innehalten und unseren Lebensstil ändern. Wir sollen nachhaltiger und weitsichtiger handeln. Wir sollen an die Zukunft unserer Kinder denken, die in dieser Welt noch leben sollen. Welche Lösungsansätze bietet die Psychologie?

Zu guter Letzt kommen wir zu #MeToo. Seit zwei Jahren zieht sich die Thematik bereits durch alle Medien. Dass es aber nicht nur in Hollywood, sondern auch an Universitäten zu sexuellen Belästigungen und dergleichen kommt, wird meistens verschleiert. Wer ist betroffen und was kann man tun?

Diese und weitere Themen behandeln wir in dieser Ausgabe und wünschen euch an dieser Stelle viel Vergnügen beim Lesen.

Eure aware Redaktion

Ausdrücken oder Weiterqualmen?

Der Tabakkonsum und seine Folgen

Vor dem Eingang des Hauptgebäudes in jeder Pause scheinen sie zu stehen: die Raucher. Trotz Warnhinweisen auf der Packung qualmen sie genüsslich weiter. Aber warum ignorieren sie die gesundheitlichen Folgen? Und wie kann man trotz Sucht aufhören?

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Stefan Dorner und Franziska Hasler
Illustriert von Selina Landolt

Ein Feuerzeug, das angeht, das Knistern einer angezündeten Zigarette und ein Schwall Rauch: die Routine eines Rauchers. Zu ihnen zählten im Jahr 2016 ein Viertel der gesamten Schweizer Bevölkerung über 15 Jahren (Notari & Kuendig, 2018). Auch wenn diese Zahl unglaublich hoch klingt, war sie vier Jahre zuvor noch höher: vor 2011 gab jeder Dritte an zu rauchen (Notari & Kuendig, 2018). Insgesamt kosteten Raucher den Staat über zehneinhalb Milliarden Schweizer Franken, auf Grund von Erwerbsausfällen, Gesundheitskosten und dem Verlust der Lebensqualität (Notari & Kuendig, 2018). Die Einnahmen der Tabaksteuer von zwei Milliarden (Notari & Kuendig, 2018) decken nur einen kleinen Teil der Kosten. Auch die Anzahl der Todesfälle auf Grund des Tabakkonsums lassen einen fragen, ob es das bisschen Dopamin, welches das Nikotin freisetzt (Doktor Online, 2017), die gesundheitlichen Schäden Wert sind. Im Schnitt starben in der Schweiz im Jahr 2016 26 Menschen pro Tag auf Grund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenkrebs, Erkrankung der Atemwege oder anderen Krebsarten, die sich alle auf den Konsum von Tabak zurückführen liessen (Notari & Kuendig, 2018). Im gleichen Jahr starben insgesamt sechsmal weniger Menschen durch Verkehrsunfälle, an illegalem Drogenkonsum und Suiziden (Notari & Kuendig, 2018).

Es kommt einem so vor, als gäbe es neben den vielen Rauchern genauso viele Gelegenheitsraucher. Durchschnittlich konsumierten diese etwas mehr als eine Zigarette pro Tag im Jahr 2016 (Bundesamt für Gesundheit, 2016). Auch wenn dies nicht besonders gesundheitsgefährdend scheint, zeigte eine Studie von Bjartveit und Tverdal (2005), dass der Konsum von einer bis vier Zigaretten pro Tag mit einem signifikant höheren Risiko an einer ischämischen Herzerkrankung zu sterben, verbunden ist. Ausserdem schienen die weiblichen Versuchsprobanden anfälliger für einen Tod durch Lungenkrebs zu sein (Bühler & Thrul, 2012).

E-Zigaretten

Obwohl es viele verschiedene Modelle und Arten der elektronischen Zigarette gibt, funktionieren sie alle nach dem gleichen Prinzip: durch einen Unterdruck-Sensor oder einen Druckknopf wird Leistung auf den Verdampfkopf abgegeben, welcher das Liquid in Dampf umwandelt (Dampforakel, 2018). Liquids sind Nachfüllflüssigkeiten für die E-Zigaretten, die in verschiedenen Geschmacksrichtungen und mit unterschiedlichen Mengen an Nikotin verkauft werden (Bundesamt für Gesundheit, 2017). Die E-Zigaretten können meistens wieder aufgefüllt, wie auch aufgeladen werden (Dampforakel, 2018). Sie sind in verschiedenen Grössen erhältlich und können zum Teil an den Computer angeschlossen werden, um seinen persönlichen Konsum zu analysieren (Dampforakel, 2018). Für mutige Dampfer gibt es auch Modelle ohne eingebaute Sicherung, bei denen das Risiko einer Explosion auf Grund Überhitzung besteht (Dampforakel, 2018). Da E-Zigaretten nicht unter das Tabakproduktegesetz fallen, sondern mithilfe von Lebensmittelgesetzen geregelt werden, dürfen Jugendliche und Kinder nikotinhaltige Liquids kaufen (Scheven, 2018). Neben den E-Zigaretten gibt es die Hot-Not-Burn Produkte, wie beispielsweise IQOS (Philip Morris International Management SA). Dabei wird Tabak erhitzt, aber nicht verbrannt, wodurch weniger schädliche Stoffe freigesetzt werden (Philip Morris International Management SA). Auch die Betreiber von E-Zigaretten werben mit dem gesundheitlichen Aspekt: die Liquids beinhalten keine krebserregenden Stoffe und keinen Tabak, man sei vitaler und gesünder, zudem fällt die Tabaksteuer weg, was die Produkte günstiger macht (Dampforakel, 2018). Ein Bericht von Kassensturz zeigt jedoch, dass die krebserregenden Stoffe Crontonaldehyd, Formaldehyd und Acetaldehyd, welche durch das Erhitzen entstehen, sehr wohl in den Liquids enthalten sind (Jans, 2014). Zudem vermutet man zusätzlich bedenkliche Stoffe, die noch erforscht werden sollten (Jans, 2014). Generell scheinen sie weniger schädlich zu sein als herkömmliche Zigaretten, um ein abschliessendes Urteil fällen zu können, ist die Wissensbasis aber noch zu klein (Jans, 2014). Grösstenteils wird die E-Zigarette dazu verwendet, um den Tabakkonsum zu reduzieren (Kuendig, Notari, Gmel, & Gmel, 2017) oder die durch das Rauchen entstandenen Schäden zu minimieren (Goniewicz, Lingas, & Hajek, 2013). In der Studie von Goniewicz und Kollegen (2013) schaffte es der Grossteil der Probanden mithilfe der E-Zigaretten mit dem Konsum von herkömmlichen Zigaretten aufzuhören. Vielleicht ist es dadurch möglich, die Gesundheitskosten insgesamt zu verringern.

Zwischen Husten, gelben Zähnen und Depression

Auf jeder Zigaretten-Packung springen einem die Bilder und Warnungen über die körperlichen Folgen des Rauchens entgegen. Dazugehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie Herzinfarkte und Schlaganfälle, Raucherbeine und bei Männern Impotenz Probleme (Larisch, 2011). Diese entstehen durch Gefässverkalkungen, –Verengung und –Verstopfung (Larisch, 2011). Ausserdem erzeugt Rauchen einen Sauerstoffmangel im Gewebe, da das aufgenommene Kohlenmonoxid die Sauerstoffaufnahme im Blut erschwert (Larisch, 2011). Auch wenn das Krebsrisiko abhängig vom Nikotin- und Teergehalt ist, so gibt es eine eindeutige Beziehung zwischen Rauchen und Krebs (Larisch, 2011). Genauso klar steht es um die chronisch obstruktive Lungenkrankheit (COPD), die fast nur Raucher bekommen (Larisch, 2011). Dabei kommt es zu einer Erkrankung der Atemwege, wie die chronische Bronchitis, also die Entzündung und Verengung der Atemwege, oder dem Lungenemphysem, einer Schwächung der Lungenstruktur (Larisch, 2011). Daneben besteht ein erhöhtes Thromboserisiko und die Reizung, wie auch Entzündung der Augen, Schädigung der Netzhaut bis hin zum Verlust des Augenlichts (Larisch, 2011).

Auch das äusserliche Erscheinungsbild wird negativ beeinflusst: durch die Gefässverengung und die daraus resultierende schlechtere Durchblutung wird die Haut faltiger, grau und blass (Larisch, 2011). Das ist auch der Grund, warum viele Raucher öfters kalte Hände haben (Larisch, 2011). Die Zähne werden ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen: die Schädigung der Schleimhäute erhöhen das Krebsrisiko, die Entzündung des Zahnfleischs und Zahnbetts führen zu Paradontisis und es kommt zu einer Verfärbung der Zähne (Larisch, 2011). Die Liste der körperlichen Schäden durch den Konsum von Zigaretten würde sich noch erheblich erweitern lassen.

«Ich möchte jetzt nicht den Tabak romantisieren oder mich dem Fortschritt verweigern, aber wenn ich eines befremdlich finde, dann den Satz: Ich kann grad nicht rauchen. Mein Akku ist leer.»

Patrick Salmen, 2015

Neben den physischen Nebenwirkungen gibt es auch psychische. Es bestehen Verbindungen zwischen dem Rauchen und schweren Depressionen (Leventhal, Japuntich et al., 2012), leichter Depression (Weinberger, Pilver, Desai, Mazure, & McKee, 2013), Dysthymie (Weinberger et al., 2013), Panikstörung (Piper, Cook, Schlam, Jorenby, & Baker, 2011), sozialer Phobie (Piper et al., 2011), posttraumatischen Belastungsstörungen (Zvolensky et al., 2008) und generalisierter Angststörungen (Piper et al., 2011). Vor allem der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Zigaretten und Angststörungen, wie auch Depressionen, wurde in zahlreichen Studien gefunden (Hughes, 2011; Japuntich et al., 2007; Leventhal, Japuntich et al., 2012; Piper et al., 2011; Zvolensky et al., 2008). Dabei scheint es nicht wichtig zu sein, in welchem Stadium des Rauchens man sich befindet (Leventhal & Zvolensky, 2015), ob bei der ersten Zigarette (Leventhal, Ray, Rhee, & Unger, 2012), als regelmässiger Raucher (Audrain-McGovern et al., 2012) oder in der Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer Sucht (McKenzie, Olsson, Jorm, Romaniuk, & Patton, 2010).

Auch wenn der dahinter verborgene Mechanismus unklar ist, wird von einer bidirektionalen Beziehung ausgegangen (Leventhal & Zvolensky, 2015). So erhöht sich das Risiko einer affektiven Störung mit der Zunahme des Tabakkonsums (Breslau, Novak, & Kessler, 1999) und durch Abstinenz verringert sich die depressive Symptomatik (Kahler, Spillane, Busch, & Leventhal, 2011).

Dennoch gibt es Autoren, die den kausalen Zusammenhang zwischen hohem Konsum und psychischer Belastung anzweifeln (Skov-Ettrup, Nordestgaard, Petersen, & Tolstrup, 2017).

Das passiert nach der letzten Zigarette:

  • 20 Minuten: Normalisierung von Puls und Blutdruck
  • 12 Stunden: Absinken des Kohlenmonoxid-Spiegels und Anstieg des Sauerstoff-Spiegels im Blut. Die Organe werden wieder besser mit Sauerstoff versorgt und die körperliche Leistungsfähigkeit steigt.
  • Bis zu drei Monaten: Der Kreislauf stabilisiert sich und die Lungenfunktion verbessert sich.
  • Bis zu neun Monaten: Hustenanfälle, Kurzatmigkeit und die Verstopfung der Nasennebenhöhlen reduzieren sich und es kommt zu einem Schleimabbau in der Lunge. Das Risiko für Infektionen sinkt.
  • Ein Jahr: Das Risiko für koronare Herzkrankheiten halbiert sich.
  • Fünf Jahre: Das Risiko für Krebs (in der Mundhöhle, Speiseröhre, Rachen, Harnblase und in dem Gebärmutterhals) wie auch für Schlaganfälle halbiert sich.
  • Zehn Jahre: Das Risiko für Lungenkrebs halbiert sich.
  • 15 Jahre: Das Risiko für koronare Herzkrankheiten ist gleich hoch wie bei Menschen, die niemals geraucht haben.

(MyLife Media GmbH)

Warum fangen wir an?

Vor allem die körperlichen Folgen des Rauchens scheinen allgemeinhin bekannt zu sein. Dennoch rauchen Menschen weiter oder fangen damit an. Aber warum? Das Wissen über die Risiko- und Schutzfaktoren bei Beginn des Rauchens ist begrenzt (Menati et al., 2014). Mögliche Risikofaktoren sind das Beisein in Rauchergruppen (Menati et al., 2014), tabakkonsumierende Freunde, Langeweile, die beruhigende Wirkung, der Wunsch Erwachsen auszusehen oder cool zu sein (Cronan, Conway, & Kaszas, 1991). Das Einzige, das gegen einen Beginn zu schützen scheint, ist Sport (Menati et al., 2014). Die Ursachen, warum Menschen weiter rauchen, sind besser untersucht. Neben der physischen und psychischen Abhängigkeit, die bei etwa der Hälfte der Raucher besteht, wird der Ausstieg auch durch Verhaltensgewohnheiten, persönliche oder aus der Umgebung stammende Wertehaltungen und der kognitiven Dissonanz erschwert (Andreas et al., 2015). Diese machen den Ausstieg zum Teil zu einem langen, schweren und von Rückfällen geprägten Prozess (Andreas et al., 2015). Die kognitive Dissonanz entsteht durch eigenes Verhalten, das jedoch entgegen den persönlichen Überzeugungen ist, wie beispielsweise das Rauchen von Tabak trotz gesundheitlicher Folgen (Kneer, Glock, & Rieger, 2012). Es gibt vier Möglichkeiten diese kognitive Dissonanz zu verringern. Die Dissonanz kann beispielsweise durch das Unterdrücken von Gedanken reduziert werden (Kneer et al., 2012) oder wie es Winston Churchill ausdrückt:

«Ein leidenschaftlicher Raucher, der immer wieder liest, welche Gefahr das Rauchen für seine Gesundheit bedeutet, hört in den meisten Fällen auf … zu lesen.»

Winston Churchill nach Troschke, 1987, S. 171

Eine andere Art die kognitive Dissonanz zu reduzieren, ist die Negation der Zusammenhänge (Kneer et al., 2012), wie zum Beispiel, dass Rauchen nicht so schädlich ist, wie es von Fachpersonen dargestellt wird. Die dritte Verhaltensweise ist, dass andere, oft positive, Kognitionen hinzugefügt werden. Man denkt dann zum Beispiel, dass das Rauchen in stressigen Zeiten entspannt und dadurch Nichtraucher dem Stress stärker ausgesetzt werden, wodurch sie schlussendlich mehr Schaden davon tragen, als es Raucher tun (Kneer et al., 2012). Die vierte und letzte Technik, um die kognitive Dissonanz zu verringern, ist, mit dem Konsum aufzuhören (Kneer et al., 2012).

Die letzte Zigarette

Es gibt verschiedene Methoden mit dem Rauchen aufzuhören. Die Metaanalyse von Viswesvaran und Schmidt (1992) fand heraus, dass konditionierungsbasierte Methoden und instruierende Techniken, wie beispielsweise ein Fünf-Tagesplan zu erstellen, am erfolgreichsten waren. Medikamente schlossen in der Studie am schlechtesten ab (Viswesvaran & Schmidt, 1992). Generell lag der durchschnittliche Erfolg bei 25%, wobei es keinen grossen Unterschied zwischen schweren Rauchern und leichten Rauchern gab (Viswesvaran & Schmidt, 1992). Genauso unwichtig scheint es zu sein, ob die Person früher eine depressive Störung hatte oder nicht (Hitsman, Borrelli, McChargue, Spring, & Niaura, 2003). Hingegen ist die soziale Unterstützung wie auch die Verwendung einer behavioralen Intervention wichtig, sofern eine starke Absicht besteht, aufzuhören, vor allem wenn ein früherer Versuch misslang (Soulakova, Tang, Leonardo, & Taliaferro, 2018).

Internetbasierte Programme wurden in der systematischen Literaturübersicht von Haug und Schaub (2011) zwar besser als keine Intervention und Minimalinterventionen dargestellt, waren tendenziell aber schlechter als persönliche Beratungsinterventionen. Online Interventionen, die sich auf Raucher fokussieren, die aufhören wollen, waren effektiver, als Programme, die sich an alle Raucher richteten (Haug & Schaub, 2011).

Der Vorteil von Apps liegt auf der Hand; sie sind einfach zu benutzen, praktisch und immer in Reichweite, vor allem wenn man das Verlangen nach dem nächsten Glimmstängel verspürt (Bennett et al., 2015). Es gibt zwei Arten von Apps, die den Nutzern das Aufhören erleichtern wollen: die einen helfen beim Rationieren von Zigaretten anhand von Zeit oder der Anzahl, die anderen zeigen an, wieviel Geld man einspart (Bennett et al., 2015). Insgesamt schnitten die Rationierungs-Apps etwas besser ab (Bennett et al., 2015). Doch bei vielen fehlte das Vermitteln von Wissen oder anderen Strategien, vor allem wenn die Benutzer keine Fortschritte erzielten (Bennett et al., 2015). Bennett und Kollegen (2015) kritisierten ausserdem, dass die Apps zu wenig personalisierbar sind und wenig auffordern, sich soziale Unterstützung zu holen. Ihr Fazit ist deshalb, dass es gute Apps gibt, die jedoch noch Raum zur Verbesserung aufweisen (Bennett et al., 2015). Die als am besten befundenen Apps für Andoid und iPhone in der Studie von Bennett und Kollegen (2015) waren Smoke Free, Quit Smoking und Smokless!.

Die Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften verlassen sich weder auf Apps noch auf internetbasierte Programme. Sie schlagen für Kurzinterventionen eine telefonische Beratung wie auch Kurzberatungen vor (Andreas et al., 2015). Für Interventionen an sich sollte man verhaltenstherapeutische Gruppeninterventionen oder Einzelinterventionen verwenden (Andreas et al., 2015). Da es keine Beweislage für psychodynamische Therapien oder Hypnotherapie gibt, wird davon abgeraten (Andreas et al., 2015). Auch Akkupunktur und E-Zigaretten werden nicht empfohlen (Andreas et al., 2015). Hingegen ermutigen sie zum Gebrauch von Nikotinersatzprodukten wie Nikotinkaugummi, –spray oder –pflaster, bei starken Rauchern sogar in Kombination miteinander (Andreas et al., 2015). Falls keine der Mittel helfen, können Medikamente, wie das Antidepressiva Bupropion oder partielle Nikotinrezeptoragonisten wie Varenicilin verwendet werden (Andreas et al., 2015). Sämtliche oben aufgeführten Mittel werden jedoch nur angewandt, wenn die betroffene Person nicht aus eigener Kraft eine Abstinenz erreicht (Andreas et al., 2015).

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich selbst geraucht und gewisse Aspekte, wie das Knistern einer angezündeten Zigarette, vermisse ich heute noch. Vor allem aber fehlen mir die Rituale, die mit dem Rauchen verbunden waren, wie beispielsweise die kleine Auszeit oder die guten Gespräche mit Freunden. Doch das Gefühl gesund und glücklich zu sein, wiegt den kurzfristigen Genuss auf. Und erfreulicherweise braucht man keinen Tabak, um sich zu unterhalten, nur den Willen, sich ein wenig Zeit zu nehmen.


Zum Weiterlesen

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Literatur

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ADHS im sozialen Kontext

Wenn Beziehungen weder halten, noch Halt bieten können

Viele ADHS-Patienten haben Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Impulsivität, emotionale Dysregulation und Unaufmerksamkeit tragen dazu bei, dass sie sich selbst als Außenseiter wahrnehmen – und auch als solche behandelt werden.

Von Loriana Medici
Lektoriert von Viktoria Zöllner und Madeleine Lanz
Illustriert von Selina Landolt

Soziale Beziehungen geben uns Halt. Sie ermöglichen uns, Erfahrungen zu machen, aus denen wir lernen können, geben uns Sicherheit, wenn etwas schief geht und bieten emotionale Unterstützung, wenn wir uns schlecht fühlen. House, Landis und Umberson (1988) vermuten sogar, dass soziale Isolation einen bedeutenden Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit und Mortalität hat. Doch nicht allen fällt das Aufbauen solcher Beziehungen gleichermassen leicht. Isolation und das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören sind äusserst belastend und führen letztendlich häufig zur Resignation: Man findet ja sowieso keinen Anschluss, warum sollte man es überhaupt noch versuchen?

ADHS-Patienten stellen diesbezüglich eine Risikogruppe dar. Weshalb das so ist, hat vielerlei Gründe, doch es scheint, als ob gerade die Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von sozialen Fertigkeiten haben (Friedman et al., 2003). Selbst wenn es gelingt Freundschaften aufzubauen, so scheitern doch viele an deren Aufrechterhaltung.

Soziale Kompetenzdefizite bei ADHS

ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Die Auswirkungen der drei Leitsymptome von ADHS, Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, beschränken sich keineswegs auf die Konzentrationsfähigkeiten von Schulkindern. Tatsächlich ist die schulische Leistungseinbusse lediglich die Spitze des Eisberges. Organisationsschwierigkeiten, emotionale Dysregulation und impulsive Handlungen stellen auch in sozialen Situationen grosse Hürden dar (Barkley, 1997). Impulsivität und Hyperaktivität führen dazu, dass man vom Gegenüber als unhöflich, nervig oder anstössig angesehen wird. Unaufmerksamkeit in Gesprächen oder das Vergessen von Verabredungen vermittelt dagegen den Eindruck, die andere Person sei einem nicht wichtig genug oder man versuche gar nicht, sich für die Beziehung einzusetzen. Folglich sind Reaktionen aus dem sozialen Umfeld bereits im Kindesalter häufig negativ. Friedman und Kollegen (2003) fanden auch im emotionalen Kompetenzbereich bedeutende Unterschiede zwischen ADHS-Patienten und einer Kontrollgruppe. ADHS-Patienten bewerten dargestellte Emotionen generell als intensiver, wobei Verachtung und Ekel als besonders intensiv herausstechen. Dennoch scheinen ADHS-Patienten wichtige soziale Hinweise zu verpassen. Dies zeigt sich in der Überraschung bei negativen Reaktionen, welche für sie scheinbar aus dem Nichts kommen.

«Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you’re broken.»

Jessica McCabe, 2017

Gemeinsam führen alle diese Faktoren dazu, dass viele ADHS-Patienten sich nie wirklich zugehörig, verstanden oder gemocht fühlen. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sie unbeliebt sind, was wiederum zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor Ablehnung führt (King & Young, 1982). Dieses Gefühl, nicht wirklich hineinzupassen, zieht sich oft bis ins Erwachsenenalter und wird dadurch, dass negative Reaktionen aufgrund vorheriger Erfahrungen erwartet werden, noch weiter verstärkt (Scharf, Oshiri, Eshkol, & Pilowsky, 2014).

Beziehungen aufbauen

Beziehungen aufzubauen kann schwierig sein; schwierig genug, dass viele ADHS-Patienten daran scheitern. Freundschaften zu knüpfen fällt gewissen Leuten leichter als anderen – Faktoren wie Offenheit oder Extraversion spielen dabei eine bedeutende Rolle. Für ADHS-Patienten ist diese Palette an relevanten Faktoren um einiges breiter als für neurotypische Personen. Impulsives Verhalten bedeutet nicht nur, dass man jetzt sofort eine Idee verwirklichen muss, sondern auch, dass man den Gedanken, den man gerade hatte, einfach ausspricht – um dann zu merken, dass er unangebracht oder verletzend ist (Friedman et al., 2003). Dazu kommt, dass Hyperaktivität und plötzliche Stimmungsschwankungen das Umfeld häufig überfordern. Gerade beim Aufbau neuer Bekanntschaften kann das fatal sein; warum sollte man seine Zeit darauf verwenden jemanden zu verstehen, der einen überfordert, wenn man ihn noch gar nicht wirklich kennt? An dieser Haltung ändert sich auch im Erwachsenenalter nur selten etwas.

Definition von ADHS

Die drei Leitsymptome von ADHS sind Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit. Es zeigt sich eine Tendenz häufig von einer Tätigkeit zur nächsten zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen. Mangelnde Impulskontrolle resultiert in einer Neigung zu Unfällen und Regelverletzungen, die eher in Unachtsamkeit als in Vorsätzlichkeit gründen. ADHS-Kinder sind unbeliebt und können isoliert sein, was zu dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl beitragen kann.

Aber was ist mit den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Patienten? Die TagträumerInnen begegnen dem gleichen Problem, auf andere Weise: Sie ecken an. Nicht, weil sie laut oder rüde wären, sondern weil sie abgelenkt sind – inmitten von Unterhaltungen, Unterrichtsstunden oder wenn sie zu einer Verabredung aufbrechen müssten. Verspätungen sind an der Tagesordnung und das erweckt schnell den Eindruck, dass sie sich keine Mühe geben, eine Bekanntschaft besser kennenzulernen. Sogar gewisse Coping-Mechanismen, wie beispielsweise Fidget Toys, die ihnen helfen könnten sich besser zu konzentrieren, werden häufig als unhöflich betrachtet und missbilligt. Die negative Rückmeldung von aussen wird aber keineswegs ignoriert. Im Gegenteil, Ablehnung wird von ADHS-Patienten äusserst heftig empfunden und Defizite in der Emotionsregulation erschweren die Kontrolle dieser Gefühle (Scharf et al., 2014). Auch daran ändert sich mit dem Alter nur selten etwas.

«Anticipating rejection is a self-fulfilling prophecy as exhibited in maladjusted social behavior. […] ADHD symptoms were associated with higher levels of rejection sensitivity, as well as lower levels of social adjustment.»

Scharf et al., 2014

Stattdessen fühlen sich viele ADHS-Patienten zunehmend missverstanden. Negative Reaktionen des Gegenübers scheinen ohne Vorwarnung über sie hereinzubrechen, weil sie offenbar etwas, das für alle anderen sonnenklar ist, nicht verstehen. Diese frühen Erfahrungen mit Ablehnung prägen viele ADHS-Patienten gewaltig. Während die einen mit Wut reagieren, werden andere ängstlich. In beiden Fällen entsteht eine selbsterfüllende Prophezeiung: In der Erwartung abgelehnt zu werden, verhalten sie sich aggressiver oder ziehen sich noch mehr zurück, was wiederum vermehrt zu tatsächlicher Ablehnung führt und ihre Erwartung bestätigt und festigt (Scharf et al., 2014). Je weiter sich die Betroffenen zurückziehen, umso weniger Erfahrung können sie zudem im Umgang mit ihren Mitmenschen sammeln, wodurch sich die Diskrepanz zwischen ihnen und ihrer Altersgruppe weiter verstärkt. Positive Beziehungen zu Gleichaltrigen beeinflussen nicht nur die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, auch akademischer Erfolg und Anpassungsfähigkeit in schulischen Settings profitieren von guten Freundschaften (Ladd, Kochenderfer, & Coleman, 1996). Doch gerade in Bezug auf akademische Situationen gibt es noch einen weiteren Faktor, der das Knüpfen sozialer Beziehungen massiv erschwert: Stigmatisierung. Canu, Newman, Morrow und Pope (2008) entdeckten, dass bereits das Label ADHS ausreicht, damit Studierende die angeblichen ADHS-Patienten im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS negativer bewerteten – obwohl die Zielperson keinerlei ADHS-Symptome zeigte.

Resignation und Akzeptanz gegenüber der subjektiv wahrgenommenen Tatsache, dass sie nie Freunde finden, können das Resultat sein. Glücklicherweise gilt dieses ausweglose Muster nicht für alle ADHS-Patienten.

Beziehungen aufrechterhalten

Tatsächlich sind nur wenige ADHS-Patienten wirklich völlig freundeslos, obwohl die zuvor beschriebenen Mechanismen fast alle Betroffenen beträchtlich beeinträchtigen (Marton, Wiener, Rogers, & Moore, 2015). Dennoch gelingt es vielen, allen Widrigkeiten zum Trotz, dyadische Freundschaften aufzubauen (Normand et al., 2013). Unglücklicherweise ist aber das Vorhandensein von sozialen Beziehungen allein nicht genug. Dieser Halt, den Beziehungen mit sich bringen, hängt beträchtlich von deren Qualität und insbesondere deren Stabilität ab. Obwohl ADHS-Patienten schon im Kindesalter nur selten freundeslos sind, so zeigen sich doch Unterschiede in den Freundschaften von ADHS-Kindern, gegenüber neurotypischen Vergleichsgruppen. Beispielsweise verabreden sich ADHS-Kinder häufiger in der Schule oder auf dem Spielplatz, als bei sich oder ihrem Freund Zuhause (Heiman, 2005). Besonders auffällig ist die durchschnittliche Dauer von Freundschaften, welche für ADHS-Kinder kürzer ist (Marton et al., 2015). Dabei sind die gleichen Faktoren entscheidend, wie beim Knüpfen neuer Kontakte: Defizite bei der Impulskontrolle, Unaufmerksamkeit, das Übersehen von subtilen negativen Rückmeldungen und emotionale Dysregulation senken die Beziehungsqualität über die Zeit (Normand et al., 2013). Zusätzlich scheinen ADHS-Kinder generell weniger Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich weniger in Gesprächen zu engagieren (Newcomb & Bagwell, 1995). Doch gilt all das auch für erwachsene ADHS-Patienten?

Im Jugendalter zeigt sich häufig ein leichter Rückgang der Hyperaktivitätssymptomatik (Harpin, 2005), die Problematiken von Unaufmerksamkeit und Impulsivität verändern sich dagegen kaum. Dennoch gelingt es vielen ADHS-Patienten ab der Pubertät besser, sich bei ihren Mitschülern beliebt zu machen – vorausgesetzt, dass sie bis dahin noch nicht resigniert haben. Nicht wenige werden sogar zu ausserordentlich populären Schülern, Studierenden, Lehrlingen und später Mitarbeitenden. Doch Peer-Akzeptanz ist nicht mit Freundschaft gleichzusetzen. Während Freundschaft eine enge Beziehung zwischen zwei Personen darstellt, welche auf Gegenseitigkeit beruht, ist PeerAkzeptanz nichts weiter, als von der Mehrheit der Gleichaltrigen gemocht und nur von wenigen abgelehnt zu werden (Mikami, 2010). Dennoch sind die beiden Konstrukte miteinander verknüpft. Akzeptanz von Gleichaltrigen hilft niedriges Selbstwertgefühl wieder zu heben, wodurch die Chance positive Beziehungen aufzubauen steigt (Mikami, 2010). Nichtsdestotrotz gibt es durchaus Menschen, die äusserst beliebt sind, aber keine echten Freunde zu haben scheinen. Besonders extravertierte ADHS-Patienten laufen Gefahr in dieses Muster zu verfallen. Neue Bekanntschaften sind interessant und es wird schnell die gesamte Freizeit in diese eine Person oder Gruppe investiert. Solche Freundschaften entwickeln sich rasant und sie reichen oft tiefer als zu erwarten wäre; Vertrauen ist schnell geschenkt und schon nach wenigen Wochen scheinen sie alles übereinander zu wissen. Doch die wenigsten dieser Beziehungen überdauern länger als drei Jahre (Marton et al., 2015).

Woran scheitern solche Freundschaften?

Der häufigste Grund ist so simpel wie tragisch: Über die Zeit verliert man den Kontakt. Natürlich spielen auch im Erwachsenenalter die ADHS-Symptome noch eine grosse Rolle, doch die meisten Beziehungen scheitern nur indirekt am ADHS selbst. Sei es ein voller Terminplan, eine neue Beziehung oder schlicht neue Bekanntschaften, die Zeit beanspruchen: Irgendwann muss in jede Freundschaft aktive Arbeit investiert werden, um sie aufrechtzuerhalten. Obwohl viele ADHS-Patienten als Erwachsene akzeptiert werden, sitzt vergangene Ablehnung tief, wodurch das Bedürfnis nach Bestätigung wächst. Die erhöhte Sensitivität gegenüber Ablehnung (Scharf et al., 2014) lässt Betroffene zögern, wenn sie sich bei ihren Freunden melden wollen, mit dem Gedanken, dass eine Initiative des Gegenübers bestätigen würde, dass sie wirklich gemocht werden. Dadurch wird der Kontakt immer seltener, bis man sich letztendlich aus den Augen verliert.

Stigmatisierung von ADHS gründet in den vielen Mythen, die es über die Störung gibt. Obwohl viele ADHS-Patienten versuchen, ihr Umfeld über ihre Kondition aufzuklären, stossen sie oft auf taube Ohren. Mittlerweile gibt es aber verschiedene Blogs, Websites (z.B. add.org) und YouTube Channels (z.B. How to ADHD), die versuchen die Forschung zu ADHS für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Davon profitieren nicht nur Eltern, Partner|innen und Freunde von ADHS-Patienten, sondern auch die Betroffenen selbst.

Der zweithäufigste Grund dagegen scheint dem stereotypischen Bild von ADHS zu entsprechen: mangelnde Impulskontrolle (Normand et al., 2013). Emotionale Dysregulation wirkt sich nicht nur auf negative Emotionen aus. Übermässige Begeisterung oder gute Laune können ebenso gut wie Wut zu unachtsamen oder beleidigenden Kommentaren führen, die Konflikte verursachen, welche nicht immer gelöst werden können. Meist fühlen sich ADHS-Patienten schuldig, sobald sie merken, dass sie ihr Gegenüber verletzt haben. Aus diesen Schuldgefühlen, die sie ebenso schlecht regulieren können wie andere Emotionen, entstehen häufig Überreaktionen, die von den Betroffenen selbst als unnötig aber unkontrollierbar empfunden werden. Dadurch können eigentlich harmlose Auseinandersetzungen verhängnisvolle Ausmasse annehmen und gute Freundschaften zerstören.

Über die Jahre wird dieses Aufbauen und Verlieren von Freundschaften für viele Betroffene zur Normalität. Anstatt sich ablehnen zu lassen, lassen sie sich vom nächsten Projekt ablenken und sagen sich, dass sie nie wirklich irgendwo dazugehören werden. Und doch finden sie neue Freunde, gehen Beziehungen ein und suchen nach diesem Zugehörigkeitsgefühl, diesem Halt, den sie sich selbst absprechen.


Zum Weiterlesen

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17 (1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

Marton, I., Wiener, J., Rogers, M., & Moore, C. (2012). Friendship Characteristics of Children With ADHD. Journal of Attention Disorders, 19 (10), 872–881. doi: 10.1177/1087054712458971

McCabe, J. (2017). Failing at Normal: An ADHD Success Story | Jessica McCabe | TEDxBratislava [Video file]. Zugriff unter https://www.youtube.com/watch?v=JiwZQNYlGQI

Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84 (2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391

Literatur

Barkley, R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin, 121(1), 65–94. doi: 10.1037/0033-2909.121.1.65

Canu, W. H., Newman, M. L., Morrow, T. L., & Pope, D. L. W. (2007). Social appraisal of adult ADHD. Journal of Attention Disorders, 11(6), 700–710. doi: 10.1177/1087054707305090

Friedman, S. R., Rapport, L. J., Lumley, M., Tzelepis, A., Van Voorhis, A., Stettner, L., & Kakaati, L. (2003). Aspects of social and emotional competence in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. Neuropsychology, 17(1), 50–58. doi: 10.1037/0894-4105.17.1.50

Harpin, V. A. (2005). The effect of ADHD on the life of an individual, their family, and community from preschool to adult life. Archives of Disease in Childhood, 90, i2–i7. doi: 10.1136/adc.2004.059006

Heiman, T. (2005). An examination of peer relationships of children with and without attention deficit hyperactivity disorder. School Psychology International, 26(3), 330–339. doi: 10.1177/0143034305055977

House, J., Landis, K., & Umberson, D. (1988). Social relationships and health. Science, 241(4865), 540–545. doi: 10.1126/science.3399889

King, C., & Young, R. D. (1982). Attentional deficits with and without hyperactivity: Teacher and peer perceptions. Journal of Abnormal Child Psychology, 10(4), 483–495. doi: 10.1007/BF00920749

Kofler, M. J., Harmon, S. L., Aduen, P. A., Day, T. N., Austin, K. E., Spiegel, J. A., … Sarver, D. E. (2018). Neurocognitive and behavioral predictors of social problems in ADHD: A Bayesian framework. Neuropsychology, 32(3), 344–355. doi: 10.1037/neu0000416

Ladd, G. W., Kochenderfer, B. J., & Coleman, C. C. (1996). Friendship quality as a predictor of young children’s early school adjustment. Child Development, 67(3),1103. doi: 10.2307/1131882

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Mikami, A. Y. (2010). The Importance of friendship for youth with attention deficit/hyperactivity disorder. Clinical Child and Family Psychology Review, 13(2), 181–198. doi: 10.1007/s10567-010-0067-y

Newcomb, A. F., & Bagwell, C. L. (1995). Children’s friendship relations: A meta-analytic review. Psychological bulletin, 117(2), 306.

Normand, S., Schneider, B. H., Lee, M. D., Maisonneuve, M.-F., Chupetlovska-Anastasova, A., Kuehn, S. M., & Robaey, P. (2013). Continuities and changes in the friendships of children with and without ADHD: A longitudinal, observational study. Journal of Abnormal Child Psychology, 41(7), 1161–1175. doi: 10.1007/s10802-013-9753-9

Scharf, M., Oshri, A., Eshkol, V., & Pilowsky, T. (2014). Adolescents’ ADHD symptoms and adjustment: The role of attachment and rejection sensitivity. American Journal of Orthopsychiatry, 84(2), 209–217. doi: 10.1037/h0099391

Nächster Halt…

Empirische Befunde und Erfahrungsberichte zum Umgang mit Veränderungen beim Übergang in einen neuen Lebensabschnitt.

Vier Menschen erzählen von ihren persönlichen Erfahrungen mit einer entscheidenden Veränderung in ihrem Leben. Dabei wird deutlich, wie prägend diese Veränderungen erlebt werden können. Anhand eines wissenschaftlichen Inputs soll eine umfassendere Einordnung ermöglicht werden.

Von Laurina Stählin
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Rebekka Stähli

Immer wieder finden im Leben kleine oder grössere Veränderungen statt. Vier Geschichten liefern Beispiele dafür, verteilt über fast die ganze Lebensspanne. Vom Kindergartenkind, das in die Schule kommt, bis zum Umzug in ein Altersheim, der endgültig wirkt, es aber vielleicht doch nicht ist. Die Beispiele zeigen, dass viele individuelle Komponenten beim Beginn einer neuen Lebensphase eine Rolle spielen. Wie ein solcher Übergang erlebt und wie damit umgegangen wird, scheint sehr stark von der entsprechenden Person abzuhängen. Zudem scheinen sich die Menschen intensiv mit den jeweiligen Übergängen zu beschäftigen, die Veränderungen nehmen einen beträchtlichen Platz im Leben der betroffenen Menschen ein. Um dieser Subjektivität gerecht zu werden, und dennoch den Blick auf die Bedeutung solcher Veränderungen über die ganze Lebensspanne hinweg zu öffnen, soll in diesem Artikel den individuellen Erfahrungsberichten eine kleine Auswahl an wissenschaftlichen Befunden gegenübergestellt werden.

Die Unterteilung der lebenslangen Entwicklung in unterschiedliche Phasen wurde bereits in verschiedenen Theorien beschrieben, beispielsweise durch den Psychoanalytiker Erik Erikson oder den Entwicklungspsychologen Daniel Levinson (Berk & Schönpflug, 2011). Nach Levinsons Theorie liegt am Anfang eines neuen Lebensabschnitts jeweils ein Übergang. Auf diesen folgt eine Phase, in welcher ein Mensch Kontinuität zu erreichen versucht, indem eigene und gesellschaftliche Anforderungen aufeinander abgestimmt werden (Berk & Schönpflug, 2011). In ihrer Studie über Lebensereignisse, welche die Definition des Selbst beeinflussen, versteht McLean (2008) Identität als Konstruktion einer persönlichen Kontinuität über die Entwicklung einer zusammenhängenden Lebensgeschichte. Erfahrungen können in die Identität integriert werden, indem eine Veränderung wahrgenommen wird, oder indem Stabilität wahrgenommen und so die bestehende Identität bestätigt wird. Kontinuität wird in beiden Fällen wahrgenommen, weil man sich in beiden Situationen auf das Selbst bezieht. Die Formulierung einer Lebensgeschichte ist ein selbstreflektierter Prozess und bietet die Möglichkeit einer Erklärung, warum man sich verändert hat, oder eben gleich geblieben ist (McLean, 2008). Es kann Menschen also helfen, ihre Identität zu entwickeln oder zu festigen, wenn sie wichtige Lebensereignisse anhand eines Lebensentwurfs in einen grösseren Zusammenhang einordnen können.

Solche persönlichen Lebensentwürfe zeigen Parallelen zu sogenannten »Cultural Life Scripts« (Berntsen & Rubin, 2004). Damit ist die kulturell definierte Vorstellung davon gemeint, wie ein Lebensentwurf gestaltet sein soll bezüglich der Abfolge und des Zeitpunkts, wann verschiedene Lebensphasen stattfinden. In der Untersuchung von Berntsen und Kollegen (2011) beantworteten die Studienteilnehmenden Fragen über ihr schlimmstes sowie über ihr schönstes Lebensereignis. Dabei entsprachen insbesondere die positiven Lebensereignisse, die von den Studienteilnehmenden genannt wurden, relativ deutlich dem kulturell vorgegebenen Lebensentwurf. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden nannten die beiden Lebensereignisse »Geburt« und »Heirat«. Frühere Ergebnisse konnten bereits zeigen, dass »Cultural Life Scripts« häufig in der Hinsicht verzerrt sind, als dass positive Lebensereignisse vor allem im jungen Erwachsenenalter erwartet werden (Berntsen & Rubin, 2004). Dementsprechend wurden auch in dieser Studie über 60 Prozent der positiven Lebensereignisse im dritten beziehungsweise vierten Lebensjahrzehnt angeordnet, während die Häufigkeit der berichteten negativen Ereignisse ab dem Alter von 40 Jahren bis zum aktuellen Alter linear anstiegen (Berntsen, Rubin, & Siegler, 2011). Interessanterweise zeigte sich kein bedeutender Anstieg der positiven Ereignisse im jungen Erwachsenenalter mehr, wenn die Ereignisse, die zum kulturellen Lebensentwurf-Muster passen, ausgeschlossen wurden. Dies bedeutet, dass sich viele Versuchspersonen beim Bericht ihres schönsten Lebensereignisses an dem kulturell geprägten Lebensentwurf orientiert haben (Berntsen et al., 2011). Warum sich diese Menschen an den kulturellen Erwartungen orientiert haben, wenn sie von ihrem ganz persönlichen schönsten Lebensereignis berichten sollten, erklären Berntsen und Kollegen (2011) folgendermassen: «Such life script consistent events helps to anchor the personal life story in a cultural context and are often used as concrete turning points in life stories defining beginning and endings of life story chapters.» (S. 1197).

Es kann für Menschen also nicht nur hilfreich sein, entscheidende Veränderungen innerhalb ihres eigenen Lebens in einem grösseren Kontext zu sehen. Eine gleichzeitige Orientierung an den gesellschaftlichen Erwartungen ermöglicht auch einen Vergleich und kann somit helfen, die eigene Lebensgeschichte als Ganzes einzuordnen und in ein angepasstes Selbstbild zu integrieren.

Wie in den folgenden Erfahrungsberichten zu lesen ist, steht die Einordnung in die eigene Lebensgeschichte in der Zeit des Übergangs jedoch nicht unbedingt im Zentrum und passiert vielleicht auch gar nicht bewusst. Insbesondere wenn die Ablösung einer Lebensphase der anderen mit einem bestimmten Ereignis zusammenhängt, wie es bei allen der hier beschriebenen Veränderungen der Fall ist, steht dieses Geschehen häufig im Vordergrund und stellt eine wichtige Ursache der intensiven Auseinandersetzung dar. Möglicherweise ist dies der Fall, weil gerade mit dem Ereignis auch viele der entscheidenden Veränderungen einhergehen. Womöglich ist jedoch genau diese stärkere Konzentration auf das Ereignis selbst als auf die Einordnung im Lebenslauf ein wichtiger Vorgang, welcher die Integration in den eigenen Lebensentwurf erst möglich macht.

Nächster Halt: Schule

Ich habe schon darüber nachgedacht, wie es in der Schule sein wird. Ich glaube, ich werde ganz viele Freunde haben und dass es cool wird, weil meine ältere Schwester auch dort sein wird. Dann kann ich sie immer in der Pause sehen. Und das finde ich cool. Ich freue mich auch, weil ich neue Lehrerinnen haben werde und meine Kindergärtnerin hat gesagt, dass die neuen Lehrerinnen immer die liebsten sind. Ich habe auch ein bisschen Angst davor, dass ich die Hausaufgaben falsch machen könnte oder dass ich sonst etwas falsch machen werde und die Lehrerinnen dann schimpfen oder sagen werden «da kannst du jetzt noch einmal von vorne anfangen».

Ich denke nicht, dass etwas an mir anders sein wird, wenn ich in die Schule komme. Ich habe auch keine Ahnung, was sonst anders sein wird, wenn ich in die Schule komme. Vielleicht, dass ich dann viel machen muss, zum Beispiel Hausaufgaben. Sonst wird eigentlich nichts anders sein.

Ich stelle es mir in der Schule so vor, dass man Strafaufgaben bekommen kann. Aber eigentlich wünsche ich mir, dass es keine Strafaufgaben gibt. Ich habe auch ein bisschen Angst, weil es Jungs gibt, die in der Pause immer kämpfen. Aber meine ältere Schwester ist beliebt und würde mich beschützen, wenn mir jemand etwas antun wollte.

Den ersten Schultag stelle ich mir ganz normal vor. Ich gehe dann in die Schule. Vielleicht bin ich ein wenig aufgeregt, weil es dort sicher Dinge hat, die noch etwas schwierig sind. Eigentlich bin ich jetzt schon Schülerin, weil Sommerferien sind. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, würde ich schon sagen, dass ich ein Schulmädchen bin. Ich habe einen Schulthek mit Delfinen drauf. Ich habe auch zwei Etuis und einen Turnsack. Ich freue mich auf viele Sachen. Eigentlich freue ich mich auf alles. Nur nicht aufs Rechnen und Schwimmen.

Nächster Halt: Mama

Dass da ein kleiner Mensch ist, der in allen Bedürfnissen auf mich angewiesen ist, hat in allen Bereichen meines Daseins zu massiven Veränderungen geführt. Viele Bereiche waren schon vor der Geburt betroffen: grössere Wohnung, neue Arbeitsstelle, Gedanken zur Arbeitssituation nach der Geburt und, ganz wichtig, auch die körperlichen und emotionalen Veränderungen mit allem, was eine Schwangerschaft so mit sich bringt. Nach der Geburt war es vor allem das gegenseitige Kennenlernen und rund um die Uhr Mamasein. Bedürfnisse, die zu jeder Tages- und Nachtzeit unabhängig von meinen eigenen gestillt werden durften und mussten.

Die Veränderungen kamen definitiv phasenweise und kontinuierlich, zum Teil aber auch sehr plötzlich. Viele der Veränderungen waren aber auch nur zu erahnen und andere haben mich selbst völlig überrascht. Es hätte mich allerdings nichts darauf vorbereiten können, was mit der Geburt geschehen ist. Wirklich endlich mein Kind zu halten, nach unfassbaren Schmerzen und dann dieses Gefühl der reinsten Liebe, die es gibt. Das ist nicht in Worten fassbar. Diese Veränderung wird definitiv nie enden, jeder Tag als Mama ist neu und jeder Schritt des Kindes braucht eine neue »Version« der Mama. Das ist ganz klar die prägendste und schönste Veränderung meines Lebens.

«Die Veränderungen kamen definitiv phasenweise und kontinuierlich, zum Teil aber auch sehr plötzlich. Viele der Veränderungen waren aber auch nur zu erahnen und andere haben mich selbst völlig überrascht.»

Das Muttersein hat bei mir einen so hohen Stellenwert, dass es praktisch immer das Erste ist, was Fremde über mich erfahren. Es ist etwas, worauf ich wirklich stolz bin und das ich gerne mit Anderen teile. Trotzdem gebe ich mir Mühe, mich nicht nur darüber zu identifizieren. Das war während der Schwangerschaft und direkt nach der Geburt schwierig, wird aber immer leichter. Aber für mich ist klar, dass es eine Definition von mir nicht ohne das Mamasein gibt. Ich selbst sehe mich jetzt viel gesetzter, selbständiger und glücklicher als vorher. Ich weiss jetzt wirklich, was es heisst, für mich selbst und jemand anderen die Verantwortung zu tragen. Ich trete offener und authentischer, also in mir und meinen Entscheidungen gesetzter, auf als vorher. Ich habe gelernt, zu unseren Bedürfnissen zu stehen und danach zu handeln.

Man merkt schon sehr schnell, wie die verschiedenen Phasen im Leben den Freundeskreis mit beeinflussen können. Viele Freunde sehe ich nur noch selten. Der Ausgang oder das Feierabendbier fallen weg. Zu anderen Freunden, gerade zu solchen, die selbst Kinder haben, hat sich aber eine viel engere Bindung ergeben. Was sich stark verändert hat, ist der Umgang mit meinen Eltern. Wir sind plötzlich auf einer Ebene (meistens). Ich weiss nicht, wie ich ohne sie und einige sehr enge Freunde die Schwangerschaft und die letzten Monate überstanden hätte. Sie haben mir unendlich geholfen.

Vor der Geburt habe ich mich eigentlich auf das Meiste gefreut. Von den körperlichen Veränderungen bis hin zum ersten Lachen der Kleinen. Ich freue mich auch auf alles, was noch kommt. Es hat aber auch viele Momente der Einsamkeit und Angst gegeben und es macht mich traurig, wie viele Freunde und Bekannte nicht mehr aktiv Teil meines Lebens sind. In diesen Momenten hilft mir vor allem meine Tochter. Sie zu sehen und Zeit mit ihr zu verbringen holt mich meistens aus meinem Kopf in den Moment zurück. Ihr Vertrauen macht mich jeden Tag dankbar. Und wenn sie lacht, scheint für mich die Sonne, egal wann und egal wo.

Nächster Halt: Ehe

Eigentlich sollte sich durch die Heirat nichts ändern. Mein Partner und ich führen bereits eine langjährige Beziehung und haben schon sehr viel miteinander erlebt. Beide sollen so bleiben wie sie sind, mit ihren Stärken und Schwächen. Und doch hat dieses Stück Papier einen hohen Stellenwert. Ich werde neue Rechte und Pflichten erhalten, bin nicht mehr nur für mich allein verantwortlich und muss allenfalls Entscheidungen für meinen Partner treffen. Es geht darum, dass man die Situation, beziehungsweise die Beziehung, wie sie jetzt ist, sozusagen »konservieren« möchte. Was eigentlich einen Widerspruch in sich bedeutet, denn genau das kann man nicht. Wir verändern uns laufend und können die Zukunft nicht beeinflussen.

Ich denke, dass vieles auch ohne Heirat ähnlich kommen würde. Im Prinzip braucht es kein Papier, das uns sagt, dass wir uns lieben, beziehungsweise zusammengehören. Aus finanzieller Sicht ist es ja sogar ein Nachteil. Trotzdem verändert eine Hochzeit auf jeden Fall in gewisser Weise. Neben den rechtlichen Veränderungen ist es vor allem ein emotionaler Akt. Man entscheidet sich bewusst für eine Person und träumt von der gemeinsamen Zukunft. Ich stelle es mir so vor, dass am Tag selber auch viele Emotionen im Spiel sein werden und ich mir erst dann so richtig bewusst werde, was eigentlich passiert. Doch die ganzen Veränderungen beginnen viel früher und dauern noch viel länger an. Was es aber effektiv bedeutet, verheiratet zu sein, denke ich, wird sich erst mit der Zeit herausstellen. Es wird sicherlich immer wieder Situationen geben, die neu sind und in denen wir Kompromisse finden müssen.

Meine Motivation für diesen Artikel war, dass mir bisher, wenn ich mich mit wissenschaftlichen Themen in der Psychologie beschäftigte, häufig der Bezug zum Einzelnen gefehlt hat. Ich sehe klar auch die Vorteile der Generalisierbarkeit, beispielsweise von Studienergebnissen. Jedoch ist für mich ganz persönlich der Einzelfall – eine individuelle Meinung, eine bestimmte Erfahrung, eine Lebensgeschichte – in seinem ganzen Umfang etwas sehr Schätzenswertes und besonders Interessantes. Meinen herzlichsten Dank möchte ich daher den vier Menschen aussprechen, welche sich offen und unkompliziert dafür bereit erklärt haben, ihre Erfahrungen zu teilen und so persönlich vom aktuellen Übergang in ihren neuen Lebensabschnitt zu berichten.

Den grössten und offensichtlichsten Einfluss auf meine eigene Identität hat der Namenswechsel. Ich stelle mir das sehr gewöhnungsbedürftig vor, mich anders zu nennen. Aber für mich stand der Namenswechsel gar nie zur Diskussion. Der gemeinsame Name symbolisiert für mich eine gewisse Zusammengehörigkeit.

Was ich, seit wir verlobt sind, oft mitbekommen habe, ist das grosse Schubladendenken der Leute. Logischerweise folgen auf die Heirat automatisch das Haus und anschliessend die Kinder. Ich habe auch von anderen Freundinnen gehört, die nach der Heirat oft gefragt werden, ob sie schon schwanger seien oder Kinder wollten. Oder es sind dauernd Gerüchte im Umlauf. Ich frage mich, ob man alles preisgeben muss, was man vorhat. Die Neugier der Leute ist oft riesig.

Ich freue mich sehr auf ein Leben mit meinem Partner an meiner Seite. Ich bin nicht allein, denn es ist jemand da, der mit mir den Weg geht. Das Leid ist nur halb so gross, wenn man es teilen kann, aber die Freude ist doppelt so gross. Was mir manchmal etwas Sorgen bereitet, ist die aktuelle Scheidungsrate. Auch wenn wir uns jetzt sehr sicher sind und selbstverständlich davon ausgehen, dass wir verheiratet bleiben, gibt es auch eine Restangst, zu scheitern. Alles, was wir machen können, ist uns weiterhin mit Verständnis, Ehrlichkeit und Vertrauen zu begegnen. Es werden sicherlich auch schwierige Zeiten kommen, in denen man eben nicht gerade aufgeben, sondern versuchen sollte, gemeinsam eine Lösung zu finden. Ich glaube, da darf man sich auch nicht verrückt machen damit und zu viel nachdenken. Ich freue mich sehr auf meine Hochzeit und bin gespannt, welche Herausforderungen uns das Leben stellt.

Nächster Halt: Altersheim

Ich hatte keine bestimmte Vorstellung, wie es sein könnte, weil ich auch nie bei jemandem zu Besuch war, der im Altersheim lebt. Meine Vorstellung war, es sei wie im Hotel. Es war dann alles ein bisschen anders. Offenbar hatte ich doch Erwartungen, aber ich habe gar nicht so bewusst darüber nachgedacht. Ich wollte einfach nicht zu meinen Kindern ziehen, das habe ich genau gewusst. Und ich habe auch immer gesagt, ich wolle ins Altersheim, weil ich noch selber bestimmen wollte, wohin ich gehe und nicht, dass man dann einfach über mich verfügt.

«Es ist ein bisschen wie eine Endstation hier.»

Aber ob ich dies als Lebensabschnitt bezeichnen würde, weiss ich nicht. Es ist schon eine Umstellung auf eine Art. Am Anfang ist es sehr schwierig, das sagen auch andere. Man muss selber fragen gehen, wer wofür zuständig ist. Mit der Zeit sieht man dann, wie es läuft oder fragt andere Bewohner|innen. Aber am Anfang fühlte ich mich wie verlassen, alleine. Vor allem dies hatte ich mir anders vorgestellt.

Als ich umgezogen bin, ist es mir wirklich ganz schlecht gegangen, ich habe ständig gedacht, es ginge nicht. Alles war anders. Jetzt habe ich gemerkt, dass man nicht einfach Dinge erwarten kann, man muss selber etwas machen. Ich denke, ich werde sicher mit den Leuten hier klarkommen, aber ich merke doch, dass ich jahrelang alleine gelebt habe. Ich muss neu lernen, auf Leute zuzugehen, die ich nicht kenne. Oder auch einmal über Dinge sprechen, die mich nicht sonderlich interessieren. Viele Leute hier sprechen nur über das Essen oder darüber, was ihnen nicht passt. Das sind neue Herausforderungen, die auch ganz gut sind. Und ich kann nur mich selbst ändern. Ich muss hier jetzt einfach versuchen, mich anzupassen. Und das ist mir zum Teil auch schon gelungen. Es ist jetzt nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Als es mir damals schlecht gegangen ist, habe ich mir immer wieder gesagt, dass es auch noch andere Möglichkeiten gäbe. Zum Beispiel, mit meinen beiden Schwestern zusammenzuwohnen. Diese Option möchte ich mir offen lassen, auch wenn das Altersheim eigentlich ein endgültiger Schritt ist.

Es ist ein bisschen wie eine Endstation hier. Man sieht hier einfach, wie das Leben langsam zu Ende geht. Und dann denkt man natürlich auch daran, wie es einem selber ergehen wird. Aber ich selber hatte noch nie Mühe mit dem Sterben oder dem Tod, ich kann da gut darüber sprechen. Es ist überhaupt nicht so, dass ich Angst davor hätte oder Gedanken daran verdrängen würde. Natürlich, wenn man hier Leute sieht, die schon halb gestorben sind, dann denkt man schon, dass man selber bestimmen können sollte, wann man sterben möchte. Ich möchte dies selber bestimmen können. Aber dafür müsste man ja bei einer Sterbehilfeorganisation angemeldet sein. Ich war einmal eine Zeit lang dort angemeldet, aber dann wollte ich doch nicht mehr. Und jetzt möchte ich eigentlich wieder.

Es hilft mir, mich nicht festzulegen, wie die Zukunft aussehen soll. Was ich sicher weiss, ist, dass ich nicht hierbleiben möchte, bis ich sterbe. Denn wann ich sterbe möchte ich noch selber bestimmen können.


Zum Weiterlesen

Berk, L. E., & Schönpflug, U. (2011). Entwicklungspsychologie (5., aktualisierte Aufl. /bearb. von Ute Schönpflug). München: Pearson Studium.

McLean, K. C. (2008). Stories of the young and the old: Personal continuity and narrative identity. Developmental Psychology, 44(1), 254–264. https://doi.org/10.1037/001211649.44.1.254

Literatur

Berntsen, D., & Rubin, D. C. (2004). Cultural life scripts structure recall from autobiographical memory. Memory & Cognition, 32(3), 427–442. https://doi.org/10.3758/BF03195836

Berntsen, D., Rubin, D. C., & Siegler, I. C. (2011). Two versions of life: Emotionally negative and positive life events have different roles in the organization of life story and identity. Emotion, 11(5), 1190–1201. https://doi.org/10.1037/a0024940

Berk, L. E., & Schönpflug, U. (2011). Entwicklungspsychologie (5., aktualisierte Aufl. / bearb. von Ute Schönpflug). München: Pearson Studium.

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Psychiatrie – Endhaltestelle oder Zwischenstopp?

Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK)

Von den Langzeittherapien im Burghölzli um 1870 bis zur Tagesklinik im Zentrum für Soziale Psychiatrie 2018 blickt die PUK auf bald 150 Jahre bewegte Geschichte zurück. Was hat sich getan in den Bereichen des Selbstverständnisses der Psychiatrie als Institution, der therapeutischen Möglichkeiten, der Erwartungen sowie bisweilen auch Ängsten und Vorurteilen von Patient|innen und Gesellschaft?

Von Jennifer Bebié
Lektoriert von Laura Bechtiger und Franziska Hasler
Illustriert von Eigenillu

Geöffnete Fenster verbinden ein hochsommerliches Zürich mit dem hellen, hohen Raum des Info-Kaffees im Zentrum für Soziale Psychiatrie. Wenig erinnert hier an die Bilder, welche mir beim Wort «Psychiatrie» durch den Kopf gehen. Anstelle von verriegelten Toren und Wärtern in weissen Kitteln, umgeben mich Kaffeetischchen, Tageszeitungen und ein buntes Cafeteria-Angebot. An den Wänden stehen verteilt einige Zimmerpflanzen. Eine junge Frau bestellt einen Kaffee mit Milch und Zucker. Ob sie ihr Getränk hier als Angestellte oder als Patientin entgegennimmt, bleibt für mich verborgen. Ich warte auf Anke Maatz, Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PUK. Von ihr möchte ich mehr dazu erfahren, wie sich die Klinik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Um Veränderungsprozesse neueren Datums nachvollziehen und einordnen zu können, soll im Folgenden aber nicht nur den aktuellsten Fragen und Problemstellungen Rechnung getragen werden. Es gilt die Entwicklungsgeschichte der PUK als Ganzes im Blick zu halten. Wie wurde aus dem Burghölzli die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich? Wo steht die Klinik heute zwischen Langzeitbetreuung und Not-Halt für Menschen in Krisensituationen?

Um die Jahrhundertwende gab es in Zürich die Heilanstalt, das war das Burghölzli und dann die Pflegeanstalt in der Rheinau. Es gab auch vor über hundert Jahren schon den Anspruch zu heilen und auch das Verständnis, dass psychische Erkrankungen nicht unbedingt chronisch verlaufen, sondern es zu einer Heilung kommen kann.

Dr. med. Anke Maatz im Gespräch mit Jennifer Bebié, 30. Juli 2018

Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli

«Irre sind heilbar» (Schott, 2006, S.270). Unter diesem Leitsatz distanzierten sich europäische Psychiater im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker von der bis dahin verbreiteten Praxis, die als unheilbar angesehenen Geisteskranken in sogenannten Tobhäusern zu versorgen (Luchsinger, 2016) oder sie zusammen mit Kriminellen, körperlich Behinderten, sowie Alten und Bedürftigen unterzubringen (Danuser & Rössler, 2013). Psychisch Kranke galten nun als behandelbar. Die Behandlung in den frühen psychiatrischen Anstalten kam jedoch noch nicht ohne gewaltsame Massnahmen aus. Zwangsjacken, Fixiergurte, Einzelzellen, kalte Wassergüsse und Einweisungen, meist gegen den ausdrücklichen Willen der Patient|innen, prägten die ambivalente Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Psychiatrie (Danuser & Rössler, 2013).

Um 1860 begann sich auch in der Schweizer Psychiatrie der Standard des No-restraint durchzusetzen (Danuser & Rössler, 2013). Mitten in dieser Zeit des Umdenkens beginnt auch die Geschichte der PUK. 1870 als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli eröffnet, stand die Klinik im Zeichen einer Psychiatrie, die sich im Wandel befand. In Folge wurden beispielsweise arbeitstherapeutische Angebote im Burghölzli etabliert (Luchsinger, 2016). Der arbeitstherapeutische Ansatz stand einer Vielzahl anderer Praktiken der damaligen Anstaltspsychiatrie entgegen. Anstelle der Isolierung und Bettbehandlung «unruhiger» Kranker, trat die verstärkte Einbindung in Alltagsaktivitäten (Tölle & Schott, 2006).

Die Klinik als einen Ort reibungsloser Fortschrittsbewegung zu verstehen, greift jedoch zu kurz. Noch im 19. Jahrhundert musste erkannt werden, dass nur sehr begrenzte Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen und dass ein «nicht unwesentlicher Anteil der Kranken» nicht oder nicht innert absehbarer Frist geheilt werden konnte. Lang- und teilweise Lebenszeitplätze für chronisch Kranke gehörten nach wie vor zum Bild des Burghölzli (Tölle & Schott, 2006, S. 270). Trotz einer Umbenennung in Kantonale Heilanstalt (Danuser & Rössler, 2013) bot das Burghölzli weiterhin Raum für jahrelange Aufenthalte und wurde ferner für einzelne seiner Patienten zur Endstation.

Ausbau der Behandlungsmöglichkeiten

Das Spektrum psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten weitete sich jäh, als in den 1950er Jahre mit Chlorpromazin und Imipramin erste Neuroleptika und Antidepressiva für therapeutische Zwecke zur Verfügung standen. Die anfänglich noch ausgesprochen optimistische Hoffnung endlich ein unproblematisches Heilmittel, gar eine kausale Behandlungsmöglichkeit psychiatrischer Erkrankungen gefunden zu haben, vermochten die neuen Substanzen nicht zu erfüllen (Baer, 1998).

Da fand sicherlich ein Umdenken statt. In den psychiatrischen Pflegeanstalten (…) ging es wirklich um langjährige Aufbewahrung, jetzt sehr negativ formuliert, aber positiver gesagt auch einfach um das Schaffen von Lebensraum. Heutzutage versucht man stationäre Aufenthalte kurz zu halten.

Maatz, 2018

Die Vorteile, welche eine psychopharmakologische Therapie mit sich bringen konnte, waren dennoch nicht mehr aus der Klinik wegzudenken. Kranke, die zuvor unerreichbar in sich gefangen schienen, die in hoffnungsloser Apathie versunken verharrten oder die aufgrund ihrer Unruhe unter Zwang ruhiggestellt worden waren, konnten durch medikamentöse Unterstützung erhebliche Besserung ihrer Symptomatik erfahren (Baer, 1998). Das Behandlungsangebot der 60er Jahre ergänzten Beschäftigungs-, Musik-, Kunst- und Psychotherapie (Danuser & Rössler, 2013).

Psychiatrische Erkrankungen hatten nahezu auf einen Schlag erheblich an Endgültigkeit eingebüsst. Auch wenn das Selbstverständnis der Psychiatrischen Klinik im Wandel begriffen war, ausserhalb der Klinik hielten sich Vorurteile hartnäckig. Eine Umbenennung der Kantonalen Heilanstalt Burghölzli in Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (Danuser & Rössler, 2013) zeigte sich weit weniger einflussreich als Schlagworte wie «Pillenkeule» und «chemische Zwangsjacke» (Schott & Tölle, 2006, S. 488).

Natürlich gibt es weiterhin Vorurteile. Ich glaube, das muss man so festhalten. (…) Ich mache aber immer wieder die Erfahrung, dass Menschen überrascht sind darüber, wie Psychiatrie heutzutage funktioniert. Und zwar positiv überrascht.

Maatz, 2018

Das Stigma bleibt?

Die sommerlich gekleidete junge Frau mit dem offenen Lachen, die mich im Info-Kaffee abholt, hat so ganz und gar nichts gemein mit dem Bild des strengen Anstaltsarztes im weissen Kittel. Im Gespräch mit Anke Maatz werden dann auch die tiefgreifenden Veränderungen deutlich, welche die PUK innerhalb der letzten 50 Jahre durchlaufen hat. Die sozialpsychiatrische Wende der 70er Jahre weitete den Blick für soziale Ursachen psychischer Krankheiten (Baer, 1998). Heute arbeitet die PUK mit dem bio-psycho-sozialen Modell, nachdem Erkrankungen multifaktoriell verstanden und behandelt werden. Patient|innen erhalten zwar weiterhin pharmakologische Unterstützung, doch betont Anke Maatz die Bedeutung nonverbaler Verfahren wie Musik-, Kunst-, Ergo-, Tanz- und Bewegungstherapie. Auch die Psychotherapie sei in der heutigen Psychiatrie zentral. «Ich glaube, es ist tatsächlich eine Entwicklung der letzten Jahre, dass auch in einer akuten Erkrankungsphase, damit auch im stationären Behandlungssetting, verstärkt versucht wird, psychotherapeutisch zu arbeiten; dass also auch immer mehr Psychotherapie auf Akutstationen angeboten wird. Da ist tatsächlich ein Umdenken festzustellen, das sich ganz unmittelbar auch im therapeutischen Angebot niederschlägt» (Maatz, 2018).

PUK Zürich: Historische Eckdaten

1864: Baubeschluss

1870: Eröffnung der Klinik als Irrenheil- und Pflegeanstalt Burghölzli

1885: Etablierung arbeitstherapeutischer Angebote

1915: Umbenennung von Irrenheilanstalt in Kantonale Heilanstalt

1920er bis 40er Jahre: Schaffung und Erweiterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, allgemeiner Aus- und Umbau

1966: Umbenennung in Psychiatrische Universitätsklinik

1967: Einführung der Psychotherapie

1967-68: Einreissen der Klinikmauern

1970: Etablierung des sozialpsychiatrischen Dienstes

1984: Erwerb und Umbau des Gebäudes an der Militärstrasse für den sozialpsychiatrischen Dienst

2011: Integration des Psychiatriezentrums Rheinau als Zentrum für integrative Psychiatrie

2018: Neue Organisationsform als öffentlich-rechtliche Anstalt

(Danuser & Rössler, 2013)

Die PUK, die mir im Gespräch mit Anke Maatz begegnet, gewinnt zusehends an Distanz von langfristigen stationären Behandlungsformen. Es gilt das Prinzip «ambulant vor teilstationär vor stationär». Wo immer möglich soll versucht werden, Patient|innen in ihrem Lebensumfeld zu therapieren. Kranke können vermehrt von ambulanten und tagesklinischen Angeboten Gebrauch machen. Das Kriseninterventionszentrum bietet schnelle Hilfe für Menschen in Akutsituationen. Aufsuchende psychiatrische Behandlung findet sich im Home-Treatment Programm. Von der Haltung, psychiatrische Krankheiten grundsätzlich heilen zu müssen, sei man im Klinikalltag abgekommen. Den Fokus sieht Anke Maatz viel stärker bei der Unterstützung der Patient|innen, einen Umgang mit ihrer Symptomatik zu finden, um ein möglichst zufriedenes und erfülltes Leben führen zu können.

Die PUK ist in Bewegung und doch bleibt das Stigma bestehen? Schon Arenz (2003) sowie Schott und Tölle (2006) zeigten den grundlegenden Konflikt auf. Der medizinische Auftrag, Patient|innenleid zu lindern, steht einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Sicherheit und sozialer Kontrolle gegenüber. Anke Maatz differenziert weiter: «Also ich glaube schon, dass die Vorstellung, dass eine psychische Erkrankung in den meisten Fällen chronisch verläuft sich eher aufweicht. Trotzdem ist die[se Vorstellung] in vielen Köpfen noch sehr verankert; nicht nur bei Patient|innen und Angehörigen, sondern durchaus auch immer wieder bei Behandlern. Es gibt leider immer wieder Geschichten, dass Behandler explizit Hoffnung auf Besserung verneinen. Aber eine moderne Psychiatrie verschreibt sich heutzutage dem sogenannten Recovery-Paradigma in dem ein ganz wichtiger Ansatz ist, dass es immer Grund zu Hoffnung gibt und dass immer eine Besserung, Heilung eintreten kann. Dazu gehört sicherlich auch die Einbeziehung von Peer-Mitarbeitern, Menschen mit Erfahrung psychischer Erkrankung. Daran versuchen wir uns zu orientieren und daraufhin zu arbeiten und diese Hoffnung auch zu vermitteln» (Maatz, 2018).

Ein gesellschaftlich stark verankertes Stigma lässt sich kaum einfach beseitigen, auch wenn damit nicht nur der Psychiatrie als Institution, sondern auch Betroffenen gedient wäre. Wie verstrickt die Faktoren zu verstehen sind, welche eine solche Stigmatisierung mitbeeinflussen, verdeutlicht Anke Maatz: «[Es gibt] natürlich nach wie vor Aspekte, die massgeblich zur Stigmatisierung beitragen (….), wie Zwangsbehandlungen, geschlossene Türen. (…) Es ist falsch zu meinen, dass die Psychiatrie ganz ohne das könnte. Aber es gibt ganz viel Bewegung in dem Bereich. Es gibt viel Bemühung Zwangsbehandlung zu reduzieren, und ich denke, ein Stückchen weit kommt davon doch auch was in der Gesellschaft an. Trotzdem bleibt, dass die Psychiatrie ja wie gefangen ist, in diesem Doppelmandat; (…) dass die Psychiatrie gleichzeitig den gesellschaftlichen Auftrag hat zu sichern und individuell zur Heilung beizutragen; und das gerät manchmal in Konflikt. Das Bedürfnis nach Sicherheit, das es in der Gesellschaft gibt, ist teilweise auch hinderlich für psychiatrisches Arbeiten, so dass die Psychiatrie auch immer wieder missbraucht wird, letztendlich ordnungspolitische Funktionen zu übernehmen, die einfach nicht in den medizinischen Auftrag fallen. Das ist so ein bisschen eine Stigmatisierungsfalle. Einerseits stigmatisiert die Gesellschaft die Psychiatrie, aber sie erteilt auch Aufträge oder delegiert unliebe Aufgaben (…), die wiederum zur Stigmatisierung beitragen und damit sind wir ständig konfrontiert» (Maatz, 2018).

Die komplexen Interaktionen unterschiedlicher Ansprüche, Haltungen und Erwartungen, lassen sich nicht schnell oder einfach auflösen. Resignation schwingt in unserem Gespräch dennoch wenig mit. Zwar benennt Anke Maatz die gegenwärtige Situation klar und mit Nachdruck, der Grundton bleibt, nichtsdestotrotz, veränderungsorientiert. «Ich glaube, was vielleicht am meisten helfen könnte, ist offener Austausch zwischen Gesellschaft, Psychiatrie und allen Stakeholdern, auch der Austausch darüber, dass Psychiatrie ganz ohne Zwang wohl nicht möglich ist und man trotzdem alles tun sollte, um Zwang gering zu halten. (…) Ich glaube, da muss die Psychiatrie selber aktiv werden und mehr zu sich stehen; mit allen Konflikten, die dazu gehören» (Maatz, 2018).

Nach dem Gespräch mit Anke Maatz, mache ich mich wieder auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof. Meine Gedanken kreisen noch eine Weile um das Bild einer äusserst komplexen Psychiatrie, einer Institution, die sich am beständigsten durch stetigen Wandel auszeichnet. Ein Wandel, der sich sowohl im psychiatrischen Selbstverständnis als auch in der Arbeit mit Betroffenen und Öffentlichkeit vollzieht. Von einer Endhaltestelle ist die heutige PUK jedenfalls weit entfernt.

Ich steige in einen S-Bahnwagen. Nach kurzer Verzögerung, aufgrund einer technischen Störung an der Türschliessanlage, setzt sich der Zug in Bewegung. Meine Entfernung zum Hauptbahnhof, zum Zentrum für Soziale Psychiatrie, nimmt zu. Die psychiatrische Universitätsklinik war auch für mich heute nur Zwischenstopp.


Zum Weiterlesen

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli: Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Trösch, K. et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Literatur

Arenz, D. (2003). Dämonen, Wahn, Psychose: Exkursion durch die Psychiatriegeschichte. Köln: Viavital Verlag GmbH.

Baer, R. (Ed.). (1998). Themen der Psychiatriegeschichte. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.

Böker, H., & Conradi, J. (2016). Burghölzli Geschichten und Bilder. Zürich: Limmatverlag.

Danuser, H., & Rössler, W. (Eds.). (2013). Burg aus Holz: Das Burghölzli von der Irrenheilanstalt zur Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Luchsinger, K. (2016). Die Vergessenskurve: Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie. Zürich: Chronos Verlag.

Schott, H., & Tölle R. (Eds.). (2006). Geschichte der Psychiatrie: Krankheistlehren, Irrwege, Behandlungsformen. München: Verlag C.H. Beck.

Trösch, Kurt et al. (2007). In Etappen: Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich von 1990 bis 2007. Zürich: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Halt und Stopp! Wir sind wieder da mit einer neuen aware Ausgabe.

Von Lisa Makowski

Transitionen zwischen verschiedenen Lebensphasen bewegen und prägen uns Menschen. Sei es die Geburt eines Kindes, der erste Schultag, eine Heirat, die Menopause oder das Bewusstwerden, dass man älter wird. Wir brauchen Reserven, um durchzuhalten und im richtigen Moment brauchen wir die richtige Unterstützung.

Übergänge können auch erschwert sein, wenn ein|e Partner|in krank ist oder es plötzlich wird. Erkrankungen wie Depressionen oder auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivätsstörungen (ADHS) können Beziehungen überschatten. Eine Person mit einer Depression kann sich zu keinen gemeinsamen Aktivitäten aufraffen und jemandem mit ADHS fällt es schwer, sich richtig auszudrücken. Wie kann man für solche Menschen als Partner|in eine Unterstützung sein und die Beziehungen aufrechterhalten?

Menschen mit psychischen Erkrankungen werden oftmals stigmatisiert. So ist es für Männer in unserer Gesellschaft immer noch schwierig, sich als «Anorektiker» oder «Bulimiker» zu outen. Das Krankheitsbild einer Essstörung wird bis heute eher dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben – Männer, die unter solchen Krankheiten leiden, passen nicht ins Bild. Was ist wichtig zu wissen?

Die Klimaerwärmung ist ein allgegenwärtiges Thema. Tag ein, Tag aus bekommen wir es zu hören: Wir sollen innehalten und unseren Lebensstil ändern. Wir sollen nachhaltiger und weitsichtiger handeln. Wir sollen an die Zukunft unserer Kinder denken, die in dieser Welt noch leben sollen. Welche Lösungsansätze bietet die Psychologie?

Zu guter Letzt kommen wir zu #MeToo. Seit zwei Jahren zieht sich die Thematik bereits durch alle Medien. Dass es aber nicht nur in Hollywood, sondern auch an Universitäten zu sexuellen Belästigungen und dergleichen kommt, wird meistens verschleiert. Wer ist betroffen und was kann man tun?

Diese und weitere Themen behandeln wir in dieser Ausgabe und wünschen euch an dieser Stelle viel Vergnügen beim Lesen.

Eure aware Redaktion