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Beiträge aus der Kategorie ‘FS21’

Schlaf als Spiegel der Psyche

Warum wir schlechter schlafen, wenn es uns nicht gut geht

Schlaf ist ein sensibler Indikator des Wohlbefindens sowie ein Frühwarnzeichen, Symptom und Risikofaktor zahlreicher psychischer Störungen (Sachs, 2013; Oertel et al., 2014). Wie lässt sich diese Assoziation zwischen dem Schlaf und der psychischen Gesundheit erklären? 

Von Julia Schmid
Lektoriert von Laura Trinkler und Hanna Meyerhoff
Illustriert von Alba Lopez

Vor einer anstehenden Prüfung bräuchte ich eigentlich gar keinen Wecker zu stellen. Pünktlich – kurz nach fünf Uhr – wache ich auf. An Einschlafen ist dann nicht mehr zu denken. Stattdessen geht mein Gehirn selbstständig nochmals die wichtigsten Prüfungsinhalte durch und testet, ob ich wirklich hinreichend vorbereitet bin. Ich wälze mich im Bett umher und warte auf das erlösende Klingeln meines Weckers, um endlich aufzustehen und die Prüfung hinter mich bringen zu können. Es scheint als wüsste mein Körper genau, dass an diesem Tag ein stressiges Ereignis ansteht. Wie kann das sein? 

Ein Drittel des Lebens…  

Der Schlaf ist ein zentralnervös gesteuerter, psychophysiologischer Prozess, der durch charakteristische Ruhe- und Aktivitätswechsel verschiedener Organsysteme und Bewusstseinsvorgänge gekennzeichnet ist (Zulley & Hajak, 2005; Brand, 2018). Er ist Bestandteil des Wohlbefindens und erfüllt wichtige biologisch-restorative sowie neurokognitive und emotional-stabilisierende Funktionen (von Känel, 2011; Sachs, 2013). Sein Ziel ist es, optimales Denken, Fühlen und Handeln während des Wachzustandes zu gewährleisten (Brand, 2018). Das ist wohl der Grund, warum der Mensch ungefähr ein Drittel seines Lebens mit Schlafen verbringt (von Känel, 2011). 

Der Schlaf unterliegt einerseits dem zirkadianen Rhythmus und anderseits der homöostatischen Kontrolle (Borbély, 1982; Grözinger et al., 2008). Die Interaktion dieser beiden Prozesse führt dazu, dass der Mensch regelmässig schläft und wacht ist (Pollmächer, 2017). Der homöostatische Prozess beschreibt das wachsende Schlafbedürfnis mit zunehmender Wachzeit (Bromundt, 2014). Dagegen sorgt der zirkadiane Rhythmus dafür, dass sich die verschiedenen Prozesse im Körper gemeinsam auf Ruhe und Aktivität einstellen (Zulley & Hajak, 2005). Neben den Lichtverhältnissen stabilisieren vor allem Mahlzeiten, körperliche Aktivität und soziale Interaktion den zirkadianen Rhythmus (Bromundt, 2014). Die Körpertemperatur, der Blutdruck, die Herzfrequenz und verschiedene Hormonkonzentrationen zeigen eine ausgeprägte tageszeitliche Veränderung (Zulley & Hajak, 2005). Beispielsweise liegen die höchsten Cortisolwerte am Morgen und die niedrigsten am Abend vor (Malhi & Kuiper, 2013).  

Mehr als nur eine Befindlichkeitsstörung 

Schlafdauer und -qualität können durch psychophysiologische Tagesereignisse, wie beispielweise Stress, beeinflusst werden (Brand, 2018). Die Prävalenz von Schlafstörungen ist weltweit steigend und variiert je nach Studie und verwendeter Definition zwischen 10 und 50 Prozent, wobei Frauen häufiger betroffen sind (Gerber, 2012). Viele Jahre lang wurden Schlafstörungen als Befindlichkeitsstörungen chronisch gestresster Personen abgetan und trotz erheblichem Leidensdruck im klinischen Alltag wenig gewürdigt (von Känel, 2011). Die Erkenntnis, dass Schlafstörungen einerseits Risikofaktoren sowohl körperlicher als auch psychischer Erkrankungen darstellen und anderseits als Frühwarnsymptom psychischer Störungen zu sehen sind, hat das Interesse enorm verstärkt (Pollmächer, 2017). Beispielsweise erhöht eine über längere Zeit verkürzte Schlafdauer (unter sechs Stunden) das Mortalitätsrisiko und die Inzidenz von kardiovaskulären und metabolischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Adipositas und Diabetes (Chien et al., 2010).  

Der Körper weiss alles – Die Hyperarousal-Theorie 

Subjektive Schlafprobleme, das Gefühl eines nicht erholsamen Schlafes und Müdigkeit am Tag gehören zu den häufigsten Beschwerden überhaupt (Pollmächer, 2017). Kurzfristig betreffen sie wohl fast jeden Menschen irgendwann einmal in seinem Leben (Pollmächer, 2017). Personen, die unter Stress stehen, leiden besonders häufig an Schlafproblemen (Gerber, 2012). Akute Belastung und Anspannung, beispielsweise aufgrund einer anstehenden Prüfung oder einer beruflichen Beförderung, können eine vorübergehende Beeinträchtigung des Schlafs auslösen und mit Ein- und Durchschlafproblemen einhergehen (Grözinger et al., 2008). Dieser im Alltag häufig feststellbare Effekt lässt sich auf biopsychologische Ursachen zurückführen. Ob eine Person auf eine psychosoziale Belastung mit akuten Schlafproblemen reagiert, hängt unter anderem von ihrer genetischen Prädisposition und Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Perfektionismus) ab (Hertenstein et al., 2016). Als wesentliches pathophysiologisches Element zur Entstehung von Schlafproblemen wird eine zentralnervöse Überaktivierung angenommen, was als Hyperarousal bezeichnet wird (Morin et al., 1993; Pollmächer, 2017). Die Schlafprobleme beruhen demnach nicht auf zu geringer Schlaffähigkeit, sondern auf einer Überaktivierung des zentralen Nervensystems (Pigeon & Perlis, 2006). Die Theorie des Hyperarousals geht davon aus, dass durch erhöhten Stress die Fähigkeit verloren gehen kann, sein Schlafsystem adäquat zu aktivieren. Dies passiert indem entweder das Wachsystem zu hoch reguliert wird oder nicht herunterreguliert werden kann (Hermann et al., 2018). Dabei wird vermutet, dass die Tendenz, schnell überaktiviert zu sein, ein prämorbides Merkmal von Personen ist, die anfällig für stressbedingte Schlafprobleme sind (Fernández-Mendoza et al., 2010). Die Überaktivierung zeigt sich auf physiologischer, kognitiver, emotionaler und der Verhaltensebene (Pollmächer, 2017). 

Physiologisches Hyperarousal: Die psychische Erregung führt dazu, dass verschiedene physiologische Parameter vor dem Einschlafen stärker aktiviert sind (Hermann et al., 2018). Entsprechend liegt eine erhöhte Aktivität des Sympathikus vor, dem Teil des vegetativen Nervensystems, der für die Leistungssteigerung verantwortlich ist (Pollmächer, 2017). Diese Aktivierung zeigt sich unter anderem durch gesteigerten Blutdruck, Hautwiderstand und Herzfrequenz (Hermann et al., 2018). Meist ist ausserdem die Muskelanspannung und die Körpertemperaturkurve erhöht (Birbaumer & Schmidt, 2010). Auch die Stresshormonachse scheint überaktiviert zu sein, was in einer verstärkten Cortisolausschüttung resultiert (Pollmächer, 2017). Dies kann als Ausdruck des allgemeinen erhöhten Stressniveaus gewertet werden (von Känel, 2011). Auf kortikaler Ebene zeigt sich eine gesteigerte hochfrequente EEG-Aktivität während des Einschlafens und während des Non-REM-Schlafes (Cortoos et al., 2006). Dies deutet auf eine erhöhte Gehirnaktivität während des Schlafes hin (Cortoos et al., 2006).  

«Phylogenetisch bereitet sich der Organismus auf Kampf und/oder Flucht vor.» 

Brand, 2018, S. 279 

Kognitives Hyperarousal: Kognitiv zeigt sich das Hyperarousal im nächtlichen Nicht-Abschalten-Können von negativen Gedanken, entweder bezogen auf belastende Tagesereignisse oder auf den Schlafprozess (Riemann et al., 2007). Die Zeit im Bett vor dem Einschlafen geht mit einem Rückgang der äusseren Stimulation einher. Dadurch wird mehr Aufmerksamkeit auf die eigenen Gedanken und Gefühle gerichtet (Hermann et al., 2018). Gerade bei vermehrtem Stress besteht die Tendenz, in dieser Situation über ungelöste Probleme nachzudenken (Brand et al., 2010). Das gedankliche Durchspielen der Probleme erhöht wiederum das physiologische Arousal, aktiviert negative Emotionen und erhöht das Stressempfinden (Harvey et al., 2005). Hinzukommen, insbesondere bei gestressten Personen, Sorgen über die Folgen von unzureichendem Schlaf (Brand et al., 2010). Daraus kann die Absicht entstehen, möglichst gut zu schlafen bis hin zu einer gezielten Anstrengung, den Schlaf zu beeinflussen, um die Gesundheit zu schützen und die täglichen Anforderungen bewältigen zu können (Harvey, 2002; Espie et al., 2006). Dieser erregte Zustand führt zu einer selektiven Informationsverarbeitung und stärkeren Selbstbeobachtung (Riemann et al., 2007). So werden körperliche Veränderungen, wie z. B. Herzklopfen und Hitzegefühl verstärkt wahrgenommen, wodurch die Einschlafwahrscheinlichkeit als noch geringer eingeschätzt wird (Harvey, 2002; Espie et al., 2006). Den gleichen Effekt haben auch externale Stimuli, wie z. B. das Ticken einer Uhr. In diesem Zustand neigen die Betroffenen zu einer verzerrten Wahrnehmung. Sie überschätzen das Ausmass des Schlafdefizits und unterschätzen ihre Schlafqualität (Harvey, 2002; Espie et al., 2006). Der Versuch, die schlafstörenden Gedanken zu unterdrücken, führt zu deren Verstärkung (Hermann et al., 2018). Auch dysfunktionale Einstellungen bezüglich des Schlafes (z. B. starke Überschätzung der negativen Konsequenzen des schlechten Schlafes oder unrealistische Erwartungen an das eigene Schlafverhalten) verschlimmern die Problematik zusätzlich (Riemann et al., 2007). Das Bett wird in der Folge zum konditionierten Stimulus, der das Hyperarousal und die Einschlafschwierigkeiten auslöst (Hermann et al., 2018). 

Emotionales Hyperarousal: Das emotionale Hyperarousal zeigt sich durch Ärger und Sorgen bezüglich der Schlafproblematik (Riemann et al., 2007). Die Angst wieder nicht einschlafen zu können und vor den daraus resultierenden negativen Konsequenzen am nächsten Tag, verstärken die Schlafbeeinträchtigung zusätzlich (Pollmächer, 2017).  

Verhaltensbezogenes Hyperarousal: Dysfunktionale Verhaltensweisen führen zur Aufrechterhaltung und Verstärkung der Schlafbeeinträchtigung (Hertenstein et al., 2016). Manche Betroffenen versuchen ihr Schlafproblem durch längere Bettliegezeiten, Schlafen am Tag, Ausführen schlafbehindernder Aktivitäten im Bett (z. B. Fernsehen, Arbeiten) oder Alkoholkonsum zu bewältigen (Hermann et al., 2018). Dies reduziert jedoch das Schlafbedürfnis und stört den Schlaf-Wach-Rhythmus (Hertenstein et al., 2016).  

Vom Schlafproblem zur Schlafstörung 

Akute Schlafprobleme sind häufig (Pollmächer, 2017). Lassen sie sich auf ein belastendes psychosoziales Ereignis zurückführen, tritt häufig eine Remission ein, sobald der Stressor nicht mehr vorhanden ist oder es zu einer Adaptation an den Stressor kommt (Pollmächer, 2017). Halten die Umstände länger an, können die Schlafprobleme persistieren (Grözinger et al., 2008). Die Beziehung zwischen Stress und Schlafproblemen ist komplex, bidirektional und kann zu einer gegenseitigen Verstärkung führen (Meerlo et al., 2008). Die im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Prozesse interagieren und verstärken sich gegenseitig, was zu einer Chronifizierung und zur Entstehung von Schlafstörungen führen kann (Riemann et al., 2007). Schlafstörungen können über eine reduzierte Leistungsfähigkeit die psychologischen Belastungen verstärken und so zur Stabilisierung der stressbedingten Abwärtsspirale beitragen (Hobfoll, 1998).  

«In everyday life, stress and insufficient sleep often go hand in hand and make up a vicious circle in which stress keeps a person awake and the inability to sleep may increase the feelings of stress.» 

Meerlo et al., 2008, S. 198 

Schlafstörungen bei psychischen Störungen – Ein bidirektionaler Zusammenhang 

Schlafstörungen sind in wechselnder Häufigkeit und Intensität bei fast allen psychischen Störungen zu finden (Pollmächer, 2017). So leiden bis zu 80 Prozent der Personen mit psychischen Störungen auch an Schlafstörungen (Wulff et al., 2010). Der gestörte Schlaf hat zwar selten diagnostische Spezifität, ist aber oft ein Frühwarnzeichen der Erkrankung (z. B. bei Schizophrenie) und kann auf einen beginnenden Rückfall hinweisen (Pollmächer, 2017). Zusätzlich beeinflussen Schlafstörungen den Therapieerfolg sowie den Verlauf der Erkrankung negativ (Göder et al., 2017). Diese Zusammenhänge beruhen auf bidirektionalen Prozessen, deren Mechanismen bis heute noch weitgehend unbekannt sind (Bromundt, 2014). Einige der vermuteten Vorgänge werden in den kommenden Abschnitten kurz erläutert. 

Die wahrgenommene Unfähigkeit gegen die Schlafprobleme etwas unternehmen zu können, kann zu Hilflosigkeit führen, was die Entwicklung depressiver Symptome begünstigt (Gerber, 2012). Auch spielt Schlaf bei der Emotionsregulation eine wichtige Rolle. Möglicherweise kann eine starke Störung der Emotionsregulation zu einer Depression führen (Göder et al., 2017). Begleiterscheinungen der Schlafstörungen, wie kognitive und gesundheitliche Probleme oder die Aktivierung der Stressachse, können die Entstehung einer psychischen Störung fördern (Bromundt, 2014). Zudem verbringen psychisch kranke Personen weniger Zeit im Tageslicht, was die Entstehung von Schlafproblemen unterstützt (Garbazza & Cajochen, 2017). 

Darüber hinaus wird vermutet, dass teilweise dieselben neuronalen Netzwerke sowie dieselben Gene, für die Regulation von Schlaf und psychischen Funktionen zuständig sind (Göder et al., 2017). Abnormitäten in Neurotransmittersystemen bestehen sowohl bei Schlaf- wie auch bei psychischen Störungen und könnten sich entsprechend gegenseitig beeinflussen (Bromundt, 2014). Weiter können sich Schlaf- und psychische Störungen über ihre Begleitsymptome wie Stress oder soziale Isolation bidirektional begünstigen (Bromundt, 2014).  

Die Assoziation zwischen Schlaf und der psychischen Gesundheit beruht gemäss der Hyperarousal-Theorie auf der gegenseitigen Verstärkung der physiologischen, kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Überaktivierung. So hält uns unsere Schlafqualität einen Spiegel vor und gibt uns die Möglichkeit, unsere darin reflektierte psychische Verfassung zu überdenken. 

Exkurs: Körperliche Aktivität als Wundermittel bei Schlafproblemen 

Körperliche Aktivität geht mit einer guten Schlafqualität einher und ist in der Lage, stressbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen entgegenzuwirken (Youngstedt, 2005; Gerber & Pühse, 2009). Sie stabilisiert den zirkadianen Rhythmus, führt zu geringerer Tagesschläfrigkeit und puffert die negativen Folgen von Schlafmangel ab (Gerber, 2012). Darüber hinaus wird sie mit weniger depressiven Symptomen assoziiert und geht mit resilienzfördernden Denkmustern einher (Gerber et al., 2012). Bereits ein dreiwöchiges Trainingsprogramm (30 Minuten leichtes morgendliches Jogging) führt zu verbessertem objektivem und subjektivem Schlaf (Kalak et al., 2012). Vermutlich ist bei diesem Effekt nicht der Bewegungsumfang, sondern die Überzeugung, sich für seine Gesundheit genügend zu bewegen, entscheidend. Entsprechend sollten Bewegungsförderungsprogramme in die Behandlung von Schlafproblemen mit einbezogen werden (Gerber, 2012). 


Zum Weiterlesen

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Literatur

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Heute oder in zehn Jahren

Lang- versus kurzfristige Orientierung als Kulturdimension nach Hofstede

Leben, als gäbe es kein Morgen oder lieber heute auf etwas verzichten, um später zu profitieren? Geert Hofstede fand heraus, dass diese Frage je nach Kultur unterschiedlich beantwortet wird. Was bedeutet es, wenn eine Kultur langfristig orientiert ist? In welchen Bereichen spielt dies eine Rolle? 

Von Isabelle Bartholomä
Lektoriert von Anja Blaser und Berit Barthelmes
Illustriert von Holly Vuarnoz

Der niederländische Sozialpsychologe Geert Hofstede analysierte Daten einer Mitarbeitendenbefragung der International Business Machines Corporation (IBM) und fand vier Faktoren, welche 1980 als Kulturdimensionen nach Hofstede bekannt wurden (Hofstede & Minkov, 2010). Mit diesen vier Dimensionen – Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung, Individualismus vs. Kollektivismus und Maskulinität vs. Femininität – konnten die Kulturen der Mitarbeitenden verglichen werden. Später traf Hofstede den ursprünglich kanadischen Sozialpsychologen Michael Bond von der Universität Hongkong (Hofstede, n.d.). Die beiden stellten fest, dass bei einem von asiatischen Studierenden ausgefüllten Fragebogen ähnliche Faktoren gefunden werden konnten (Hofstede & Minkov, 2010). Doch beide Wissenschaftler kamen aus dem Westen und entsprechend waren ihre Methoden westlich geprägt. So baten sie chinesische Kolleg*innen, einen neuen Fragebogen zu grundlegenden Werten zu erstellen, den Chinese Value Survey (CVS). Bei der Auswertung von mit dem CVS generierten Daten zeigten sich erneut vier Dimensionen, jedoch liessen sich dieses Mal nur drei davon den Kulturdimensionen nach Hofstede zuordnen. 

Einen Überblick über die Ausprägungen der Kulturdimensionen nach Hofstede bei verschiedenen Ländern kann man sich auf http://www.hofstede-insights.com/compare-countries/ verschaffen. Die Seite ermöglicht den direkten Vergleich von jeweils bis zu vier Ländern gleichzeitig. Die Daten für die LTO stammen aus der Forschung von Michael Minkov (Hofstede, Hofstede & Minkov, 2010) und wurden mit dem World Values Survey (WVS) erhoben. 

Konfuzius oder die langfristige Orientierung 

Die zusätzliche Dimension wurde von Items abgebildet, welche in den von Hofstede und Bond verwendeten Fragebogen nicht vorkamen (Hofstede & Minkov, 2010). Ein Pol der Dimension beinhaltet die Werte Beharrlichkeit, Sparsamkeit, Sinn für Scham und das Ordnen der Beziehungen nach Status. Am anderen Ende finden sich das Erwidern von Grüssen, Respekt für Tradition, Wahrung des «Gesichtes» und persönliche Stabilität. Der erste Pol spiegelt zu einem gewissen Grad die Lehren des Konfuzius wider und wurde 1991 von Hofstede als «Langfristige Orientierung», beziehungsweise «Long-term Orientation» (LTO), als fünfte Kulturdimension eingeführt. Entsprechend wird der andere Pol der Dimension als «Kurzfristige Orientierung» bezeichnet.  

«The new dimension is not ‹Confucianism› per se. Some very Confucian values were not related to it – for example, ‹filial piety›, which in the CVS was associated with collectivism»

Hofstede & Minkov, 2010, S. 295 

Basierend auf dem CVS erzielen China, Hong Kong, Taiwan, Japan und Südkorea die höchsten Werte auf der LTO-Skala, was auf eine langfristige Orientierung dieser Kulturen hindeutet (Hofstede & Minkov, 2010). Zimbabwe, Kanada, die Philippinen, Nigeria und Pakistan befinden sich am anderen Ende des Spektrums. Für die Schweiz wird ein Wert von 74 berichtet, China liegt bei 87, und die USA bei 26. Doch wie unterscheiden sich lang- und kurzfristig orientierte Kulturen konkret? 

Langfristige Zukunftsplanung vs. kurzfristiges Leben im Hier und Jetzt 

Ein Bereich, in dem sich die zeitliche Orientierung zeigt, ist das familiäre Leben. In langfristig orientierten Kulturen wird Familie hauptsächlich als pragmatisches Arrangement gesehen, welches jedoch auf echter emotionaler Zuneigung beruht (Hofstede & Minkov, 2010). Den Kindern wird viel Aufmerksamkeit gewidmet und sie lernen Sparsamkeit, sowie dass ihre Bedürfnisse nicht sofort erfüllt werden. Kinder in Kulturen mit kurzfristiger Orientierung lernen einerseits, soziale Codes zu respektieren, andererseits sofortige Bedürfnisbefriedigung zu erwarten und soziale Konsumtrends wahrzunehmen.  

Eine besonders wichtige Rolle spielen Hofstedes Kulturdimensionen ausserdem im interkulturellen Management (Towers & Peppler, 2017). So planen Führungspersonen aus Kulturen mit hoher LTO langfristiger und zeigen grosse Beharrlichkeit bei der Zielverfolgung. Ausserdem schreiben sie Traditionen einen hohen Stellenwert zu. Manager*innen in kurzfristig orientierten Kulturen rechnen schon in naher Zukunft mit Gewinnen, neigen zu Konsum und vermeiden Gesichtsverlust. Zusammen mit den Unterschieden zwischen Kulturen auf den anderen Dimensionen können diese Differenzen zu erheblichen Schwierigkeiten in der internationalen Zusammenarbeit von Firmen führen.  

Hofstede, Hofstede und Minkov stellten 2010 auf Basis der CVS-Daten weitere Unterschiede in der Denkweise zeitlich unterschiedlich orientierter Kulturen zusammen. So spielt bei Kulturen mit hoher LTO Freizeit eine geringere Rolle und soziale oder ökonomische Unterschiede gelten nicht als erstrebenswert. Gut und Böse sind nicht universell festgelegt, sondern hängen von den Umständen ab und Uneinigkeiten stellen kein Problem für Beziehungen dar. Kurzfristig orientierte Kulturen streben eine Meritokratie an, also eine Hierarchie gemäss erbrachter Leistung, betonen die Wichtigkeit des Profits des aktuellen Jahres statt desselben in zehn Jahren und bevorzugen abstrakte Rationalität gegenüber dem gesunden Menschenverstand. Demnach gibt es kulturelle Unterschiede hinsichtlich mancher Denk- und Verhaltensweisen, die der Dimension der lang- vs. kurzfristigen Orientierung nach Hofstede zugeordnet werden können. Welche Zusammenhänge finden sich zu anderen Lebensbereichen? 

LTO, Wirtschaft und Schule 

Zur Überraschung der beiden Wissenschaftler Hofstede und Bond korrelierte die neu entdeckte Dimension mit kürzlichem ökonomischem Wachstum und sagte diesen auch zukünftig voraus (Hofstede & Minkov, 2010). Auch im schulischen Kontext finden sich Unterschiede je nach zeitlicher Orientierung einer Kultur. Die Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) berichtete positive Korrelationen zwischen der LTO und Leistungen in Mathematik (von Saldern, 1999). In anderen Worten: Je langfristiger eine Kultur orientiert ist, desto besser fallen mathematische Leistungen aus. Das gilt auch dann, wenn bei der Auswertung die besonders langfristig orientierten asiatischen Länder nicht berücksichtigt werden. Hofstede und Minkov (2010) verweisen darauf, dass asiatische Schüler*innen Erfolg und Misserfolg eher auf Anstrengungen zurückführen als westliche Lernende. Der Grund für die bessere mathematische Leistung in asiatischen Ländern findet sich laut den beiden Autoren einerseits in einem kulturellen Talent für Mathematik und andererseits in ihrer härteren Arbeitsweise. Doch die LTO einer Kultur weist noch weitere Zusammenhänge mit schulischer Leistung auf. In ihrer Studie mit immigrierten Schüler*innen beobachteten Figlio, Giuliano, Özek und Sapienza (2019) bei Personen aus Kulturen mit hoher LTO schon zu Beginn eine bessere Leistung bei standardisierten Tests. Ausserdem machten sie grössere Fortschritte, fehlten weniger in der Schule und mussten seltener ein Jahr wiederholen. Die Autor*innen begründen dies damit, dass Kinder aus diesen Kulturen besser mit verzögerter Belohnung umgehen können und dass ihre Eltern mehr Wert auf Bildung legen. 

Doch auch in anderen Bereichen spielt die zeitliche Orientierung eine Rolle. Park und Lemaire (2011) fanden beispielsweise einen starken positiven Zusammenhang zwischen der LTO von Kulturen und der Nachfrage nach Lebensversicherungen. Sie schlussfolgern, dass westliche Versicherungsanbieter ihre Produkte nicht ohne kulturelle Anpassungen exportieren können und neben anderen Einflussfaktoren insbesondere die zeitliche Orientierung der Zielländer beachten müssen.  

Schlussendlich ist die langfristige Orientierung nur eine der inzwischen sechs Kulturdimensionen nach Hofstede. Und auch diese Klassifizierung ist nur eine der verschiedenen Möglichkeiten, Kulturen mit ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden zu erfassen. Doch anhand dieses einzelnen Beispiels lässt sich erkennen, dass Kultur einen Einfluss auf unser tägliches Leben hat und insbesondere in der internationalen Kommunikation jeglicher Art von grosser Bedeutung ist.  

Geert Hofstede, geboren 1928, arbeitete in der Abteilung für Personalforschung bei IBM international (Hofstede, n.d.). Ende der 60er Jahre begann er, die Daten einer organisationsweiten Befragung auszuwerten. Das Manuskript für seine daraus resultierende Theorie der Kulturdimensionen wurde von 17 Verlagen abgelehnt, bis Sage es 1980 schliesslich publizierte. Seitdem entwickelte Hofstede mit seinen Kollegen M. Bond, M. Minkov und G. J. Hofstede die Theorie weiter, bis er im Februar 2020 verstarb.  


Zum Weiterlesen

Hofstede, G., & Minkov, M. (2010). Long- versus short-term orientation: New perspectives. Asia Pacific Business Review, 16(4), 493-504. https://doi.org/10.1080/13602381003637609 

Hofstede, G., Hofstede G. J., Minkov, M. (2019). Cultures and Organizations: Software of the Mind (3rd ed.). McGraw-Hill. 

Literatur

Figlio, D., Giuliano, P., Özek, U., & Sapienza, P. (2019). Long-Term Orientation and Educational Performance. American Economic Journal: Economic Policy, 11(4), 272-309. https://doi.org/10.1257/pol.20180374  

Hofstede, G. J. (n.d.). About Geert Hofstede: Biography. Geert Hofstede. Retrieved January 22, 2021, from https://geerthofstede.com/geert-hofstede-biography/ 

Hofstede, G. J. (n.d.). Related Scientists: Michael Harris Bond. Geert Hofstede. Retrieved January 22, 2021, from https://geerthofstede.com/related-scientists/michael-harris-bond/   

Park, S., & Lemaire, J. (2011). Culture Matters: Long-Term Orientation and the Demand for Life Insurance. Asia-Pacific Journal of Risk and Insurance, 5(2), Article 1. https://doi.org/10.2202/2153-3792.1105  

Towers, I., Peppler, A. (2017). Geert Hofstede und die Dimensionen der Kultur. In Ternès, A., & Towers, I. (Eds.), Interkulturelle Kommunikation: Länderportäts – Kulturunterschiede – Unternehmensbeispiele (pp. 15-20). Springer Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10237-1  

Von Saldern, M. (1999). TIMSS – kulturell interpretiert. Die Deutsche Schule, 2, 188-203. 

Mädchen, Unterbrochen

Ein ergreifendes Narrativ von Selbstfindung und Resistenz

Als junge Frau kommt Susanna in der parallelen Welt der psychischen Störung an. Eine Welt, in der die Gesetze der Physik nicht mehr gelten und Träume mit der Realität verwechselt werden. Nun ist sie mit der Entscheidung ihres Lebens konfrontiert: Bleiben oder gehen?

Von Noémie Lushaj
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Ladina Hummel
Illustriert von Andrea Bruggmann

1993 veröffentlichte die Schriftstellerin Susanna Kaysen ihr Memoire «Girl, Interrupted», in dem sie von ihrem 18-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in den 60er Jahren berichtet. 1999 verfilmte Hollywood ihre Geschichte in dem gleichnamigen Psycho-Drama. 

Jung, weiblich und «durchgeknallt» 

Die 18-jährige Susanna Kaysen, im Film gespielt von Winona Ryder, ist eine schlaue, aber psychisch gestörte junge Frau, die in den Augen der meisten Erwachsenen vor allem durch ihr kontrasoziales Verhalten charakterisiert wird. Tatsächlich möchte Susanna nach ihrem Gymnasialabschluss im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen nicht an eine Universität gehen, um ein Studium anzufangen. Stattdessen möchte sie schreiben. Und vor allem nicht wie ihre Mutter werden. Ausserdem gilt sie auf Grund ihrer Beziehungen mit unterschiedlichen Männern als promiskuitiv. Als sie eines Tages 50 Tabletten Aspirin runterschluckt, wird sie von ihren Eltern zu einem Arzt geschickt, der sie nach einem 20-minütigen Gespräch mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Am selben Tag schreibt sich Susanna im McLean Hospital – im Film Claymoore Hospital genannt – ein. 

Dort lernt sie junge Frauen kennen, die sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben und nun von verschiedenen psychischen Problemen betroffen sind. Susanna beschreibt: Georgina leidet an Schizophrenie, Daisy wird von ihrem Vater sexuell misshandelt, Polly hat die Hälfte ihres Gesichts mit Gasolin verbrannt, Janet ist magersüchtig und Cynthia bekommt eine Elektroschock-Therapie. Vor allem die Soziopathin Lisa Rowe, gespielt von Angelina Jolie, fasziniert Susanna durch ihre gefährliche und charismatische Art. Zusammen erleben die Mädchen in dem besonderen Milieu der psychiatrischen Station Betrug und Stigmatisierung, aber auch Freundschaft und Mitgefühl. Auf dem Weg zur Heilung setzt sich Susanna mit existentiellen Fragen auseinander: Was ist krank und was ist gesund? Was ist das Geheimnis des Lebens? Wo gehört sie selbst hin? 

«Have you ever confused a dream with life? Or stolen something when you have the cash? Have you ever been blue? Or thought your train moving while sitting still? Maybe I was just crazy. Maybe it was the 60’s. Or maybe I was just a girl… interrupted.»  

Susanna Kaysen

Von Gesundheit in einer kranken Gesellschaft 

Das Thema der Verwechslung sozialer Nonkonformität mit Wahnsinn ist in Girl, Interrupted sehr präsent. Die Geschichte findet vor dem kulturellen Hintergrund der 60er Jahre statt: Eine Zeit gekennzeichnet durch Unsicherheit und Krisen, in der Tradition und sozialer Wandel gewaltsam aufeinandertrafen (Self, 2016). Der Vietnamkrieg und Protestbewegungen prägten die Jahre, die Susanna in der Klinik verbrachte. Auch gab es in diesem Jahrzehnt mehrere Fortschritte im Bereich der Frauenrechte (Burkett, 2020). Trotzdem blieben die Optionen, die Frauen zur Verfügung standen, immer noch begrenzt. 

Das kontrasoziale Verhalten von Susanna kann als Reaktion auf repressive soziale Normen interpretiert werden (Marshall, 2006). Ihre Eltern, das Edukationssystem und die Psychiatrie klassifizierten ihr Verhalten jedoch als pathologisch. Gemäss ihrem Standpunkt musste Susanna nämlich vor einer bedrohlichen Welt gerettet werden, die sie nicht mehr in der Lage waren, zu verstehen (Marshall, 2006). Dass Susanna als Folge dieses Unverständnisses als krank abgestempelt wurde und in die stationäre Psychiatrie geriet, suggeriert die Möglichkeit, dass ihre Kondition vielmehr ein Symptom einer kranken Gesellschaft als eine persönliche Krise sein könnte. Somit stellt Kaysen die Frage: Wie sieht eine passende Reaktion auf traumatische Umstände und Unterdrückung aus (Marshall, 2006)? 

Heterotopia 

Die Gefühle von Susanna und den anderen jungen Frauen gegenüber der Psychiatrie sind ambivalent. Tatsächlich stellt Girl, Interrupted mehrfach die Objektivität von psychiatrischen Diskursen und Institutionen in einer kritischen und oft humorvollen Weise in Frage (Marshall, 2006). Insbesondere analysiert Susanna die 20 Minuten, in denen ihre Diagnose gestellt wurde und die ihr Leben veränderten. Was waren die Motivationen des Arztes, der sie diagnostizierte? War ihre Internierung gerechtfertigt? Stimmt ihre Diagnose? Hat die Psychiatrie versagt, oder sie im Gegenteil gerettet? Auch die Klinik und die dort angewendeten therapeutischen Methoden werden an zahlreichen Stellen kritisiert, doch auf der anderen Seite ist dieser Ort ein sicherer Hafen, den viele der Patient*innen nur ungern verlassen würden. 

Weder utopisch noch deutlich dystopisch wird die Klinik, in der andere Regeln gelten und Patient*innen vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt sind, also am besten als Heterotopie verstanden (Antolin, 2020). Dieses geisteswissenschaftliche Konzept, das von dem Philosophen Michel Foucault entwickelt wurde, beschreibt Räume, die durch ihr Anderssein charakterisiert werden (Antolin, 2020). So bekommt Susanna in der Tat erst in der anderen Umgebung der Klinik, den Raum, den sie für ihre Entwicklung benötigt und der ihr erlaubt, auf ihre eigene Art erwachsen zu werden. 

Borderline: Frauen an der Grenze 

Weiter fragt sich Susanna, inwieweit sexistische Einstellungen einen Einfluss auf die Stellung ihrer spezifischen Diagnose – Borderline-Persönlichkeitsstörung – hatten. Sie bemerkt, dass die Erkrankung bei Frauen häufiger diagnostiziert wird als bei Männern: Ein Phänomen, das dadurch erklärt werden kann, dass die potenziell selbstverletzenden Verhaltensweisen, die mit der Diagnose einhergehen, wie zum Beispiel Ladendiebstahl und Essattacken, typischerweise mit Frauen assoziiert werden (Marshall, 2006). Darüber hinaus gilt Promiskuität bei Frauen anders als bei Männern eher als pathologisch. Dass Susanna als promiskuitiv bezeichnet wird, bezieht sich vor allem auf eine Affäre, die die junge Frau mit ihrem Englischlehrer kurz vor ihrem psychischen Zusammenbruch hatte. Während im Text kein expliziter kausaler Zusammenhang zwischen den zwei Ereignissen gemacht wird, suggeriert die Prominenz der Geschichte in dem Narrativ etwas anderes, argumentiert Marshall (2006). Auch die Reaktion der Ärzte ist bemerkenswert: Anstatt auf die Machtverhältnisse dieser Beziehung zu achten, kommen sie zu dem Schluss, dass Susanna auf Grund ihrer Erkrankung gesunde Grenzen fehlen. Somit macht Girl, Interrupted deutlich, dass die Wahrnehmung von Susanna als psychisch kranke junge Frau die Art und Weise beeinflusst, wie ihr Verhalten gedeutet und wie sie als Mensch behandelt wird (Marshall, 2006).  

Mädchen, geht weiter 

Die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter sind Phasen des Lebens, die voller Unsicherheiten sind: Phasen, in denen man seine Identität sucht, seine Sexualität auszuleben beginnt, seine Zukunft plant und dabei unterschiedliche, manchmal widersprüchliche gesellschaftliche Erwartungen balanciert. Susanna wurde in diesem Prozess unterbrochen – nun wie geht es für sie weiter? An dieser Stelle unterscheiden sich Buch und Film wesentlich: Während Susanna in dem Film durch Gesprächstherapie geheilt wird und schliesslich Claymoore verlässt, konnte die echte Susanna Kaysen erst dank der Aussicht auf eine Hochzeit McLean verlassen und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Der Film verändert also die Botschaft des Buchs insofern, dass es das Individuelle statt des Sozialen als die Quelle (und gleichzeitig als die Lösung) von Problemen identifiziert (Marshall, 2006). 

Kaysens Narrativ stellt viele Fragen – und beantwortet sie nicht unbedingt eindeutig. Vielleicht weil die Antworten zu komplex wären. Vielleicht weil es keine Antworten gibt. Schlussendlich müssen Leser*innen und Zuschauer*innen selbst entscheiden, welches Fazit sie aus ihrer Erzählung ziehen möchten. Für mich bleibt die wesentliche Botschaft von Girl, Interrupted, dass man nicht moralisieren sollte, wie Menschen mit den Herausforderungen des Lebens umgehen und schliesslich wachsen. 

Vor Susanna, Sylvia 

Neben Kaysen besuchten berühmte Persönlichkeiten wie James Taylor, Robert Lowell, Ray Charles und die Schriftstellerin Sylvia Plath das McLean Hospital. Plath, die unter einer depressiven Störung litt, ist vor allem für die Gedichte bekannt, die ihr Leben mit der psychischen Störung thematisierten. Girl, Interrupted (Kaysen, 1993) wird öfters mit Plaths autobiographisch inspiriertem Roman The Bell Jar (1963) verglichen (Marshall, 2006). 

Über Wahnsinn schreiben 

Lange Zeit wurde angenommen, dass eine psychische Störung die Fähigkeit beeinflusst, ein kohärentes Narrativ über das eigene Leben zu konstruieren (Longhurst, 2019). Das hat psychisch erkrankte Menschen jedoch nicht davon abgehalten, ihre Geschichten zu erzählen: Das disability memoir setzte sich sogar als zentrales Genre des autobiographischen Schreibens durch. Heute ist es weiterhin durch ein hohes Potenzial für Subversion und eine grosse politische Relevanz gekennzeichnet (Longhurst, 2019). 


Zum Weiterlesen

Kaysen, S. (1993). Girl, Interrupted. Turtle Bay Books. 

Marshall, E. (2006). Borderline girlhoods: Mental illness, adolescence, and femininity in Girl, Interrupted. The Lion and the Unicorn, 30, 117-133. https://doi.org/10.1353/uni.2006.0009 

Literatur

Antolin, P. (2020). Challenging borders: Susanna Kaysenʼs Girl, Interrupted as a subversive disability memoir. European Journal of American Studies, 15(2). https://doi.org/https://doi.org/10.4000/ejas.16051  

Burkett, E. (2020). Women’s rights movement. Encyclopedia Britannicahttps://www.britannica.com/event/womens-movement  

Kaysen, S. (1993). Girl, Interrupted. Turtle Bay Books.  

Longhurst, K. (2019). Counterdiagnosis and the critical medical humanities: reading Susanna Kaysen’s Girl, Interrupted and Lauren Slater’s Lying: A Metaphorical Memoir. Medical Humanitieshttps://doi.org/10.1136/medhum-2018-011543  

Marshall, E. (2006). Borderline girlhoods: Mental illness, adolescence, and femininity in Girl, Interrupted. The Lion and the Unicorn, 30, 117-133. https://doi.org/10.1353/uni.2006.0009