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Beiträge aus der Kategorie ‘Forschung’

Mmh… dieses oder jenes?

Wie funktioniert der psychologische Prozess der Entscheidungsfindung? Ein kurzer Einblick in die Entscheidungspsychologie

Die Forschung hat Modelle entwickelt, um Entscheidungen rational zu erklären, aber der Mensch scheint sich nicht immer an die Theorie zu halten. Entscheidungen variieren je nach Kontext, verfügbaren Informationen und Alternativen. Erschwerend kommt hinzu, dass Emotionen Entscheidungen «irrational» machen können.

Von Arianna Pagani
Lektoriert von Michelle Regli und Isabelle Bartholomä
Illustriert von

Heutzutage sind die Möglichkeiten der Produktauswahl nahezu unendlich. Man denke nur an die Hunderte von Fernsehkanälen, die vielen Online-Shops mit Kleidung in allen Modellen und Farben und das Unterhaltungsangebot an Filmen und Musik. Worauf haben Sie heute Abend Appetit? Durch eine einfache Internetsuche kann man von der vietnamesischen Küche bis hin zur klassischen neapolitanischen Pizza alle möglichen Speisen bestellen. Die Auswahl ist vielfältig, aber wie entscheidet man sich?

Der Prozess der Entscheidung

In der entscheidungspsychologischen Forschung werden hauptsächlich Experimente zu Geldwertentscheidungen durchgeführt. Würden Sie lieber diese oder jene Belohnung erhalten? Dieses Thema war schon vor 50 Jahren faszinierend. 1976 entwickelten Keeney und Raiffa ein Modell, das auch heute noch gültig ist: die Multi-Attribute Utility Theory (MAUT). Es handelt sich um ein Modell, das bei der Entscheidungsfindung insbesondere zwischen Alternativen mit mehreren Variablen (Multi-Attribute) hilft, z. B. wenn Kriterien wie Preis, Komfort und Sicherheit eine Rolle spielen. Die MAUT identifiziert die zu berücksichtigenden Dimensionen und weist ihnen ein Gewicht, also eine Relevanz für die zu treffende Entscheidung zu (Utility). Auf diese Weise werden die Attribute integriert und für jede Alternative eine Gesamtnote vergeben, die zu einer entsprechenden Wahl führt. Obwohl das Modell versucht, objektiv zu erklären, was die «beste» Entscheidung ist, entscheiden sich die Menschen oft widersprüchlich (Shafir & LeBoeuf, 2004). Wie kommt das?

Kontexteffekte

Ein Grund für die Inkonsistenz von Entscheidungen kann der Kontext sein, in dem die Optionen präsentiert werden (Prelec et al., 1997). Wissenschaftler*innen haben kontextuelle Effekte untersucht, d. h. wie die Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten die Präferenzen und Entscheidungen von Menschen verändert (Trueblood et al., 2013).

Am bekanntesten ist der Kompromisseffekt von Simonson und Tversky (1992), der davon ausgeht, dass die Hinzunahme einer extremen Option dazu führt, dass das Objekt in der Mitte – der Kompromiss – gewählt wird. Wenn man beispielsweise für das Abendessen zwischen einem luxuriösen Fischrestaurant und einer italienischen Pizzeria entscheiden muss, fällt durch die Hinzufügung eines billigen Fast-Food Restaurants die endgültige Wahl eher auf die Pizzeria, den Kompromiss.

Ein weiteres Beispiel ist der Ähnlichkeitseffekt (Brenner et al., 1999). In diesem Fall ähnelt die dritte Option einer der bereits vorhandenen, was die Wahl dieser beider Optionen unwahrscheinlicher macht. Im vorherigen Beispiel, würde somit bei der Hinzunahme eines weiteren exklusiven Restaurants, das auf Fleisch spezialisiert ist, bei den meisten die Tendenz steigen, die Pizzeria zu wählen, die durch die dritte Option nicht gestört wird.

Der letzte kontextuelle Effekt ist der Anziehungseffekt oder asymmetrische Dominanz-Effekt (Heath & Chatterjee, 1995). Hier ähnelt die hinzugefügte Option einer der bisherigen, aber im Gegensatz zum Ähnlichkeitseffekt wird sie von ihr dominiert. Es bedeutet, dass die neue Option objektiv etwas minderwertiger ist. Wäre das zusätzliche Angebot z. B. ein italienisches Restaurant, das aber keine Holzofenpizza anbietet, würde aufgrund der asymmetrischen Dominanz die Pizzeria ausgewählt werden. Der Effekt wurde in vielen Studien getestet und ist stabil, selbst wenn das Luxusrestaurant anfangs gegenüber der Pizzeria bevorzugt wurde (Huber et al., 1982).

Suche nach Infos

Wie bei Kontexteffekten kann nicht nur das Angebot neuer Alternativen die Entscheidung verändern, sondern auch einfach die Suche nach mehr Informationen über die vorhandenen Optionen. Menschen neigen dazu, nach mehr Informationen zu suchen, um ihre Wahl zu erleichtern, wenn sie unsicher sind (Tversky & Shafir, 1992b). Je genauer man über die Möglichkeiten informiert ist, desto besser. Bei der endgültigen Entscheidung wird jedoch neuen Informationen mehr Bedeutung beigemessen (Shafir & LeBoeuf, 2004). Die zusätzliche Feststellung, dass die Wohnung A näher an der Bushaltestelle liegt als die Wohnung B, wird ein wichtigerer Faktor sein, als wenn diese Information von Anfang an zur Verfügung gestanden hätte.

Rolle der Emotionen

Entscheidungen haben einen klar rational-kognitiven Anteil: Was sind die Optionen? Und was für Konsequenzen haben sie? Menschen haben jedoch auch emotionale Reaktionen auf Entscheidungen und Folgen: Freude über ein gutes Ergebnis oder Angst vor einer Operation (Connolly & Zeelenberg, 2002). Emotionen sind wesentlich für den Entscheidungsprozess, sie sind nicht von vornherein Störfaktoren. Die affektive Reaktion folgt auf die kognitive Verarbeitung, die zu einem Urteil und einer Entscheidung führt (Zajonc, 1980).

«Wir sehen nicht nur ein ‘Haus‘: Wir sehen ‚ein schönes Haus‘, ‚ein hässliches Haus‘ oder ‚ein pompöses Haus‘.»

Zajonc, 1980, S. 154

Die am meisten untersuchte Emotion in der Entscheidungspsychologie ist das Bedauern (Connolly & Zeelenberg, 2002). Es wird unterschieden zwischen dem Bedauern, etwas getan zu haben, und dem Bedauern, nicht gehandelt zu haben. Welche der beiden Situationen mehr belastet, ist umstritten. Kahneman und Tversky (1982) führten eine Umfrage durch, bei der es darum ging, wer von zwei Anlegern mehr Bedauern empfand. Beide hatten 1’200 Dollar verloren, der eine, nachdem er Aktien aktiv gekauft hatte, der andere, weil er sie hielt. Mehr als 90 Prozent der Befragten vermuten, dass der Erstere, der «aktiven Käufer», mehr Bedauern empfinden würde. Im Gegensatz dazu zeigen Gilovich und Medvec (1995) anhand einer realen Erinnerung, dass Menschen es mehr bedauern, etwas «nicht getan» zu haben, als etwas getan zu haben.

Verlust versus Gewinn

Emotionale Auswirkungen spielen ebenfalls eine Schlüsselrolle bei einer sehr wichtigen Frage in der Entscheidungspsychologie: «Was fällt emotional schwerer ins Gewicht: Verluste oder Gewinne?». Laut dem Prinzip der Verlustaversion (Kahneman & Tversky, 1979) sind Verluste für uns von grösserer Bedeutung. Menschen benötigen typischerweise «[…] einen potenziellen Gewinn von mindestens 100 Dollar, um einen potenziellen Verlust von 50 Dollar auszugleichen […]» (Tom et al., 2007, S. 51). Dieses Paradigma ist auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Recht und Medizin weit verbreitet (Lewis, 2016).

«Losses hurt about twice as much as gains make us feel good.»

Thaler, 2000, S. 137

Das Modell wird akzeptiert, jedoch gibt es viele Experimente, die das Gegenteil zeigen, d. h. dass ein Gewinn eine grössere Wirkung als ein Verlust haben kann (Harinck et al., 2007). Mukherjee und Kollegen (2017) zeigten, dass der betreffende Geldbetrag einen Einfluss hat. Wenn der Betrag hoch war (z. B. 200 Dollar), war die psychologische Auswirkung des Verlustes grösser als der Gewinn. War der Betrag dagegen niedrig (50 Dollar), beurteilten die Teilnehmenden die Gewinne eher als wirkungsvoller. Eine mögliche Erklärung ist, dass ein grosser Geldbetrag objektive Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben kann und daher eine grössere Risikoaversion besteht (Rabin & Thaler, 2001). Gal und Rucker (2017b) weisen darauf hin, dass sich die Auswirkungen je nach Typ der Belohnung ändern können. Bei nicht-monetären Objekten (z. B. Gewinn oder Verlust einer Tasse) ist die positive Auswirkung eines möglichen Gewinns grösser als die negative Auswirkung eines Verlusts.

Neuropsychologie der Entscheidung

Mit dem Aufkommen neuer Technologien zur Messung der neuronalen Aktivität wurde das Gehirn auch während dem Entscheidungsprozess beobachtet. Hirnaktivität zeigte sich dabei vor allem im orbitofrontalen Kortex (wichtig bei kognitiven Prozessen), dem Striatum (koordiniert Motorik, Handlungsplanung und Motivation), dem Präfrontalkortex (verarbeitet Risiken und reguliert emotionale Reaktionen) und dem anterioren cingulären Kortex (zuständig für Lernprozesse und Belohnung). Interessanterweise sind diese Bereiche sowohl bei der Regulation potenzieller Gewinne als auch bei der Verarbeitung potenzieller Verluste involviert (Tom et al., 2007). Was Verluste von Gewinnen unterscheidet, ist die Aktivität in den Gebieten: Bei Verlust nimmt die Aktivität ab, während sie bei Gewinnen zunimmt (Tom et al., 2007).

Vielleicht wird es in der Zukunft einem Modell gelingen, neben den besprochenen Faktoren wie Kontext, Alternativen und Emotionen auch noch weitere Einflüsse bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Bis dahin werden die Menschen weiterhin jeden Tag Entscheidungen treffen, die den Verlauf ihres Lebens verändern werden.



Zum Weiterlesen

Connolly, T., & Zeelenberg, M. (2002). Regret in decision making. Current directions in psychological science, 11(6), 212-216.

Gal, D., & Rucker, D. D. (2018). The loss of loss aversion: Will it loom larger than its gain?. Journal of Consumer Psychology, 28(3), 497-516.

Literatur

Brenner, L., Rottenstreich, Y., & Sood, S. (1999). Comparison, grouping, and preference. Psychological Science, 10(3), 225-229. doi.org/10.1111/1467-9280.00141

Connolly, T., & Zeelenberg, M. (2002). Regret in decision making. Current directions in psychological science, 11(6), 212-216. doi.org/10.1111/1467-8721.00203

Gal, D., & Rucker, D. D. (2017b). The hedonic impact of losses and gains of diverse goods. Working Paper.

Gal, D., & Rucker, D. D. (2018). The loss of loss aversion: Will it loom larger than its gain?. Journal of Consumer Psychology, 28(3), 497-516. doi.org/10.1002/jcpy.1047

Gilovich, T., & Medvec, V.H. (1995). The experience of regret: What, when, and why. Psychological Review, 102(2), 379–395.

Harinck, F., Van Dijk, E., Van Beest, I., & Mersmann, P. (2007). When gains loom larger than losses reversed loss aversion for small amounts of money. Psychological Science, 18(12), 1099–1105. doi.org/10.1111/j.1467-9280.2007.02031.x

Heath, T. B., & Chatterjee, S. (1995). How entrants affect multiple brands: A dual attraction mechanism. Advances in Consumer Research, 18, 768-771.

Huber, J., Payne, J. W., & Puto, C. (1982). Adding asymmetrically dominated alternatives: Violations of regularity and the similarity hypothesis. Journal of consumer research, 9(1), 90-98. doi.org/10.1086/208899

Kahneman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica, 47, 263–291. doi.org/10.1142/9789814417358_0006

Kahneman, D., & Tversky, A. (1982). The psychology of preferences. Scientific American, 246(1), 160–173.

Keeney, R. L. & Raiffa, H. (1976) Decisions with Multiple Objectives: Preferences and Value Tradeoffs. Cambridge University Press.

Lewis, M. (2016). The undoing project: A friendship that changed the world. Penguin UK.

Mukherjee, S., Sahay, A., Pammi, V. C., & Srinivasan, N. (2017). Is loss-aversion magnitude-dependent? Measuring prospective affective judgments regarding gains and losses. Judgment and Decision Making, 12(1), 81–89. doi.org/10.1017/S1930297500005258

Prelec, D., Wernerfelt, B., & Zettelmeyer, F. (1997). The role of inference in context effects: Inferring what you want from what is available. Journal of Consumer research, 24(1), 118-125. doi.org/10.1086/209498

Rabin, M., & Thaler, R. H. (2001). Anomalies: Risk aversion. The Journal of Economic Perspectives, 15(1), 219–232. DOI: 10.1257/jep.15.1.219

Simonson, I., & Tversky, A. (1992). Choice in context: Tradeoff contrast and extremeness aversion. Journal of marketing research, 29(3), 281-295. doi.org/10.1177/002224379202900301

Shafir, E., & LeBoeuf, R. A. (2004). Context and conflict in multiattribute choice. Blackwell handbook of judgment and decision making, 341-359.

Tom, S. M., Fox, C. R., Trepel, C., & Poldrack, R. A. (2007). The neural basis of loss aversion in decision-making under risk. Science, 315(5811), 515-518. DOI: 10.1126/science.1134239

Trueblood, J. S., Brown, S. D., Heathcote, A., & Busemeyer, J. R. (2013). Not just for consumers: Context effects are fundamental to decision making. Psychological science, 24(6), 901-908. doi.org/10.1177/0956797612464241

Tversky, A. & Shafir, E. (1992b) The disjunction effect in choice under uncertainty, Psychological Science, 3(5), 305–9. doi.org/10.1111/j.1467-9280.1992.tb00678.x

Zajonc, R. B. (1980). Feeling and thinking: Preferences need no inferences. American psychologist, 35(2), 151-175. doi.org/10.1037/0003-066X.35.2.151

Terror-Management oder die Angst vor dem Tod

Wie das Unausweichliche menschliches Verhalten formt

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Lorenzo Liem und Isabelle Bartholomä
Illustriert von

Epikur schrieb, dass alles was schlecht und alles was gut ist, Sache der Wahrnehmung sei und das Ende der Wahrnehmung der Tod. Der Tod habe also keine Bedeutung, sei weder gut noch schlecht, denn solange wir da seien, sei der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, so seien wir nicht mehr da. Nun liessen wir uns vielleicht von Epikur überzeugen, den Tod nicht zu fürchten, wenn wir rein rational denkende Wesen wären. Den Konjunktiv verlassend, stellen wir fest, dass die Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit durchaus Angst oder zumindest unangenehme Gefühle hervorrufen kann.

Bond (1994) beschreibt die Angst vor dem Tod oder englisch Death Anxiety als ein Gefühl des Grauens, der Befürchtung oder Besorgnis, wenn man an den Prozess des Sterbens oder an das Aufhören des «Seins» denkt. Dabei unterscheidet Wong (1994) zwischen der Furcht vor dem Sterben und der Angst vor dem Tod. Die Furcht vor dem Sterben ist dabei konkret und dem Bewusstsein zugänglich. Die Angst vor dem Tod hingegen äussert sich allgemeiner und ist eher nicht bewusstseinszugänglich.  

Die Angst vor dem Tod und ihre Korrelate

Breit ausgelegte Angst vor dem Tod kann per Selbstmessung erhoben werden. Die Death Anxiety Scale (Templer, 1970)besteht aus 15 Items, die man mit Ja oder Nein beantwortet. Die Items lauten beispielsweise: Das Thema Leben nach dem Tod beunruhigt mich sehr. Ich habe das Gefühl, dass ich die Zukunft nicht zu fürchten brauche (rückwärts codiert). Und: Ich habe grosse Angst vor dem Tod.

Unter psychisch nicht beeinträchtigten Menschen fanden Lonetto und Templer (1986) einen Durchschnittswert von 6.89 von maximalen 15 Punkten. Frauen haben dabei im Durchschnitt signifikant höhere Werte als Männer. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze, wovon aber bis anhin keiner als Standarderklärung angewendet wird. Wird Angst vor dem Tod mit anderen Skalen erhoben, findet man keine Korrelation zwischen Geschlecht und Angst vor dem Tod (Depaola et al, 2003). Das heisst, dass die breite Auslegung von Angst vor dem Tod, die bei der Death Anxiety Scale gemessen wird, zu unspezifisch ist und Subskalen Unterschiede erklären könnten. Eine weitere Erklärung liefert Wong (2012), der an einer chinesischen High School Geschlechterunterschiede bei der Angst vor dem Tod fand. Laut ihm könnten die Unterschiede im in China gesellschaftlich populären Glauben an Spirituelles liegen, der unter der weiblichen Bevölkerung stärker verbreitet sei. Aberglaube korreliert dabei mit der Angst vor dem Tod. Woher die Geschlechtsunterschiede im Aberglaube stammen, beschriebt Wong (2012) jedoch nicht. In der arabischen Welt fanden sich bis anhin die grössten Geschlechterunterschiede (z.B. Abdel-Khalek, 1991). Templer (1991) kommentierte dazu, dass es in Gesellschaften, in denen sich männliche und weibliche Geschlechterrollen stark voneinander unterscheiden, typisch männlich angesehene Attribute, wie Mut und Unerschrockenheit die Scores auf der Death Anxiety Scale beeinflussen könnten.

In vielen Religionen der Welt ist das Leben nach dem Tod ein zentrales Thema. Ob die Folge des Versterbens nun Himmel, Hölle oder Wiedergeburt ist, was alle gemeinsam haben, ist dass der Tod zwar ein Ende aber auch einen Anfang darstellt. Es liegt daher nahe, dass Personen, die überzeugte Anhänger einer Religion sind, weniger Angst vor dem Tod haben. In einem Review von Jong (2021) wurden 202 Korrelationen zwischen Angst vor dem Tod und Religiosität ausgewertet. Rund die Hälfte fanden keinen signifikanten Zusammenhang, 60 einen negativen Zusammenhang und 36 einen positiven Zusammenhang. Alles in allem wurde ein schwacher negativer Zusammenhang von r = -.06 festgestellt. Einige Studien lassen vermuten, dass ein kurvilinearer Zusammenhang zwischen Religiosität und Angst vor dem Tod besteht. Das heisst, dass Menschen, die sehr religiös sind, sowie Menschen, die leicht religiös sind, weniger Angst vor dem Tod haben als Menschen, die in der Mitte dieses Spektrums befinden.

Bezüglich Lebensalter könnte man erwarten, dass die Angst vor dem Tod mit zunehmendem Alter grösser wird, da das Lebensende unweigerlich näher rückt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Junge Menschen erreichen durchschnittlich höhere Werte im Vergleich zu Älteren. Die tiefsten Werte erreichen Menschen über 60. Hier ist anzumerken, dass der Sterbeprozess für ältere Menschen wichtiger ist. Sie fürchten sich eher vor einem Sterben, das mit Qualen und Schmerzen verbunden ist, sie daran hindert den Alltag zu bestreiten oder das zu einem Kontrollverlust über den Körper führt (Depaola et al., 2003).

Woher kommt die Angst vor dem Tod?

Die Terror-Management-Theorie (Greenberg et al., 1986) geht davon aus, dass der Mensch sich von anderen Tieren darin unterscheidet, dass er zu abstraktem und logischem Denken fähig ist. Der Mensch profitiert von seiner Intelligenz, da sie ihn sehr anpassungsfähig macht. Allerdings kommt mit solch einer hohen Intelligenz auch die Erkenntnis, dass man eines Tages sterben wird und dass der Tod zu jedem Zeitpunkt aus unzähligen unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Gründen eintreten kann (Pyszczynski et al., 2015). Die Terror-Management-Theorie nimmt an, dass dieses Bewusstsein eines möglichen Todes, welches eigentlich dem Verhindern eines frühzeitigen Todes dient, das Potenzial für eine Urangst trägt. Diese Urangst wird in der Theorie als Terror bezeichnet. In diesem Kontext ist unter Urangst eine angeborene und nicht im Laufe der Jahre erlernte Angst zu verstehen. Würde sich der Mensch gegenüber dieser Gefahr gleich verhalten, wie gegenüber anderen Bedrohungen, so wäre er nicht in der Lage zu leben. Der Mensch nutzt die gleichen Fähigkeiten wie zur Erkenntnis des potenziellen Todes, um den Terror zu managen. Die Terror-Management-Theorie erklärt nicht nur, wo die Angst vor dem Tod herkommt, sondern auch menschliches Verhalten im Auge von Bedrohung ihrer Kultur, ihres Selbstwertgefühls oder ihrer Weltsicht (Pyszczynski et al., 2015). Des Weiteren gibt sie einen Ansatz, warum Menschen sich am liebsten in Kreisen aufhalten, in denen ihre Peers ihnen ähnlich sind.

«TMT [Terror Management Theory – Anm. d. Verf.] posits that awareness of death in an animal designed by natural selection to avoid premature termination creates the potential for intense primal fear, which we refer to as terror to underscore its potency and connection to death.»

Pyszczynski et al., 2015, S. 7

Terror-Management

Menschen erfinden, absorbieren und binden sich an kulturelle Weltvorstellungen. Darunter fallen Theorien über die Realität, die dem Leben Bedeutung, Sinn und Wichtigkeit sowie ein Wertesystem verleihen. Des Weiteren schenken sich Menschen mit gleichen Weltvorstellungen gegenseitig Hoffnung auf unendliches Leben, sei das durch Vorstellungen vom Leben nach dem Tod oder durch das Versprechen, dass die Hinterlassenschaften einer Person in der Welt weiter bestehen bleiben. Diese Hoffnung brauchen Menschen, um ein Selbstwertgefühl verspüren zu können. In einem System, in dem man nie validiert wird und niemand das eigene Wertesystem teilt, ist es schwierig, Angst effizient zu puffern (Pyszczynski et al., 2015).

Für die Terror-Management-Theorie spricht, dass Menschen mit hohem Selbstwertgefühl allgemein weniger Angst verspüren. Spezifischer sollte also induziertes hohes Selbstwertgefühl auch zu weniger Angst vor auf den Tod bezogenen Gedanken führen (Pyszczynski et al., 2015). In einer Studie von Greenberg und Kollegen (1992) berichteten Probanden, die zuvor ein positives Feedback zu einem Persönlichkeitstest erhalten hatten, weniger Angst beim Anschauen eines todbezogenen Videos als Probanden, welche ein neutrales Feedback erhielten.

Stimmt die Terror-Management-Theorie, so müsste eine Konfrontation mit todbezogenen Inhalten zu einem erhöhten Verlangen nach Schutz der eigenen Weltsicht und des Selbstwertgefühls führen. Demnach müsste nach einer Salientmachung der eigenen Sterblichkeit alles was den eigenen Ansichten entspricht zu stärkeren positiven Reaktionen führen bzw. alles was den eigenen Ansichten widerspricht zu einer negativeren Reaktion führen. Eine Metaanalyse von Burke und Kollegen (2010) zeigte dabei, dass dieser Effekt mit r2 = 0.35 zu einem der stärksten Effekte in der Sozialpsychologie gehört. Zur Veranschaulichung führt eine Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit zu grösserer Zustimmung für gewaltsame Lösungen in moralischen, religiösen und internationalen Konflikten (Pyszczynski et al., 2006).

Die Terror Management Theorie kann auf deutlich mehr Phänomene angewendet werden, wie beispielsweise die Fragen wo Religion herkommt, warum Kriege geführt werden, weshalb Populismus funktioniert, wo Kulturunterschiede herkommen und zu guter Letzt, warum Epikur und sein rationales Denken doch seine Fehler hat.  


Zum Weiterlesen

Pyszczynski, T., Solomon, S., & Greenberg, J. (2015). Thirty Years of Terror Management Theory. Advances in Experimental Social Psychology, 1–70. https://doi.org/10.1016/bs.aesp.2015.03.001

Literatur

Abdel-Khalek, A. M. (1991). Death Anxiety among Lebanese Samples. Psychological Reports, 68(3), 924–926E. https://doi.org/10.2466/pr0.1991.68.3.924

Bond, C. W. (1994). Religiosity, age, gender, and death anxiety (Doctoral dissertation, Indiana State University).

Burke, B. L., Martens, A., & Faucher, E. H. (2010). Two Decades of Terror Management Theory: A Meta-Analysis of Mortality Salience Research. Personality and Social Psychology Review, 14(2), 155–195. https://doi.org/10.1177/1088868309352321

Depaola, S. J., Griffin, M., Young, J. R., & Neimeyer, R. A. (2003). Death anxiety and attitudes toward the elderly among older adults: The role of gender and ethnicity. Death Studies, 27(4), 335–354. https://doi.org/10.1080/07481180302904

Greenberg, J., Pyszczynski, T., & Solomon, S. (1986). The causes and consequences of a need for self-esteem: A terror management theory. In R. F. Baumeister (Ed.), Public self and private self (pp. 189–212). New York: Springer.

Greenberg, J., Simon, L., Pyszczynski, T., Solomon, S., & Chatel, D. (1992). Terror management and tolerance: Does mortality salience always intensify negative reactions to others who threaten one’s worldview? Journal of Personality and Social Psychology, 63(2), 212–220. https://doi.org/10.1037/0022-3514.63.2.212

Jong, J. (2021). Death anxiety and religion. Current Opinion in Psychology, 40, 40–44. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2020.08.004

Lonetto, R., & Templer, D. I. (1986). Death Anxiety. Van Haren Publishing.

Pyszczynski, T., Abdollahi, A., Solomon, S., Greenberg, J., Cohen, F., & Weise, D. (2006). Mortality Salience, Martyrdom, and Military Might: The Great Satan Versus the Axis of Evil. Personality and Social Psychology Bulletin, 32(4), 525–537. https://doi.org/10.1177/0146167205282157

Pyszczynski, T., Solomon, S., & Greenberg, J. (2015). Thirty Years of Terror Management Theory. Advances in Experimental Social Psychology, 1–70. https://doi.org/10.1016/bs.aesp.2015.03.001

Templer, D. I. (1970). The Construction and Validation of a Death Anxiety Scale. The Journal of General Psychology, 82(2), 165–177. https://doi.org/10.1080/00221309.1970.9920634

Templer, D. I. (1991). Comment on Large Gender Difference on Death Anxiety in Arab Countries. Psychological Reports, 69(3_suppl), 1186. https://doi.org/10.2466/pr0.1991.69.3f.1186

Wong, P. T., Reker, G. T., & Gesser, G. (1994). Death Attitude Profile-Revised: A multidimensional measure of attitudes toward death. Death anxiety handbook: Research, instrumentation, and application, 121-148.

  Wong, S. H. (2012). Does Superstition Help? A Study of the Role of Superstitions and Death Beliefs on Death Anxiety Amongst Chinese Undergraduates in Hong Kong. OMEGA – Journal of Death and Dying, 65(1), 55–70. https://doi.org/10.2190/OM.65.1.d

Stress durch Diskriminierung

Wie sich Diskriminierungserfahrungen auf die psychische Gesundheit auswirken –mit Fokus auf die Schweizer LGBTQ+ Community

Erst letzten September hat die schweizerische Bevölkerung darüber abgestimmt, dass homosexuelle Paare heiraten dürfen. Diese im Vergleich zu Nachbarländern späte Entscheidung wirft Fragen auf. Welchem psychischen Druck war und ist die LGBTQ+ Community bis heute in unserer Gesellschaft ausgesetzt? Macht andauernde Diskriminierung krank?

Von Berit Barthelmes
Lektoriert von Michelle Regli und Marina Reist
Illustriert von Shaumya Sankar 

Das Schweizer Parlament hat am 18. Dezember 2020 mit grosser Mehrheit entschieden, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. Diese Gesetzesänderung – die Ehe für alle – war ein wichtiger und längst überfälliger Schritt in Richtung Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit heterosexuellen Paaren in der Schweiz. Am 26. September 2021 haben auch die Stimmbürger*innen mit einem deutlichen JA die Ehe für alle angenommen. Zudem wird Frauenpaaren der Zugang zur professionellen Samenspende in der Schweiz ermöglicht, wobei beide Mütter ab Geburt als rechtliche Eltern anerkannt werden.

Partnerschaft und Ehe

Um einen Blick auf Möglichkeiten der Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren zu werfen, ist es wichtig, sich der Neuerungen durch das oben genannte Gesetz bewusst zu sein. Die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Partnerschaft und der nun auch für gleichgeschlechtlichen Paare möglichen Ehe beziehen sich auf fünf (rechtliche) Aspekte: Vermögensrecht, Einbürgerung, Adoption, Zugang zur Samenspende und Hinterlassenenrente. Ab dem 01. Juli 2022 ist es möglich, mit Hilfe einer «einfachen Erklärung» auf dem Standesamt die Umwandlung von Partnerschaft zu Ehe zu beantragen. Wie dieses Verfahren genau abläuft, unterscheidet sich kantonal (Bundesamt für Justiz, 2022).

Freuen wir uns über die Neuigkeiten zum positiven Entscheid der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, lesen wir zugleich auch von dem Hass, der Gewalt und der Diskriminierung gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans und Queere Personen (LGBTQ). Diese Formen des Umgangs nehmen in der Schweiz zu: Die LGBT-Helpline verzeichnete im vergangenen Jahr 92 Meldungen zu so genannten «Hate Crimes» (LGBT-Helpline Schweiz, 2022). Das sind 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Insbesondere die Zahl an transfeindlichen Übergriffen sei gegenüber den Vorjahren stark gestiegen.

Die LGBT-Helpline Schweiz

Die LGBT+ Helpline (https://www.lgbt-helpline.ch) existiert seit 2016 und nimmt Meldungen zu LGBTQ-feindlichen «Hate Crimes» entgegen. Die Meldestelle hat das Ziel, die Situation in der Schweiz sicht- und messbar zu machen, da es fast keine offiziellen Erhebungen gibt. Einzig in der Stadt Zürich und im Kanton Freiburg werden seit 2021 Übergriffe regional erfasst.

45 Prozent der Betroffenen gaben bei der LGBT-Helpline an, dass sie aufgrund ihres Geschlechtsausdrucks diskriminiert worden seien. Zudem meldeten sich viele junge Menschen – auffällig sei die Häufung von Meldungen von Personen unter 22 Jahren. Mehr als die Hälfte erklärte, psychisch unter dem Vorfall zu leiden. Zwar fanden die meisten Übergriffe in der Öffentlichkeit statt, dennoch schaute die Zivilgesellschaft meistens weg und nur die wenigsten der gemeldeten «Hate Crimes» wurden angezeigt oder der Polizei gemeldet, wie es weiter heisst.

Hilfreiche Definitionen

«Hate speeches», zu Deutsch «Hassreden» beziehen sich auf die Aufstachelung und Ermutigung zu Hass, Diskriminierung oder Feindseligkeit gegenüber einer Person, die durch Vorurteile gegenüber dieser Person aufgrund eines bestimmten Merkmals, z. B. ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität, motiviert sind.

«Hate Crimes», zu Deutsch «Hassverbrechen» beziehen sich auf einen physischen oder verbalen Angriff auf eine Person, der durch Vorurteile gegenüber dieser Person aufgrund eines bestimmten Merkmals, z. B. ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität, motiviert ist.

«Homophobie» ist die irrationale Angst vor einer Person, weil diese lesbisch, schwul oder bisexuell ist.

«Transphobie» ist die irrationale Furcht vor einer Person, weil sie ein anderes als das ihr bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zum Ausdruck bringt, z. B. durch Hormonbehandlung, Operationen, Kleidung oder Kosmetika.

«Ja, und für mich ist auch noch mal der Punkt, dass die Umwelt so wenig darüber weiß, also dass eben, das ist ja jetzt wirklich ein relativ junges Phänomen noch, dass es öffentlich überhaupt die ersten Informationen gibt, ja, dass einfach diese Tabuisierung noch unglaublich hoch ist, wenig Wissenslage, wenig Infrastruktur, wenig Unterstützungsmodelle, viel im Selbsthilfebereich.»

Zitat aus dem Abschlussbericht zu Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland. Deutsches Jugendinstitut, 2013, Seite 47

In diesem Zitat beschreibt ein trans/transidenter Jugendlicher oder junger Erwachsener im «Abschlussbericht zu Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland» des Deutschen Jugendinstituts (2013) die Situation und Erfahrung mit der Reaktion der Aussenwelt. Zu der eigenen Unsicherheit, der Selbstfindung und Verbalisierung der eigenen Vorstellungen von Körperlichkeit, Geschlecht und sexuellen Interessen kommt eine unausgeglichene Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft zu Tage. Das Individuum scheint die Konsequenzen (bspw. Hass oder Diskriminierung) für die relative Untätigkeit oder Behäbigkeit der Gesellschaft zu tragen. Eine unsichere Gesellschaft fängt diesen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen nicht auf, der Jugendliche oder junge Erwachsene tritt in die Leere einer Gesellschaft, die noch nicht «so weit» ist und verweist auf den Bereich der Selbsthilfe.

Absichtlich wurde hier ein Zitat gewählt, das bald 10 Jahre alt ist. Bis heute sind Stigmatisierung und Unwissen in der Gesellschaft gross, jedoch gibt es bei weitem mehr Stellen, an die sich gewandt werden kann. Hier seien nur «Du-bist-du», «InterAction Suisse» oder der «Dachverband Regenbogenfamilien» in der Schweiz genannt.

Krank durch Ausgrenzung

Es lässt sich in Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Personen aus der LGBTQ+ Community festhalten, dass Forschung zu psychischer Gesundheit, zu Folgen von Ausgrenzung und offen gezeigtem Hass weiter intensiv betrieben werden. Die Forschung mit Proband*innen aus der LGBTQ+ Community betrifft zahlreiche Bereiche des täglichen Lebens, wie den Arbeitsplatz (Ozeren und Aydin, 2016), konservativere Kulturen (Foong et al., 2020), öffentliche Räume (Robinson, 2016) und den Gesundheitsbereich (Smith et al., 2021). Bezogen auf die Schweiz finden sich unter anderem Artikel zur Situation von Asylsuchenden und dem Fehlen von LGBTQ+-spezifischen Fluchtgründen im Gesetz (Garcia, 2014) und zur Diversität und Inklusion in Schweizer Grossunternehmen (Bucher & Gurtner, 2017).

Diskriminierung auf Basis von Ethnie, sexueller Orientierung oder der Geschlechtsidentität wurde in bisheriger Forschung mit zahlreichen negativen psychologischen und physischen Gesundheitsfolgen in Verbindung gebracht. Dazu zählen vermehrte Selbstmordgedanken (Sutter, 2016). Lesbische, schwule, bisexuelle und trans Menschen zeigen gegenüber heterosexuellen Vergleichsgruppen ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten (Bundesamt für Gesundheit et al., 2016, S. 15). So beschreiben Wang und Kollegen (2012) bei homo- und bisexuellen Jugendlichen in der Schweiz eine fünf Mal höhere Suizidversuchsrate als bei heterosexuellen Teenagern. Das erhöhte Risiko für suizidales Verhalten komme indirekt durch verschiedene Faktoren (z. B. Schikanen oder Bullying, fehlende Akzeptanz durch die Familie oder geringe Selbstakzeptanz), nicht aufgrund der sexuellen Orientierung selbst zu Stande. Als protektive Faktoren werden in der Literatur vor allem ein unterstützendes Schulklima und akzeptierende und unterstützende Familien genannt (Bryan & Mayock, 2017). Diese protektiven Faktoren dienen als Ausgangspunkt für die Entwicklung von entsprechenden Präventionsmassnahmen (O’Brien et al., 2016).

Die gesundheitlichen Ungleichheiten und Unterschiede von sexuellen Minderheiten, insbesondere im Bereich der psychischen Gesundheit, sind zumindest für westliche Staaten wie die USA intensiv dokumentiert (Bostwick, 2014). Zahlreiche Studien zeigen, dass die Prävalenz von Depressionen und Angststörungen bei Lesben, Schwulen und Bisexuellen im Vergleich zu Heterosexuellen erhöht ist (Darren, 2014; Smart, 2020; Fletcher, 2022). Einige Autor*innen vermuten, dass diese Unterschiede auf den Stress zurückzuführen sind, den Vorurteile und wahrgenommene Diskriminierung verursachen können (Ong et al., 2009; Berger & Sarnyai, 2015; Goosby et al., 2018).

Sichtbarkeit und Coping

Die vorhandenen Ergebnisse deuten darauf hin, dass verschiedene Arten von Diskriminierung in unterschiedlichem Masse mit Störungen der psychischen Gesundheit verbunden sein können. Zugleich zeigten Berjot und Gillet bereits 2011 eindrücklich, wie vorhandene psychologische Modelle, wie das der Transaktionalen Stresstheorie von Lazarus und Folkman (1984) genutzt werden können, um Zusammenhänge zwischen Diskriminierungserfahrungen und Stress herzustellen, aber auch mögliche um Copingstrategien zu entwickeln.

Unter anderem Drake (2013) attestiert unserer Gesellschaft, grundsätzlich offener für Vielfalt zu sein als noch vor einigen Jahren. Dies könnte zu einem geringeren Druck, weniger Hass und Diskriminierung gegenüber der LGBTQ+ Community führen. In der Schweiz zeigte sich auf dem diesjährigen Zürich Pride Festival, das bereits seit 1994 (damals und bis 2009 noch als CSD Zürich) durchgeführt wurde, ein weiteres Mal, wie wichtig gelebte Inklusion und Vielfalt für die Schweizer Bevölkerung zu sein scheint. Allein dieses Jahr wurde das Festival von über 40.000 Menschen besucht und bunt gefeiert. Je sichtbarer, desto besser – trotzdem muss weiter an der Sicherheitslage und dem Schutz vor Diskriminierungen gearbeitet werden.


Zum Weiterlesen

http://www.humanrights.ch

http://www.pinkcross.ch

Bostwick, W. B., Boyd, C. J., Hughes, T. L., West, B. T., & McCabe, S. E. (2014). Discrimination and mental health among lesbian, gay, and bisexual adults in the United States. Am J Orthopsychiatry, 84(1), 35-45. https://doi.org/10.1037/h0098851

Literatur

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Virtual reality therapy

Was bietet die Verwendung von Virtual Reality der Psychotherapie?

In den letzten Jahren hat Virtual Reality als Unterhaltungsmedium Fuss gefasst; Nutzer*innen geniessen es, sich in einer computergenerierten Wirklichkeit mit Bild und Ton auszutoben. Diese Technologie bietet nun auch der Psychologie, spezifisch der Psychotherapie, diverse neue Möglichkeiten.

Von Lena Kohler
Lektoriert von Marina Reist und Andrea Frei
Illustriert von Nathalie Vital

Transportiert in eine alternative Realität – durch das Benutzen eines VR-Headsets, auch Head-Mounted-Display (HMD) genannt oder anderen VR-Systemen, erlaubt Virtual Reality (VR) das Eintauchen in eine dreidimensionale, computergenerierte Welt, welche der echten Welt ähnlich oder weitaus verschieden sein kann (Machulska et al., 2021; Poetker, 2019). Oft wird durch VR nicht nur das passive Betrachten einer anderen Welt, sondern auch eine aktive Partizipation und Interaktion damit ermöglicht (Rueda & Lara, 2020; Poetker, 2019). Dabei betonen visuelle und auditorische Reize von dem HMD sowie additive taktile Gadgets, welche die virtuelle Manipulation von Objekten und das Aktivieren des Berührungssinnes ermöglichen, das Präsenzerleben des*der Nutzers*in (Machulska et al., 2021). Bei dem Präsenzerleben handelt es sich hierbei um den subjektiven Eindruck, sich tatsächlich in der alternativen Realität zu befinden, welcher in vielen Fällen dadurch beeinflusst wird, wie immersiv das digitale Erlebnis ist (Rueda & Lara, 2020).

«VR ermöglicht es (…), die virtuelle Umgebung als real und unvermittelt wahrzunehmen, trotz des Wissens, dass es sich um eine computergenerierte Welt handelt.»

Machulska et al., 2021, S. 170

Für die Psychotherapie ermöglicht dies das Erleben von individuellen, therapierelevanten Ereignissen in einem virtuellen Raum, wobei der*die Patient*in sich mit multimodalen Reizen auseinandersetzen kann, ohne von diesen Reizen im realen Leben tatsächlich konfrontiert zu werden (Machulska et al., 2021). Virtual Reality ist dadurch also für die Therapie diverser Störungsbilder vielversprechend; dieser Artikel beschränkt sich jedoch auf deren Funktionen und Vorteile für Angststörungen und Empathie-Fähigkeiten.

In virtuo Exposition

Mit einer Prävalenzrate von 18.1 Prozent bei Erwachsenen gelten Angststörungen als eine der meistauftretenden psychischen Störungen (Boeldt et al., 2019). Als Behandlung dafür wird in der Psychotherapie aufgrund fundierter, hoher Behandlungseffekte oft die Expositionstherapie gewählt (Machulska et al., 2021). Die Expositionstherapie stützt sich auf die Emotional Processing Theorie, wonach an Angst geknüpfte Erinnerungen als Informationsstrukturen bezüglich Bedeutungen und Stimuli verstanden werden (Maples-Keller et al., 2017). In der Exposition sollen diese Informationsstrukturen durch das Erfahren inkompatibler Information und einer neuen, funktionaleren Beurteilung des Angstreizes verändert werden; ein Prozess, welcher in Virtual Reality durch das Präsenzerleben und die freie Gestaltung der virtuellen Umgebung gut umgesetzt werden kann (Boeldt et al., 2019). Wie in der in vivo Expositionstherapie lernt der*die Patient*in in der Virtual Reality Expositionstherapie(VRE/VRET) zuerst Techniken wie Muskelrelaxation als Coping-Strategien, und arbeitet sich danach im eigenen Tempo durch eine virtuelle Expositionshierarchie (Maples-Keller et al., 2017). Obwohl sich der Grossteil der VRE/VRET-Studien mit spezifischen Flug-, und Tierphobien auseinandersetzt, konnte auch für posttraumatische Belastungsstörungen und soziale Phobien Evidenz für eine effektive Behandlung gefunden werden (Machulska et al., 2021; Tull, 2020). Dabei belegt eine Vielzahl von Metaanalysen, dass VRE/VRET gleiche oder leicht stärkere Behandlungseffekte aufweisen als gängige in vivo Expositionstherapien, und deutet zudem an, dass diese Therapieform von Patient*innen eher akzeptiert wird, da sie als sicherer empfunden wird (Machulska et al., 2021; Maples-Keller et al., 2017). Neben dem Vorteil einer höheren Akzeptanz der Patient*innen und somit einer Verringerung des Treatment Gaps kann VRE/VRET potenziell als kostenfreundlichere Alternative zu traditionellen intensiven Angststörungstherapien fungieren und die Arbeitslast von Therapeut*innen vermindern, währenddessen der gleiche Erfolg wie bei in vivo Therapien versprochen werden kann (Boeldt et al., 2019).

Virtuelle Empathie

Eine weitere Stärke der VR-Therapie sind deren Möglichkeiten, die Empathie von Individuen zu erhöhen. Trotz den Implikationen von Empathie auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wird das Konstrukt oft verschieden und ungenau definiert, kann aber generell in eine affektive Komponente, das Mitfühlen mit anderen Individuen, und eine kognitive Komponente, die Übernahme und das Verstehen anderer Perspektiven, unterteilt werden (Roth et al., 2016). Da das Erhöhen dieser prosozialen Fähigkeiten als allgemeine Förderung der Moralität von Individuen betrachtet wird, liegt es im Fokus der Forschung zu Moral Enhancement (Rueda & Lara, 2020). Moral Enhancement beschreibt jegliche Prozesse zur Förderung von Moralität durch Biotechnologie und beinhaltet somit auch VR-Technologien (Rueda & Lara, 2020). Wie bei der VRE/VRET geht das Virtual Reality Embodied Perspective-Taking (VREPT) davon aus, dass sich eine Verbesserung der betroffenen Fähigkeiten in einer virtuellen Umgebung mit hohem Präsenzerleben automatisch auf reale Situationen überträgt, da die Nutzer*innen alte Verhaltensmuster durch neu angeeignetes Wissen modifizieren und überschreiben (Nascivera et al., 2018; Rueda & Lara, 2020). Diese Annahme wurde durch mehrere Studien gestützt: Studien bezüglich des Mitgefühls für und der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme von Demenz- und Schizophrenie-Patient*innen weisen signifikant erhöhte Empathiewerte nach VR-Situationen auf (Ventura et al., 2020). Des Weiteren zeigt eine Studie zu Krankenpfleger*innen, dass deren Empathie gegenüber Patient*innen mit Behinderungen sowie kulturell und linguistisch diverser Patient*innen durch VREPT signifikant ansteigt (Nascivera et al., 2018). Auch bei Psychologiestudent*innen wurden nach einer virtuellen Simulation signifikant erhöhte Empathiewerte gegenüber Patient*innen mit psychotischen Symptomen gefunden, wodurch sich VREPT als vielversprechend für die Ausbildung von Psycholog*innen erweisen könnte (Nascivera et al., 2018).

In einem Experiment bezüglich virtuellem Achterbahnfahren konnte ein verteiltes Netzwerk identifiziert werden, welches in das Präsenzerleben von VR-Nutzer*innen einfliesst (Jäncke, 2009). Dieses Netzwerk beinhaltet den Prämotorcortex, den superioren und den inferioren Parietalcortex, Teile des ventralen, visuellen Strangs, den dorsalen visuellen Strang, extrastriate Areale sowie Strukturen im basalen und mesiotemporalen Teil des Gehirns (Jäncke, 2009). Als erhöhte Kontrollinstanz ist der dorsolaterale Präfrontalcortex (DLPFC) tätig: mit einem erhöhten Präsenzerleben ist Hirnaktivität in dem beidseitigen DLPFC negativ korreliert (Jäncke, 2009). Daraus kann geschlossen werden, dass der DLPFC die Hirnaktivität im dorsalen, visuellen Strang herunterfährt, wodurch die virtuelle Realität der tatsächlichen Umgebung als weit entfernt angesehen wird, das Präsenzerleben dementsprechend klein ist und so keine Handlungen für die virtuelle Umgebung geplant werden (Jäncke, 2009).

Psychotherapie und Forschung profitieren

Wie bei anderen Therapieformen trägt die Motivation des*der Patient*in wesentlich zum Therapieerfolg bei (Machulska et al., 2021). Obwohl dies nur teilweise von dem*der Therapeuten*in beeinflusst werden kann, bietet die VR-Therapie vergleichsweise ein hohes Mass an Kontrolle sowie ökologischer Validität – die Möglichkeit, die Forschungsergebnisse zu generalisieren – wovon vor allem die Wirksamkeits- und Prozessforschung profitieren, aber auch die neuropsychologische Forschung generell (Bohil et al., 2011; Machulska et al., 2021). Ein weiterer Vorteil der VR-Therapie findet sich in der bereits angesprochenen Möglichkeit, die alternative Realität individuell zu gestalten und fortlaufend verändern zu können, wodurch eine hohe Anzahl von Anwendungsbereichen ermöglicht wird (Machulska et al., 2021). Auch andere Faktoren bieten der VR-Therapie Vorteile, so konnten durch das Erfassen der Hirnaktivität in der Simulation natürlicher Situationen unter anderem neue Befunde bezüglich der an sozialer Interaktion und räumlicher Kognition beteiligten Hirngebiete gewonnen werden (Bohil et al., 2011).

Trotz den vielversprechenden Befunden der VR-Therapie ist es wichtig anzumerken, dass sie relativ zu anderen Therapieformen noch in den Kinderschuhen steckt: ein Grossteil der Studien sind durch fehlende Kontrollgruppen und kleiner Stichproben nur begrenzt aussagekräftig zur Wirksamkeit der VR-Therapie (Machulska et al., 2021).


Zum Weiterlesen

Fleming, L. (2022). Virtual reality therapy is here—For some people, it’s a better option. Very well mind. https://www.verywellmind.com/virtual-reality-therapy-may-be-a-viable-option-5215913

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Literatur

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Tull, Matthew. (2020). Virtual Reality Exposure Therapy Can Help PTSD. Very well mind. https://www.verywellmind.com/virtual-reality-exposure-therapy-vret-2797340

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Projekt Gehirn

Gehirnentwicklung bei Teenagern – oder was sie so besonders macht

«Was gibt’s Neues?» Wohl jeder Teenager hört diese Frage täglich. Die Antwort kommt trotzig und kurz angebunden: «Nichts». Die Atmosphäre beim Abendessen? Zerstört. Launische und impulsive Reaktionen sind Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens – doch was passiert während der Pubertät im Gehirn eigentlich genau?

Von Stéphanie Loeffel
Lektoriert von Norzin Bhusetshang und Noomi Heilmann
Illustriert von Stéphanie Loeffel und Yannick Albrecht

Die Adoleszenz ist eine Zeit enormer Veränderungen, voller Risiken und Chancen, neuer Eindrücke und Erfahrungen. Während die Pubertät für die primär biologische Entwicklung steht, die weitgehend genetisch determiniert ist und mit der Erreichung der Geschlechtsreife abgeschlossen ist, ist die Adoleszenz mit Erlangen der Geschlechtsreife noch nicht beendet (Lohaus, 2018). Zu der Adoleszenz gehören neben körperlichen Veränderungen auch die Identitätsfindung, eine Integration in Gesellschaft und Kultur und eine allgemeine psychosoziale Entwicklung. Mit einer abgeschlossenen Hirnreifung gilt die Adoleszenz als beendet. Interessanterweise ist dies nur beim Menschen der Fall; bei anderen Spezies ist die Hirnentwicklung bereits gleichzeitig zum Erlangen der sexuellen Reife abgeschlossen, also in der Entwicklung deutlich früher als beim Menschen (Lohaus, 2018). Dieser Umstand verdeutlicht die Bedeutung der Gehirnentwicklung beim Menschen und deutet darauf hin, dass sich ein Jugendlicher bis zum Ende der Adoleszenz einigen Veränderungen stellen muss, wobei die Umstrukturierung des Gehirns mit verschiedensten Verhaltensweisen einhergeht, die auch für das Individuum selbst sehr verwirrend sein können. Denn mit dieser Entwicklung ist es dem Menschen möglich, sich von seinen Wurzeln zu lösen und die Welt selbst zu erkunden.

Körperliche Veränderungen

Um die Entwicklung im Gehirn besser zu verstehen, müssen zuerst die zahlreichen Veränderungen im Körper während der Pubertät betrachtet werden. Von zentraler Bedeutung ist hier das Hypothalamus-Hypophysen-System, ein Zusammenspiel im zentralen Nervensystem, das mehrere Kaskaden von Hormonen auslösen kann (Pinel, Barnes & Pauli, 2019). Der Hypothalamus liegt im Zwischenhirn und steuert zusammen mit der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, die Sekretion verschiedener Hormone. Durch die Sekretion von sogenannten Gonadotropin-Releasing Hormones (GnRH) des Hypothalamus zu Beginn der Pubertät wird die Hypophyse dazu angeregt, Gonadotropine, also Sexualhormone, auszuschütten. Somit werden ab einem Alter von etwa zwölf bis dreizehn Jahren vermehrt Testosteron, Östrogen und Gestagen ausgeschüttet, die bei den Jugendlichen geschlechtstypische körperliche und auch psychische Veränderungen auslösen (Schneider, Jacobi & Thyen, 2020). Eine bekannte Entwicklung bei Jugendlichen ist auch die Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus. Eine im Tagesablauf verspätete Ausschüttung des Hormons Melatonin, das den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, führt dazu, dass Jugendliche später müde werden und somit auch verspätet einschlafen (Lohaus, 2018). Die Konsequenz: Morgenmüdigkeit – und ein Grund, warum Teenager am Morgen gereizt sein können. Mit diesen Veränderungen sind nur einige Komponenten kurz umschrieben. Aber während der Adoleszenz ändert sich alles, das gesamte Selbstkonzept wird über den Haufen geworfen und neu arrangiert. Diejenigen, die noch nicht allzu weit davon entfernt sind, wissen wahrscheinlich noch ungefähr, wie es sich angefühlt hat – nach Chaos. 

«Die Entwicklung des Gehirns erinnert während der Pubertät an eine Großbaustelle.»

Markus C. Schulte von Drach, 2018

Strukturelle Veränderungen im jugendlichen Gehirn  

Nicht unabhängig von hormonellen Veränderungen geschehen während der Adoleszenz auch neuroanatomische Umstrukturierungen. Grob können die neuronalen Prozesse in dieser Zeit in zwei Klassen aufgeteilt werden: die Entwicklung der grauen und der weissen Substanz.

Im Gehirn eines Jugendlichen findet sich ein Anstieg des Volumens der weissen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz (Mills et al., 2016). Der grundlegende Prozess dahinter besteht in der sogenannten Myelinisierung der Axone von Neuronen. Neurone sind Nervenzellen, die untereinander über Synapsen kommunizieren. Dabei wird die Infor-mation über das Axon an das nächste Neuron weitergeleitet. Diese Axone werden nun bereits ab der Geburt, im Laufe der Kindheit und bis zum Ende der Adoleszenz von einer Fettschicht ummantelt, wodurch sie isoliert werden und die Informationsweiterleitung stark beschleunigt wird. Diese Fettschicht, das Myelin, lässt sich unter der sogenannten weissen Substanz zusammenfassen. Der Prozess der Myelinisierung findet aber während unterschiedlichen Zeitpunkten statt, je nachdem welche Region des Gehirns betrachtet wird. Sie beginnt im Innersten des Gehirns, im Hirnstamm, und wandert dann immer weiter Richtung Cortex, von innen nach aussen (Siegler et al., 2016). Als letztes reift also – wir erahnen es – der Frontalcortex, jener Teilbereich des Gehirns, der insbesondere in Kontrollprozesse, Planung und exekutive Funktionen eingebunden ist.

Gleichzeitig spielt die zweite Klasse der Veränderung eine grosse Rolle: Der Abbau der grauen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz. Als graue Substanz werden die Zellkörper der Axone bezeichnet, unter anderem auch die Synapsen. Das Volumen der grauen Substanz ist in der Kindheit am höchsten, nimmt dann in der Adoleszenz ab und stabilisiert sich in den Zwanzigern (Mills et al., 2016). Dieser Prozess wird auch Pruning genannt und beschreibt den Abbau derjenigen Synapsen, die weniger genutzt werden und auf die das Gehirn verzichten kann (Kandel, 2018). Dies ist nicht im Sinne eines Verlusts zu betrachten, sondern stellt eine Verbesserung von bereits existierenden Netzwerken dar. Diejenigen Verbindungen, die häufig genutzt werden, verstärken sich und die wenig gebrauchten werden nach dem Prinzip «use it or lose it» abgebaut. So kann sich das jugendliche Gehirn bestens in Abhängigkeit seiner Umwelt formen und weiterentwickeln. Die späteste Stabilisation zeigt sich auch hier unter anderem im Präfrontalcortex (Keshavan et al., 2014), wobei dessen Teilbereiche entscheidend sind für die Aufmerksamkeitslenkung, Impulskontrolle, das Einschätzen von Konsequenzen und das Setzen von Prioritäten (Siegler et al., 2016).

Durch das Zusammenspiel der Veränderungen der grauen und weissen Substanz lassen sich möglicherweise einige typische Verhaltensweisen von Jugendlichen erklären. Teilweise wirken Teenager uneinsichtiger, impulsiver und verständnisloser als Kleinkinder. Dieser nichtlineare Verlauf der Entwicklung kann dadurch erklärt werden, dass die verschiedenen Hirnregionen während der Adoleszenz unterschiedliche Reifegrade aufweisen. Zum Beispiel reift das limbische System, welches unter anderem mit der Amygdala und dem Nucleus accumbens von zentraler Bedeutung für Emotions- und Belohnungsverarbeitung ist (Galván, 2021), früher als der Frontalcortex. Dieser würde jedoch die zentrale Rolle der Kontrolle und Planung einbringen (Casey et al., 2019). Die unterschiedlich schnelle Entwicklung dieser zentralen Hirnsysteme könnte erklären, weshalb Jugendliche gerade bei emotionalen Sachverhalten risikofreudig und scheinbar unbedacht handeln können. In diesem Alter verfügen sie über ein weitgehend ausgeprägtes Belohnungssystem und jagen somit dem Dopamin förmlich hinterher. Gleichzeitig fehlt jedoch die Rolle der Planung, Kontrolle und Risikoeinschätzung von Seiten des Frontalcortex, da hier die zwei genannten Prozesse – Abbau der grauen und Aufbau der weissen Substanz – als letztes abgeschlossen sind. Hier sei erwähnt, dass der Höhepunkt des Volumens der grauen Substanz bei Frauen im Vergleich zu Männern früher erreicht ist, was zu einer unterschiedlich schnellen Gehirnentwicklung zwischen den Geschlechtern führt (Vijayakumar et al., 2018).

«Adolescence is a developmental window ripe with opportunity and creativity.»

Galván, 2021, p. 843

Plastizität als Chance

Obwohl die Adoleszenz von sowohl dem Individuum als auch dem Umfeld als sehr anstrengende und stressige Zeit erlebt wird, sollte gelegentlich ein Perspektivenwechsel stattfinden. Lange wurde die Gehirnentwicklung in der Adoleszenz auch in der Wissenschaft von einer negativen Seite beleuchtet (Galván, 2021). Die Forschung fokussierte sich darauf, die impulsiven und launischen Reaktionen zu erklären, die trotzigen Antworten und das problematische Verhalten zu relativieren und das Chaos der Pubertät darzustellen. Doch lässt sich die gesamte Entwicklung auch von einer ganz anderen Seite betrachten: Die Plastizität des Gehirns in dieser Zeit ist enorm. Die Möglichkeiten, sich in Abhängigkeit von Erfahrung weiterzubilden und zu lernen, Eindrücke der Umwelt aufzunehmen und zu integrieren sind während der Adoleszenz riesig, da das Gehirn noch sehr wandelbar ist.

Die neuronale Plastizität ist etwa bis zum sechzehnten Lebensjahr am stärksten ausgeprägt (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021), bleibt aber während des gesamten Lebens bestehen. Vom Beginn der Pubertät bis Mitte Zwanzig zeigt das Gehirn eine aussergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, was als enorme Chance zu betrachten ist (Galván, 2021).

Genaueres zur Plastizität

Die Plastizität des Gehirns ist die «Fähigkeit des Gehirns, sich zu reorganisieren» (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021, S. 279). Es gibt mehrere Formen der Plastizität. Die funktionelle Plastizität beschreibt, wie sich die Reaktion des Gehirns auf gewisse Stimuli in Abhängigkeit von Erfahrung verändert. Dabei können stärkere oder schwächere Aktivierungen in betroffenen Hirngebieten die Folge sein, zum Beispiel wenn ein Experte für die gleiche Aufgabe weniger Hirnleistung braucht als ein Laie (Jäncke, 2013). Dagegen versteht man unter der strukturellen Plastizität, wie sich die effektive Struktur des Gehirns als Resultat von dem, was wir sehen und erleben, verändern kann. Darunter fallen Veränderungen in der grauen und weissen Substanz, also zum Beispiel, wenn sich neue Synapsen an den Nervenzellen bilden. Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist aussergewöhnlich und ermöglicht uns lebenslanges Lernen.

Was das für Eltern bedeutet

Wie kann man nun diesen Veränderungen und deren Konsequenzen zum Beispiel als Eltern begegnen? Um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen: Was sagen wir nun am besten, damit wir wenigstens ein bisschen am Leben der Jugendlichen teilnehmen können? In der Literatur existieren einige Tipps, die ein solches Gespräch erleichtern können. Einer davon: Zuhören. Klingt einleuchtend, aber es steckt so einiges dahinter. Jugendliche äussern oft das Gefühl, nicht richtig verstanden zu werden und fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten alleine (Lohaus, Fridrici & Domsch, 2017). Das letzte, was ein Teenager dann von Elternseite hören will: «Klar, das war bei mir in der Pubertät auch so!» Unerwünscht sind voreilige Lösungsvorschläge und unbedachte Äusserungen. Lieber – ganz im Sinne von «weniger ist mehr» – zuhören und Empathie zeigen. Als weiteren Punkt beim Thema Gespräche führen nennen Lohaus, Fridrici und Domsch (2017) sogenannte «Türöffner» und «Türschliesser». Jugendliche sind manchmal schon beim Gesprächsbeginn darauf aus, die Fragen möglichst schnell zu beantworten, damit sie danach in Ruhe gelassen werden. Vermeiden Sie also einfache Fragen, die mit einem Wort beantwortet werden können. Besser sind «Türöffner»: Offene Fragen stellen, die Interesse bekunden und den Teenagern zeigen, dass tatsächlich nach einer Meinung gefragt wird, z.B. «Wie hast du das gelöst?». Mit diesen Tipps gibt es eine Chance auf ein Gespräch. Wichtig ist nach wie vor, dass die Jugendlichen die Präsenz der Familie spüren (Kattan, 2020), trotz allem, was gerade in ihren Köpfen vorgeht. Und es hat etwas Beruhigendes, zu wissen, dass der Frontalcortex letztlich reifen wird. Und vielleicht können am Ende der Adoleszenz beide Seiten, Eltern und Heranwachsende, gemeinsam auf gewisse Verhaltensweisen zurückschauen und darüber lachen.


Zum Weiterlesen

Casey, B. J., Heller, A. S., Gee, D. G., & Cohen, A. O. (2019). Development of the emotional brain. Neuroscience Letters, 693, 29–34. https://doi.org/10.1016/j.neulet.2017.11.055

Galván, A. (2021). Adolescent brain development and contextual influences: A decade in review. Journal of Research on Adolescence, 31(4), 843–869. https://doi.org/10.1111/jora.12687

Lohaus, A. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1

Literatur

Casey, B. J., Heller, A. S., Gee, D. G., & Cohen, A. O. (2019). Development of the emotional brain. Neuroscience Letters, 693, 29–34. https://doi.org/10.1016/j.neulet.2017.11.055

Drach, M. C. S. von. (2018, Januar 10). Pubertät Großbaustelle Gehirn. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/wissen/pubertaet-grossbaustelle-gehirn-1.1833081

Galván, A. (2021). Adolescent brain development and contextual influences: A decade in review. Journal of Research on Adolescence, 31(4), 843–869. https://doi.org/10.1111/jora.12687

Jäncke, L. (2013). Lehrbuch kognitive Neurowissenschaften (1. Aufl). Huber.

Kandel, E. R. (2018). The disordered mind: What unusual brains tell us about ourselves (First edition). Farrar, Straus and Giroux.

Kattan, C. (2020). Durch die Pubertät von A bis Z: Wie Sie Ihr Kind bestmöglich begleiten und unterstützen. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28133-5

Keshavan, M. S., Giedd, J., Lau, J. Y. F., Lewis, D. A., & Paus, T. (2014). Changes in the adolescent brain and the pathophysiology of psychotic disorders. The Lancet Psychiatry, 1(7), 549–558. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(14)00081-9

Lohaus, A. (Ed.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1

Lohaus, A., Fridrici, M., & Domsch, H. (2017). Jugendliche im Stress. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-52861-7

Mills, K. L., Goddings, A.-L., Herting, M. M., Meuwese, R., Blakemore, S.-J., Crone, E. A., Dahl, R. E., Güroğlu, B., Raznahan, A., Sowell, E. R., & Tamnes, C. K. (2016). Structural brain development between childhood and adulthood: Convergence across four longitudinal samples. Neuroimage, 141, 273–281. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2016.07.044

Pinel, J. P. J., Barnes, S. J., & Pauli, P. (2019). Biopsychologie (10., aktualisierte und erweiterte Auflage). Pearson.

Schloffer, H., Prang, E., & Frick-Salzmann, A. (Hrsg.). (2021). Gedächtnistraining: Theoretische und praktische Grundlagen. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62300-8

Schneider, H. J., Jacobi, N., & Thyen, J. (2020). Hormone – ihr Einfluss auf mein Leben: Wie kleine Moleküle Liebe, Gewicht, Stimmung und vieles mehr steuern. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58978-6

Siegler, R., Eisenberg, N., DeLoache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (S. Pauen, Hrsg.). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47028-2

Vijayakumar, N., Op de Macks, Z., Shirtcliff, E. A., & Pfeifer, J. H. (2018). Puberty and the human brain: Insights into adolescent development. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 92, 417–436. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2018.06.004

Was denkt sich der Affe?

Von der Sprache und der Intelligenz der Primaten

Affen sind die nächsten Verwandten des Menschen und doch unterscheiden sich die Methoden der Kommunikation beträchtlich. Ob sich diese Unterschiede auch im Denken widerspiegeln, ist wegen der Sprachbarriere schwer festzustellen. Dank der Findigkeit des Menschengibt es dennoch einige Kenntnisse dazu.

Von Lea Frischknecht
Lektoriert von Niko Läderach und Michelle Regli
Illustriert von Lea Frischknecht

Mit den frontal ausgerichteten Augen erinnert das Gesicht eines Affen unweigerlich an das eines Menschen. Auch seine Hände, mit denen er seine Familienmitglieder laust oder sich durch die Äste schwingt, ähneln stark den Händen, die über Computertastaturen huschen oder nach einem Treppengeländer greifen. Diese äußerliche Verwandtschaft legt die Vermutung nahe, dass auch kognitive Ähnlichkeiten zum Menschen vorhanden sind. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden alle nichtmenschlichen Primaten als Affen bezeichnet, obwohl sie nur eine Untereinheit der Primaten ausmachen. Einfachheitshalber wird das auch in diesem Artikel so übernommen.

Die Kommunikationsweisen der Affen

Eine Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Kognitionen der Affen zu ziehen, bietet ihre verbale Kommunikation. Diese unterscheidet sich maßgeblich von der menschlichen Sprache und lange Zeit gingen die Forschenden davon aus, dass es den Tieren schon aufgrund ihrer vokalen Anatomie nicht möglich sei, eine derart komplexe Sprache zu benutzen (Bergman et al., 2019). Neuere Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass zumindest einige Primaten, darunter der Rhesusaffe und der Guinea-Pavian, einen sprechfähigen Vokaltrakt besitzen. Insgesamt bedienten sich Primaten trotzdem eines weniger breiten Spektrums an Sprachlauten als der Mensch und nutzten nur einen Bruchteil ihrer Laute, um Lautkombinationen herzustellen (Bergman et al., 2019). Ob neben dem Menschen auch andere Primaten beim Lautkombinieren Regeln anwenden, die einer Syntax ähneln, ist bisher noch nicht vollständig geklärt (Bergman et al., 2019), jedoch konnten Rhesusaffen in einem Experiment statistische Regeln für Reihenfolgen von bis zu acht visuellen Reizen lernen (Heimbauer et al., 2018). Bei Menschen wird diese Fähigkeit für die Syntax und Grammatik der Sprache verwendet und auch Schimpansen kombinierten Rufe, um sowohl über ihre Identität und als auch das Vorhandensein von Futter zu informieren (Leroux et al., 2021).

Affenrechte

Das Great Ape Projekt (GAP) hat zum Ziel, den vier Menschenaffenarten Schimpanse, Bonobos, Gorilla und Orang-Utan das Recht des Lebens und der Freiheit zu verschaffen (Glendinning, 2008). Erste Erfolge wurden in Spanien erreicht, wo seit 2008 keine Versuche mehr an diesen Affenarten durchgeführt werden dürfen (Glendinning, 2008) In Argentinien wurde in einem Gerichtsprozess dem Orang-Utan-Weibchen Sandra das Recht auf bessere Lebensbedingungen zugesprochen (Espanol, 2015). 

Früher galt die Vokalisation der nichtmenschlichen Primaten als angeboren und unflexibel. Dagegen spricht, dass sich bei den jungen Weißbüschelaffen wie bei menschlichen Babys eine Art Brabbeln zeigte (Gultekin & Hage, 2017). Um das erwachsene Rufverhalten zu entwickeln, brauchten sie die Kommunikation mit älteren Tieren. Die richtigen Rufe mussten zumindest teilweise gelernt werden und waren nicht komplett angeboren (Gultekin & Hage, 2017). Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass die soziale und ökologische Umwelt einen Einfluss auf die Verwendung von Lauten haben kann (Cattaneo, 2019) und die Menschenaffen teilweise sogar dazu fähig waren, neue artuntypische Laute zu lernen (Bergman et al., 2019).

Andererseits schienen die Affen im Vergleich zu Menschen wenig bis keine Motivation zu verspüren, Informationen mit ihren Artgenossen zu teilen, die ihnen selbst keinen direkten Vorteil bringen (Burkart et al., 2018). Eine Ausnahme bildeten verschiedene Arten der Krallenaffen, die einen regen Informationsaustausch betrieben und bereitwillig die anderen Tiere ihrer Gruppe über eine Nahrungsquelle informierten, um mit ihnen zu teilen, ohne einen direkten Nutzen für sich selbst daraus zu ziehen.

Gestik, beim Menschen ein sehr wichtiger Bestandteil der Kommunikation, wurde auch bei Affen beobachtet. Erwachsene Schimpansen und ein- bis zweijährige Kinder zeigten bei der Verwendung von absichtlichen Gesten eine Übereinstimmung von fast 90% (Kersken et al., 2019). Die jungen Schimpansen benutzten Gesten am häufigsten beim sozialen Spielen, erwachsene Schimpansen zusätzlich beim Reisen, bei der Fellpflege und bei der Brautwerbung (Kersken et al., 2019).

Die kognitiven Fähigkeiten der Affen

«After decades of research, it remains controversial whether any nonhuman species possess a theory of mind.»

Kano, 2019, S.1

Unter Theory of Mind (ToM) wird das Vermögen verstanden, mithilfe von Kenntnissen über die Absichten, Bedürfnisse und Überzeugungen eines anderen Individuums, dessen Verhalten vorherzusagen (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Eine wichtige Voraussetzung für ToM ist das Wissen, dass Lebewesen unterschiedliche mentale Repräsentationen der physikalischen Realität haben können (Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie, 2019). Genau wie Menschen nehmen Primaten von physikalischen Objekten an, dass diese eine feste Existenz haben und sich nicht einfach in Luft auflösen (Drayton & Santos, 2018). Dieses Wissen schreiben sie auch ihren Artgenossen zu und erwarten z.B., dass diese sich an verstecktes Futter erinnern. Jedoch stoßen Primaten wohl an eine Grenze, wenn es darum geht, dass ihr Gegenüber eine falsche Vorstellung von einer Situation hat. Sieht ein Kind, wie Süßigkeiten von einer Dose in eine Schublade umgeräumt werden, kann es ab einem gewissen Alter schlussfolgern, dass sein Geschwister, das diesen Moment verschlafen hat, die Süßigkeiten trotzdem noch in der Dose suchen wird. Bei Affen dagegen ist die Befundlage nicht eindeutig. In vielen Experimenten hatten sie bei Aufgaben dieser Art Schwierigkeiten und schienen nicht vorhersagen zu können, wo eine Person in dieser Situation suchen wird (Drayton & Santos, 2018). Allerdings konnte in einem Experiment bei Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich der Entscheidung einer Person, die eine Veränderung der Position eines Objekts nicht mitbekommen hat, festgestellt werden (Kano et al., 2019).

Auch auf kognitive Flexibilität wurden Affen untersucht. Das Vermögen, bei einer Kartensortieraufgabe die Regeln zu wechseln, entwickelten Kinder mit drei Jahren, wenn die Regeln auf der gleichen Dimension bleiben, z.B.: vom Aussortieren blauer Figuren zum Aussortieren roter Figuren. Ab fünf Jahren konnten Kinder auch bei Metaregeln switchen, also zuerst Figuren nach Farben und danach nach Formen sortieren. Affen konnten beides, auch wenn ihnen das Switchen intradimensionaler Regeln leichter fiel (Fragaszy, 2022).  

Eine mentale Fähigkeit, die zuvor abgesehen vom Menschen erst bei einem einzigen  Graupapagei eindeutig festgestellt werden konnte, ist das Verstehen des Disjunktiven Syllogismus (Ferrigno et al., 2021). Wie bereits erwähnt, nehmen Primaten von realen Gegenständen an, dass diese eine feste Existenz haben und nicht einfach so verschwinden (Drayton & Santos, 2018). In einem Experiment wurden Paviane darauf getestet, ob sie schlussfolgern können, dass Futter, wenn es nicht im aufgedeckten Versteck ist, im einzigen anderen sein muss (Ferrigno et al., 2021). Drei der vier Paviane, die das Experiment durchführten, stellten sich dabei sehr gut an.

Charaktereigenschaften

Um die verschiedenen Primatenarten aufgrund ihrer Persönlichkeit zu vergleichen, wurden Fragebogen wie der Hominoid Personality Questionnaire (HPQ) (Wilson et al., 2018) entwickelt. Damit kann man den Primatenarten unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Beispielsweise erreichen vor allem Neuweltaffen und sozial lebende Menschenaffen hohe Werte in der Dimension Gewissenhaftigkeit (Wilson et al., 2018).

Dass, wie bei Menschen, nicht alle Affen einer Art die gleichen kognitiven Fähigkeiten haben, zeigte sich auch in einem anderen Experiment bei dem nicht alle Schimpansen einer gefangen gehaltenen Gruppe einen neuen, für die Art untypischen Laut lernen konnten (Bergman et al., 2019). Dabei besaßen diejenigen, die dazu fähig waren, einen größeren Anteil grauer Substanz in Bereichen des Frontallappens, die eine wichtige Rolle bei der willentlichen Sprachproduktion spielt (Bergman et al., 2019).

Schlussendlich lässt sich sagen, dass es noch ein weiter Weg ist, bis die kognitiven Fähigkeiten Affen vollständig erforscht sind. Ein wichtiger Bestandteil dieser Forschung wird sein, die Kommunikation und Sprache der Affen besser verstehen zu lernen.


Zum Weiterlesen

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Literatur

Bergman, T. J., Beehner, J. C., Painter, M. C., & Gustison, M. L. (2019). The speech-like properties of nonhuman primate vocalizations. Animal Behaviour, 151, 229–237. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2019.02.015

Brensing, K. (2017). Das Mysterium der Tiere (2. Aufl.). Aufbau.

Burkart, J., Guerreiro Martins, E., Miss, F., & Zürcher, Y. (2018). From sharing food to sharing information: Cooperative breeding and language evolution. Interaction Studies. Social Behaviour and Communication in Biological and Artificial Systems, 19(1–2), 136–150. https://doi.org/10.1075/is.17026.bur

Cattaneo, C. (2019). Internal and external barriers to energy efficiency: Which role for policy interventions? Energy Efficiency, 12(5), 1293–1311. https://doi.org/10.1007/s12053-019-09775-1

Drayton, L. A., & Santos, L. R. (2018). What do monkeys know about others’ knowledge? Cognition, 170, 201–208. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2017.10.004

Espanol, E. G., Special to CNN. (2015). Orangutan granted controlled freedom by Argentine court. CNN. Abgerufen 2. August 2022, von https://www.cnn.com/2014/12/23/world/americas/feat-orangutan-rights-ruling/index.html

Ferrigno, S., Huang, Y., & Cantlon, J. F. (2021). Reasoning Through the Disjunctive Syllogism in Monkeys. Psychological Science, 32(2), 292–300. https://doi.org/10.1177/0956797620971653

Fragaszy, D. M. (2022). Rules and metarules: Adult cotton-top tamarins (Saguinus oedipus) and 5-year-old children (Homo sapiens) can master both. Journal of Comparative Psychology. https://doi.org/10.1037/com0000324

Glendinning, L. (2008, Juni 26). Spanish parliament approves „human rights“ for apes. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2008/jun/26/humanrights.animalwelfare

Gultekin, Y. B., & Hage, S. R. (2017). Limiting parental feedback disrupts vocal development in marmoset monkeys. Nature Communications, 8(1), 14046. https://doi.org/10.1038/ncomms14046

Heimbauer, L. A., Conway, C. M., Christiansen, M. H., Beran, M. J., & Owren, M. J. (2018). Visual artificial grammar learning by rhesus macaques (Macaca mulatta): Exploring the role of grammar complexity and sequence length. Animal Cognition, 21(2), 267–284. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1164-4

Kano, F., Krupenye, C., Hirata, S., Tomonaga, M., & Call, J. (2019). Great apes use self-experience to anticipate an agent’s action in a false-belief test. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116(42), 20904–20909. https://doi.org/10.1073/pnas.1910095116

Kersken, V., Gómez, J.-C., Liszkowski, U., Soldati, A., & Hobaiter, C. (2019). A gestural repertoire of 1- to 2-year-old human children: In search of the ape gestures. Animal Cognition, 22(4), 577–595. https://doi.org/10.1007/s10071-018-1213-z

Leroux, M., Bosshard, A. B., Chandia, B., Manser, A., Zuberbühler, K., & Townsend, S. W. (2021). Chimpanzees combine pant hoots with food calls into larger structures. Animal Behaviour, 179, 41–50. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2021.06.026

Theory of Mind im Dorsch Lexikon der Psychologie. (2019). https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/theory-of-mind

Watzek, J., & Brosnan, S. F. (2018). (Ir)rational choices of humans, rhesus macaques, and capuchin monkeys in dynamic stochastic environments. Cognition, 178, 109–117. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2018.05.019

Wilson, V. A. D., Inoue-Murayama, M., & Weiss, A. (2018). A comparison of personality in the common and Bolivian squirrel monkey (Saimiri sciureus and Saimiri boliviensis). Journal of Comparative Psychology, 132(1), 24–39. https://doi.org/10.1037/com0000093

Eine gesunde Organisation – gibt es das?

Wenig Stress und hohes Wohlbefinden bei der Arbeit – der Traum eines jeden Arbeitnehmenden. Doch wie realistisch ist dieser Traum?

Stress am Arbeitsplatz ist heutzutage mehr die Regel als die Ausnahme. Neueste Technologien, unglaubliche Schnelllebigkeit, steigende Erwartungen, eine globale Pandemie. Diese Bedingungen können sich auf die (mentale) Gesundheit auswirken. Was können die Beteiligten tun, um gesundes Arbeiten zu erleichtern?

Von Alina Sophie von Garrel
Lektoriert von Julia Küher und Natalie Birnbaum
Illustriert von

Gesundheit ist ein viel- und vor allem mehrschichtiger Begriff und beschreibt einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen (Wendt, 2013). Gesundheit gegenüber steht Stress als häufiger Grund ihrer Gefährdung (Greiner et al., 2012). Am Arbeitsplatz kann Stress aus Belastungen durch physische Faktoren (z. B. Umgebungsbedingungen), Arbeitsaufgaben und -organisation (z. B. Zeitdruck), soziale Stressoren (z. B. Mobbing) und organisationale Bedingungen (z. B. Ungerechtigkeiten) entstehen (Bartholdt & Schütz, 2010). Die resultierende negative Beanspruchung kann sich dabei auf körperlicher, gedanklicher, emotionaler und/oder auf Verhaltensebene ausdrücken (Greiner et al., 2021).

Die Relevanz von Stress wird deutlich, wenn man sich dessen Konsequenzen vor Augen führt: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Stress eines der grössten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts (WHO, 2022). Es wird geschätzt, dass europaweit ungefähr 60 Prozent aller Fehlzeiten auf beruflichem Stress beruhen (Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, 2013). Durch die sich wandelnde Arbeitswelt und die damit einhergehende Arbeitsintensivierung, Flexibilisierung und Kommunikationsverdichtung nehmen Arbeitsunfähigkeitstage und Frühverrentungen zu (Lohmann-Haislah, 2012). Die Kosten für stressbedingten Arbeitsausfall werden allein für deutsche Unternehmen auf jährlich 20 Milliarden Euro geschätzt (Kläser, 2015). Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz auf die körperliche Gesundheit der Arbeitnehmer*innen zeigen sich dabei in Form von medizinischen Krankheiten wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch psychischen Erkrankungen mit längerfristigen Folgen wie Nervosität, Ermüdung, Angst oder Depression (Böhm & Böhm, 2004). Die Produktivität und Kreativität der Arbeitnehmer*innen lassen unter solchen Bedingungen erheblich nach (Böhm & Böhm, 2004).

Wie kann diesen negativen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz entgegengewirkt werden? Liegt es an den Mitarbeiter*innen, etwas zu verändern? An der Organisation? Oder an der gesamten Gesellschaft? Auf diese komplexe Frage gibt es natürlich keine einfache Antwort. Sicherlich ist es sinnvoll, an jedem der genannten Hebel anzusetzen, um die Situation zum Besseren zu verändern. Interessant ist daher der «Health-oriented Leadership» (HoL) Ansatz von Franke et al. (2014). Hier werden zwei Konzepte unterschieden, die sowohl die Führungskraft (und damit die Verantwortung der Organisation) als auch die einzelnen Mitarbeiter*innen adressieren. Diese Konzepte sind 1) Self-Care (Selbstführung) und 2) Staff-Care (Mitarbeiterführung), an denen gesundheitsförderliche Führung auf den Dimensionen Wichtigkeit, Achtsamkeit und Verhalten ganzheitlich ansetzt. Die Idee ist, dass durch die Anwendung von Self-Care, d. h. «gesundheitsförderlicher Selbstführung, die beschreibt, wie das Individuum (…) mit der eigenen Gesundheit umgeht» (Franke et al., 2015), einerseits eine Vorbildwirkung bzw. Modellfunktion der Führungskraft entsteht und andererseits eine Grundlage für Staff-Care, d.h. «die Beeinflussung von Einstellungen und Verhalten einzelner Personen in Organisationen sowie die Steuerung und Koordination der Zusammenarbeit in und zwischen Gruppen» (Franke & Felfe, 2011a), geschaffen wird. Mit Staff-Care wiederum kann zudem Self-Care der Mitarbeiter*innen, d. h. eigenständiges und selbstverantwortliches gesundheitsförderliches Handeln und Auftreten, etabliert werden (Franke & Felfe, 2011b).

Führung & Staff-Care

Auch wenn eine uniforme Definition für Führung bisher fehlt (Stippler et al., 2011), steht fest, dass die Führungsqualität einen erheblichen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen hat (Franke et al., 2015). Dieser Einfluss lässt sich in vier Felder der Führungsbedeutung bzw. vier Wirkmechanismen unterteilen: direkter Einfluss (Verhalten und Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter*innen), indirekter Einfluss (Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch die Führungskraft), Vorbildfunktion (Mitarbeiter*innen schauen sich Verhalten etc. der Führungskraft ab, die als Modell fungiert) und eigene Betroffenheit (durch die eigene Aussetzung von Risiken können Führungskräfte selbst zum Gesundheitsrisiko durch z. B. eigene Überforderung für Mitarbeiter*innen werden) (Felfe et al., 2014). Neuere Studien bestätigen die Effektivität des HoL-Konzepts für die Gesundheitsförderung in Unternehmen (Franke & Felfe, 2011a).

«Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts»

Arthur Schopenhauer (angeblich)

Damit gesunde Führung Früchte trägt, sollte sie auf einer ganzheitlichen Werteorientierung des Unternehmens gründen und unternehmensübergreifend etabliert werden (Badura et al., 2017). Die Führungskräfte stehen an der «Front» der berufsalltäglichen Umsetzung mit der Herausforderung, Sach- bzw. Leistungswerte (im Interesse der Organisation, z. B. Effizienz und Qualität) und Beziehungswerte (wichtig für eine positive zwischenmenschliche Beziehung, z. B. Vertrauen und Respekt) in Einklang zu bringen (Badura et al., 2017). Zentral im direkten Umgang mit Mitarbeiter*innen ist hierbei der Abbau von Stressoren und Belastungen sowie die Förderung von Ressourcen (als Puffer für Stress) bei gleichzeitiger Wertschätzung der eigenen sowie der Gesundheit der Mitarbeitenden (Felfe et al., 2014). Konkrete Handlungsfelder, die unterschieden werden und in denen Führungskräfte aktiv werden sollten, wenn sie gesund führen wollen, können in direktes Führungshandeln, Gesundheitsklima der Organisation, Unternehmenskultur, Charakteristika von Arbeitsplatz und Arbeitsprozessen sowie der Gestaltung von Veränderungsprozessen unterschieden werden (Badura et al., 2017).

Self-Care

Was können Mitarbeitende selbst für sich tun, um Stress zu reduzieren? Eine sehr populäre, wenig aufwendige und anwendungsfreundliche Methode ist die Meditation (Valosek et al., 2018). In Studien konnte gezeigt werden, dass Meditation als Wellness-Programm am Arbeitsplatz wirksam ist, um die emotionale Intelligenz zu verbessern und den wahrgenommenen Stress der Mitarbeiter*innen zu reduzieren (Valosek et al., 2018). Vermutlich auch deshalb, weil die Konzentration auf körperliche oder geistige Entspannung allgemein als Methode zur Bewältigung von Stressfolgen gesehen wird (van der Klink et al., 2001). Auch im Vergleich mit anderen Methoden überzeugt die Meditation: In einer Studie von Murphy (1996) ergab sie die konsistentesten Ergebnisse über alle Outcomes (i. d. R. Stressreduktion) hinweg.

Auch Atemtechniken können im Rahmen der Stressreduktion sehr wirksam sein (Techniker Krankenkasse, 2017). Ruhige Atmung wirkt entspannend. Sie bringt Sauerstoff und Energie in den Körper, während ungünstige Atmung (z. B. flach, schnell oder unruhig) Hyperventilation (Muskelkrämpfe durch gesteigerte Atmung) fördert (Techniker Krankenkasse, 2017).

Exkurs Meditation

Eine einfache Meditation ist die Mantra-Meditation (Techniker Krankenkasse, 2021). Diese Meditationstechnik verwendet nur einen einzelnen Begriff: das Mantra. Dieses Wort fungiert als Anker, auf dem die gesamte Zeit die Aufmerksamkeit liegt. Geeignet als Mantra sind inhaltlich neutrale Wörter (z. B. ein Zahlwort). Setze dich für diese Meditationspraxis aufrecht und entspannt hin. Schliesse die Augen und atme sanft ein und aus. Sage dann das Mantra mehrmals leise zu dir selbst. Dann stelle es dir nur in deinem Kopf vor und spüren seinem Klang nach. Diesen Prozess wiederholst du für etwa 15 Minuten. Danach öffnest du langsam wieder deine Augen und kehrst bewusst in die Realität zurück. Je regelmässiger du diese Übung machst, desto mehr Routine bekommst du darin, sodass die Meditation irgendwann wie von selbst abläuft. Probiere also gerne aus, wie es ist, den Alltag kurz zu pausieren und neue Energie zu tanken (Techniker Krankenkasse, 2021).

Daneben sind noch viele weitere Ressourcen hilfreich für ein gesundes Stressmanagement. Zu diesen zählen zum Beispiel regelmässige sportliche Betätigung, gesunde Ernährung oder ein stabiles soziales Netzwerk. Woran man zunächst arbeiten möchte, sollte jede Person für sich selbst entscheiden – auch unter Berücksichtigung, was in der eigenen Situation realistisch umsetzbar ist (Techniker Krankenkasse, 2017).

Gibt es also eine gesunde Organisation? Jede Art von Arbeit bringt gewisse Risiken und Stressfaktoren mit sich und nicht alle lassen sich vollständig eliminieren. Andererseits gibt es Ansätze wie den HoL-Ansatz, die wichtige Richtlinien und Verhaltensweisen vorschlagen, mit denen Ressourcen gestärkt und Stress reduziert werden können. Jede Person trägt letztendlich aber selbst die Verantwortung für die eigene Gesundheit und hat diverse Möglichkeiten, um aktiv zu werden und sich selbst zu stärken.

Zum Weiterlesen

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Lück, P., Eberle, G., & Bonitz, D. (2009). Der Nutzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus der Sicht von Unternehmen. In Badura, B., Schröder, H. & Vetter, C. (Hrsg.). Fehlzeiten-Report 2008 (S. 77–84). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-69213-3_8

Literatur

Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Eds.). (2017). Fehlzeiten-Report 2017: Krise und Gesundheit-Ursachen, Prävention, Bewältigung. Springer.

Bartholdt, L., & Schütz, A. (2010). Stress im Arbeitskontext: Ursachen, Bewältigung und Prävention. Beltz. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54632-1

Berger, J. (2022, 25 April). So fördern Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz. https://www.axa.ch/de/unternehmenskunden/blog/mitarbeiter-und-vorsorge/gesundheit-arbeitsplatz.html

Böhm, B., & Böhm, A. (2004). Stress—was im Berufsalltag wirklich weh tut. In Betriebliche Gesundheitsförderung (pp. 137–150). Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91349-4_9

Felfe, J., Ducki, A., & Franke, F. (2014). Führungskompetenzen der Zukunft. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Meyer, M. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2014 (pp. 139–148). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-43531-1

Franke, F., & Felfe, J. (2011a). Diagnose gesundheitsförderlicher Führung – Das Instrument „Health-oriented Leadership “. In Badura, B., Ducki, A., Schröder H., Klose, J. & Macco, K. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2011 (pp. 3–13). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-21655-8

Franke, F., & Felfe, J. (2011b). How does transformational leadership impact employees’ psychological strain? Examining differentiated effects and the moderating role of affective organizational commitment. Leadership7(3), 295–316. https://doi.org/10.1177/1742715011407387

Franke, F, Ducki, A. und Felfe, J. (2015). Gesundheitsförderliche Führung. In J. Felfe (Eds.), Trends in der psychologischen Führungsforschung, (pp. 253–264). Hogrefe.

Greiner A., Langer S., Schütz A. (2012) Grundlagen zur Stressentstehung, Stressreaktion und Stressbewältigung. In Greiner A., Langer, S. & Schütz, A. (Eds.), Stressbewältigungstraining für Erwachsene mit ADHS. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-25802-2_2

Lohmann-Haislah, A. (2013). Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden1. https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd68.pdf?__­blob=publicationFile

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Murphy, L. R. (1996). Stress management in work settings: A critical review of the health effects. American journal of health promotion11(2), 112­–135.

Stippler, M., Moore, S., Rosenthal, S., & Dörffer, T. (2011). Führung-Überblick über Ansätze, Entwicklungen, Trends: Bertelsmann Stiftung Leadership Series. Bertelsmann Stiftung.

Techniker Krankenkasse. (Juli, 2017). Stress Belastungen besser bewältigen. https://www.tk.de/resource/blob/2023234/5535b9478a9be8fcabb0a1c6ea7f677e/tk-broschuere-stress-data.pdf

Techniker Krankenkasse. (01. September, 2021). Medi­ta­ti­ons­übungen (2/4). https://www.tk.de/techniker/magazin/life-balance/aktiv-entspannen/meditationsuebungen-2007100?tkcm=ab

Valosek, L., Link, J., Mills, P., Konrad, A., Rainforth, M., & Nidich, S. (2018). Effect of meditation on emotional intelligence and perceived stress in the workplace: A randomized controlled study. The Permanente Journal22.

Van der Klink, J. J., Blonk, R. W., Schene, A. H., & Van Dijk, F. J. (2001). The benefits of interventions for work-related stress. American journal of public health91(2), 270.

Wendt C. (2013) Gesundheit und Gesundheitssystem. In Mau S., Schöneck N. (Hrsg.) Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18929-1_23

Wild, E., & Möller, J. (2014). Pädagogische Psychologie. Springer.

Türen öffnen mit psychedelischer Therapie

Was hat es mit der psychedelischen Renaissance auf sich?

Worum handelt es sich bei Psychedelika, was sind die Hintergründe psychedelischer Forschung und was gibt es für neue Erkenntnisse zum Thema Therapie mit Psychedelika? Was passiert, wenn man diese Türen öffnet? Welche Möglichkeiten und Risiken bergen bewusstseinserweiternde Drogen?

Von Anna Boeker
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Arne Hansen
Illustriert von Katrin Grings

Menschen verwenden Psychedelika schon seit Tausenden von Jahren (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016). Psilocybin-haltige Pilze sind zum Beispiel auf allen Kontinenten der Erde zu finden. Ihre Verwendung wurde von präkolumbianischen mesoamerikanischen Gesellschaften wie den Azteken und Mayas ausführlich dokumentiert (Grof & Grof, 2010; Nichols & Barker, 2016).

Ein weiteres Psychedelikum ist NN-DMT, eine Substanz, die in vielen Pflanzenarten vorkommt (Drug Enforcement Administration, 2019) und einer der wichtigsten Bestandteile des beliebten psychedelischen Gebräus namens Ayahuasca ist. Dieses wird in den Regionen des Amazonas seit mindestens 1000 Jahren verwendet (Miller et al., 2019). Bei vielen Ureinwohnern wurden diese Psychedelika häufig zu Heilzwecken und zu religiösen oder spirituellen Zwecken verwendet (Grof, 2019; Nichols & Barker, 2016) und spielten in einigen kulturellen Ritualen eine wichtige Rolle (Grof, 2019).

Betrachtet man den Zeitraum von den ersten Belegen für die Verwendung von Psychedelika durch Menschen bis zur Gegenwart, so wurden die psychedelischen Praktiken grösstenteils im Kontext der einheimischen Kulturen ausgeübt und von Personen wie Mystikern, Priestern, Ältesten, Schamanen, Heilern und Medizinmännern entwickelt. Westliche Gesellschaften fingen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, Psychedelika zu verwenden und eigene Praktiken zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass die Psychedelika Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurden (Grof, 2019).

«die legale psychedelische Therapie wird kommen»

Cormier, 2022

Ein neueres Beispiel ist LSD. Albert Hofmann, ein Schweizer Chemiker, synthetisierte LSD 1938 bei Sandoz Chemicals. Er glaubte, dass LSD die Psychiatrie revolutionieren und eine Generation von Künstlern und Intellektuellen inspirieren könnte (Grof, 2019). Sandoz Chemicals, sowie andere Forschungsstellen, gaben die Droge damals zu Forschungszwecken kostenlos an amerikanische Psychiater ab.

Zwischen 1953 und 1960 wurden tausende Personen mit einer Alkoholabhängigkeit unter kontrollierten Bedingungen einer Behandlung mit LSD unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass fast die Hälfte der behandelten Personen noch mehr als ein Jahr später alkoholabstinent war. Obwohl diese Forschung in einigen Kreisen Zustimmung fand, wurde sie in anderen Kreisen angegriffen. Ähnliche Studien konnten die Ergebnisse nicht reproduzieren und deshalb äußerte auch die konservative Ärzteschaft Kritik (MAPS, 2012). Jahrzehnte später stehen wir immer noch an einer ähnlichen Stelle. Wie Menschen auf die Substanz und das mögliche Potenzial reagieren, hängt womöglich von weit mehr ab als der Substanz selbst (MAPS, 2012).

Als die Forschenden das Verständnis für die klassischen Psychedelika und auch Cannabis weiterentwickelten, wurden diese Substanzen auch in der Öffentlichkeit bekannter und ihr Konsum wurde schließlich in der Kulturbewegung der Hippies in den 1960er und 1970er Jahren weit verbreitet (Encyclopaedia Britannica, 2022)

1971 wurde dann das Verbot der klassischen Psychedelika, wie auch der meisten anderen heute illegalen Drogen, durch das UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe weltweit verabschiedet (UNODC, 1971).

Innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts wandelte sich die Einstellung der Menschen gegenüber Psychedelika von Neugier und Faszination hin zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung dieser Substanzen. Die zahlreichen Folgen dieses Bruchs sind noch heute spürbar, denn das Verbot schränkt zum Beispiel stark ein, was und wie heutzutage mit Psychedelika geforscht werden darf. Trotzdem stieg das Interesse an diesen «unspezifischen Verstärkern» in den letzten Jahrzehnten wieder an (Cormier, 2022)

Seitdem wurde dieses erneut erwachte Interesse an der psychedelischen Forschung am Menschen von Organisationen wie der Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies (MAPS), der Johns Hopkins University und vielen anderen Verbänden, auch außerhalb der USA, gefördert (Cormier, 2022; Grof, 2019).

In Onlineforen wie actualized.org teilen Menschen anonym ihre Erfahrungen mit Psychedelika

«I had previously reported no insights on my initial acid trip and a month later took the same dose. For some reason I’ve had these amazing mind-blowing awakenings on ganja.  I took a week off from smoking and smoked again and had another God Realization awakening that really rocked me hard. However, despite not having any immediate insights after dropping LSD, the longterm effect has been a total cessation of drinking alcohol. I no longer pick up a single beer for after work and I’ve been avoiding going out for drinks…not out of some weird kind of willpower but because it no longer appeals to me. A week or two ago I walked into a liquor store to buy lager beer and some tequila.  I bought nothing because it just didn’t appeal to me. I’ve been struggling with alcohol addiction for years and I’m SO fucking ELATED that I don’t desire it anymore. I’m still shocked and blown away by this in a great way. All that struggle and after two LSD sessions it’s gone. Wow!» (Ramu, 2022)

Darüber hinaus wurde das medizinische Potenzial von Psychedelika 2017 und 2018 anerkannt, als die US-amerikanische Food and Drugs Administration (FDA) psychotherapeutische Verfahren mit MDMA (MAPS, 2017) und Psilocybin (COMPASS Pathways, 2018) als «bahnbrechende Therapien» einstufte.

Außerdem wurde vor allem in Nordamerika eine Welle von Gesetzesreformen auf den Weg gebracht, die den legalen Zugang zu Psychedelika entkriminalisieren und/oder ermöglichen (Lewis-Healey, 2021). Im Rahmen dieser neuen Gesetze wurden die Fälle, in denen bestimmte Psychedelika für religiöse oder spirituelle Zwecke in den USA verwendet werden durften – insbesondere meskalinhaltiger Peyote für die indianische Kirche und Ayahuasca für die brasilianische indigene Kirche União do Vegetal – eingeführt (Nichols & Barker, 2016).

«Psychedelic experience — like all other intense life events — may offer the potential for growth and change. How people respond, however, depends on far more than a drug. »

MAPS, 2012

Mit dem derzeitigen Paradigmenwechsel, den laufenden klinischen Studien und der Entwicklung einer ganzen Industrie rund um Psychedelika gewinnt der Begriff psychedelische Renaissance weiter an Popularität. Dennoch sind Psychedelika in den meisten Teilen der Welt auch 2022 noch illegal und die Mehrheit der Konsumenten bezieht sie vom Schwarzmarkt (Cormier, 2022).

Letztes Jahr konnte eine Studie des Imperial College London zeigen, dass Psilocybin bei der Bekämpfung von Depressionen genauso wirksam ist wie Escitalopram (auch Lexapro genannt), welcher ein gängiger Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ist (Carhart-Harris, 2021). Zu beachten ist, dass sich die Symptomatik in beiden Patientengruppen verbesserte. Diese Verbesserung zeigte sich unabhängig davon, ob Psilocybin oder Escitalopram verabreicht wurde. Beide Patientengruppen erhielten außerdem fast 40 Stunden Psychotherapie. Hier könnte kritisiert werden, dass dies weit mehr Stunden sind, als ein*e durchschnittliche*r Patient*in erhält, die in Behandlung mit SSRIs ist (Cormier, 2022).

Nicht nur in akademischen Kreisen sind Psychedelika ein Thema. Bereits mehr als 50 börsennotierte Unternehmen, die an der Entwicklung oder Verabreichung psychedelischer Substanzen arbeiten, sind heute in Amerika tätig – drei von ihnen werden bereits mit jeweils über 1 Milliarde Dollar bewertet: Angermayers ATAI Life Sciences, Compass Pathways und GH Research (Cormier, 2022).

Es entsteht die Sorge, dass es den meisten dieser Unternehmen nur um den wirtschaftlichen Gewinn geht und nicht um die Behandlung von Patient*innen. Es könnte zu einem Streit um Patente, Lizenzen und Rechten kommen. Zusätzlich zu den noch nicht ausreichend erforschten Risiken der Substanzen selbst, kommen so noch Risiken der wirtschaftlichen und ethischen Umsetzung. Es scheint, als öffneten Psychedelika nicht nur im Bewusstsein, sondern auch für den Markt neue Türen.

Es muss als zentral verstanden werden, Psychedelika nicht selbst als Heilmittel zu betrachten. Eine andere Art von Medikation, egal bei welchem Störungsbild, sollte nicht als Möglichkeit gesehen werden, Therapiezeiten zu verkürzen (Cormier, 2022). Risiken müssen ausreichend erforscht und kommuniziert werden und die Integration psychedelischer Erfahrungen selbstverständlich sein. Trotzdem dürfen die neuen Erkenntnisse und die Suche nach Alternativen zu herkömmlichen Medikamenten nicht abgetan werden und


Zum Weiterlesen

Cormier, Z. (2022). The Brave New World of Legalized Psychedelics Is Already Here. https://www.thenation.com/article/society/legal-drugs-psychedelics-corporate/

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Literatur

Carhart-Harris, R., Giribaldi, B., Watts, R., Baker-Jones, M., Murphy-Beiner, A., Murphy, R., … & Nutt, D. J. (2021). Trial of psilocybin versus escitalopram for depression. New England Journal of Medicine384(15), 1402-1411.

COMPASS Pathways. (2018, October 23). COMPASS Pathways receives FDA Breakthrough Therapy designation for psilocybin therapy for treatment-resistant depression. COMPASS Pathways. https://compasspathways.com/compass-pathways-receives-fda-breakthrough-therapy-designation-for-psilocybin-therapy-for-treatment-resistant-depression/

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Drug Enforcement Administration. (2019). N,N-DIMETHYLTRYPTAMINE. https://www.deadiversion.usdoj.gov/drug_chem_info/dmt.pdf

Encyclopaedia Britannica. (2022). hippie subculture. Britannica. https://www.britannica.com/topic/hippie

Grof, S., & Grof, C. (2010). HOLOTROPIC BREATHWORK A New Approach to Self-Exploration and Therapy. State University of New York Press.

Grof, S. (2019). The Way of the Psychonaut – Encyclopedia for Inner Journeys V1 (Vol. 1). Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies.

Lewis-Healey, E. (2021). The Legal Status of Psychedelics Around the World. Psychedelic Spotlight. https://psychedelicspotlight.com/legal-status-of-psychedelics-around-the-world/

MAPS. (2012). LSD May Help Treat Alcoholism. MAPS. https://maps.org/news/media/lsd-may-help-treat-alcoholism/

MAPS. (2017). FDA Grants Breakthrough Therapy Designation for MDMA-Assisted Therapy for PTSD, Agrees on Special Protocol Assessment for Phase 3 Trials. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-fda-grants-breakthrough-therapy-designation-for-mdma-assisted-psychotherapy-for-ptsd-agrees-on-special-protocol-assessment-for-phase-3-trials/

MAPS. (2020). Psychedelic Research Fundraising Campaign Attracts $30 Million in Donations in 6 Months, Prepares MDMA-Assisted Therapy for FDA Approval. MAPS. https://maps.org/news/media/press-release-psychedelic-research-fundraising-campaign-attracts-30-million-in-donations-in-6-months-prepares-mdma-assisted-psychotherapy-for-fda-approval/

Miller, M. J., Albarracin-Jordan, J., Moore, C., & Capriles, J. M. (2019). Chemical evidence for the use of multiple psychotropic plants in a 1,000-year-old ritual bundle from South America. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 166(23), 11207–11212. https://doi.org/10.1073/pnas.1902174116

Nichols, D. E., & Barker, E. L. (2016). Psychedelics. Pharmacological Reviews, 68(2), 264–355. https://doi.org/10.1124/pr.115.011478

Pollan, M. (2021). This is your Mind on Plants. Penguin.

Ramu (2022). LSD and Alcohol. Actualized.Org Forum. https://www.actualized.org/forum/topic/83595-lsd-and-alcohol/

UNODC. (1971). Convention on Psychotropic Substances, 1971. https://www.unodc.org/pdf/convention_1971_en.pdf

Walker, L. (2022). How to Change Your Mind. Netflix Series. https://www.netflix.com/title/80229847

Reiss die Hände in die Luft!

Warum Gutes mit oben assoziiert wird und wie räumliche Metaphern unser Denken prägen

Wer glücklich ist oder Erfolg hat, befindet sich auf einem Höhenflug. Wer bedrückt ist, der ist am Boden, die Stimmung kann geradezu unterirdisch schlecht sein. Bereits bei der Wortwahl assoziieren wir Gutes mit der Orientierung nach oben, Schlechtes mit unten. Doch kommt wirklich alles Gute von oben?

Von Belinda Lamatsch
Lektoriert von Ladina Hummel und Isabelle Bartholomä
Illustriert von Belinda Lamatsch

Bist du gerade auf einem Hoch oder schwebst du im Moment gar auf Wolke sieben? Oder ist deine Stimmungslage eher ein ständiges auf und ab? In unserem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir viele Metaphern für unsere Gefühle. Um unser Inneres zum Ausdruck zu bringen, fehlen uns oft die treffenden Worte und wir greifen auf Umschreibungen und Sinnbilder zurück. Auffällig ist dabei, dass positive Affekte vielmals mit einer Aufwärtsbewegung in Verbindung gebracht werden, negative hingegen richten sich tendenziell nach unten. Das Paradies als Allegorie für das Gute befindet sich im Himmel und wird oben angesiedelt. Derjenige, der Schlechtes tut, wird nach unten in die Hölle verbannt. Ausgehend vom neutralen Bewerten können wir einen Sachverhalt abwerten oder aufwerten. Verzeichnen wir berufliche Erfolge, so klettern wir auf der Karriereleiter nach oben.

Der Zusammenhang zwischen Affekt und räumlicher Lage

Haben diese Zuschreibungen einen Effekt auf unsere Einschätzung der jeweiligen Emotion oder der damit verbundenen Situation? Dieser Frage haben sich die Autoren Meier und Robinson gestellt. Dafür haben sie drei Studien durchgeführt (Meier & Robinson, 2004).

Bereits 1993 stellten Stepper und Strack in einer Studie eine Verbindung zwischen räumlicher Positionierung und Emotionen fest. Das Gefühl von Stolz wird verstärkt, wenn wir uns in einer aufrechten Haltung befinden. Auf der anderen Seite hingegen wird es abgeschwächt, wenn wir zusammengesackt und in nach unten gebeugter Körperhaltung verweilen (Stepper & Strack, 1993). Diese Wechselwirkung von Emotionen und körperlichen Parametern stellt bis heute eine zentrale Frage in der Emotionsforschung dar.

In einem ersten Versuch sollten die Teilnehmenden ihre Aufmerksamkeit auf einen Bildschirm richten, auf dem nacheinander verschiedene Wörter erschienen (Meier & Robinson, 2004). Diese Wörter sollten sie auf einer Skala von eins = positiv bis fünf = negativ bewerten. Ein Beispiel für ein positives Wort könnte Held sein, ein negatives wäre Lügner. Nachdem zuerst einige Wörter in der Mitte des Bildschirms erschienen waren, wurden die darauffolgenden Begriffe entweder oberhalb dieser ersten Referenzbegriffe oder im Bildschirmbereich darunter eingeblendet (Meier & Robinson, 2004). Gemessen wurde nicht nur, ob die Wörter richtig bewertet wurden, sondern vor allem, wie schnell die Wörter korrekterweise der entsprechenden Bedeutung zugeordnet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Evaluation positiver Begriffe schneller und treffsicherer erfolgte, wenn diese in der oberen Hälfte des Bildschirms eingeblendet wurden. Negative Wörter hingegen wurden schneller als solche erkannt, wenn sie weiter unten positioniert waren. Ist die vertikale Positionierung eines Stimulus kongruent mit seiner Bedeutung, fällt uns die Verarbeitung dementsprechend leichter (Meier & Robinson, 2004).

«Participants were faster to evaluate positive words when presented at the top of the screen, whereas they were faster to evaluate negative words when presented at the bottom.»

Meier & Robinson, 2004, S. 245

Den Untersuchungen von Meier und Robinson (2004) sind bereits Studien von Wapner, Werner und Krus aus dem Jahre 1957 vorangegangen. Schüler*innen, die gerade eine gute Note erhalten hatten, unterlagen einem «Upward Bias», als sie kurz darauf aufgefordert wurden, ein Quadrat in zwei gleich grosse Hälften zu teilen (Wapner et al., 1957). Das heisst, wer gerade eine gute Note erhalten hatte und somit in euphorischer Stimmungslage war, tendierte dazu, eine Verzerrung nach oben zu zeigen und setzte beim Einzeichnen der gefragten Mittellinie weiter oben an, als sie tatsächlich zu verorten wäre. Schüler*innen, die hingegen ein Testresultat mit einer ungenügenden Note ausgehändigt bekommen hatten, zeigten beim Zweiteilen der geometrischen Figur eine Tendenz nach unten (Wapner et al., 1957).

Eine mögliche Erklärung

In ihrer Erklärung für die Resultate berufen sich die Autoren auf den Entwicklungspsychologen Piaget und sein Stufenmodell (Piaget, 1929). Die menschliche Kognition bildet sich ausgehend von sensomotorischen Erfahrungen. Wir lernen zuerst Konkretes, indem wir die physische Welt über unsere Sinne wahrnehmen. Kleine Kinder berühren Gegenstände, nehmen sie in den Mund oder beobachten, welche Geräusche ein Objekt macht. Sie schaffen sich zunächst ein Weltbild aufgrund von Sinneseindrücken. Erst später können wir Abstraktes verarbeiten (Inhelder & Piaget, 1958). Nachdem wir die Welt mit all ihren handfesten Gegenständen erkundet haben, entwickeln wir ein Verständnis für theoretische Konstrukte oder lernen Symbole in ihrer stellvertretenden Funktion zu verwenden (Inhelder & Piaget, 1958). Um abstrakte Gedanken in Worte zu fassen, um unseren Mitmenschen – manchmal auch uns selbst – unser Innenleben zu veranschaulichen, greifen wir auch später wieder auf Vergleiche mit physischen Phänomenen zurück, um unsere Ideen zu konkretisieren und verständlich zu machen (Lakoff & Johnson, 1999). Auch die anfangs genannten Metaphern nutzen Begriffe, die sinnbildlich für ein Gefühl oder eine Erregung stehen. Die Gefühle, die wir mithilfe solcher Umschreibungen auszudrücken versuchen, stellen wiederum etwas Gegenstandsloses dar. Die physischen Metaphern erlauben es uns, solche komplexen Vorgänge zu beschreiben (Lakoff & Johnson, 1999).

Die Tendenz, unsere Arme als Reaktion auf Erfolg nach oben zu reissen, ist angeboren. In einer Studie haben Tracy und Matsumoto im Jahre 2008 Athlet*innen der Olympischen Spiele und der Paralympics beobachtet und dabei festgestellt, dass auch blindgeborene Menschen als Ausdruck von Stolz intuitiv die Faust in die Luft strecken. Scham oder Erniedrigung wird hingegen bei olympischen wie paralympischen Athlet*innen durch geduckte Körperhaltung ausgedrückt (Tracy & Matsumoto, 2008).

Wie durch die im vorherigen Abschnitt präsentierten Studien gezeigt wird, aktiviert unsere Bewertung eines Stimulus räumliche Metaphern, die damit verbunden sind. Die Verarbeitung fällt uns leichter, wenn die beiden Faktoren – also die vertikale Lokalisation und die tatsächliche positive oder negative Bedeutung – übereinstimmen (Meier & Robinson, 2004). Andersrum fällt uns die Bewertung schwerer, wenn die beiden Komponenten nicht kongruent sind und eine Diskrepanz zwischen der lokalen Verortung und dem Affekt besteht. In Meier und Robinsons Studie (2004) äusserte sich dies durch eine leicht verzögerte Reaktionszeit.

Die Ergebnisse von Meier und Robinson zeigen, dass unser Denken von Metaphern geprägt ist. Aber auch, dass abstrakten Gefühlen und den dafür verwendeten Beschreibungen konkrete und greifbare Bilder zugrunde liegen, die wir aus gesammelten Erfahrungen ableiten (Meier & Robinson, 2004).

Die Verknüpfung von gut mit oben und schlecht mit unten geschieht automatisch und ohne, dass wir uns dessen bewusst sind. Denn die Metaphern, mit denen wir Affekte räumlich verorten, sind so stark in unsere alltägliche Ausdrucksweise integriert, dass wir sie ganz unbewusst verwenden.

Wenn du also das nächste Mal ein lustiges Video mit einem Daumen nach oben bewertest oder jemandem ein High Five gibst, dann ist das, weil dieser positive Affekt direkt mit der räumlichen Assoziation einhergeht.


Zum Weiterlesen

Meier, B. P., & Robinson, M. D. (2004). Why the sunny side is up. American Psychological Society, 15(4),243–247. https://doi.org/10.1111/j.0956-7976.2004.00659.x

Literatur

Inhelder, B., & Piaget, J. (1958). The growth of logical thinking from childhood to adolescence. Basic Books.

Lakoff, G., & Johnson, M. (1999). Philosophy in the flesh: The embodied mind and its challenge to western thought (Vol. 640). Basic books.

Meier, B. P., & Robinson, M. D. (2004). Why the sunny side is up. American Psychological Society, 15(4),243–247. https://doi.org/10.1111/j.0956-7976.2004.00659.x

Stepper, S., & Strack, F. (1993). Proprioceptive determinants of emotional and nonemotional feelings. Journal of Personality and Social Psychology, 64(2), 211–220. https://doi.org/10.1037/0022-3514.64.2.211

Tracy, J. L., & Matsumoto, D. (2008). The spontaneous expression of pride and shame: Evidence for biologically innate nonverbal displays. PNAS.  https://doi.org/10.1073/pnas.0802686105

Wapner, S., Werner, H., & Krus, D.M. (1957). The effect of success and failure on space localization. Journal of Personality, 25, 752–756. https://doi.org/10.1111/j.1467-6494.1957.tb01563.x

Rocket Man

Welche Auswirkungen hat ein Aufenthalt im All auf Gehirn und Psyche?

Immer öfter werden erfolgreich Menschen in den Weltraum geschickt. In Anbetracht des «Weltraumtourismus» und in Bezug auf den Klimawandel ist das Thema momentan besonders relevant. Im Folgenden soll der aktuelle Forschungsstand zu den Auswirkungen auf Gehirn und Psyche von Astronaut*innen dargelegt werden.

Von Madita Schindler
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Natalie Birnbaum
Illustriert von Alba Lopez

Das Weltall übt auf viele Menschen eine grosse Anziehungskraft aus. Wir mögen es, an einem lauen Sommerabend die Sterne zu betrachten und in der Unendlichkeit zu baden. Physiker*innen haben einfallsreiche Methoden entwickelt, um ihre Theorien über das Weltall und andere Planeten zu prüfen. Doch erst seit einigen Jahrzehnten ist es dem Menschen möglich, die Erde zu verlassen und sich selbst ins All zu begeben. Am 20.07.1969 wurde die erste bemannte Mondlandung durchgeführt und damit die Grenzen des Möglichen ausgeweitet. Aber ein Aufenthalt im Weltraum ist mit grundlegenden Änderungen in der physikalischen und sozialen Umwelt des Menschen verbunden. Die Forschung zur Wirkung dieser Veränderungen auf den menschlichen Organismus steht noch am Anfang. Folgende Erkenntnisse haben sich aus Studien der letzten Jahre ergeben:

Strahlenbelastung

Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Leben auf der Erde und im All ist, dass die Erde von einem schützenden Magnetfeld umgeben ist, welches solare und kosmische Strahlung weitgehend von der Erdoberfläche ablenkt. Die internationale Raumstation ISS befindet sich innerhalb der Erdumlaufbahn, doch bei grösseren Entfernungen von der Erde – also bei Mondmissionen oder einer zukünftigen Marslandung – fällt dieses schützende Feld weg und die Astronauten sind der Strahlung in weit grösserem Masse ausgesetzt (Hellweg & Baumstark-Khan, 2006). Generell wird davon ausgegangen, dass kosmische Strahlung durch potenzielle Schädigung der DNA mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergeht. Es besteht ausserdem eine Verbindung zwischen chronischer Strahlung und neurodegenerativen Krankheiten wie Demenz (Kandarpa et al., 2019). Ausserdem berichten Astronaut*innen im Apollo Programm das Wahrnehmen von «Lichtblitzen», welche vermutlich durch kosmische Strahlung verursacht werden. Diese können unter Umständen mit einer verminderten Leistungsfähigkeit einhergehen, wenn die Astronaut*innen in kritischen Situationen schnell und akkurat handeln müssen (Sannita, 2006). Eine Empfehlung gerade für längere Missionen ausserhalb des Erdorbits ist deshalb, die Astronaut*innen durch spezielles Material des Raumschiffes, Schutzanzüge oder auch eine besondere Diät so gut wie möglich vor Schäden durch Strahlung zu schützen (Paris, 2017). Eine erhöhte Strahlenbelastung ist nach derzeitigem Stand aber nicht vollständig abzuwenden (Hellweg & Baumstark-Khan, 2006).

Die Gefahren von Schlafmitteln

Es gibt auf dem Markt einige Mittel, die pharmakologischen Schlaf herbeiführen können, wenn der natürliche circadiane Rhythmus durch Schichtarbeit, Schlafstörungen oder andere Umstände gestört ist. Die aktuellen Mittel der Wahl sind Benzodiazepine wie Diazepam (auch bekannt als Valium) oder sog. Non-Benzodiazepine, die an einen Subtyp von Benzodiazepinrezeptoren binden und tendenziell mit weniger Nebenwirkungen als die klassischen Benzodiazepine einhergehen (Lemmer, 2007). Während die Arzneimittel schnell wirksam und effektiv sind, bringen sie unerwünschte Nebenwirkungen wie verminderte kognitive Leistungsfähigkeit und starke Abhängigkeit schon bei geringen Dosen bzw. Entzugserscheinungen nach chronischer Anwendung mit sich. Zudem ist der künstlich herbeigeführte pharmakologische Schlaf weniger erholsam als der natürliche physiologische Schlaf. Für eine langfristige Anwendung bei Schlafproblemen sind sie daher nicht empfohlen und sollten generell mit Vorsicht eingesetzt werden (Lemmer, 2007).

Strukturelle Veränderungen im Gehirn

Bildgebende Verfahren in Studien zeigen, dass die Schwerelosigkeit im All mit strukturellen Veränderungen im Gehirn einhergeht. Beispielsweise verschiebt sich die Zerebrospinalflüssigkeit (ZSF) aus dem Rückenmark in Richtung Kopf, was zu einer Ausdehnung der Hohlräume im Gehirn und höherem intrakraniellem Druck führt. Es gibt ausserdem Hinweise, dass sich der Anteil der grauen bzw. weissen Substanz im Gehirn verschiebt und einzelne Gehirnareale eine veränderte Konnektivität entwickeln (Roy-OʼReilly et al., 2021). Ein Artikel von Kandarpa und Kollegen (2019) erwähnt, dass die Umverteilung von ZSF zum Abstumpfen des Geruchs-, Tast- und Hörsinns führen kann. Allerdings ist die Studienlage zu diesen Veränderungen uneindeutig. Viele Veränderungen erscheinen adaptiv für das schwerelose Umfeld und zumindest teilweise reversibel bei Rückkehr auf die Erde (Roy-OʼReilly et al., 2021).

Veränderung des circadianen Rhythmus

Eine wichtige Veränderung im physikalischen Umfeld des Weltraums stellt die Verschiebung des Tagesrhythmus dar. Auf der Erde ist unser Körper an einen 24-stündigen Rhythmus mit dem Wechsel zwischen Tag und Nacht gewöhnt und wichtige körperliche und psychische Prozesse wie die Temperaturregulation, Schmerzempfinden, Blutdruck und Schlaf unterliegen diesem sogenannten circadianen Rhythmus. Die ISS umkreist die Erde in circa 90 Minuten und die Astronauten erleben täglich 16 Sonnenauf- und Untergänge; im All existiert dementsprechend kein solcher natürlicher Rhythmus. Der circadiane Rhythmus ist durch einen internen Zeitgeber im Gehirn, den nucleus suprachiasmaticus, vorgegeben, wird jedoch durch den äusseren Zeitgeber Licht synchronisiert und kann sich somit je nach Beleuchtung verschieben. Astronaut*innen sind etwa zwei Drittel der Zeit Licht ausgesetzt und müssen zudem oft Schichtarbeit leisten. Viele berichten daher von Beschwerden wie einem gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus. Eine mögliche Lösung ist die künstliche Beleuchtung des Raumschiffs in Einklang mit den irdischen Lichtverhältnissen. Eine weitere Interventionsmöglichkeit ist die pharmakologische Einnahme von Melatonin, dem «Schlafhormon», welches normalerweise bei Dunkelheit ausgeschüttet wird und somit beim Einschlafen helfen kann (Guo et al., 2014).

Sensorische Isolation

Ein weiterer Einflussfaktor auf die Psyche der Astronaut*innen ist die sensorische Isolation. Während oftmals angenommen wird, dass Astronauten andauernd aktiv handeln und wichtige Entscheidungen treffen müssen, sind gerade Langzeitmissionen tatsächlich mit langen Perioden niedriger Arbeitsbelastung und monotonen Routinearbeiten verbunden (Oglesby & Salas, 2012). Das Arbeitsumfeld im Raumschiff bietet ausserdem nur eine begrenzte Anzahl an visuellen und auditiven Stimuli; die Sinnesorgane werden sozusagen «unterfordert». Studien zeigen, dass langfristige sensorische Deprivation negative Konsequenzen wie Halluzinationen und Angststörungen hat (Merabet et al., 2004, zitiert nach Bachman et al., 2012). Gemäss Bachman und Kollegen (2012) ist das Vorhandensein neuer Stimuli wichtig für das psychische Wohlbefinden. Zudem kann der fehlende Einsatz von speziellen Fähigkeiten langfristig zum Verkümmern dieser Kompetenz führen (Oglesby & Salas, 2012). Um das Problem der Monotonie von sensorischen Stimuli zu lösen, wird versucht, die Innenausstattung des Raumschiffes so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Was die Eintönigkeit der Arbeit betrifft, sollten den Astronaut*innen Möglichkeiten geboten werden, ihre Fähigkeiten mit Übungsaufgaben zu trainieren. Zudem könnten sie Freizeitbeschäftigungen wie der Fotografie oder virtuellen Videospielen nachgehen. Eine weitere Massnahme, die im Vorfeld getroffen wird, ist die bewusste Personalauswahl. Das bedeutet, dass bei der Auswahl der Astronaut*innen auf eine hohe Toleranz gegenüber sensorischer Isolation und Langeweile geachtet wird, sodass nur die «geeigneten» Kandidaten ins All geschickt werden. In gewissem Umfang können diese Fertigkeiten aber auch verbessert werden. Es gibt daher Versuche, Astronaut*innen auf der Erde auf das reizarme Umfeld des Weltalls vorzubereiten, indem sie für längere Zeit ähnlich reizarmen Umgebungen auf der Erde ausgesetzt werden (Bachman et al., 2012).

Spatio-temporale Isolation

Die spatio-temporale Isolation beschreibt die buchstäbliche und sprichwörtliche Abkapselung der Astronaut*innen von der Erde. Hier geht es unter anderem um den sogenannten «Earth-out-of-view» Moment bei potenziellen Mars-Missionen, bei dem die Erde aus dem Blickfeld verschwinden und somit der letzte visuelle Referenzpunkt zur Heimat nicht mehr vorhanden sein wird (Oglesby & Salas, 2012). Zudem gehen laut Bachman und Kollegen (2012) durch das Fehlen von Feiertagen und gesamtgesellschaftlichen Aktionen wichtige Verbindungen zum Leben auf der Erde verloren. Dies kann zu Gefühlen von Isolation und Einsamkeit führen. Potenzielle Massnahmen, die dem entgegenwirken sollen, sind das aktive Wahrnehmen von Geburts- und Feiertagen und anderen wichtigen Events, sowie die bewusste Betrachtung der Erde durch die Fenster des Raumschiffes so oft und lange dies möglich ist (Bachman et al., 2012).

Soziale Isolation

«I miss the earth so much
I miss my wife
Itʼs lonely out in space»

Rocket Man, Elton John

Neben der sensorischen und spatio-temporalen Isolation ist auch die soziale Isolation ein zu beachtender Faktor. Soziale Isolation bezieht sich auf den beschränkten sozialen Kontakt der Astronaut*innen. Während der Zeit im Raumschiff besteht nur zu den anderen Crewmitgliedern menschlicher Kontakt – meist vier bis sechs Personen, die oft auch aus unterschiedlichen Ländern stammen und sich im Vorfeld nicht gut kennen (Bachman et al., 2012). Per Funk sind ausserdem Gespräche mit «Mission Control» möglich; bei zukünftigen, weiter entfernten Reisen wird auch dieser Kontakt abbrechen, sodass die Astronaut*innen ganz auf sich allein gestellt sein werden. Kontakt zur Familie ist nur durch gelegentliche Telefongespräche möglich. Sobald die Funkverbindung durch eine zu grosse Entfernung von der Erde abbricht, ist auch diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Auswirkungen von begrenztem menschlichem Kontakt zu bekannten und geliebten Personen können Motivationsverlust, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme sein (Paris, 2017). Es besteht ein erhöhtes Risiko für Depression und Angststörungen (Kandarpa, 2019). Zudem ist durch den erhöhten Stress das Konfliktpotenzial zwischen den Mitgliedern der Crew erhöht. Um dem so gut wie möglich entgegenzuwirken, sollten die Astronaut*innen so oft wie möglich mit der Familie telefonieren oder video-chatten können. Die Crewmitglieder sollten ausserdem trainiert werden, in Konfliktsituationen angemessen zu reagieren und gemeinsam Lösungen zu finden. Mehr Privatsphäre durch Rückzugsmöglichkeiten können ebenfalls helfen, Konflikte zu verhindern (Paris, 2017).

Perspektivenwechsel

Die oben genannten Punkte beschreiben mögliche negative Auswirkungen auf die Psyche von Astronaut*innen. Es gibt aber auch Quellen, die auf positive Konsequenzen hinweisen. In seinem Buch An astronautʼs guide to life on earth erklärt Chris Hadfield, dass sein Training und seine Missionen als Astronaut dazu geführt haben, dass er auf ungewohnte und «gefährliche» Situationen lösungsorientiert reagiert und einen kühlen Kopf behalten kann. Er beschreibt ausserdem, dass er viele Situationen auf der Erde aus einem leicht anderen Blickwinkel und mit einem Gefühl des Staunens betrachtet. Oglesby und Salas (2012) führen an, dass das Betrachten und Fotografieren der Erde aus dem All von vielen Astronaut*innen als Perspektiven verändernd und beruhigend empfunden wird.

«Life is full of so many small, unexpected pleasures, not just in space, but right here on Earth, and I think I see them more clearly now than I used to because microgravity insists you pay attention»

Chris Hadfield, 2013, S. 206

Fazit

Insgesamt kann man sagen, dass eine Mission im Weltall nach aktuellem Forschungsstand beträchtliche psychologische Konsequenzen für die Crewmitglieder hat. Nicht nur physische Veränderungen der Umwelt wie ein veränderter Tagesrhythmus und eintönige Reize, sondern auch soziale Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle. Durch bewusstes Design des Raumschiffs, Personalauswahl und Training der Astronaut*innen vor der Mission kann vielen Problemen entgegengewirkt werden. Letzten Endes ist der direkte Kontakt zur Crew im All aber begrenzt und Hilfestellung bei Problemen nur bedingt möglich; die Crew ist grösstenteils auf sich alleine gestellt. Mit zunehmender Erfahrung durch zukünftige Missionen und mehr Forschung in diesem Bereich wird unser Wissen über die spezifischen Auswirkungen des Alls auf die Psyche hoffentlich erweitert. Wie Chris Hadfield es formulierte: «[w]e are only limited by our ability to invent and persevere» (Hadfield, 2013, S. 302).


Zum Weiterlesen

Hadfield, C. (2013). An astronautʼs guide to life on earth. Pan Books.

Literatur

Bachman, K. R., Otto, C. A., & Leveton, L. B. (2012). Countermeasures to mitigate the negative impact of sensory deprivation and social isolation in long-duration space flight. https://core.ac.uk/reader/10566260

Guo, J., Qu, W., Chen, S., Chen, X., Lv, K., Huang, Z., & Wu, Y. (2014). Keeping the right time in space: Importance of circadian clock and sleep for physiology and performance of astronauts. Military Medical Research, 1.

Hellweg, C.E., & Baumstark-Khan, C. (2006). Getting ready for the manned mission to Mars: The astronauts’ risk from space radiation. Naturwissenschaften, 94, 517-526.

Kandarpa, K., Schneider, V.B., & Ganapathy, K. (2019). Human health during space travel: An overview. Neurology India, 67, 176-181.

Lemmer, B. (2007). The sleep–wake cycle and sleeping pills. Physiology & behavior, 90(2-3), 285-293.

Merabet, L. B., Maguire, D., Warde, A., Alterescu, K., Stickgold, R., & Pascual-Leone, A. (2004). Visual hallucinations during prolonged blindfolding in sighted subjects. Journal of Neuro-Ophthalmology, 24, 109-113.

Oglesby, J., & Salas, E. (2012). The issue of monotony and low workload in spaceflight: Considerations for the mission to Mars. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting, 56, 1782-1786. https://doi.org/10.1177/1071181312561358

Paris, A. (2017). Physiological and psychological aspects of sending humans to Mars: Challenges and recommendations. Journal of the Washington Academy of Sciences, 100(4), 3-20. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.23177.34405

Roy-O’Reilly, M., Mulavara, A.P., & Williams, T.J. (2021). A review of alterations to the brain during spaceflight and the potential relevance to crew in long-duration space exploration. NPJ Microgravity, 7.

Sannita, W.G., Narici, L., & Picozza, P. (2006). Positive visual phenomena in space: A scientific case and a safety issue in space travel. Vision Research, 46, 2159-2165. https://doi.org/10.1016/j.visres.2005.12.002

Taupin, T. (1972). Rocket Man [Recorded by G. Dudgeon (Elton John)]. On Honky Château. Uni.