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Beiträge aus der Kategorie ‘FS21’

Psychologische Berufsverbände

Eine Mitgliedschaft lohnt sich und unterstützt berufspolitische Entwicklungen 

Mit Abschluss des Studiums und Beginn der Berufstätigkeit als Psycholog*in stellt sich die Frage, einem psychologischen Berufsverband beizutreten. Der vorliegende Artikel liefert eine kurze Übersicht über die psychologischen Berufsverbände der Schweiz und erklärt den Nutzen einer Mitgliedschaft. 

Von André Widmer
Lektoriert von Marie Reinecke und Marina Reist

In der Schweiz sind über 10’000 Psycholog*innen in rund 60 verschiedenen Psychologieverbänden organisiert. Davon bilden 45 die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) mit über 8’000 Mitgliedern. Damit ist die FSP der grösste und bedeutendste Schweizer Psycholog*innenverband. Der Schweizer Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) ist nicht Teil der FSP und mit knapp 1’000 ordentlichen Mitgliedern einer der ältesten Verbände. Traditionell sind vor allem die Psycholog*innen des früheren Zürcher Institutes für angewandte Psychologie (IAP), welches als Hochschule für Angewandte Psychologie Zürich (HAP) heute ein Departement der ZHAW darstellt, wie auch die Psycholog*innen anderer Fachhochschulen im SBAP organisiert. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychologie (SGP), 1943 während des zweiten Weltkriegs von Jean Piaget gegründet, ist der älteste Verband. Als ursprüngliches Gründungsmitglied der FSP hat sie sich 2015 von einem psychologischen Berufsverband zu einer Wissenschaftsgesellschaft gewandelt und ist deshalb nicht mehr FSP-Mitglied. In der Folge reduzierte sich der Mitgliederbestand um rund ein Drittel. Aktuell hat die SGP aber wieder etwas mehr als 350 Mitglieder. Voraussetzung für eine ordentliche SGP-Mitgliedschaft ist eine Promotion in Psychologie. 

Neben diesen gesamtschweizerischen Verbänden, die jeweils alle psychologischen Fachbereiche vereinen, gibt es eine ganze Reihe von Psychotherapieverbänden, die sich in der Regel in den psychotherapeutischen Methoden unterscheiden. Eine Ausnahme stellt die Assoziation Schweizer Psychotherapeuten (ASP) mit rund 800 hauptsächlich psychologischen Psychotherapeut*innen dar. Sie vertritt die berufspolitischen Interessen von Psychotherapeut*innen verschiedener Richtungen und ist unabhängig von der FSP. Neben psychotherapeutischen Fachverbänden, die ihre berufspolitischen Anliegen durch die FSP wahrnehmen lassen, gibt es eine ganze Reihe von nicht-psychotherapeutischen Fachverbänden, die mehrheitlich ebenfalls in der FSP organisiert sind (Kinder- und Jugendpsycholog*innen, Neuropsycholog*innen, Klinische Psycholog*innen, Gesundheitspsycholog*innen, Sportpsycholog*innen, Coaching-Psycholog*innen etc.). 

Neben den Fachverbänden gibt es weiter regionale Psycholog*innenverbände, welche sich für die berufspolitischen Interessen von Psycholog*innen einer Region engagieren. Der grösste regionale Berufsverband ist der Kantonalverband der Zürcher Psycholog*innen (ZüPP) mit über 1’100 ordentlichen Mitgliedern. In anderen Regionen und Kantonen der Schweiz haben sich die Psycholog*innen ebenfalls organisiert (Kantone Waadt, Genf, Bern, Basel, Wallis, Tessin und weitere, auch in den Regionen Ostschweiz, Zentralschweiz etc.), praktisch alle sind ebenfalls Teil der FSP. 

«Die FSP ist führend im Engagement für die berufspolitischen Interessen der Psycholog*innen.»

André Widmer 

Was nützt die Mitgliedschaft in einem psychologischen Berufsverband? 

Die Gliedverbände der FSP – wie auch die FSP selbst – aber auch der SBAP, organisieren Weiterbildungen, welche zu psychologischen Fachtiteln führen. Fachtitel sind Fähigkeitsausweise, welche bestätigen, dass jemand in einem bestimmten psychologischen Fachgebiet selbständig und eigenverantwortlich seinen Beruf auszuüben vermag. Neben dem Bund vergeben allein die Psychologieverbände solche Fachtitel, wobei die Mitgliedschaft eine Voraussetzung darstellt. Die Fachtitel der FSP sind die bekanntesten und werden in der Praxis gleichwertig wie die Weiterbildungstitel des Bundes akzeptiert. Die FSP und der SBAP verbinden mit ihren Fachtiteln eine Fortbildungspflicht, welche auf dem Psychologieberufegesetz basiert. Darüber hinaus verpflichtet die FSP ihre Mitglieder zur Einhaltung der Berufsordnung.  

Die FSP ist zudem führend im Engagement für die berufspolitischen Interessen der Psycholog*innen. Beispielsweise die Ablösung der delegierten Psychotherapie durch ein Anordnungsmodell, welches für die psychologischen Psychotherapeut*innen die selbständige Abrechnung über die Grundversicherung ermöglicht. Oder auch Empfehlungen für Anstellungsbedingungen von Psycholog*innen in Institutionen etc. 

Die Psychologieverbände, insbesondere die FSP, bieten neben breiten Informationen zur Berufspraxis diverse Hilfen und meist kostenlose oder ermässigte Beratungen zu Berufsfragen an (Newsletter, Zeitschrift Psychoscope, Stellenangebote, Fortbildungen, Beratungen zu Anstellungsbedingungen und Lohn, Antworten auf rechtliche Fragen, Erfahrungsaustausch, Beschwerdestelle etc.).  

Die FSP und der SBAP wie auch andere Berufsverbände vermitteln zudem persönliche Vergünstigungen bei verschiedenen Dienstleistungen und Produkten von externen Anbietern (Versicherungsangebote, Freizeitangebote, Fachzeitschriften etc.). 

«Ein Beitritt zur FSP über einen ihrer Gliedverbände bietet ohne Zweifel den breitesten Nutzen, insbesondere für Psychotherapeut*innen.»

André Widmer 

Exkurs: Weiterbildungstitel des Bundes 

Der eidgenössische Weiterbildungstitel Psychotherapie ist für eine psychotherapeutische Praxisbewilligung Voraussetzung. Die eidgenössischen Weiterbildungstitel Neuropsychologie, Klinische Psychologie, Kinder- und Jugendpsychologie und Gesundheitspsychologie sind im Psychologieberufegesetz ebenfalls festgelegt, werden zurzeit aufgrund fehlender anerkannter Weiterbildungen aber noch nicht vergeben. Parallel vergibt auch die FSP diese Fachtitel, welche in der Praxis äquivalent akzeptiert sind. 

Was kostet die Mitgliedschaft? 

Der jährliche Mitgliederbeitrag der Gliedverbände der FSP liegt zwischen 50 und 400 Franken. Dazu kommt der zusätzliche FSP-Mitgliederbeitrag von 470 Franken. Studienabgänger*innen, die der FSP spätestens zwei Jahre nach der Erlangung des Masterdiploms beitreten, bezahlen im Jahr des Beitritts sowie im darauffolgenden Jahr keinen Mitgliederbeitrag. In den zwei folgenden Jahren zahlen sie nur die Hälfte. Weitere Ermässigungen sind auf der Website der FSP zu finden. Der ordentliche ZüPP-Mitgliederbeitrag beträgt 225 Franken. Psychologiestudierende im Masterstudium zahlen nur einen einmaligen Beitrag von 25 Franken bis zum Abschluss des Studiums. Für Studienabgänger*innen gelten die gleichen Reduktionen wie beim FSP-Mitgliedsbeitrag. Der SBAP-Mitgliedsbeitrag beträgt 600 Franken. Studierende zahlen einen Jahresbeitrag von 100 Franken. 

Welcher Verband ist der «richtige»? 

Ein Beitritt zur FSP über einen ihrer Gliedverbände bietet ohne Zweifel den breitesten Nutzen, insbesondere für Psychotherapeut*innen. Die FSP ist der mächtigste Berufsverband mit dem grössten Know-how und den meisten Ressourcen. Für Psycholog*innen im Kanton Zürich bietet sich entsprechend ein Beitritt via Kantonalverband der Zürcher Psycholog*innen (ZüPP) an. Der ZüPP setzt sich aktiv und engagiert für die Interessen seiner Mitglieder in den verschiedenen Fachbereichen ein. Eine Alternative zu einem regionalen Berufsverband wäre die Mitgliedschaft in einem der Fachverbände. Diese unterstützen und fördern vor allem die Weiter- und Fortbildung sowie die Vernetzung und den Erfahrungsaustausch in einem spezifischen Fachgebiet, wie zum Beispiel die Schweizerische Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie (SKJP)Schweizer Gesellschaft für Rechtspsychologie (SGRP)Swiss Association of Sport Psychology (SASP)Schweizerische Vereinigung Neuropsychologinnen und Neuropsychologen (SVNP) oder andere psychotherapeutische Fachverbände. 

Mitgliedschaft in einem psychologischen Berufsverband 

Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) 

https://www.psychologie.ch/die-fsp/mitgliedschaft

Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen (ZüPP) 

https://www.zuepp.ch/verband/mitglied-werden/

Schweizer Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) 

Schweizerische Gesellschaft für Psychologie (SGP) 

https://www.swisspsychologicalsociety.ch/sgp-mitglieder/werden-sie-sgp-mitglied

Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) 

https://psychotherapie.ch/wsp/de/mitglied-werden/was-bringt-die-asp-mitgliedschaft/

Engagement im FAPS – Besser heute als morgen

Warum Dein Engagement im Fachverein für Dich und Deine Mitstudierenden schon heute von Bedeutung ist 

Als Student*in hast Du bestimmt so viele Dinge im Kopf, dass meist keine Zeit bleibt, Dir über zusätzliches Engagement im Fachverein auch nur Gedanken zu machen. Oft denken wir: «Erst die Prüfungen und dann gehe ich sicher mal in eine FAPS-Vorstandssitzung!»
Meist kommt dann aber wieder etwas dazwischen.

Von Angela Pape
Lektoriert von Niko Läderach und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Angela Pape

Was einige auf den ersten Blick nicht sehen: Sich im Fachverein zu engagieren hat viele Vorteile und macht einfach Spass. Gerade zu Pandemiezeiten hilft der Fachverein, Studierende zusammenzubringen, sodass Du abends nicht alleine das ein oder andere (alkoholfreie) Bier oder Glas Wein trinken musst. Egal ob vor dem Bildschirm, oder zu dritt im FAPS-Büro.  

Wenn Du mehr Leute aus Deinem oder anderen Jahrgängen kennenlernen, gleichzeitig Deine Team-Fähigkeiten verbessern und für uns alle etwas Gutes tun möchtest, dann melde Dich doch für eines unserer Ressorts als Vorstandsmitglied. 

Ressort Information 

Social Media und Marketing sind Dein Ding? Genau das bietet Dir das Ressort Information: Betreue unsere FAPS-internen und -externen Medienkanäle. Erledige die Aufgaben ganz einfach von zu Hause aus und vertiefe Dein administratives Geschick. Komm in Kontakt mit Studierenden und erhöhe den FAPS-Bekanntheitsgrad.  

Ressort Hochschulpolitik 

Du möchtest gerne einen Blick hinter die Kulissen des Psychologischen Instituts werfen? Dann bist Du im Ressort Hochschulpolitik genau richtig: Vertrete die Interessen der Studierenden. Nimm Deinen Platz in der Institutsversammlung ein und bilde die Schnittstelle zwischen Studierenden und Institut. Betreue das Mentoringprogramm zwischen neuen und erfahreneren Studierenden und stehe für Fragen zum Psychologiestudium zur Verfügung. 

Ressort Events 

Du bist partybegeistert, kreativ und ein Organisationstalent? Dann suchen wir Dich für das Ressort Events: Organisiere Events wie die alljährliche Psycho-Party oder auch kleinere Veranstaltungen in Kollaboration mit anderen Fachvereinen. Du kommst in Kontakt mit Eventlabels und erhältst die Möglichkeit, Dich mit vielen spannenden Leuten zu vernetzen. 

Ressort Skriptshop 

Du möchtest Dir und Deinen Kommilitonen*innen Zugang zu qualitativ hochwertigen Skripts zum Lernen ermöglichen? Dann ist das Ressort Skriptshop etwas für Dich: Lektoriere und bestelle Skripts für alle und hilf mit, sie langfristig zu digitalisieren. Als Vorstandsmitglied bekommst Du auch 2 Skripts pro Semester umsonst. 

Ressort Kooperationen 

Du bist kommunikationsfreudig, kreativ und interessiert an Sponsoring? Dann kann Dich das Ressort Kooperationen begeistern: Baue wertvolle Netzwerke in der psychologischen Berufswelt mit auf und organisiere Networking-Events. Pflege und knüpfe neue Kontakte für den FAPS und zeige den Studierenden verschiedene Karriere-Perspektiven nach dem Studium auf. 

Ressort Finanzen 

Du hast Freude am Umgang mit Geld? Dann kannst Du sie im Ressort Finanzen ausleben: Erlerne, wie man mit Buchhaltungsprogrammen Geld gut und sicher verwaltet. Kontrolliere die Vereinskasse nach unseren Events und Skriptverkäufen und erstelle Jahresrechnungen. Der Zeitaufwand hält sich in Grenzen. 

«Interesse? Dann melde Dich einfach bei uns per DM oder schreib eine Mail an info@faps.ch! #joinourteam!» 

Du kannst auch in unsere «FAPS-Helfende»-WhatsApp-Gruppe eingeladen werden. So bleibst Du up to date und erfährst, was gerade ansteht und wo Du helfen kannst. 

Das Engagement im Fachverein bringt viele Vorteile – Dir persönlich und Deinen Mitstudierenden. Komm lieber heute als morgen vorbei und überzeuge Dich selbst.  

Redaktionsechos

Was macht ihr morgen? 

Gesammelt von Noémie Lushaj
Lektoriert von der Redaktion

Julia J. Schmid, Präsidium & Ressort Autor*innen 

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie mein Morgen – meine Zukunft – aussehen soll. Und dann, als ich die Antwort schliesslich gefunden hatte, empfand ich sie als so naheliegend, dass mir nicht mehr klar war, weshalb ich mir die Frage überhaupt jemals stellen musste. So denke ich, dass jeder sein Morgen weitgehend selbst beeinflussen und seinen Weg finden kann. Dennoch bringt das Morgen eine gewisse Unsicherheit mit sich, weswegen die Frage wohl von niemandem vollumfänglich beantwortet werden kann. Aber ist diese Ungewissheit nicht, dass, was das Leben so spannend macht? 

Marcia Arbenz, Präsidium 

Morgen werde ich mehr tun, was ich möchte und weniger, was ich muss. Ich werde meine Erfolge ernten und neue Chancen sähen. Morgen, sage ich den Menschen, die ich liebe, wie wundervoll sie sind. Und dass wir wieder einen weiteren Tag näher am Moment sind, in dem die Krise der Vergangenheit angehört. Aber vor allem, wird morgen besser sein. 

Janice Lienhard, Ressort Illustrator*innen 

Man sagt doch immer, dass jeder neue Tag wie ein leeres Blatt Papier ist. Das stimmt aber doch ehrlich gesagt nur zur Hälfte. Der Tag beginnt und die Agenda ist immer schon recht voll. Das war zumindest immer so. Wenn ich jetzt meinen nächsten Tag anschaue, sehe ich wahrlich ein leeres Blatt Papier. Mein ganzes Studium passiert momentan auf meinem kleinen 14 Zoller. Ohne fixe Arbeitszeiten und Live Vorlesungen muss man die Dinge wohl selbst in die Hand nehmen. Das kann streng sein, aber es gibt einem auch die Chance, Morgen genau so zu gestalten wie man es will. 

«Morgen ist auch noch ein Tag…»

Prokrastination bei Studierenden: Das unproduktive Kavaliersdelikt 

«Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen» heisst das berüchtigte Sprichwort. Der entstehende Stress lässt bei vielen Studierenden die Motivation im Keim ersticken und erschwert das Studium um einiges. Es wird nach Strategien gesucht, wichtige Termine nicht auf die lange Bank zu legen. 

Von Tatonka Brunner
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Laura Trinkler
Illustriert von Nathalie Vital

Das deutsche Wort «prokrastinieren» geht auf das lateinische «procrastinare» zurück, übersetzt «vertagen» (crastinum = morgen, der morgige Tag) (Höcker et al., 2013). Ursprünglich war damit eine eher positiv konnotierte Verhaltensweise gemeint, nämlich das reflektierte Aufschieben von schwierigen Entscheidungen hin zu einem günstigeren Zeitpunkt. In unserem heutigen Sprachgebrauch kommt «prokrastinieren» jedoch eine mehrheitlich negative Bedeutung zu, im Sinne von «eine Sache nicht in Angriff nehmen, obwohl sie längst fällig wäre» (Höcker et al., 2013). 

Oftmals sind priorisierte Tätigkeiten diejenigen, die schnellstmöglich zu erledigen sind (Bauer, 2019). Somit erscheint das Aufschieben von Tätigkeiten auf den ersten Blick als eine flexible Handlungskontrolle, weil man sich den unmittelbar anstehenden Aufgaben zuwendet. Man spricht auch heute noch vom positiven Aufschieben: Wir schlafen eine Nacht über Entscheidungen, bevor wir reagieren und handeln. Positiv im Bewusstsein, dass es ein gesundes Mass an Aufschieben ist, durch das man bei Entscheidungen mehr Sicherheit gewinnt (Bauer, 2019). Da beim Prokrastinieren die aufgeschobenen Ereignisse nicht wegfallen, sondern auf der Prioritätenliste nur weiter nach unten rutschen, verschiebt man diese Aufgaben ins Ungewisse und sie werden schlussendlich ausgeblendet. Der Zyklus beginnt von neuem (Bauer, 2019). Ein Thema für die klinische Psychologie wird die Prokrastination, sobald sie habituell wird und nicht mehr unterlassen werden kann (Höcker et al., 2013). 

Spricht man von einer Störung? 

Weder in der ICD-10 noch im DSM-IV werden diagnostische Kriterien für die Prokrastination aufgeführt (Höcker et al., 2013). Dort wird das Prokrastinieren lediglich als Symptom von anderen Störungen genannt, zum Beispiel bei der Depression. Prokrastination stellt eine dysfunktionale Form der Selbstregulation dar, die erhebliche Folgen für die Lebensführung mit sich bringt und dazu psychischen Aufwand fordert, um sie aufrechtzuerhalten. Dies kann wiederum eine Ursache von psychischen Störungen sein (Höcker et al., 2013). Es wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Tendenz zu prokrastinieren, der eigenen Unzufriedenheit und depressiven Symptomen gefunden. Weiter wurde entdeckt, dass die Unzufriedenheit bei Studierenden mit der Semesterzahl zunimmt (Deters, 2006). Denn die höchsten Prokrastinationswerte wurden bei Studierenden gefunden, die sich zum Zeitpunkt der Befragung ausserhalb der Regelstudienzeit befanden. Mit zunehmender Semesterzahl werden die psychischen Folgen des Aufschiebens immer gravierender (Deters, 2006). 

In der Forschung wird zwischen der akademischen Prokrastination und einer Alltags-Prokrastination unterschieden, wobei jeweils unterschiedliche Ziele und Aktivitäten betroffen sind. Es stellte sich heraus, dass bei Prokrastinierenden in der Regel beide Bereiche betroffen sind (Höcker et al., 2013). 

Wie entsteht und überlebt Prokrastination? 

Am besten gedeiht Prokrastination bei mangelnder Steuerungsfähigkeit (Brisch, 2014). Im Klima von unregelmässigem Schlaf, wenig Bewegung, unausgewogener Ernährung und fehlender Routine können Lernende der Prokrastination zum Opfer fallen. Das gilt vor allem für Jugendliche, bei denen das Gehirn noch mitten in hormonellen Umstellungen und sonstigen massiven Veränderungsprozessen steckt (Brisch, 2014). 

Ein weiterer Punkt ist die Aktivität beziehungsweise die Inaktivität (Brisch, 2014). Junge Studierende haben das Interesse, ihre neu erlernten Kompetenzen zu testen: unweigerlich auch ihre Tätig- und Untätigkeit. Die eigenen Grenzen ausweiten, herausfinden wie weit man gehen kann, bis Nachteile aufkommen. Prokrastination wird dann zur geläufigen Methode und das motivierte Lernen erstickt im Keim. Eine wichtige Rolle bei der «Aufschieberitis» spielt auch das sogenannte «Gewächshauspflanzen-Syndrom» (Brisch, 2014). Es beschreibt Studierende, die von zu Hause aus hohen Ansprüchen akademisch geprägter Familien genügen müssen, wobei zu wenig Wert auf die Entwicklung der emotionalen Intelligenz (EQ) gelegt wird. Manche bemerken beim Lernen, dass es ihnen bei der Strukturierung, Planung und Selbststeuerung an Selbstständigkeit fehlt. Denn ein zu hoher Erfolgsdruck erlaubt es den Studierenden nicht, mit der Arbeit anzufangen aus Angst vor möglichem Versagen (Brisch, 2014). Das Aufschieben schiebt diese Angst kurzzeitig mit sich weg. Dazu kommen der soziale Druck und der Wunsch, gesellig zu sein. Dies erschwert das Bewahren der Eigenständigkeit, die für das Planen des individuellen Studiums notwendig ist. Prokrastination ist sehr ansteckend! 

Dem ungewollten Verschieben die Stirn bietenWichtig oder dringend? 

Als erstes gilt es, Prioritäten zu finden und zu setzen: Mit der «Getting Things Done» (GTD) Methode von David Allen gewinnt man die Übersicht über die vielen Termine (Bauer, 2019). Dabei werden alle Aufgaben aus den verschiedenen Lebensbereichen aufgelistet, vom Kleiderschrank ausmisten bis zum Fertigstellen der Seminararbeit. Als nächstes erstellt man eine Rangordnung der Aufgaben nach deren Dringlichkeit. Da kommt eine hilfreiche Matrix ins Spiel, die an die berühmte Eisenhower-Methode angelehnt ist (Bauer, 2019). 

Wichtig und dringend Wichtig und nicht dringend 
Nicht wichtig und dringend Nicht wichtig und nicht dringend 

Auf der horizontalen Achse wird der Wert der Dringlichkeit und auf der vertikalen die Wichtigkeit abgebildet (Bauer, 2019). Die Aufgaben auf der erstellten GTD-Liste werden hier eingegliedert und nach Bedarf in der Matrix umhergeschoben. Wichtig ist, sich dann proaktiv Kästchen für Kästchen durchzuarbeiten, von oben links über oben rechts nach unten rechts. Diese Tabelle ist ein guter Einstieg, um den Berg an Aufgaben systematisch zu meistern (Bauer, 2019). Also sofort beginnen! 

«Morgen ist ein Tag zu spät» 

Gielas, 2011, Titelsatz 

Rituale und Struktur – Wenn nicht jetzt, wann dann? 

Beim Lerneinstieg oder einem Motivationstief hilft es enorm, sich feste Rituale anzueignen, die das Gehirn schon bei Beginn der Arbeit in einen automatisierten Arbeitsmodus versetzen (Bauer, 2019). Bereits ein morgendlicher Wecker ist eine erste Strukturhilfe. Ein festes Frühstück, eine kurze Sporteinheit oder eine Meditationsübung helfen, Motivation aufzubauen. Rund um den Arbeitsplatz können zahlreiche Rituale gefunden werden, die das Loslegen unterstützen. So wirkt auch im Homeoffice der Weg vom Schlafzimmer an den Schreibtisch unterstützend, um Motivation zu schöpfen. Es kann ausprobiert werden, ob Musik oder lärmschützende Kopfhörer bei der Konzentration helfen (Bauer, 2019). Hier gelten die Leitfragen: Welche Grundvoraussetzungen müssen für mich gegeben sein? Wo kann ich mich am besten konzentrieren? Wie muss mein Arbeitsplatz angeordnet sein, oder mit wem gelingt mir die Arbeit noch besser? 

Faktor Zeit – Eigene Tipps, um auch im Prüfungsstress erfolgreich aktiv zu bleiben 

Manchmal braucht es eine grosszügige Pause. Angenommen, die vorgenommene Zeiteinteilung mit der GTD Liste hat nicht funktioniert oder man hat es an einem Tag nicht geschafft, richtig anzufangen, «dann leiste ich jetzt, was im Moment geht, mit der Einstellung, die ich zum gegebenen Zeitpunkt gegenüber meiner Arbeit habe. Ich versuche, die Energie in die Arbeit mitzunehmen» (Zitat von Suanne Pollmeier, Schauspieldozentin an der Stage School Hamburg). Ein hilfreicher Tipp bei wenig Zeit: Es ist besser, das bereits Gelernte zu festigen, als zu versuchen, komplett neue Themen zu erlernen. Im Studium braucht es stets Mut zur Lücke! 

«Es ist sehr wichtig, die verdienten Pausen nach Bedarf zu setzen, nicht fix in den Terminkalender einzuplanen. So kann man entspannter auf ein Motivationstief reagieren und ohne Reue eine Pause einlegen, das verleiht Handlungskontrolle. Denn fängt man auf niedriger Flamme an zu lernen, benötigt man mehr Zeit für eine Arbeit, die auf voller Flamme weniger Zeit in Anspruch nehmen würde.» (Auszug aus dem Interview mit Romina Behrend, Studentin der UZH) 

«Für eine Arbeit am Mittwoch, versuche ich am Sonntag damit fertig zu sein.» Romina Behrend, Studentin der Universität Zürich 


Zum Weiterlesen

Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe. 

Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag. 

Literatur

Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag.  

Brisch, K. H. (2013). Bindung und Jugend: Individualität, Gruppen und Autonomie. Klett-Cotta. 

Deters, B., Engberding, M., & Rist, F. (2006). Prokrastination bei Studierenden: Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter. Retrieved from Prokrastination bei Studierenden – Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter (adhs-studien.info) 

Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe. 

Gielas, A. (30. Mai 2011). Morgen ist ein Tag zu spät. Neue Zürcher Zeitung. 

Bruxismus – Zähne zusammen und durch!

Die umstrittene Ätiologie, Problematik und Funktion des Zähneknirschens 

Obwohl es sich bei Bruxismus um ein medizinisches Problem handelt, deutet sogar die Alltagssprache auf eine Verbindung zur Psychologie hin. Diese nicht unumstrittene Assoziation führt viele Jahre zurück und wirft eine noch grundlegendere Frage auf: Hat Bruxismus auch eine adaptive Funktion? 

Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Phillip Seibt und Marina Reist
Illustriert von Kerry Willimann

Die Idee eines Artikels zu Bruxismus kam mir etwas unkonventionell vor. Da mich das Thema aber bereits seit einiger Zeit beschäftigte, wagte ich es dennoch, den Vorschlag in unsere halbjährliche Konzeptsitzung einzubringen. Statt der erwarteten Fragen wie «Bruxismus, was ist das?!» oder «Ein Artikel zu Zahnproblemen in einem Psychologiemagazin?!», stiess das Thema auf Begeisterung und endete in einer Diskussion über die eigenen Erfahrungen mit Zähneknirschen. Ist die Assoziation zwischen Bruxismus und Psychologie also doch gar nicht so abwegig?  

Bruxismus, was ist das?! 

Bruxismus, umgangssprachlich auch Zähneknirschen genannt, bezeichnet eine sich wiederholende Kaumuskelaktivität, die durch Knirschen oder Pressen mit den Zähnen und/oder durch Verkrampfen und Anspannen des Unterkiefers gekennzeichnet ist (Lobbezoo et al., 2013). Dabei werden extrem starke Kräfte ausgeübt, die die des funktionellen Kauens weitaus übersteigen und den Kiefer enorm belasten (Slavicek & Sato, 2004). Dies kann neben Schmerzen und Schmerzausstrahlung zu zahlreichen zahnärztlichen Folgeschäden führen (Slavicek & Sato, 2004). Die Folgeschäden können die Zähne direkt betreffen (z. B. Abnutzung der Zahnsubstanz), den Zahnhalteapparat (z. B. Zahnlockerungen), die Muskulatur (z. B. Funktionsstörungen, Überempfindlichkeit) oder die Kiefergelenke (z. B. Einschränkungen der Unterkieferbeweglichkeit, Gelenkknacken) (Korn, 2005). Häufig stellen sich die Betroffenen beim Arzt aufgrund von Kopf-, Gesichts-, Kiefer-, Zahn- und Ohrenschmerzen oder Verspannungen der Kau- und Nackenmuskulatur vor (Vavrina & Vavrina, 2020). Im Falle einer Schmerzchronifizierung, treten teilweise zusätzlich Angst- und Depressionssymptome auf (Jochum et al., 2019). Bruxismus geht aber nicht zwingend mit den genannten Symptomen einher (Peroz, 2018). Rund 60 Prozent der Betroffenen sind beschwerdefrei oder sich ihrer Bruxismusaktivität nicht einmal bewusst (Hoffmann & Piekartz, 2020). In Einzelfällen führt das dazu, dass der Bruxismus erst beim Zahnarztbesuch aufgrund von Zahnschäden erkannt wird (Vavrina & Vavrina, 2020).  

Am Tag ist nicht gleich in der Nacht 

Aus ätiologischen Gründen wird anhand der Tageszeit, zu der das Knirschen auftritt, zwischen Wach- und Schlafbruxismus unterschieden (Lavigne et al., 2008). Schlafbruxismus wird als unbewusste schlafassoziierte Bewegungsstörung angesehen, die in Verbindung mit Schlafstadienwechseln und sogenannten Mikroweckreaktionen («sleep-micro-arousal») auftritt (Bernhardt, 2015). Wachbruxismus findet im Wachzustand statt und kann somit bewusst wahrgenommen werden (Bernhardt, 2015). Betroffene können unter einer oder beiden Formen gleichzeitig leiden, wobei letzteres das Risiko für auftretende Schmerzen stark erhöht (Schmoeckel et al., 2018). Die Prävalenz des Wachbruxismus liegt unter Erwachsenen bei 20 Prozent und tritt bei Frauen vermehrt auf (Lavigne et al., 2008). Der Schlafbruxismus ist geschlechtsunabhängig und kommt, mit einer Prävalenz von ungefähr 8 Prozent aller Erwachsener, etwas seltener vor (Ommerborn, 2013). Am häufigsten tritt Bruxismus zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr auf (Peroz, 2018; Vavrina & Vavrina, 2020). Bruxismus ist also kein seltenes, sondern ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Phänomen (Vavrina & Vavrina, 2020). 

Ein Artikel zu Zahnproblemen in einem Psychologiemagazin?! 

Die Verbindung zwischen Bruxismus und Psychologie hat sich sogar in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen (Schule, 2008). Verschiedene Redewendungen und Ausdrücke wie «Zähne zusammen und durch», «die Zähne zusammenbeissen», «auf die Zähne beissen», «da musst du dich jetzt durchbeissen», «man beisst sich daran die Zähne aus», «er hat sich daran festgebissen», «verbissen», «zähneknirschend», «die Zähne zeigen» oder «Probleme durchkauen» verdeutlichen eindrücklich die Assoziation zwischen der Kaumuskelaktivität und psychologischen Phänomenen. Das Zusammenpressen der Zähne wird im Alltag also mit einer allgemeinen Anspannung in Verbindung gebracht (Lange, 2013). Noch vor Beginn der modernen Wissenschaft galt der Bruxismus in der Sprache, Literatur und Kunst als Symbol für Frustration, Angst und psychische Erregung (Lange, 2016). Doch ist diese in unserer Kultur und Sprache verankerte Assoziation auch wissenschaftlich belegt?  

Emotionale Anspannung als Ursache? – Wenn sich Selbstberichts- und EMG-Daten widersprechen 

Die sich im Sprachgebrauch andeutende Annahme, dass Bruxismus mit angespannten Lebenssituationen zusammenhängt, hat eine lange Tradition, die bis ins Altertum zurückreicht und sich auch noch im heutigen klinischen Alltag widerspiegelt (Lange, 2013). Patient*innen berichten während stressigen Lebensphasen häufig über eine Zunahme ihrer Bruxismusaktivität oder das Bruxismusverhalten wird von Ärzt*innen auf Stress zurückgeführt (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Diese Assoziation stützt sich auf einige frühere Fallserien, die eine Zunahme der Bruxismusaktivität und damit einhergehenden Schmerzen nach Stresssituationen feststellten (z. B. Rugh & Lemke, 1984). Auch neuere Studien, die auf klinischen und/oder selbstberichteten Bruxismus-Diagnosen basieren, sprechen für die Bruxismus-Stress-Beziehung (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Entsprechend berichten Betroffene über mehr Lebens- und Alltagsstress, Arbeitsbelastung, Übermüdung und leiden tendenziell unter mehr Angst- und Depressionssymptomen (Ohayon et al., 2001; Gungormus & Erciyas, 2009; Giraki et al., 2010). Bruxistisches Verhalten kann als Folge eines stressreichen Tages sowie antizipatorisch auf Belastungen, die am nächsten Tag erwartet werden, auftreten (Korn, 2005). Menschen, die an Bruxismus leiden, sind weniger gut in der Lage, sich zu entspannen bzw. Entspannungsphasen auch in diesem Sinne zu nutzen (Wolowski & Repges, 2013). Passend dazu zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Bruxismus und der Konzentration von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin (Seraidarian et al., 2009). Möglicherweise beeinträchtigt emotionaler Stress die Schlafqualität und verursacht häufigere Schlafstadienwechsel, deren Nebenprodukt die Bruxismusaktivität ist (Manfredini et al. 2005). 

Generell gehen viele psychiatrische Störungen, insbesondere Depressionen und Angststörungen, aber auch ADHS sowie neurologische Erkrankungen mit Bruxismus und den assoziierten Schmerzen einher (Souto-Souza et al., 2020; Geniş & Hocaoğlu, 2020). Darüber hinaus wird Bruxismus mit den Persönlichkeitsmerkmalen Neurotizismus (Sutin et al., 2010) und Psychotizismus (Shen et al., 2018), einer erhöhten Stresssensitivität (Manfredini et al., 2004) sowie zwanghaftem Verhalten, zwischenmenschlicher Sensibilität und paranoider Ideen in Verbindung gebracht (Shen et al., 2018).  

«The grinding of teeth has long been held as one physical manifestation of stress and anxiety.» 

Sutin et al., 2010, S. 402 

Konträr dazu wurde in Studien, die die Bruxismusaktivität im Schlaf mittels EMG ableiteten, keine oder nur schwache Belege für eine Bruxismus-Stress-Beziehung gefunden (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Daher mehren sich Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Zusammenhangs (Lange, 2018). Einen Erklärungsversuch lieferten Manfredini und Lobbezoo (2009) in ihrem systematischen Review. Sie vermuten, dass in Selbstberichtsstudien von Proband*innen nicht die Bruxismusaktivität an sich, da diese unbewusst abläuft, sondern die Schmerzen (z. B. der Kaumuskulatur) berichtet werden. Dies würde bedeuten, dass Stress eher mit den Schmerzen einhergeht, aber nicht zwingend mit dem Schlafbruxismus (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Dafür spricht einerseits, dass chronischer Stress zu einer Senkung der Schmerzschwelle führen kann (Jochum et al., 2019) und andererseits, dass Bruxist*innen, die unter Schmerzen leiden, höhere Depressionswerte aufweisen als Bruxist*innen ohne Schmerzen (Camparis & Siqueira, 2006). Die Hypothese von Manfredini und Lobbezoo (2009) geht aber noch weiter. So vermuten sie, dass die Schmerzen nicht von Schlafbruxismus, sondern von unbewusstem Wachbruxismus stammen. Dieser wird in der Literatur nämlich konsistenter und methodenübergreifend mit psychosozialen Faktoren und psychopathologischen Symptomen wie Stress, Angst und Depression assoziiert (z. B. Endo et al., 2011; Ahlberg et al., 2013). So wird angenommen, dass er eine Folge emotionaler Anspannung ist, die die Betroffenen dazu zwingt, mit einer verlängerten Kontraktion ihrer Kaumuskeln zu reagieren (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Andere Autor*innen dagegen sehen die psychologischen Probleme als Folge des chronischen Schmerzes und nicht als Ursache des Bruxismus (Wolowski & Repges, 2013). 

Diagnostik 

In EMG-Studien wurde gezeigt, dass Patient*innen mit Kiefer- und Gesichtsschmerzen häufig falsch-positive Aussagen zum Bruxismus machen. Aufgrund der diagnostischen Herausforderungen wurde ein evidenzbasiertes Stufensystem entwickelt. Dieses unterteilt in einen «möglichen» Bruxismus auf Basis eines Selbstberichts, einen «wahrscheinlichen» Bruxismus anhand des Selbstberichts inklusive klinischer Anzeichen sowie einen «definitiven» Bruxismus, welchem zusätzlich eine Polysomnografie zugrunde liegt (Lange, 2018). 

Wenn nicht Stress, was dann? 

Seit über 100 Jahren rätselt die Wissenschaft über die Ursachen von Wach- und Schlafbruxismus (Lange, 2018). Nachdem zunächst Theorien zu psychischen Ursachen dominierten, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Störungen des Zahnkontakts als ursächlich angenommen (Lange, 2018). Letzteres spielt aber nach heutigem Wissenstand nur eine zu vernachlässigende Rolle (Lange, 2016). So ist die Ätiologie noch immer nicht eindeutig geklärt (Vavrina & Vavrina, 2020). Sie gilt zwar generell als multifaktoriell bedingt, aber es bleibt unklar, welche Faktoren beteiligt sind und vor allem wie diese interagieren (Schneider et al., 2007). In den letzten Jahren rückten zunehmend Störungen zentraler Neurotransmittersysteme in den Fokus (Dharmadhikari et al., 2015; Lange, 2016). So hat sich gezeigt, dass verschiedene Psychopharmaka wie Antidepressiva der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Ritalin (ein Medikament zur Behandlung von ADHS) und Antipsychotika Bruxismus auslösen können (Lange, 2016; Rajan & Sun, 2017; Garrett & Hawley, 2018). Aber auch Nikotin, Alkohol, verschiedene Drogen und hoher Koffeinkonsum erhöhen das Bruxismusrisiko (Ohayon et al., 2001; Rintakoski & Kaprio, 2013). Diesen Stoffen ist gemeinsam, dass sie einen zentralen Einfluss auf den Dopamin- oder Serotoninstoffwechsel nehmen (Lange, 2016). Daraus lässt sich ableiten, dass Bruxismus mit diesen Neurotransmittersystemen in einem engen Zusammenhang stehen muss. Als wahrscheinlichster Mechanismus wird angenommen, dass Serotonin die Freisetzung von Dopamin unterdrückt, was zu einer durch Serotonin induzierten Enthemmung von Bewegungen führt und so die wiederholten Muskelkontraktionen des Bruxismus bedingt (Rajan & Sun, 2017). Da auch chronischer Stress einen Einfluss auf das Dopaminsystem hat, sprechen diese Erkenntnisse indirekt auch für die Bruxismus-Stress-Beziehung (Manfredini & Lobbezoo, 2009). Neben den genannten psychologischen und exogenen Faktoren haben sich auch genetische Dispositionen als entscheidend erwiesen (Rintakoski et al., 2012; Takaoka et al., 2017). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wachbruxismus psychologisch bedingt zu sein scheint, während Schlafbruxismus eher als zentralnervöse Störung angesehen wird (Heidner, 2019). Aufgrund möglicher genetischer Einflüsse sowie der engen Verbindung zwischen Bruxismus und zentralnervöser Prozesse, lohnt sich ein Blick auf eine mögliche evolutionspsychologische Erklärung für das Auftreten von Bruxismus. 

Ein Überbleibsel längst vergessener Zeiten?  

Die Zähne sind im Tierreich und besonders bei Primaten ein emotionales Ausdrucksmittel, ein Werkzeug und eine Waffe (Anderson, 1984; Bernhardt, 2015). So ist das limbische System, als emotionales Zentrum des Zentralnervensystems, direkt mit dem Kauorgan verschaltet (Bernhardt, 2015). Verschiedene Säugetiere knirschen in Stresssituationen mit den Zähnen, um den Gegner einzuschüchtern und sich auf einen möglichen Kampf vorzubereiten (Every, 1965). Dieses Verhalten bringt ihnen einen erheblichen Überlebensvorteil. Every (1965) vermutete, dass sich beim Menschen die Zähne im Laufe der Evolution zwar zurückgebildet haben, er aber immer noch über diesen Instinkt verfügt und daher, sobald er unter Stress gerät, seine wichtigste biologische Waffe «schärft» (Every, 1965).  

«I suggest that man possesses an instinct to sharpen and repeatedly resharpen, whenever under stress, his cardinal biological weapon.» 

Every, 1965, S. 685 

Für Everys (1965) Hypothese sprechen Tierexperimente, in denen Bruxismus durch Stress induziert werden konnte (z. B. Rosales et al., 2002). Gemäss dieser Annahme ist Bruxismus beim Menschen also ein durch Stress auslösbares Überbleibsel der Evolution. Andere Hypothesen gehen weiter und sprechen Bruxismus auch heute noch eine adaptive Funktion zu (Lange, 2018). So wird er als Entspannungsverfahren und Stressbewältigungsmechanismus angesehen. Da der moderne Mensch im Gegensatz zu seinem vormenschlichen Verwandten viel weniger Zeit mit Kauen verbringt, ist der Zeitraum für die «kaubezogene Stressbewältigung» erheblich verkürzt. Wachbruxismus könnte demzufolge als Kompensationsmechanismus zum Umgang mit emotionalem Stress verstanden werden (Lange, 2018). 

Eine Krankheit, ein Verhalten oder doch eine physiologische Adaptation? 

Die Betrachtung der evolutionären Theorien und die Tatsache, dass Bruxismus trotz seiner möglicherweise negativen Effekte in der Bevölkerung weitverbreitet ist, lässt vermuten, dass er auch adaptive Funktionen aufweist (Lange, 2018).  

In den meisten Fällen hat Schlafbruxismus keinen störenden Effekt auf die grundlegende Schlafarchitektur (Ommerborn, 2013). Im Gegenteil: Er wird bei Atmungsstörungen (z. B. Schlafapnoe) und Sodbrennen sogar als protektiv angesehen (Peroz & Peroz, 2020). Die Muskelanspannungen während des Schlafes halten die oberen Atemwege frei (Heidner, 2019). Bei Sodbrennen wiederum regt die Kaumuskelaktivität die Speichelproduktion an, was zu einer Verdünnung der Magensäure führt (Peroz & Peroz, 2020). Zudem wird Bruxismus durch eine bessere Befeuchtung des Mund- und Rachenraums eine kariesprotektive Wirkung eingeräumt (Imhoff, 2020). 

In unmittelbarer Erwartung einer körperlichen Anstrengung werden häufig unbewusst die Zähne zusammengebissen. Dies wird als Schutzfunktion für die Zähne und den Kiefer, als Mechanismus zur Verbesserung der Körperhaltung und der allgemeinen, muskulären Kraftentfaltung interpretiert (Lange, 2018). Eine weitere adaptive Funktion des Bruxismus könnte darin liegen, die Schneidfähigkeit der Zähne zu verbessern (Lange, 2018). Auch wird vermutet, dass Wachbruxismus, ähnlich wie Kaugummikauen, die Aufmerksamkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern kann (Lange, 2016). 

Im Labor induzierter Bruxismus reduziert die Konzentration des Stresshormons Cortisol und hemmt die Sympathikusaktivität, was für eine entspannungsfördernde Wirkung spricht (Tahara et al., 2007; Bernhardt, 2015). Auch tierexperimentelle Studien belegen, dass eine erhöhte Aktivität des Kauorgans schädliche Effekte des psychischen Stresses abschwächt (z. B. geringere Ausschüttung von Stresshormonen und Entzündungsmediatoren) (Bernhardt, 2015). Bruxist*innen zeigen weniger funktionale und mehr dysfunktionale Stressbewältigungsstrategien (Schneider et al., 2007; Giraki et al., 2010). Aufgrund dessen liegt der Verdacht nahe, dass eine inadäquate Bewältigungsstrategie Bruxismus provozieren kann (Wolowski & Repges, 2013). Bruxismus ist entsprechend nicht nur als Stressreaktion zu sehen, sondern auch als Form von Stressmanagement und «Notlösung» bei psychischer Überlastung (Vavrina & Vavrina, 2020).  

Zumindest eine leichte Kaumuskelaktivität ist sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand nahezu ubiquitär (Lange, 2018). Bis zu einem gewissen Grad ist Bruxismus zum Spannungsabbau und als Ausdruck der Körpersprache notwendig (Schule, 2008). Aus diesen Gründen wird Bruxismus nicht als Krankheit angesehen, sondern gilt als Verhalten bei ansonsten Gesunden (Heidner, 2019) mit teilweise schützendem Charakter (Lange, 2018). Als pathologisch werden hingegen die bei manchen Betroffenen auftretenden Schmerzen, Zahnschäden und andere assoziierte Beschwerden bezeichnet (Schule, 2008). 

Die aktuelle Forschung zeigt, dass die alltagsprachlichen Ausdrücke, welche eine Verbindung zwischen Bruxismus und Psychologie andeuten, durchaus berechtig sind. Die evolutionäre Entstehung reicht weit in der Stammesgeschichte des Menschen zurück, doch auch heute noch hat Bruxismus eine adaptive Funktion, beispielsweise bei der Stressbewältigung. Trotz dieser bisherigen Erkenntnisse verbleiben einige strittige Punkte. Vor allem ein tieferes, empirisches Verständnis der Ätiologie würde die Chance erhöhen, effektive Behandlungs- und Präventionsmassnahmen abzuleiten. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, da ein grosser Teil der Bevölkerung von Bruxismus und dessen Folgeschäden betroffen ist. Bis die Ätiologie geklärt und die empirischen Ambivalenzen untersucht wurden, lässt sich nur sagen: «Zähne zusammen und durch!» 

Behandlungsmöglichkeiten 

  • Aufklärungsgespräch mit Aufforderung zur Selbstbeobachtung  
  • Okklusionsschienen zur Prävention weiterer Schäden  
  • Physiotherapie zur Reduktion der muskulären Beschwerden 
  • Verhaltenstherapie und Biofeedback zur Reduktion des Bruxismus 
  • Kurzzeitige medikamentöse Behandlung zur Muskelrelaxation (umstritten) 
  • Botoxinjektionen zur Reduktion von Schmerzen und der Muskelaktivität 

(Bernhardt, 2015; Peroz & Peroz, 2020; Vavrina & Vavrina, 2020) 


Zum Weiterlesen

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Vavrina, J., & Vavrina, J. (2020). Bruxismus: Einteilung, Diagnostik und Behandlung. Praxis, 109(12), 973-978. https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003517 

Literatur

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Morgen schon vergessen

Psychische Belastung bei Demenz: Das Leiden der Betroffenen und Angehörigen

Demenzerkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen im höheren Alter der westlichen Welt. Das Fortschreiten der Krankheit mit Veränderungen in Leistung und Verhalten stellt nicht nur für die Betroffenen eine Belastung dar, sondern auch für ihre Angehörigen. Aus der Literatur wird die Relevanz psychologischer Therapieansätze ersichtlich. 

Von Anja Blaser
Lektoriert von Berit Barthelmes und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Anja Blaser

Demenz beschreibt ein Syndrom vieler Störungen, welches meist auf eine fortschreitende Krankheit des Gehirns folgt. Die häufigste Ursache ist mit rund 60 Prozent die Alzheimer-Erkrankung (Grammes & Kubiak, 2020). Neben den typischen kognitiven Symptomen treten auch viele behaviorale und psychologische Symptome bei Demenz (BPSD) auf. Diese erschweren die ganze Behandlung: von Diagnostik, über Therapie bis hin zur Betreuung der Erkrankten sowie deren Angehörigen. Zu den häufigsten dieser Symptome gehören Depressivität, Enthemmung, Euphorie und Aphasie (Savaskan, 2015).  

«Unter einer Demenz versteht man […] Störungen der Gedächtnisleistung und anderer kognitiver Funktionen […], sowie des Verhaltens, die so schwerwiegend sind, dass der betroffene Mensch bei den meisten Aktivitäten im täglichen Leben merkbar behindert wird.» 

Gatterer, 2008, S. 142

Dies hat zur Folge, dass der kognitive Abbau beschleunigt wird und die Alltagsfähigkeiten sowie die Lebensqualität drastisch abnehmen. Die Auswirkung davon kann eine frühere Institutionalisierung in ein Heim oder Krankenhaus sein. Daneben führen BPSD auch zu einer erhöhten Belastung der angehörigen Betreuungspersonen, wodurch es bei diesen auch vermehrt zu psychiatrischen Erkrankungen wie einer Depression kommen kann (Savaskan, 2015). Um den Betroffenen die bestmögliche Behandlung gewährleisten zu können, ist deshalb neben der medikamentösen Therapie eine interdisziplinäre Kooperation unter anderem mit Psycholog*innen unumgänglich, auch wenn hier nicht primär die Demenzerkrankung im Vordergrund steht, sondern deren psychisches Wohlbefinden (Gatterer, 2008). Solche Begleit- und Entlastungsmöglichkeiten sowohl für Erkrankte als auch Angehörige werden in der Schweiz beispielsweise von den Organisationen «Alzheimer Schweiz» und «Pro Senectute» angeboten.  

Alzheimer Schweiz 

Umfasst Unterstützungsangebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Dazu gehören: 

  • Gesprächsgruppen  
  • Angehörigen-Gruppen 
  • Gruppenaktivitäten  
  • Alzheimer-Cafés & -Ferien 
  • Seminare für Angehörige 
  • Weiterbildungstagungen 

Pro Senectute 

Versucht Betroffenen und Angehörigen mit Fragen rund um die Demenz zu helfen und bietet ihnen entlastende Dienstleistungen, wie: 

  • Entlastungsdienst für pflegende Angehörige 
  • Besuchs-, Begleit-, Fahr- und Mahlzeitendienst 
  • Haushalts- und Putzhilfen 

Psychosoziale Interventionen für Kranke und Angehörige 

Psycholog*innen können die vielen einschneidenden Auswirkungen von BPSD in die Therapie einbeziehen. Psychosoziale Interventionen sind dabei ein erster wichtiger Schritt für Verständnis und Akzeptanz der Krankheit für alle Betroffenen, Angehörigen und Aussenstehenden. Vor allem bei Letzteren tritt immer noch oft Unverständnis für das Verhalten von Menschen mit Demenz auf, was den gesamten Prozess durch eine zusätzliche Belastung erschwert (Holthoff-Detto, 2018).  

«Familien berichten auch, wie wichtig und wie viel einfacher das Leben für Menschen mit Demenz und ihre Familie mit der Erkrankung gewesen wäre, wenn ihnen im Alltag […] Menschen mit mehr Verständnis und Freundlichkeit begegnet wären.» 

Holthoff-Detto, 2018, S. 12 

Ein essenzieller Bestandteil, besonders zu Beginn der Erkrankung, ist hierbei die Psychoedukation. In Einzelgesprächen wird den Erkrankten und Angehörigen Wissen zur Erkrankung, zur Therapie, zu möglichen Selbsthilfestrategien und zur Prognose vermittelt. Gruppengespräche zur Psychoedukation dienen dem Erfahrungsaustausch zwischen den Betroffenen. Insgesamt soll neben dem Wissen auch die Akzeptanz gegenüber der Krankheit und den Erkrankten gefördert werden (Savaskan, 2015). 

Als Ergänzung zur Psychoedukation für die betreuenden Angehörigen gibt es ein angehörigenbasiertes Verfahren, welches diese stärken soll. Durch ein kognitives Verhaltens-Training soll die Belastbarkeit der Angehörigen gesteigert werden. Das führt dazu, dass der erkrankten Person mehr Sicherheit von Seiten der pflegenden vermittelt werden kann. Dies wiederum kann zu einer Reduktion der Symptome führen. (Savaskan, 2015). Insgesamt kann mit einer guten Angehörigenarbeit inklusive Wissens- und Kompetenzvermittlung der Krankheitsverlauf erheblich verbessert werden (Gatterer, 2008). 

Vertrauen durch Kommunikation 

Der Schlüssel im gesamten Prozess ist aus klinischer Erfahrung die Kommunikation. Kommunikation ist bei jeder Intervention in jedem Stadium der Krankheit nötig – sowohl mit den Patienten*innen als auch mit den Angehörigen. Bereits die klinisch-psychologischen Untersuchungen zur Diagnosestellung, meist von Neuropsycholog*innen durchgeführt, liefern nur brauchbare Ergebnisse, wenn sich die Person gut aufgehoben fühlt. Mit der richtigen Kommunikation kann eine gute Beziehung zum*zur Patienten*in aufgebaut werden, was akkurate Ergebnisse fördert (Gatterer, 2008). 

Im psychotherapeutischen Setting kann anschliessend auf dieser Beziehung aufgebaut werden. Fortlaufend können sich die Erkrankten dann bei Alltagssorgen an ihre*ihren Therapeuten*in wenden. Ausserdem werden während eines Verhaltensmanagements die Angehörigen mit einbezogen. Gemeinsam wird an Kommunikationsmöglichkeiten mit dem*der Patienten*in oder an dessen*deren Selbstständigkeit gearbeitet (Savaskan, 2015). Wichtig dabei ist es, dass nicht nur auf die Krankheit und die damit verbundenen Aufgaben fokussiert wird, sondern den Angehörigen Wertschätzung für ihre Pflege entgegengebracht wird. Damit könnten Angehörige Demenzerkrankter ermutigt werden, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, sich bei Bedarf ebenfalls bei Therapeut*innen zu melden und früher auf Entlastungsangebote zurückzugreifen (Mitscherlich-Schönherr, 2019). 

Da die häufigste psychische Begleiterkrankung bei Demenz die Depression ist, wird während den Therapiestunden oft eine kognitive Therapie eingesetzt, um dysfunktionale Gedanken umzuwandeln. Ergänzend dazu wird im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Intervention auf positive Erfahrungen des*der Patienten*in und Problemlösestrategien der Angehörigen fokussiert (Savaskan, 2015).  

Akutsituationen gemeinsam bewältigen 

Neben der fortlaufenden Betreuung kann es immer wieder zu so genannten Akutsituationen kommen. Meist handelt es sich dabei um Krisen der Erkrankten, welche Reaktionen auf bedrohlich wirkende oder unangenehme Situationen darstellen. Oft können Aussenstehende diese Reaktionen nicht nachvollziehen, da die Wahrnehmung sich krankheitsbedingt durch die kognitiven Einschränkungen deutlich von der anderer unterscheiden kann. Dies führt bei den Betroffenen nur noch zu mehr Verzweiflung und Wut. Die fortlaufenden psychosozialen und psychotherapeutischen Interventionen können vor allem den Angehörigen helfen, adäquat zu reagieren, wenn solche Akutsituationen auftreten (Holthoff-Detto, 2018).  

Wenn es kein Morgen mehr gibt 

Mit dem Fortschreiten der Krankheit nehmen bei Demenz-Erkrankten Akutsituationen durch die abnehmende kognitive Leistung immer mehr zu. Dadurch rückt die medikamentöse und medizinische Therapie immer mehr in den Vordergrund. Für die pflegenden Angehörigen hingegen, welche dadurch immer mehr gefordert werden, steigt die psychische Belastung enorm an. Psychotherapeutische, unterstützende und psychoedukative Angebote werden somit für Angehörige immer wichtiger für genügend Entlastung und das eigene Wohlbefinden – besonders wenn die Sterbephase erreicht wird (Mitscherlich-Schönherr, 2019). 

Von der Diagnose, über die Therapie bis hin zur Palliativbetreuung – Menschen mit Demenz und ihre Gegenüber leben zunehmend in einer anderen Realität. Einerseits unterscheidet sich ihre Sicht auf die Krankheit, andererseits besteht die Gefahr, dass die Erkrankten mehr und mehr ganz in eine andere Welt abtauchen. Der Schlüssel einer erfolgreichen Therapie und Begleitung ist es, die beiden Realitäten einander für das nötige Verständnis des jeweils anderen und deren Belastung anzunähern sowie eine optimal individualisierte Intervention zu gestalten, um diese Belastung so lange wie möglich zu minimieren (Holthoff-Detto, 2018). 

Alzheimer-Erkrankung 

Gehört zu den neurodegenerativen Krankheiten, welche Erkrankungen durch Abnutzung und Alterung von Zellen umschreiben. Es wird vermutet, dass sich das sogenannte β-Amyloid zu Proteinablagerungen (sog. Plaques) zwischen den Nervenzellen verklumpt und nicht mehr abgebaut werden kann. Eine weitere Vermutung – die Aggregationshypothese – hält das β-Amyloid in den Zellen ausschlaggebend für den Nervenzellverlust. Die genaue Ursache der Erkrankung ist jedoch noch unbekannt (Abeysinghe et al., 2020). 


Zum Weiterlesen

Gatterer, G. (2008). Demenz aus psychologischer Sicht. In W. D. Oswald, G. Gatterer, & U. M. Fleischmann (Hrsg.), Gerontopsychologie: Grundlagen und klinische Aspekte zur Psychologie des Alterns (S. 141–172). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-211-78390-0_9 

Holthoff-Detto, V. (2018). Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Klett-Cotta. 

Savaskan, E. (2015). Behaviorale und psychologische Symptome der Demenz (BPSD): Was tun? Therapeutische Umschau72(4), 255–260. https://doi.org/10.1024/0040-5930/a000673 

Website von Pro Senectute mit Ratgeber und entlastenden Dienstleistungen: https://prosenectute.ch/de 

https://www.prosenectute.ch/de/ratgeber/gesundheit/krankheiten/demenz-alzheimer-vergesslichkeit.html

Website der Organisation Alzheimer Schweiz für Betroffene und Angehörige: 

https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/startseite

Literatur

Abeysinghe, A. A. D. T., Deshapriya, R. D. U. S., & Udawatte, C. (2020). Alzheimer’s disease; a review of the pathophysiological basis and therapeutic interventions. Life Sciences256, 117996. https://doi.org/10.1016/j.lfs.2020.117996 

Grammes, J., & Kubiak, T. (2020). Depression und Demenz. Der Diabetologe16(2), 104–110. https://doi.org/10.1007/s11428-020-00583-1 

Mitscherlich-Schönherr, O. (2019). Gelingendes Sterben: Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog. Walter de Gruyter GmbH & Co KG. 

Unsichtbare Frauen

Eine Buchrezension zu Invisible Women

Das Buch von Perez über den Gender Data Gap begeistert, erschüttert und lässt laut auflachen. Systematische Ungerechtigkeiten in allen möglichen Lebensbereichen werden in einfacher Sprache nacheinander aufgezeigt. Perez zeigt einen Weg zur Gleichberechtigung – für alle.  

Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Phillip Seibt
Illustriert von Hannah Löw

Das Hauptthema im Buch von Perez ist der Gender Data Gap. Dieser beschreibt, dass es oft keine oder nur sehr unzureichende Daten über Frauen und deren Bedürfnisse gibt. Beispielsweise wurden die meisten Crashtests bei Autos mit Dummies gemacht, die einem durchschnittlichen männlichen Körper entsprechen. Nur sehr wenige Ausnahmen benutzten auch kleinere und leichtere Puppen, wobei diese nur im Beifahrersitz getestet wurden. Dies resultiert nach Perez in einer höheren Verletzungsgefahr von Frauen bei einem Autounfall. Die Autorin beschreibt auf über 300 Seiten, worin dieser Gender Data Gap ersichtlich ist und was für Auswirkungen dieser auf alle hat, die nicht dem typischen männlichen Bild entsprechen. Dem zugrunde liegt eine falsche und oft verheerende implizite Annahme: Alles, was für den durchschnittlichen, weissen, männlichen Menschen kreiert wird, ist für alle gut. Die Welt ist nach Perez default male, also automatisch für den Mann errichtet. Alle, die diesem Bild nicht entsprechen, müssen sich anpassen. 

Der Mann ist nicht der Feind 

Diese These von Perez mag sauer aufstossen und zu vereinfacht erscheinen. Ein kaum endendes Literaturverzeichnis hinten im Buch unterstreicht jedoch die Ansichten von Perez. Unglaublicherweise schafft die Autorin ganz normale Alltagsgegenstände wie das Smartphone in einen Beweis des male defaults zu verwandeln. Zum Beispiel ist dieses zu gross für die meisten Frauen-, nicht aber für Männerhände. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass Perez nicht ein männliches Feindbild kreiert oder alle auffordert, ab sofort Männer zu verachten. Im Gegenteil: Immer wieder erwähnt sie, dass Gleichberechtigung allen Personen nützt, die gerne die Wahl haben, wie sie ihr Leben führen möchten. Perez zeigt auf, dass tiefgreifende strukturelle Probleme entstehen und, dass diese oft durch einen Mangel an Daten nicht richtig erkannt werden können. Sie meint, dass gewisse männliche CEOs, Politiker oder sonstige Entscheidungsträger die Bedürfnisse anderer nicht unbedingt kennen. Wie sollte man auch die Welt durch die Augen von anderen sehen, vor allem, wenn man sich der Problematik nicht bewusst ist? Perez fordert unter anderem deswegen, dass Entscheidungsträger*innen verschiedener Ethnizität, Geschlechts und Alters sein sollten. Nur so könnte man die Perspektiven aller einnehmen.  

Sexistische Schneeräumung 

Im Buch scheint kein Thema ausgelassen zu werden: Von Toiletten, Stadtplanung, VR-Brillen, künstlicher Intelligenz, Krieg und Krisenzeiten über unbezahlte Arbeit, Entwicklungshilfe, Medikamente, Musik und Kunst, Personen auf Geldscheinen bis hin zu systematischen Nachteilen für Forscherinnen wird alles angesprochen. Mein Lieblingsbeispiel ist jedoch das der Schneeräumung. In einer schwedischen Stadt wurden sämtliche politische Massnahmen auf Sexismus überprüft, so auch die Räumung von Schnee auf den Strassen im Winter. Generell wurden die Strassen vom Schnee befreit und nicht etwa die Gehwege. Warum Autos mehr Mühe im Schnee haben sollten als Fussgänger*innen bleibt schleierhaft. Tatsache ist aber nach Perez, dass Frauen öfters zu Fuss oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Männer hingegen benutzen eher das Auto. Gleichzeitig gibt es mehr Unfälle und Verletzungen aufgrund von Schnee bei Fussgänger*innen als mit Motorrädern oder Autos. Dies hat zur Folge, dass bei fast 70 Prozent der Unfälle Frauen betroffen sind. Als in der schwedischen Stadt in den nachfolgenden Jahren die Gehwege anstelle der Strassen vom Schnee gesäubert wurden, konnte eine Reduktion der Gesundheitskosten von umgerechnet fast drei Millionen Schweizerfranken festgestellt werden.  

Ohne Feindbild und trotzdem kämpferisch 

Insgesamt war ich von diesem Buch sehr begeistert und konnte kaum aufhören darüber zu sprechen. Dennoch wollte ich irgendwann nicht mehr lesen, warum mehr als die Hälfte der Menschheit systematisch benachteiligt wird. Denn auch wenn das Buch durch Anekdoten und Beispiele angereichert ist, wurde es zum Teil etwas anstrengend. Eine Studie nach der anderen wird aufgeführt, wobei die thematischen Zusammenhänge innerhalb eines Kapitels nicht immer ersichtlich sind. Dennoch finde ich es ein sehr gut geschriebenes Buch, dass den*die Leser*in immer wieder laut auflachen lässt, die Augen öffnet und kritischer über Dinge nachdenken lässt.  

Besonders gefiel mir, dass Perez nicht nach Schuldigen sucht. Es wird kein Feindbild kreiert, sondern konkrete Vorschläge zur Besserung der derzeitigen Lage beschrieben. Ihre Verbesserungsvorschläge sind vermutlich nicht neu. Dennoch zeigt sie durch unterschiedliche Studien auf, wie diese nicht nur weibliche Personen, sondern auch die Wirtschaft, das Land, die Familienplanung, Freizeit und individuelle Wünsche stärken können. 

Das Buch ist ein Muss für jede Person – egal welchen Geschlechts oder Alters. Selbst meine Grossmutter war von dem Buch mitgerissen. Sie meint nach wie vor klar, dass sie keine Feministin sei und trotzdem schien sie durch die Lektüre persönlich gestärkt.  

Perez hat ein Buch geschrieben, das begeistert, entsetzt, amüsiert, einen üblen Geschmack im Mund hinterlässt, aber vor allem den*die Leser*in kämpferisch zurücklässt. 

Caroline Criado-Perez ist eine Schriftstellerin und ausgezeichnete, feministische Aktivistin. Teile ihrer Kampagnen waren Frauen auf die britischen Banknoten drucken zu lassen, das Vorgehen mit Missbräuchen bei Twitter zu ändern und eine Statue für die bekannte suffragist Millicent Fawcett zu errichten. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen wie den Royal Society Science Book Prize 2019. 


Zum Weiterlesen 

Perez, C. C. (2019). Invisible women: Exposing data bias in a world designed for men. Penguin Random House.  

Das Erbe Kübler-Ross´ in der Sterbeforschung: Ein Überblick

Wie Elisabeth Kübler-Ross das Sterben als gesellschaftliches Thema enttabuisierte und welche Lehren wir aus ihrer Forschung ziehen können

Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung. Die schweizerisch-amerikanische Forscherin Elisabeth Kübler-Ross gilt als Pionierin in der Sterbeforschung. Ihr Modell des Sterbens ist weltweit berühmt, aber umstritten. Manche ihrer Ansätze haben dennoch bis heute Gültigkeit.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Ladina Hummel und Anja Blaser
Illustriert von Gianna Zorzini

Elisabeth Kübler-Ross wurde 1926 in der Schweiz geboren, schloss 1957 ihr Medizinstudium an der Universität Zürich ab und wanderte 1958 in die USA aus. 1965 wurde sie Assistenzprofessorin für Psychiatrie in Chicago. Auf der Grundlage ihrer nachfolgenden Arbeit mit todkranken Patient*innen entstand ihr weltweit berühmtes Buch On Death and Dying (Deutsch: Interviews mit Sterbenden, 1971). 2004 verstarb Elisabeth Kübler-Ross nach langen Jahren gesundheitlicher Beschwerden (Steinke, 2007).  

In On Death and Dying präsentierte sie der Öffentlichkeit auch erstmals ihr Modell der fünf Sterbephasen. Die Phasen seien typische Verhaltensweisen, die ein sterbender Mensch vor seinem Tod durchläuft: «Nicht-wahrhaben-wollen», «Zorn», «Verhandeln», «Depression» und «Zustimmung». Kübler-Ross verstand diese Phasen als Defensivmechanismen, die unterschiedlich lange und einander ablösend oder zeitlich überlappendsein können. Ergänzend zu diesen fünf Phasen sah sie «Hoffnung» als zusätzliches Phänomen, das in allen Phasen auftreten kann (Kübler-Ross, 1969).  

Die Funktion von Sterbemodellen 

Um über Sterbemodelle sprechen zu können, muss zuerst deren Bedeutung und Funktion definiert werden. Sterbemodelle beziehen sich nicht etwa auf den medizinischen Verlauf einer tödlichen Erkrankung oder Verletzung, sondern auf die dabei auftretenden psychischen Zustände und Hindernisse, die es optimalerweise zu bewältigen gilt. Im Zentrum von Sterbemodellen stehen Personen, denen bewusst ist, dass sie sich auf das Ende ihres Lebens zubewegen. Diese Gewissheit stellt für die Betroffenen eine spezifische, meist nicht zu kontrollierende und stressvolle Situation dar. Sterbemodelle sollten daher nicht das Sterben als Prozess vorhersagen, sondern in erster Linie eine Hilfestellung zur Bewältigung dieser Situation sein. 

Ein gutes Sterbemodell sollte nach Corr (1993) folgende vier Bedingungen erfüllen: 

  • Bietet eine verbesserte Grundlage zum Verständnis aller Dimensionen und Personen, welche an der Bewältigung des Sterbeprozesses beteiligt sind 
  • Erhöht das Empowerment der Betroffenen, indem das Modell zur Verfügung stehende Optionen aufzeigt 
  • Partizipation und die gemeinsamen Aspekte der Sterbebewältigung werden betont 
  • Bietet eine Anleitung für Pflegende und Helfende 

Zusammenfassend sollte ein Sterbemodell den Prozess des Sterbens nicht zu stark generalisieren und allen Beteiligten – also auch Familie, Freunden und Pflegenden – eine Hilfestellung sein. Es darf dabei die zentrale Anforderung nicht vernachlässigen, nämlich der sterbenden Person eine Bewältigung der Situation zu erleichtern.  

Kritik am Phasenmodell von Kübler-Ross 

Grundlegend für das Modell von Kübler-Ross waren Interviews mit Sterbenden, die sie im Zeitraum zwischen 1965 und 1968 durchführte. Sie unterhielt sich dabei wöchentlich mit unheilbar erkrankten Patient*innen, die bereit waren ihre Gefühlswelt zu teilen. In diesem Zeitraum führte sie nach eigenen Angaben über 200 Interviews, welche das Fundament ihres Phasenmodells darstellen (Kübler-Ross, 1969).  

Ein erster Kritikpunkt betrifft ihr Vorgehen bei diesen Interviews und damit auch der Fundierung des Modells. Die Interviews waren nicht standardisiert und allfällige Transkripte wurden nie veröffentlicht. Das Phasenmodell beruht auf den Eindrücken von Kübler-Ross, sie selbst sagte dazu, dass sie einfach die Geschichten ihrer Patient*innen, die ihr Leid, ihre Erwartungen und Ängste mit uns geteilt haben, erzähle (Kübler-Ross, 1969). Corr (1993) merkt dazu an, dass jede Person Informationen zu einem gewissen Grad selektiere und interpretiere, was auch auf das Phasenmodell zutreffen sollte. Zudem ist nicht klar, nach welchen Kriterien die Interviews ausgewertet wurden.  

Kastenbaum (nach Corr et al. 2018) kritisierte das Phasenmodell von Kübler-Ross in sechs Punkten. Die folgende Auflistung ist durch einen weiteren Kritikpunkt von Corr und Kollegen (2018) ergänzt.  

  • Das Vorhandensein von Phasen konnte nicht nachgewiesen werden 
  • Es gibt keine Evidenz, dass Sterbende tatsächlich die fünf genannten Phasen durchlaufen 
  • Die Limitationen der Methodik wurden nicht erwähnt 
  • Es ist nicht klar, ob das Modell deskriptiv oder präskriptiv sein soll 
  • Die Generalisierung des Sterbeprozesses missachtet die Individualität der sterbenden Person  
  • Die Eigenschaften des direkten Umfelds, welche einen grossen Unterschied nach sich ziehen können, werden nicht beachtet 
  • Die Generalisierung einer solchen Stresssituation suggeriert, dass Menschen unabhängig von sozialen und kulturellen Einflüssen alle gleich auf Stress reagieren 

Des Weiteren hat das Phasenmodell den Nachteil, dass die einzelnen Stufen viel Spielraum zur Interpretation lassen. Zum Beispiel kann sich die Phase des «Nicht-wahrhaben-wollens» als Verleugnung der Diagnose (Ich bin nicht krank), als Verleugnung des Schweregrades (Ich bin krank, aber es ist nichts ernsthaftes) oder auch in Form einer Verleugnung der noch bleibenden Lebenszeit (Ich sterbe, aber der Tod wird nicht zeitnah eintreten) äussern und bezieht sich damit nicht auf eine spezifische Einstellung (Weisman, 1972).  

Elisabeth Kübler-Ross’ wissenschaftliche Persona litt ab den späten 70er Jahren auch darunter, dass sie fortan behauptete der Tod existiere nicht und ein Leben nach dem weltlichen Tode lasse sich wissenschaftlich beweisen (Krätzig, 2019). Des Weiteren ging sie nicht konstruktiv oder nie auf die Kritik ihrer Kollegen und Kolleginnen ein. Abgesehen von Ad-hominem Argumenten geriet das Phasenmodell unter anderem auch darum in Verruf, weil es vielfach missbraucht, beziehungsweise nicht im Sinne Kübler-Ross’ angewendet wurde. Kübler-Ross’ Vision hinter dem Modell war die Reduktion der Objektifizierung von Patient*innen. Statt eine Person einfach als «Krebs» oder «Herzkrankheit» zu behandeln, sollte die Gefühlswelt der Person im Zentrum stehen. Allerdings führte ihr Modell wohl teilweise dazu, dass Patient*innen als Fälle von «Zorn» «Verhandeln» oder «Zustimmung» gesehen wurden (Corr et al, 2018).  

«He’s a human being, and a terrible thing is happening to him. So attention must be paid.»  

Arthur Miller, 1948

Was bleibt 

Das populäre Modell von Kübler-Ross sorgte unter anderem dafür, dass Sterben zu einem öfter diskutierten und teilweise enttabuisierten Thema sowohl in der Wissenschaft als auch im gesellschaftlichen Diskurs wurde (Krätzig, 2019). 

In eigenen Worten fasste Kübler-Ross (nach Corr, 1993) ihre Arbeit so auf, dass ihr Werk weder eine Anleitung zum Umgang mit sterbenden Patient*innen sei, noch als abschliessende Arbeit der Psychologie des Sterbens intendiert war. Das Buch sei ein Bericht über die neue und herausfordernde Gelegenheit Patient*innen als Menschen zu behandeln, mit ihnen in den Dialog zu treten und das Krankenhausgeschehen mit seinen Stärken und Schwächen aus der Sicht des*der Patient*in kennenzulernen. Im Dialog mit Sterbenden können wir mehr über die finale Phase des Lebens mit all seinen Ängsten, Befürchtungen und Hoffnungen lernen.  

Corr (1993) zieht aus On Death and Dying Lehren für die moderne Forschung zum Sterbeprozess. Sterbende Menschen leben noch und haben oft unerledigte Bedürfnisse, über welche sie sprechen wollen. Ihre Bedürfnisse in dieser Situation sind fundamental und vorrangig. Um Menschen im Sterbeprozess begleiten zu können und in der Lage zu sein, ihnen zu helfen, ist es essenziell den Betroffenen aktiv zuzuhören und mit ihnen in eine unvoreingenommene Beziehung zu treten. Letztlich seien Sterbende Lehrende und die Zuhörerschaft Schüler und Schülerinnen. Durch sie können wir uns selbst, als verletzliche, sterbliche, aber auch resiliente, anpassungsfähige und voneinander abhängige Wesen besser kennenlernen.  

Eine aufgabenorientierte Alternative 

Corr (1992) schlägt als Alternative zu einem in Phasen organisierten Modell ein aufgabenorientiertes Modell des Sterbeprozesses vor. Das von ihm entworfene Modell ist sehr generell gehalten, lässt dafür aber auch mehr Spielraum für die Interindividualität von Sterbenden. Aufgaben können in vier Bereichen anstehen. Dazu gehört der körperliche Aufgabenbereich, in dem es zum Beispiel um die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse oder die Minimierung von körperlichen Leiden geht. Aufgaben, welche in den psychologischen Bereich fallen, sind gefühlte Sicherheit, Autonomie und weiterhin neue, sichtweisenverändernde Erfahrungen machen zu können. Dazu kommen soziale sowie spirituelle Aufgaben, worunter beispielsweise das Aufrechterhalten von Beziehungen oder die Auseinandersetzung mit Meaningfulness, dem Überschreiten des Diesseits und der damit verbundenen Hoffnung fallen. Allgemein gefasst beschreibt das Modell Aufgabenbereiche, welche zur Bewältigung des Sterbeprozesses relevant sein können.  


Zum Weiterlesen

Corr, C. A. (1993). Coping with dying: Lessons that we should and should not learn from the work of Elisabeth Kübler-Ross. Death Studies17, 69–83. https://doi.org/10.1080/07481189308252605 

Krätzig, P. (2019, 19. September). Elisabeth Kübler-Ross wollte uns die Angst vor dem Tod nehmen. NZZ am Sonntaghttps://nzzas.nzz.ch/gesellschaft/elisabeth-kuebler-ross-wollte-uns-die-angst-vor-dem-tod-nehmen-ld.1493958?reduced=true 

Literatur

Corr, C. A. (1992). A Task-Based Approach to Coping with Dying. OMEGA – Journal of Death and Dying24, 81–94. https://doi.org/10.2190/cnnf-cx1p-bfxu-ggn4 

Corr, C. A., Corr, D. M. & Doka, K. J. (2018). Death & Dying, Life & Living (6. Aufl.). Cengage Learning. 

Kübler-Ross, E. (1969). On death and dying. New York: Macmillan. https://doi.org/10.4324/9780203010495 

Steinke, H. (2007, 22. November). Kübler-Ross, Elisabeth. Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014441/2007-11-22/ 

Weisman, A. D. (1972). On dying and denying: A psychiatric study of terminality. 

Professor*innen gefragt

Wie sieht die Psychologie von morgen aus?

Gesammelt von Noémie Lushaj
Lektoriert von der Redaktion

Prof. Dr. Christoph Flückiger 

Allen Unkenrufen zu trotz, dass die Psychologie Gefahr laufe sich in Informatik, Medizin, Neurowissenschaften, Ökonomie oder Allgemeiner Sozialwissenschaften aufzulösen, wird es wohl immer eine Wissenschaft geben, die das individuelle Erleben und Verhalten von Personen zwischen Humanbiologie auf der Mikroebene und Soziologie auf der Makroebene ins Zentrum stellt. Seit der Einführung als Maturafach in den 1990er Jahren gab es wohl noch nie so viele Menschen in der Schweiz, die mit professioneller Psychologie in Berührung kamen. Dieser Impact wird auch in Zukunft pro Abschlussjahr kontinuierlich steigen. Das Universitätsfach Psychologie ist sehr beliebt und hat einen grossen Frauenanteil. Die Zukunft der Psycholog*innen wird deshalb von einer persönlichen Frage auf dem Heiratsmarkt mitbeeinflusst sein: Wie viele zukünftige Psychologinnen werden sich in ihrer Karriereplanung gegenüber ihren Ehepartner*innen wie stark behaupten können und sich für die Etablierung des Fachs berufspolitisch einsetzen? 

Prof. Dr. Mike Martin 

Mit den zunehmenden Möglichkeiten, psychologische Zielgrössen in hoher Dichte im Alltag von Personen zu bestimmen, wird die psychologische Grundlagenforschung zunehmend experimentelle Daten mit realweltlichen Beobachtungsdaten kombinieren. Solche personenbezogenen Daten sind nur nutzbar, wenn unsere Versuchspersonen zu eigenständigen Forschungspartner*innen mit Kontrolle über ihre eigenen Daten werden. Dazu werden Psycholog*innen zunehmend sowohl mehr datenwissenschaftliche Grundlagen, mehr Datenmanagement-Expertise, mehr Kompetenzen im partnerschaftlichen Umgang mit Versuchspersonen und im transdisziplinären Forschen als auch die Fähigkeit zur Formulierung komplexer und dynamischer theoretischer Modelle benötigen. Psychologie wird zunehmend eine Dateninterpretationswissenschaft mit hoher Relevanz für individualisierte und kontext-berücksichtigende Interventionen und damit wird komplexes theoretisches Denken auf der Basis exzellenter Methodenkenntnisse immer wichtiger. 

Prof. Dr. Martin Kleinmann 

Meine Erwartung bezüglich des Psychologiestudiums ist, dass eine stärkere Ausdifferenzierung der Studiengänge bzgl. der Arbeitsmärkte erfolgen wird. Neben allgemein ausgebildeten Psychologen*innen, werden Studiengänge entstehen, die für ein Arbeitsfeld ausgelegt sind und nach Abschluss des Masterstudiums notwendige weitere Qualifizierungen bereits integrieren. Die Forschung wird sicher mehr mit Big Data arbeiten und virtueller ausgerichtet sein. Der Rechtfertigungsdruck für Praktiker*innen evidenzbasiert im Feld zu arbeiten, wird zunehmen. Verfahren und Methoden ohne belegte Evidenz werden seltener werden. Das Fach insgesamt wird an Bedeutung in der Gesellschaft gewinnen, da gesellschaftliche Veränderungsprozesse zunehmen und vermehrt psychologisch begleitet werden. So gibt es aktuell bereits Kollegen*innen, die beispielsweise Interventionen der Gesundheitskommunikation erforschen und entwickeln, um Impfskepsis in der Bevölkerung durch Aufklärung und Information zu reduzieren. 

Prof. Dr. Mathias Allemand 

Die Digitalisierung verändert viele Bereiche des Lebens. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind auch in der Psychologie zu beobachten und werden die Psychologie von morgen mitbestimmen. Zum Beispiel sind neue interdisziplinäre Forschungsfelder wie das «Digital Phenotyping» oder das «Mobile Sensing» entstanden. Dabei werden digitale Innovationen und Lösungen entwickelt und genutzt, um automatisch und zeitnah Erkenntnisse über psychologische, soziale, und biomedizinische Aspekte des menschlichen Verhaltens und Erlebens im Alltag zu gewinnen. Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen bieten enorme Chancen und Herausforderungen für die Forschung, Entwicklung, Aus- und Weiterbildung in der Psychologie. Wesentlich dabei ist, wie die Möglichkeiten digitaler Innovation und Transformation genutzt werden, um die digitale Zukunft zu gestalten.  

Prof. Dr. Carolin Strobl 

Die «Psychologie von morgen» hat für mich eigentlich schon vor zehn Jahren begonnen. Viele der Probleme, die zur Replikationskrise geführt haben, waren schon vorher bekannt – aber seit 2011 hatten sich die Berichte über fragwürdige Forschungspraktiken und z. T. auch bewusste Täuschungen gerade in der Psychologie so gehäuft, dass als Reaktion darauf eine breite Bewegung für Replizierbarkeit und Open Science entstanden ist. Diese Bewegung wurde und wird stark von Nachwuchsforscher*innen vorangetrieben. Ihnen werden wir die «Psychologie von morgen» verdanken, und ich bin gespannt, welche Standards sich auf lange Sicht durchsetzen und in Zukunft in der psychologischen Forschung völlig selbstverständlich sein werden. 

Prof. Dr. Ulrike Ehlert 

Die Fähigkeit von Psycholog*innen, sich interdisziplinär zu engagieren, ist eine wunderbare Sache! Wir können mit Informatiker*innen, mit Biolog*innen, mit Mediziner*innen, mit Musiker*innen, mit Körpertherapeut*innen, mit Ökotropholog*innen und mit vielen anderen Berufsleuten sowohl wissenschaftlich als auch praktisch zusammenarbeiten. Dabei entstehen oft sehr spannende, neuartige und sinnvolle Projekte und Massnahmen. Diese Bereitschaft, interdisziplinär zu arbeiten, wird für die Psychologie von morgen äusserst bedeutsam werden. Zum einen, weil wir in der komplexen Welt, in der wir leben, das Geschehen nur noch dann verstehen, wenn wir viele Informationen und Kommunikationswege gleichzeitig nutzen können, zum anderen, weil sich das Wissen in anderen Disziplinen genauso schnell verändert und spezialisiert wie in der Psychologie. Psycholog*innen wird eine hohe Sozialkompetenz nachgesagt und deshalb wird das Fach davon profitieren, dass wir interdisziplinär zusammenarbeiten, Neues immer wieder zulassen und für die Psychologie von morgen nutzen. 

Prof. Dr. Nora Raschle 

Die Forschung von morgen, die Psychologie von morgen, wird aus Zusammenarbeiten bestehen, welche internationale Grenzen, einzelne methodische Ansätze und isolierte Stichproben überwinden kann. Gerade die Werte der offenen Wissenschaft werden an Bedeutung gewinnen. Die Prämisse erfolgreicher Forschungsresultate ist nur dann gegeben, wenn die Datenintegrität, ihre Zuverlässigkeit, Reproduzierbarkeit und Replizierbarkeit gegeben sind. Zudem glaube ich, dass unsere Forschungsbemühungen an Wert verlieren, wenn es uns nicht gelingt, sie erfolgreich zu kommunizieren. Es ist nicht nur wertvoll, immer mehr oder bessere Daten zu sammeln, Individuen angemessen zu repräsentieren und Prognosen für Einzelne aufstellen zu können. Wir müssen uns auch damit befassen, wie wir unsere Forschungsergebnisse auf wirksame Weise kommunizieren, damit diese zum Beispiel in Krankenhäusern, in der Politik oder im Bildungssystem ankommen. 

Prof. Dr. Guy Bodenmann 

Die Psychologie der Zukunft wird vor allem durch die Nutzung von Big Data geprägt sein. Menschen werden künftig nicht nur Kalorien, Bewegung oder physiologische Maße sammeln, sondern vermehrt auch psychologische Parameter (Stimmung, Emotionen, Motive, Ziele) im Alltag erfassen. Psychotherapeut*innen werden auf diese Daten zugreifen und sie zu diagnostischen Zwecken nutzen und auf sie gestützt ihren Patient*innen maßgeschneiderte Hilfestellungen in Real-Time anbieten können. Das Psychologiestudium und die Psychotherapie werden durch Online-Formate in noch stärkerem Masse als heute ergänzt werden. Doch bei allen technologischen Neuerungen wird die Bedeutung des persönlichen Kontakts nicht an Bedeutung verlieren. Das hat uns auch die Covid-Pandemie gezeigt. Wir brauchen soziale Kontakte, den empathischen Blick des Gegenübers, das herzliche Händeschütteln, aufmunternde Gesten, feine Berührungen – die emotionale Präsenz von anderen. Diese Dimension der Interaktion wird nie obsolet werden, auch nicht in der Psychologie von Morgen. 

Prof. Dr. Moritz Daum 

Einheit aus Vielfalt 

Die heutige Psychologie ist unglaublich vielfältig und schlägt Brücken zwischen verschiedenen Disziplinen aus Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften (z. B. Daum et al., 2020; Fiedler et al., 2005). Das macht die Psychologie einerseits faszinierend und dynamisch, birgt andererseits aber die Gefahr, dass die disziplinäre Einheit verloren geht und sich das Fach schleichend in seine verknüpften Teilgebiete auflöst (die klinische Psychologie geht in die Medizin über, die Wirtschaftspsychologie in die Wirtschaftswissenschaften, etc.). Um auch morgen die Einheit der Psychologie zu bewahren, sollte diese vor die Unterschiede gestellt werden. Zwei vereinende Aspekte sind die fachübergreifende methodische Kernkompetenz (Fiedler et al., 2005) und die zumindest teilweise fachübergreifende theoretische Auseinandersetzung (z.B. in der Entwicklungspsychologie mit Veränderungsprozessen aus der Perspektive der gesamten Lebensspanne). Diese gemeinsamen Interessen und Kernkompetenzen sind zentrale Aspekte, die die Kohärenz innerhalb der Psychologie fördern und der Zersplitterung des Faches in der Zukunft entgegenwirken.

Referenzen: 

Daum, M. M., Greve, W., Pauen, S., Schuhrke, B., & Schwarzer, G. (2020). Positionspapier der Fachgruppe Entwicklungspsychologie: Versuch einer Standortbestimmung. Psychologische Rundschau, 71(1), 15–23. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000465 

Fiedler, K., Kliegl, R., Lindenberger, U., Mausfeld, R., Mummendey, A., & Prinz, W. (2005). Psychologie im 21. Jahrhundert: Führende deutsche Psychologen über Lage und Zukunft ihres Faches und die Rolle der psychologischen Grundlagenforschung. Gehirn und Geist, 78, 56–60. 

Prof. Dr. Alexis Hervais-Adelman 

Als kognitiver Neurowissenschaftler kommen einem dabei die enormen technischen Fortschritte bei bildgebenden Methoden und nicht-invasiver Hirnstimulation in den Sinn, die im letzten Jahrzehnt entstanden sind. Rechnergestützte Methoden und Techniken welche höchstsensible Hirnmessungen erlauben, haben uns Einblick in die Repräsentation unserer Sinnwahrnehmung gegeben. Dank solcher Fortschritte werden verbesserte Brain-Computer-Interfaces entwickelt. Neue nicht-invasive Hirnstimulationstechniken, welche tiefe Hirnstrukturen erreichen, die bisher nur mittels invasiven chirurgischen Eingriffen zugänglich waren, werden völlig neue Forschungsperspektiven eröffnen. Die «Open Science» Bewegung wird sich verstärken und dabei helfen, Wissen zu teilen und dadurch schneller Fortschritte zu erzielen. Dies vereinfacht die Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen und verringert auch Doppelspurigkeiten in der Forschung. Die Psychologie von morgen sieht spannend und gemeinschaftlich aus. Sie ist greifbar nah.

Autismus-Spektrum-Störungen

Braucht es einen Perspektivenwechsel?

Die Autismus-Spektrum-Störung ist heutzutage weit verbreitet. Meist zeigt sie sich erstmals im Kindesalter, indem sie den Betroffenen die Kommunikation mit anderen erschwert. Doch ist Autismus wirklich eine Störung? Oder funktionieren Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen einfach anders? 

Von Larissa Leuenberger
Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler
Illustriert von Holly Vuarnoz

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeichnet sich vor allem durch Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie stereotype, repetitive Verhaltensweisen aus (Freitag, 2020). In der ICD-10 wurden hierbei verschiedene Unterarten unterschieden, wie frühkindlicher Autismus, welcher sehr stark ausgeprägte Symptome vorweist, und das Asperger-Syndrom, welches eher unauffällig ist (Müller, 2016). In den neueren Klassifikationssystemen wie ICD-11 werden diese jedoch zunehmend durch den Überbegriff «Autismus-Spektrum-Störung» ersetzt, welcher, wie der Name schon sagt, alle verschieden starken Ausprägungen auf einem allgemeinen Spektrum zusammenfasst (Freitag, 2020). 

Personen, die mit einer ASS diagnostiziert werden, zeigen oft Schwierigkeiten im sozialen Umgang (Müller, 2016). Sie sprechen wenig und sehen das gegenüber nicht an, wenn er*sie mit ihm*ihr spricht (Müller, 2016). Allgemein ist die Kommunikation mit Autist*innen oft sehr schwierig. Viele wirken unerreichbar und leben in ihrer eigenen Welt. Es fällt ihnen schwer, sich in andere hineinzuversetzen und allgemein scheinen Autist*innen eine weniger stark ausgeprägte Theory of Mind zu haben (Tager-Flusberg, 2007). Auch zeigt sich bei den Betroffenen häufig ein stark routiniertes Verhalten, welches sie akribisch jeden Tag wiederholen. Diese Routine ist ihnen sehr wichtig und sie reagieren oft mit Wut und/oder Angst auf Behinderungen oder Abweichungen von ihrem gewohnten Tagesablauf (Müller, 2016).  

Die Symptome der ASS können sich in der Ausprägung von Individuum zu Individuum stark unterscheiden. Während es einigen Betroffenen möglich ist, sich ohne grosse Umstände in die Gesellschaft zu integrieren, bleiben andere ein Leben lang nonverbal und sind nicht in der Lage, selbständig den Alltag zu meistern. Es gibt heute jedoch zahlreiche Therapien und Interventionen, welche die Symptome erfolgreich lindern können. Die Integration in die Gesellschaft, welche bei den Kindern meist in der Schule beginnt, ist dabei ein entscheidender Schritt. Denn vom Kontakt zu anderen Menschen können Personen mit ASS viel profitieren und lernen. Schlussendlich ist es auch ein grosses Ziel bei ASS, dass die Betroffenen ein gewöhnliches Leben führen und möglichst uneingeschränkt leben können. 

Die Hürden mit ASS 

«Manchmal fühle ich mich, als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet und muss die Gepflogenheiten mühsam lernen. – Linda»

Müller, 2016, Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, Abs. 5 

Die Konfrontation mit der übrigen Welt bringt oft viele Probleme mit sich. Einige Betroffene leiden unter Mobbing oder fühlen sich ausgegrenzt, weil ihre Mitmenschen sie nicht verstehen. Dies ist für viele eine grosse Last und hängt mit psychischen Problemen wie Depressionen und allgemein schlechterer psychischer Gesundheit zusammen (Mitchell, Sheppard, & Cassidy, 2021). Das Anschlussbedürfnis ist von Individuum zu Individuum verschieden und so gibt es auch zwischen verschiedenen Personen mit ASS-Diagnose grosse Unterschiede. Es ist ein Irrtum, dass alle Menschen mit ASS nicht gern Freundschaften pflegen oder in Partnerschaft leben wollen. Darum ist es verheerend, wenn sie von Anfang an als «der*die ist Autist*in, das heisst, er*sie ist asozial», abgestempelt werden. Diese Sichtweise macht es den Betroffenen noch schwerer, Anschluss zu finden. Sie fühlen sich ausgeschlossen und minderwertig, worunter ihr Selbstwertgefühl leidet (Mitchell et al., 2021). In wenigen schlimmen Fällen kann dies sogar zu Suizidgedanken führen (Mitchell et al., 2021).  

Und nicht nur in sozialen Angelegenheiten fühlen sich Autist*innen überfordert. Auch die über- oder unterempfindliche Wahrnehmung ist eine starke Einschränkung. Dabei sind die verschiedensten Sinne betroffen, wie Gehör, Tast- und Sehsinn (Müller, 2016). Manche fühlen sich, als befänden sie sich in einer fremden Welt oder auf einem fremden Planeten (Müller, 2016).  

Autismus als gesellschaftliches Problem 

Unsere Gesellschaft hat sich seit hunderten von Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, doch schon seit jeher mussten Minderheiten um ihren Platz kämpfen. Leute mit ASS sind eine dieser Minderheiten. Von Kind auf werden sie geschult und gedrillt, um sich an unseren Standard anzupassen. Viele Forscher fragen sich, ob es nicht besser wäre, den mit ASS-Diagnostizierten einen Schritt entgegenzukommen und mehr Toleranz zu zeigen (Mitchell et al., 2021). So wie Gehbehinderte die Möglichkeit bekommen, sich unbeschwerter im Alltag fortzubewegen, müssten auch für Autisten angenehmere Bedingungen geschaffen werden, um ihnen das Leben zu erleichtern.  

Das «Double Empathy Problem» 

«… eine Diskrepanz in der Reziprozität zwischen zwei unterschiedlich veranlagten sozialen Akteuren, die umso ausgeprägter ist, je größer die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Lebenswelt ist…» 

Milton, 2012, S. 884 

Ein grundlegendes Problem bei der Theory of Mind und Empathie ist, dass für die Festlegung der Norm nicht-autistische Personen verwendet wurden (Milton, 2012). So funktioniert die Erfassung dieser zwei Konstrukte bei nicht-autistischen Personen zwar einwandfrei, doch im autistischen Spektrum zeigen sich dabei Schwierigkeiten. Milton (2012) bezeichnet darum auch die Defizite bei ASS in der Theory of Mind als reinen Mythos. Das Problem seien gemäss Milton nicht allfällige Defizite von Menschen mit ASS, sondern die Interaktion zwischen diesen und Menschen ohne ASS. Es wird deshalb als «doppeltes» Problem bezeichnet, weil die Schwierigkeit durch die Interaktion dieser zwei Gruppen miteinander entsteht und auf Unterschieden zwischen den beiden beruht (Milton, 2012). Personen mit ASS haben kaum Probleme, sich mit anderen Personen mit derselben Diagnose zu unterhalten. Auch Menschen ohne ASS haben vergleichsweise wenig Probleme beim Umgang mit ihresgleichen. Erst wenn die zwei Gruppen aufeinandertreffen, entstehen die Schwierigkeiten, was zeigt, dass die Ursache in den Gruppenunterschieden liegt (Milton, 2012). Es ist genauso schwer für Personen ohne ASS sich in Leute mit ASS hineinzuversetzen wie umgekehrt. Kinder mit ASS müssen heutzutage viele Stunden pro Woche an ihren sozialen Fähigkeiten arbeiten und werden oft gedrillt, um der sozialen Norm zu entsprechen. Das Double Empathy Problem impliziert jedoch, dass ein Entgegenkommen von beiden Seiten möglich wäre. Wie dieses aussieht, bleibt jedoch noch offen. 

Defizit oder einfach anders? 

Es gibt keine klare Antwort auf die Frage, ob Menschen mit ASS ein Defizit aufweisen oder einfach nur anders sind als neurotypische Menschen. Es ist so, dass Menschen mit ASS mit gewissen neurologischen Veränderungen zur Welt kommen, die ihnen die Interaktion mit anderen erschweren (Mitchell et al., 2021). Vor allem Schwierigkeiten beim Erlernen der verbalen und nonverbalen Kommunikation sind dabei ein ausschlaggebender Faktor. Doch ist auch zu berücksichtigen, dass der Standard, den man den Betroffenen zur Erreichung setzt, vielleicht nicht geeignet ist. Es ist definitiv nicht vorteilhaft, den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass sie erst ihre Defizite überwinden müssen, um als Mensch zu genügen. Denn viele Autisten empfinden ihre Diagnose als etwas Wunderbares. Sie wollen gar nicht geheilt werden und würden sich nicht als krank bezeichnen (Müller, 2016). Darum streben viele einen Perspektivenwechsel in der Gesellschaft an, sodass Autisten als vollwertige und anders funktionierende Menschen anerkannt werden (Mitchell et al., 2021; Müller, 2016). Linus Müller (2016), der Autor der Website «Autismus Kultur», bezeichnet Autismus dabei als «neurologisch bedingte Wesensart – keine Krankheit». Die einen sind introvertiert, die anderen extrovertiert. Und so gibt es auch Menschen mit und Menschen ohne ASS. Sie alle äussern sich verschieden im sozialen Kontext, eine Wertung ist dabei jedoch nicht möglich. Es zeigt nur die Diversität und Individualität von uns als Menschen. 

Theory of Mind 

«Theory of Mind (ToM) ist die Fähigkeit, anderen Wünsche, Absichten, Ideen usw. zuzuschreiben, die sich von den eigenen unterscheiden» 

Wehrli & Modestin, 2009, S. 229 

Die Fähigkeit einer ToM wird im frühen Kindesalter entwickelt, wobei sie erst im Erwachsenenalter vollständig ausgereift ist. Die Entwicklung einer ToM ist wichtig für soziale Interaktionen, denn so lernen die Kinder, dass nicht alle das gleiche Wissen haben und Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen. Im Gegensatz zur Empathie, bei der es darum geht Gefühle nachzuempfinden, gelingt Mithilfe einer ToM das Nachvollziehen von Gedankengängen. Mit ungefähr anderthalb Jahren äussert sich bei den Kindern zum ersten Mal eine rudimentäre ToM (Onishi & Baillargeon, 2005). Dies zeigt die Studie von Onishi und Baillargeon (2005) zum False Belief. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Kinder mit 18 Monaten in der Lage sind zu verstehen, dass ein Mensch nach Überzeugungen handelt, die richtig oder falsch sein können (Onishi & Baillargeon, 2005). Bis heute ist der Zeitpunkt des Beginns einer ToM jedoch umstritten. 


Zum Weiterlesen

Milton, D. E. M. (2012). On the ontological status of autism: The ‘double empathy problem’. Disability & Society, 27(6), 883-887. https://doi.org/10.1080/09687599.2012.710008 

Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350 

Literatur

Freitag, C. M. (2020). Von den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 zur Autismus-Spektrum-Störung in ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 1-5. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000774 

Milton, D. E. M. (2012). On the ontological status of autism: The ‘double empathy problem’. Disability & Society, 27(6), 883-887. https://doi.org/10.1080/09687599.2012.710008 

Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350 

Müller, L. (2016, 9. Januar). Aus autistischer Sicht: Was ist eigentlich Autismus?. Autismus-Kultur. https://autismus-kultur.de/autismus/autismus-spektrum-was-ist-autismus.html 

Onishi, K. H., & Baillargeon, R. (2005). Do 15-month-old infants understand false beliefs? Science308(5719), 255-258. https://doi.org/10.1126/science.1107621 

Tager-Flusberg, H. (2007). Evaluating the theory-of-mind hypothesis of autism. Current Directions in Psychological Science, 16(6), 311-315. https://doi.org/10.1111/j.1467-8721.2007.00527.x 

Wehrli, M. V., & Modestin, J. (2009). Theory of Mind (ToM) – ein kurzer Überblick. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 160(6), 229-234. https://doi.org/10.4414/sanp.2009.02088