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Beiträge aus der Kategorie ‘Alltag’

Das Tier an meiner Seite

Über die Abenteuer mit meinem Teddybären und warum unsere Beziehung damals so wichtig für mich war.  

Calvin hat Hobbes. Charlie Brown hat Snoopy. Christopher Robin hat Puh-Bär und ich habe meinen «kleinen Bär». Übergangsobjekte übernehmen eine wichtige Entwicklungsfunktion im Kindesalter. Die Theorie stammt von D. W. Winnicott und wird anhand von meinen eigenen Erfahrungen mit meinem Teddybären erklärt. 

Von Stefan Dorner
Lektoriert von Marie Kappen und Loriana Medici
Illustriert von Stefan Dorner

Von früh morgens an, wenn ich aufwache, bis spät abends, wenn ich zu Bett gehe, ist mein «kleiner Bär» mit mir unterwegs. Stets ist er an meiner Seite und wir erkunden zusammen die Welt. Wir schlafen immer zusammen ein, ohne ist unmöglich. Der «kleine Bär» ist der beste Tröster, den ich mir wünschen kann. Doch ich werde grösser und selbstständiger. Meinen pelzigen Komplizen brauche ich immer seltener. Schliesslich verschwindet er in einer dunklen, modrigen Kartonkiste im Keller. Doch ich bekomme bald ein schlechtes Gewissen: Schlechte Luft und Dunkelheit machen das Leben meines «kleinen Bären» bestimmt unerträglich. Nein! Ich kann ihn nicht einfach in den Keller verbannen.  

Für diesen Artikel möchte ich die Geschichte von meinem Teddybären wiederaufleben lassen. Ich nehme also meinen «kleinen Bär» von der Kommode, wo er die letzten Jahre verbrachte und setze ihn vor mich auf meinen Schreibtisch. Mein «kleiner Bär» sieht mit seinem stellenweise dünn gewordenen Fell sehr «abgeschmust» aus. Die Bärenarme und die aufgenähten Herzen auf dem weissen Bauch könnten sehr bald abfallen. Das linke Bärenohr und die Bärenschnauze sehen ramponiert und geflickt aus. Die Glasaugen sind verkratzt und der Bärenstummelschwanz fehlt gänzlich. Weitere Schmuseattacken, vielleicht einmal von meinem Sohn oder meiner Tochter, würde er kaum überleben. Ich schone also Meister Petz und versuche mich mit ihm an unsere vergessenen Abenteuer zu erinnern.  

Der nüchterne wissenschaftliche Begriff  

Mit der Theorie der Übergangsobjekte beschreibt der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott ein materielles Objekt, wie ein Kuscheltier, der Zipfel einer Decke oder ein Schmusetuch, das vom Säugling selbst ausgesucht wird (Winnicott, 2015). Ein Übergangsobjekt hilft dem Kind die Abwesenheit seiner Bezugsperson zu akzeptieren (Grüter, 2012). Doch es dient nicht nur als Mutterersatz, auch im Beisein der Mutter hat das Übergangsobjekt eine ungeheuerliche Bedeutung, so z.B. in fremden oder angstbesetzen Situationen. Das Übergangsobjekt hilft die Anforderungen der Aussenwelt anzunehmen und stellt somit eine Art Brücke zwischen Kind und Welt dar. Das Übergangsobjekt unterstützt das Kind dahingehend, dass das Kind seine Gefühle auf das Übergangsobjekt projiziert anstatt die Angst mit Weinen auszudrücken. So kann sich der Übergang von der ersten frühkindlichen Beziehung zur Mutter zu reiferen Beziehungen vollziehen (Strangl, 2018).  

«Ich sollte schliesslich auch erwähnen, dass es in einigen Fällen nur ein bestimmtes Übergangsobjekt gibt, nämlich die Mutter.» 

Donald W. Winnicott, 2015, S. 14 

Die Einzigartigkeit des Übergangsobjektes sieht nur das Kleinkind selbst. In den seltensten Fällen ist es der schöne Steiff-Teddybär von Oma und Opa. Neben Meister Petz für das Einschlafen, hatte ich für eine kurze Zeit auch ein Abwasch-Bäseli immer mit dabei. Niemand kann nachvollziehen warum ich ein Bäseli als Übergangsobjekt brauchte. Egal, ob auf einer Wanderung, auf dem Spielplatz oder zuhause im Bad, ich hielt das Bäseli auf jedem Foto immer in den Händen.  

Viele Emotionen und der erste «Nicht-Ich-Besitz»  

Übergangsobjekte sind mit grossen Gefühlen verbunden (Grüter, 2012). Eltern unternehmen alles, damit diese Beziehung nicht durch kleine Missgeschicke verloren geht. Als mein «kleiner Bär» bei der Gepäckkontrolle am Flughafen von Südafrika vergessen ging, bemerkten dies meine Eltern erst auf dem Weg vom Gate zum Flugzeug. Ohne zu zögern rannte mein Vater zurück und rettete meinen «kleinen Bär». Nach den Ferien nähte mir meine Mutter einen Umhängebeutel, damit Meister Pelz nicht mehr verloren gehen würde.  

Ein Übergangsobjekt ist nach der Theorie von Winnicott der erste «Nicht-Ich-Besitz» der äusseren Welt eines Säuglings (Winnicott, 2015). Trinkt das Neugeborene von der Brust der Mutter, hat dieses noch keine Vorstellung, dass die Brust zur Mutter gehört. Für das Neugeborene ist alles eins und sieht noch nicht, dass es nicht alles sofort haben kann. Winnicott schlussfolgert daher, dass sich der Säugling aufgrund dieser Illusion omnipotent fühlt. Wenn das Kleinkind langsam zu begreifen beginnt, dass es nicht identisch mit der Mutter ist, werden Übergangsobjekte wichtig (Blass, 2011). Damit beginnt die Vorstellung einer inneren und einer äusseren Realität zu wachsen. An die Stelle der Illusion tritt dann das Übergangsobjekt (Winnicott, 2015). Das wiederholte Nutzen eines Gegenstandes, aber auch einer Geste, eines Wortes oder einer Melodie hilft dem Kind sich zu beruhigen und die eigenen Ängste, meist Trennungsängste, abzuwehren. Diese sogenannten Übergangsphänomene können für ein Kind eine lebenswichtige Bedeutung erlangen (Bahrenberg, 2016). Mit der Beziehung zum Plüschtier verzichtet das Kleinkind somit auch auf seine Omnipotenz. 

Im Spiel werden Liebe und Hass ausgelebt  

Mein «kleiner Bär» musste viel aushalten. Wenn er unsere Beziehung beschreiben könnte, würde er Folgendes berichten: «Der kleine Stefan behandelt mich beim Einschlafen genauso zärtlich, wie er mich leidenschaftlich liebt und drückt. Manchmal bekomme ich auch seine Aggressionen zu spüren. Dann werde ich an die Wand geschleudert. Jedoch dauert dies nicht lang. Oft werde ich schnell wieder bei den Armen gepackt und festgedrückt. Der kleine Stefan ist mein Kumpane und ich tröste ihn, wenn der Vater schimpft oder die Mutter ihm etwas nicht erlaubt». Das Kind zeigt damit erste Züge eines Rollenspiels und kann sich in der Beziehung zu seinem Objekt austesten (Bahrenberg, 2016). Das Ausleben positiver und negativer Affekte gegenüber dem Übergangsobjekt hilft dem Kind in seiner gesunden Entwicklung.  

«Es war ein nie versagendes Beruhigungsmittel. Dies ist ein typisches Beispiel für das, was ich als Übergangsobjekt bezeichne.» 

Donald W. Winnicott, 2015, S. 17 

Waschen nur im Notfall 

Das Übergangsobjekt darf nicht verändert werden, ausser das Kind verändert es selber (Winnicott, 2015). Als mein «kleiner Bär» nach einiger Zeit nicht mehr braun-weiss, sondern dunkelbraun war und unangenehm roch, gab ich ihn immer noch nicht zum Waschen frei. Meiner Mutter wurde es jedoch zu bunt und sie erklärte mir, dass der «kleine Bär» genauso gerne Karussell fährt wie ich, nur eben am aller liebsten in Waschmaschinen – dies klang glaubhaft. Ganz geheuer war mir diese Karussellfahrt in der Waschmaschine dennoch nicht und so verbrachte ich den ganzen Waschgang vor der Trommel. Nur um sicher zu gehen, dass mit dem «kleinen Bär» wirklich alles in Ordnung ist.  

Es wäre zu bedauern, wenn mein «kleiner Bär» dasselbe traurige Schicksal wie viele Teddybären dieser Welt erfahren hätte und den Rest seines Lebens an einem dunklen und kalten Ort verbringen müsste. Seine beruhigenden Superkräfte wären so verbannt gewesen. Es war schön in die Geschichten meiner frühsten Kindheit zurückzukehren. Welche vergessenen Geschichten warten auf Dich?  

Übergangsobjekte in der klinischen Anwendung 

Die Theorie der Übergangsobjekte ist auch in der Praxis äusserst interessant: Ein elfjähriges Kind kann in der Psychotherapie nur schwer zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Das zeigt sich beim Monopolyspiel, wenn das Kind bei ungünstigem Spielende aggressiv gegenüber der Therapeutin wird. Wenn nach einiger Zeit wirksamer Therapie aber eine Playmobilfrau – ein Übergangsobjekt – vom Kind ins Spiel integriert wird und bei frustrierenden Situationen mit einem Spielzeuggewehr abgeschossen wird, lassen die Aggressionen gegen die Therapeutin nach. Eine reife Beziehung zur Therapeutin kann entstehen. Die Beziehung zur Therapeutin kann das Kind somit schützen, indem es die natürlichen Aggressionen an der Playmobilfrau auslässt.  


Weiterlesen

Watterson, B. (2011). Calvin und Hobbes. Hamburg: Carlsen Comics.  

Feig, P., Schulz, B., Schulz, C., Travers, M.J. & Uliano, C.(Produzenten). (2015). The Peanuts [Spielfilm].  

Kögler, M. & Busch, E. (2014). Übergangsobjekte und Übergangsräume. Winnicotts Konzepte in der Anwendung. Wetzlar: Psychosozial-Verlag. 

Literatur

Bahrenburg, C. (2016). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Bedeutsame Begleiter des Kindes in seiner frühen Entwicklung. Zugriff am 13.01.2018 http://www.fruehe-bildung.online/artikel.php?id=1079  

Blass, S. (2011). Die Schmusetuchlobby – welche Rolle spielen Übergangsobjekte? Zugriff am 13.01.2018 http://www.t-online.de/leben/familie/erziehung/id_48506954/die-schmusetuchlobby-welche-rolle-spielen-uebergangsobjekte-.html  

Grüter, I. (2012). Übergangsobjekt [Radiobeitrag]. Zugriff am 13.01.2018 https://www.srf.ch/sendungen/100-sekunden-wissen/uebergangsobjekt 

Stangl, W. (2018). Übergangsobjekt. Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 13.01.2018 http://lexikon.stangl.eu/14828/uebergangsobjekt/) 

Stern, D. (2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings (neunte, erweiterte Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.  

Winnicott, D.W. (2015). Vom Spiel zur Kreativität (14. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. 

Die Wut in mir.

Ein persönliches Plädoyer für eine oft missverstandene Emotion. 

«Anger can be useful. It can keep you moving and working when you want to give up. It can give you courage when you need it. It can focus your attention on what has to change, in your life, in your community. Anger can be a tool [that …] we shouldn’t let rust away and never learn to use.» 

Von Marie Kappen
Lektoriert von Aurelia Heilmann und Laurina Stählin
Illustriert von Marie Kappen

Dieses Zitat von Laurie Penny (2017), einer zeitgenössischen, feministischen Autorin, schwebte mir im Kopf, als ich neulich bei der Arbeit aufgrund von Missverständnissen ungerechtfertigt beschuldigt wurde. Anstatt die Vorwürfe – wie so oft – höflich schweigend hinzunehmen, beschloss ich, meine aufkommende Wut zu akzeptieren. Ich nutzte die entstehende Erregtheit, um meinen Standpunkt energisch, aber respektvoll aufzuzeigen. Ohne Gegenvorwürfe wies ich mein Gegenüber auf seine Fehlschlüsse hin. Etwas Erstaunliches geschah: Die Person entschuldigte sich. Und ich? Ich fühlte mich zufrieden und auf eine authentische Art selbstwirksam. Denn bisher war mein erster Impuls, die aufkommende Wut zu kontrollieren. Wütend, so dachte ich, werden nur kleine, trotzige Kinder, wenn sie ihren Willen nicht bekommen oder egozentrische Choleriker, die ohne Realitätsbezug in jeder Interaktion einen Angriff sehen. Keines von beidem wollte ich sein, betrachtete ich mich selbst doch als ausgeglichenes, freundliches und rationales Wesen. Wut zuzulassen käme einem Gesichtsverlust gleich. Doch Wut herunterzuschlucken schien auch nicht die Lösung zu sein, führte dies doch oft dazu, dass sich in mir ein Groll ausbreitete, weil ich nicht dieses oder jenes gesagt hatte. Auch liess ich meinen Frust an andere aus oder nahm, unzufrieden mit mir selbst, mehr hin als sich gut anfühlte. 

Seit jener Situation bei der Arbeit bin ich von dieser, allgemein eher negativ angesehenen, Emotion fasziniert. Meine Recherchen haben mir gezeigt, dass Wut als moralische Emotion eine zentrale Funktion für uns als Individuen und als Gesellschaft erfüllen kann. Daher möchte ich diese Ausgabe nutzen, um ein entschiedenes Plädoyer für das Wuterleben und seinen reflektierten Ausdruck zu schreiben. Denn es käme einem unnötigen Verlust gleich, diese Emotion zu negieren. 

Eine zerstörerische Kraft, die nicht kontrolliert werden kann? 

Wut wird häufig als eine der gefährlichsten Emotionen angesehen (Reevy, Malamud Ozer & Ito, 2010). Sie geht meistens mit einem stark erregten Gemütszustand einher, der sich als unkontrollierbarer, aggressiver Impuls nach aussen zu drängen versucht (Weber, 2013). Wenn dieser Impuls nicht mehr zurückgehalten werden kann und sich auf das unmittelbare Umfeld in Form von feindseligen Beschuldigungen entlädt, endet ein solcher Wutausbruch häufig in heftigem Streit und aggressiven Auseinandersetzungen (Weber, 2013). Zurück bleibt meist ein Scherbenhaufen aus tiefen verbalen Verletzungen und zerstörten sozialen Beziehungen, der einhergeht mit lähmenden Scham- und Schuldgefühlen (Chuang, 2013). In der Literatur wird oft ein abschreckendes Bild von einem wild gewordenen, tollwütigen Tier gezeichnet, welches sich in seinen triebhaften Instinkten auflöst (Weber, 2013). Der Gedanke an diesen möglichen Entzug der rationalen Kontrolle und der menschlichen Zivilisiertheit erzeugt zu Recht Angst. Denn Wut kann eine gewaltige Kraft entfesseln, die in manchen Momenten mit einer erschreckenden Destruktivität einhergeht. Einem solchen Verständnis folgend, ist es nachvollziehbar, dass Wut als eine gesellschaftlich unerwünschte, ja gar gefährliche Emotion angesehen wird, deren Erleben unterdrückt und deren Ausdruck verhindert werden muss. 

Führt Wut zwangsläufig zur Aggression? 

Tatsächlich kann Wut eine Schlüsselemotion für Aggression sein (Chuang, 2013). Aber nicht jedes Wuterleben resultiert zwangsläufig in aggressivem Verhalten. Ich kann mir vergnüglich und äusserst bildlich vorstellen, wie ich meinem Hintermann an der Bar mein Glas Bier ins Gesicht schütte, wenn seine Hand zum wiederholten Male – aus Versehen natürlich, versteht sich – auf meinem Hintern landet; ohne dass ich dementsprechend handeln werde. Denn ist es nicht so, dass ich gelernt habe, ein rationales Wesen zu sein und als solches in der Regel meine Impulse reflektieren und meine Handlung dementsprechend steuern kann? Die mangelnde Differenzierung zwischen Aggression, Feindseligkeit und Wut führt dazu, dass Wut als destruktive Emotion pauschalisiert wird, obwohl dies nicht der Realität entspricht (Chuang, 2013). Zudem ist Wut nicht der einzige Auslöser, der zu aggressivem Verhalten führen kann (Chuang, 2013). 

«Getting angry (…) alerts the organism to its own behavioral dispositions and provides a window to moderate, modify, and adjust its thinking and feeling, and to deliberate and plan action.» 

Flanagan, 2018, S. viii 

Wir lernen im Verlaufe unserer Sozialisation die Darbietungsregeln unserer Gesellschaft kennen (Lemerise & Dodge, 2008): Aufgrund welcher Auslöser, in welchen Situationen, gegenüber welchen Personen und für welches Alter ist der Wutausdruck auf welche Art und Weise kulturell angemessen und sozial akzeptiert? Zum Beispiel erfüllt der Wutausdruck im Säuglingsalter noch eine wichtige Funktion, da er die Bezugspersonen darauf hinweist, dass der Säugling sich in Disstress befindet. Der Wutausdruck mobilisiert diese dann, die entsprechenden Störfaktoren zu beseitigen (Lemerise & Dodge, 2008). Lemerise und Dodge (2008) weisen darauf hin, dass mit zunehmendem Alter und Sprachkompetenz der Wutausdruck immer weniger geduldet wird. Im Jugendalter lernen wir dann emotionale Ausbrüche, insbesondere jene von Wut, zu unterdrücken, da diese mit Spott und Ausgrenzung einhergehen (Lemerise & Dodge, 2008). Eine gewisse emotionale Gelassenheit wird zur einzig akzeptierten Norm. Jedoch löst sich unser Wuterleben nicht in Luft auf, nur weil wir es unterdrücken. Zudem ist das Wuterleben auch noch nach dem Säuglingsalter funktional.  

Wut als sensibler Detektor und kraftvoller Mobilisator 

Wut entsteht nicht einfach aus heiterem Himmel, sondern als Reaktion auf gewisse Stimuli. Ein Verständnis der Auslöser ist wichtig, um abschliessend ein Bild über den Mehrwert der Emotion Wut zu zeichnen. Chuang (2013) fasst mehrere Auslöser zusammen. So entsteht Wut unter anderem aus der Frustration, die empfunden wird, wenn Handlungen blockiert werden. Hierbei ist die wahrgenommene Absichtlichkeit der anderen Person von zentraler Bedeutung für das Wuterleben. Wenn wir in einer sozialen Interaktion wütend werden, unterstellen wir unserem Gegenüber ein willentliches Handeln, das böswillig gegen uns gerichtet ist. Wut entsteht zudem häufig in sozialen Interaktionen, in denen wir uns persönlich angegriffen, beleidigt und geringschätzig behandelt fühlen (Reevy, Malamud Ozer & Ito, 2010). 

Ein weiterer, häufiger Auslöser von Wut ist eine wahrgenommene Ungerechtigkeit (Chuang, 2013). Wenn ich das Gefühl habe, dass soziale Regeln des menschlichen Zusammenlebens verletzt werden, dann empfinde ich Wut. Hierbei ist es nicht relevant, ob ich persönlich die Ungerechtigkeit erfahre oder ob ich eine globale Ungerechtigkeit beobachte (Tavris, 1989). Selbst wenn anderen Menschen ein Unrecht widerfährt oder diese diskriminiert werden, wenn die Umwelt ausgebeutet oder Tiere misshandelt werden, können wir wütend werden. Wut ist daher für viele eine höchst moralische Emotion, die einen sensiblen Detektor unseres Gerechtigkeitssinns darstellt und uns auf gegenwärtige Ungerechtigkeiten hinweist (Tavris, 1989; Flanagan, 2018).  

In A Rage for Justice führt Tavris (1989) aus, dass Wut in solchen Momenten unsere Empathie weckt. Die Empörung über die wahrgenommene Ungerechtigkeit habe eine höchst belebende Wirkung und könne dazu motivieren, sich für die soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Wut sei in ihrer Rolle als kraftvoller Mobilisator für die Entstehung von Bürgerrechtsbewegungen nicht zu unterschätzen. 

«Anger is an emotion that can motivate constructive behaviors, such as standing up for one’s rights.» 

Reevy, Malamud Ozer & Ito, 2010, S. 63 

Wut erfüllt in diesem Sinne zwei bedeutende Funktionen: sie weist auf geschehenes Unrecht hin und motiviert dazu, diesem entschlossen entgegenzutreten. Weiter weist uns Wut im persönlichen Kontext darauf hin, dass ein Hindernis vorliegt, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten. Sie kann uns dazu motivieren, dass wir lösungsorientiert handeln (APA, n.d.). Dies klingt fantastisch, jedoch lernen wir nicht, wie wir unser Wuterleben angemessen artikulieren können, wodurch das Potential dieser Emotion verloren geht. Diese Tatsache ist besonders ärgerlich, wenn man bedenkt, dass Wut ungefiltert und unreflektiert die Tendenz hat, eine ebenfalls wütende Gegenreaktion herauszufordern (Chuang, 2013). Eine solche Situation würde sehr wahrscheinlich in einem Streit enden. Für den konstruktiven Nutzen der Wut ist es daher wichtig zu lernen, wie wir unser Wuterleben angemessen artikulieren können.  

Hierfür ist es hilfreich, dass wir unsere Grenzen und Bedürfnisse kennen (Weber, 2013). Wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Grenzen überschritten und unsere Bedürfnisse konstant ignoriert werden, dann können wir dies unserem Gegenüber auf respektvolle, bestimmte Weise mitteilen. Durch dieses direkte Ansprechen baut sich die Wut in uns nicht wie Druck in einem Dampfkocher auf, bis wir explodieren. 

Um «to guarantee our use of anger and not its use of us» (Tavris, 1989, S. 283), ist es wichtig, dass wir unseren Verstand nutzen und über folgende Fragen reflektieren: Was lässt mich in dieser Situation gerade wütend werden? Werden meine Grenzen überschritten, meine Bedürfnisse ignoriert und/oder mein Selbstwert verletzt? Habe ich das Gefühl, dass mir eine andere Person absichtlich Steine in den Weg legt? Geschieht gerade ein Unrecht und sollte ich für meine Rechte und die der anderen eintreten? Zudem ist es wichtig, sich die Frage zu stellen, ob die eigene Wut in jenem Moment gerechtfertigt ist. Denn Wut ist eine sich selbst rechtfertigende Emotion und unterliegt daher schnell Wahrnehmungsverzerrungen. 

«Anger is the handmaiden of selfishness. It is produced by my puffed-up, self-centered ego, which is in the grip of the illusion that I am in the center of the universe and that I ought to get what I want» 

Flanagan, 2018, S. xxi 

Dies bedeutet, dass der wütende Mensch die Tendenz hat, sich und sein Verhalten als moralisch richtig anzusehen. Seine Vorstellungen und Meinungen scheinen ihm legitimer als die seines Gegenübers. Das Problem ist hierbei jedoch, dass Menschen oft nicht einer Meinung darüber sind, was angemessen und gerecht ist. Jeder handelt nach seinem persönlichen Interesse. Des Weiteren geht Wut mit Schuldzuschreibungen und Absichtlichkeitsunterstellungen einher. Doch kann ich wirklich wissen, dass mein Gegenüber die Absicht hatte, mich zu verletzen?  

Mein Plädoyer für das Wuterleben 

Wie Laurie Penny bereits sagt, ist Wut ein wichtiges Werkzeug, das wir nutzen sollten. Denn auch wenn Wut zu aggressivem Verhalten mit destruktiven Konsequenzen führen kann, ist dies keine zwangsläufige Gleichung. Sie hat ein destruktives Potential, ja, jedoch lässt sie sich nicht alleine durch ihren Fehlgebrauch definieren. Für mich ist Wut eine komplexe Emotion, deren Artikulation erlernt werden kann. Sie besitzt wichtige Funktionen als Detektor für Ungerechtigkeiten und als Mobilisator, um für seine Rechte und die der anderen einzutreten. Hierdurch fördert Wut Zivilcourage. Doch wie schaffen wir es, die richtige Balance unseres Wutausdrucks zwischen den beiden Extremen des aggressiven Wutausbruchs und der passiven Unterwürfigkeit zu finden?  

«How could such anger-mitigating practices be cultivated without, at the same time, making people too compliant and accommodating in the face of various kinds of injustice, prejudice, and domination?» 

Flanagan, 2018, S. xxvi 

Ein konstruktiver Nutzen benötigt, meiner Meinung nach, ein gewisses Mass an Bewusstsein für die eigenen Grenzen und Bedürfnisse, also für sein Selbst, und eine gewisse Bereitschaft zur Reflexion des Gefühls sowie der Handlungsmöglichkeiten. Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist, das Wuterleben als solches anzunehmen und seine Wut auf eine nicht verurteilende, beschreibende Art mitzuteilen. Das Ziel in den sozialen Interaktionen wäre dann, den Wutausdruck als Mitteilung des anderen über sich selbst zu verstehen. 

Controlling anger before it controls you. 

Menschen, die unter ihrem Wuterleben leiden und die Schwierigkeiten haben, ihre Wut zu regulieren, lernen im Anger Management diverse Strategien, um sich von ihrer Wut zu distanzieren. Eine Strategie ist Humor, die der Wut ihre Ernsthaftigkeit nimmt. «When you feel [anger …] picture yourself as a god or goddess, a supreme ruler, who owns the streets […], having your way in all situations while others defer to you. The more detail you can get into your imaginary scenes, the more chances you have to realize that maybe you are being unreasonable» (McKay & Rogers, 2009). 

Ein evolutionäres Überbleibsel unserer tierischen Vorfahren. 

Evolutionspsychologische Emotionstheorien (Weber, 2013) sehen in dem Wuterleben eine natürliche, instinktive Reaktion auf eine Bedrohung. In dieser Logik wird das hierauf impulsiv folgende, aggressive Verhalten als Selbstverteidigung interpretiert. Wut und ihr aggressiver Ausdruck besassen somit in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine Überlebensfunktion.  


Zum Weiterlesen

Cherry, M. & Flanagan, O. (Ed.). (2018). The Moral Psychology of Anger. London: Rowman & Littlefield International Ltd. 

Jamisonjan, L. (2018, January 17). I used to insist I didn’t get angry. Not anymore. On female rage. New York Times. Retrieved February 1, 2018, from https://www.nytimes.com/2018/01/17/magazine/i-used-to-insist-i-didnt-get-angry-not-anymore.html 

McKay, M., & Rogers, P. D. (2009). The anger control workbook. Oakland, CA: New Harbinger Publications.  

Literatur  

Chuang, C. (2013). Mensch ärgere Dich (nicht)? In B. A. Badura (Ed.), Ira – Wut und Zorn in Kultur und Literatur (pp. 99-140). Gießen: Psychosozial-Verlag. 

American Psychological Association. (n.d.). Controlling Anger before it controls you. Amercian Psychological Association. Retrieved February 1, 2018 from http://www.apa.org/topics/anger/control.aspx 

Flanagan, O. (2018). Introduction: The Moral Psychology of Anger. In M. Cherry & O. Flanagan (Ed.). The Moral Psychology of Anger (pp. vii-xxxi). London: Rowman & Lit-tlefield International Ltd. 

Lemerise, E. A., & Dodge, K. A. (2008). The development of anger and hostile interactions. In M. Lewis, J. M. Haviland-Jones & L. F. Barrett, L. F. (Ed.), Handbook of emotions (pp. 730-741). New York: The Guilford Press. 

Mc Bride III, L. A. (2018). Anger and Approbation. In M. Cherry & O. Flanagan (Ed.). The Moral Psychology of Anger (pp. 1-14). London: Rowman & Littlefield International Ltd. 

McKay, M., & Rogers, P. D. (2009). The anger control workbook. Oakland: New Harbinger Publications, Inc. 

Penny, L. (2017, August 2). Most Women You Know Are Angry – and That’s All Right. TeenVogue. Retrieved February 1, 2018 from https://www.teenvogue.com/story/women-angry-anger-laurie-penny 

Reevy, G., Malamud Ozer, Y., & Ito, Y. (2010). Encyclopedia of Emotion (Vol. 1). Santa Barbara, California: ABC-Clio. 

Tavris, C. (1989). Anger: The misunderstood emotion. New York: Simon and Schuster. 

Weber, K. (2013). Beeindruckende Emotionen. In B. A. Badura (Ed.), Ira – Wut und Zorn in Kultur und Literatur (pp. 19-97). Gießen: Psychosozial-Verlag. 

Freiwillige vor!

Ein soziales Dilemma in Wohngemeinschaften. 

Zusammenleben bedeutet Kooperation. Doch wie handeln wir in Situationen in denen nur Einzelne den Dienst im Sinne der Gemeinschaft verrichten können? Über Entscheidungen und Bewertungen in einem Freiwilligendilemma. 

Von Lisa Frisch
Lektoriert von Madeleine Lanz und Stefan Dorner
Illustriert von Lisa Frisch

Wer kennt es nicht? Leere Kaffeedosen, dreckiges Geschirr in der Spüle, überquellende Mülleimer –Wohngemeinschaften beherbergen tagtäglich soziale Stolpersteine, in denen sich nur ein Einzelner aufraffen muss, um die ganze Gemeinschaft vor dem Ausnahmezustand zu bewahren.  

Das Freiwilligendilemma 

Situationen wie diese sind in der Psychologie als Freiwilligendilemma (Volunteer’s Dilemma) bekannt. Es handelt sich dabei um interpersonelle Situationen in der ein kollektiver Gewinn erzielt werden kann, solange sich nur ein Einzelner zu einer gemeinschaftlich günstigen Handlung entscheidet (Diekmann, 1985). Das Dilemma existiert, wo immer es menschliches Zusammenleben gibt. Mag es in einer Wohngemeinschaft die Frage sein, wer heute den Kühlschrank auffüllt, ist es im Bus die Angelegenheit, wer für den zusteigenden Herrn den Platz freimacht. Ein Freiwilligendilemma stellt die Beteiligten vor die Wahl: Kooperation oder Freifahrt? Prosozial oder egozentrisch? 

Dabei gibt es keine einzelne Strategie, die mit Gewissheit zum Erfolg führt: So bedeutet eine Kooperation beider Parteien einen kleinen Gewinn für beide. Entscheiden sich beide für eine Freifahrt, gehen beide leer aus. Wählt jedoch einer die Freifahrt während Gegenspielende kooperieren, können Erstere einen grossen Gewinn für sich beanspruchen, während sich Letztere mit einem geringen Gewinn begnügen müssen. Kurzum, eine Kooperation führt nur zu moderaten Gewinnen, aber eben auch nur zu moderaten Verlusten, während eine Freifahrt die Chance auf den ganz grossen Wurf innehält – jedoch immer mit dem Risiko leer auszugehen. Tücke des Freiwilligendilemmas ist, dass die Pareto Effizienz, also der Idealzustand, nur erreicht werden kann, wenn sich die beteiligten Parteien für die gegensätzliche Strategie entscheiden (Diekmann, 1985). Stellen Sie sich also vor, Sie befinden sich im Supermarkt vor dem Toilettenpapier. Kaufen oder nicht kaufen? Nehmen Sie es mit, bewahren Sie die Gemeinschaft mit Gewissheit vor dem Gau. Doch möglicherweise hat ihre Mitbewohnerin den Missstand im Bad bereits entdeckt und sich dem Kauf längst angenommen. Dann wäre ein Weiterer ineffizient, würde es infolge Toilettenpapiertürme im Bad bedeuten. Für ein ideales Resultat sollte also nur ein Einzelner kooperieren, während sich die anderen für eine Freifahrt entscheiden.  

Kooperieren oder nicht kooperieren?  

Doch wie entscheiden wir? Darley und Latané (1968) zufolge, verfallen wir in einem Freiwilligendilemma nicht selten der Verantwortungsdiffusion. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, in dem eine offensichtlich zu absolvierende Aufgabe, trotz genügend fähiger Umstehender, keine Erledigung erfährt. Folglich wählen wir die Freifahrt, sobald wir andere ähnlich verantwortlich empfinden. Die klassische Spieltheorie antwortet hingegen mit Gewinnsteigerung (Diekmann, 1985). Demnach seien wir rational denkende Wesen, die sich stets für jene Handlung entscheiden, welche den grösstmöglichen Gewinn verspricht. In einem Freiwilligendilemma würde das für uns bedeuten, abwechselnd Kooperation und Freifahrt zu wählen. Dann läge die Wahrscheinlichkeit den maximalen Gewinn zu erzielen, dass also beide Spieler unterschiedliche Handlungsentscheidungen treffen, bei 50 Prozent. Doch gibt es Evidenz, dass wir uns häufiger kooperativ verhalten, als es die Spieltheorie zulassen würde (Krueger, Ullrich & Chen, 2016). Auch finden Tversky und Kahnemann (1991), dass Menschen in der Gewinnsteigerung risikoscheu sind und gerne Verluste vermeiden. Damit bedienen wir uns einer Strategie, die versucht, unsere antizipierte Reue (anticipated regret) so gering wie möglich zu halten (Acevedo & Krueger, 2004). So müssten wir auch in unseren Wohngemeinschaften eine Tendenz zur Kooperation hegen. Lieber einmal mehr Seife besorgen, als das Risiko einzugehen, die Gemeinschaft in den Ausnahmezustand zu entsenden. 

Häufig spielt sich ein Freiwilligendilemma auch im Beisein Anderer ab. Dann sind unsere Entscheidungen über Kooperation oder Freifahrt nicht vor der Bewertung der Umstehenden gefeit. Es scheint also plausibel, dass wir unsere Wahl auch daran orientieren, welchen Eindruck wir damit bei anderen hinterlassen. Tatsächlich fanden Forschende, dass Kooperierende moralischer und sogar kompetenter wahrgenommen werden (Heck & Krueger, 2017). Folglich hätten all jene, die sich nach dem gemeinsamen Abendessen für den Abwasch in Stellung bringen oder die seit Wochen untaugliche Glühbirne im Gang auswechseln, prompt an Ansehen gewonnen.  

Doch Vorsicht ist geboten, da in einem Freiwilligendilemma die Rolle des Kooperierenden, im Sinne der Pareto Effizienz, nur von einem Einzelnen innegehalten werden kann. So zeigen Heck und Krueger (2017) auch, dass unser Urteil über Kooperierende von der Entscheidung des Gegenspielers abhängt: Demnach empfinden wir Kooperierende nur dann kompetent, wenn sich die Gegenspieler zu einer Freifahrt entscheiden. Wir bewerten also den Kaffeekaufenden positiver wenn es am selben Tage nicht noch einen weiteren Kaffeekaufenden gibt. Damit unterliegen wir einem Outcome Bias, weil unsere Beurteilungen auf Informationen basieren, die den Entscheidenden zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht zur Verfügung standen (Baron & Hershey, 1988). Konkret würden wir also erwarten, dass beide Parteien korrekt antizipieren wie die Gegenspielenden entscheiden – Freifahrt oder Kooperation – um dann genau die gegensätzliche Handlung zu unternehmen.  

Jedoch zeigen Studien auch, dass wir unsere eigene Verhaltensstrategie gerne an die der Gegenspielenden angleichen (Krueger et al., 2016). Erwarten wir vom Gegenüber Kooperation, kooperieren wir auch. Unterstellen wir dem Gegenüber die Freifahrt, werden wir ebenfalls abtrünnig. In einem Freiwilligendilemma entfernt uns diese Strategie jedoch vom Idealzustand, schliesslich bedeutet beidseitige Kooperation Ineffizienz und beidseitige Freifahrt den grösstmöglichen Verlust. Obendrein schmälert Letztere erneut unser Ansehen: Wählen wir in der Vorahnung, dass Gegenspielende nicht kooperieren die Freifahrt und lassen infolge die gesamte Gemeinschaft ins Schlamassel laufen, sinkt unsere Reputation in Moral und Kompetenz bei unseren Mitmenschen (Heck & Krueger, 2017).  

Hüter der Harmonie 

Glücklich für die Harmonie des Zusammenlebens ist, dass Wohngemeinschaften soziale Umstände beherbergen, die als Katalysator für kooperatives Verhalten dienen: Beispielsweise teilen Mitbewohnende meist ein Gefühl der Zugehörigkeit und der sozialen Nähe. Und wie Balliet, Wu, und De Dreu (2014) in einer Metaanalyse ausmachen, zeigen zahlreiche Studien, dass wir im Kontext verschiedener sozialer Dilemmata eher kooperieren, wenn wir damit unserer eigenen Gruppe, anstelle einer anderen, einen Dienst erweisen. So finden auch Krueger et al., (2016), dass wir bei Menschen, die uns nahestehen, lieber einmal mehr die Strategie der Kooperation wählen (siehe Kasten). So sind wir gewillt unseren Teil beizutragen: Kümmert sich heute einer um die Seife, sorgt ein Nächster für ein köstliches Abendessen und eine Wiedernächste für den Wein.  

Zu viel des Guten? 

Es gibt Hinweise, dass wir in unserer eigenen Gruppe sogar zur Überkooperation neigen (Krueger et al., 2016). Wir kooperieren so viel, dass wir über den Idealzustand des Freiwilligendilemmas hinausschiessen. Praktisch ist die übermässige Kooperationslust jedoch in Situationen, die einem Beitragsdilemma ähneln. In Solchen hat eine gemeinsame Ressource nur Bestand, wenn sich genügend kooperativ zeigen, in dem sie etwas zu dieser Ressource beisteuern. So führt eine kleine negative Konsequenz für das Individuum, etwa in die Haushaltskasse einzuzahlen, zu einer positiven Konsequenz für die Gemeinschaft. Im Gegensatz zum Freiwilligendilemma gibt es hier jedoch eine dominante Strategie: Freifahrende sind begünstigt indem sie, trotz unkooperativen Verhalten, in den Genuss der gemeinsamen Ressource kommen (Fehr & Gächter, 2000). Die Devise lautet also, je mehr Mitbewohnende sich kooperativ zeigen, indem sie sich beispielsweise am Wohnungsputz beteiligen, desto vorteilhafter für die Gemeinschaft. Perdu ist die Sorge der Überkooperation. 


Zum Weiterlesen

Diekmann, A. (1985). Volunteer’s dilemma. Journal of conflict resolution, 29(4), 605-610. 

Balliet, D., Wu, J., and De Dreu, C. K. W. (2014). Ingroup favoritism in cooperation: a meta- 

analysis. Psychol. Bull. 140, 1556–1581.  

Literaturverzeichnis

Acevedo, M., & Krueger, J. I. (2004). Two egocentric sources of the decision to vote: The voter’s illusion and the belief in personal relevance. Political Psychology, 25(1), 115-134. 

Balliet, D., Wu, J., and De Dreu, C. K. W. (2014). Ingroup favoritism in cooperation: a meta-analysis. Psychol. Bull. 140, 1556–1581.  

Baron, J., & Hershey, J. C. (1988). Outcome bias in decision evaluation. Journal of personality and social psychology, 54(4), 569. 

Darley, J. M., & Latane, B. (1968). Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of personality and social psychology, 8(4p1), 377. 

Diekmann, A. (1985). Volunteer’s dilemma. Journal of conflict resolution, 29(4), 605-610. 

Diekmann, A. (1993). Cooperation in an asymmetric volunteer’s dilemma game theory and experimental evidence. International Journal of Game Theory, 22(1), 75-85. 

Fehr, E., & Gachter, S. (2000). Cooperation and punishment in public goods experiments. American Economic Review, 90(4), 980-994. 

Heck, P. R., & Krueger, J. I. (2017). Social Perception in the Volunteer’s Dilemma: Role of Choice, Outcome, and Expectation. Social Cognition, 35(5), 497-519. 

Krueger, J. I., Ullrich, J., & Chen, L. J. (2016). Expectations and decisions in the volunteer’s dilemma: effects of social distance and social projection. Frontiers in psychology, 7, 1909. 

Tversky, A., & Kahneman, D. (1991). Loss aversion in riskless choice: A reference-dependent model. The quarterly journal of economics, 106(4), 1039-1061. 

Empathie – Nature oder Nurture?

Über die frühe Entwicklung von Empathie 

Empathie ist eine wichtige Kompetenz im Umgang mit anderen. Obwohl die Fähigkeit zur Empathie bis ins Erwachsenenalter weiterentwickelt wird, zeigen schon Kleinkinder Empathie. Doch woher kommt sie? Gibt es biologische Ursachen für Empathie und welche Rolle spielen soziale Einflüsse der Eltern? 

Von Laura Bechtiger 
Lektoriert von Loriana Medici und Marie Kappen
Illustriert von Melina Camin

Wir fürchten uns beim Schauen eines Horrorfilms, freuen uns über die Erfolge unserer Freunde und leiden mit Sportlern, die kurz vor dem Ziel stürzen und so ihren Sieg vergeben. Grund dafür ist unsere Fähigkeit zur Empathie. Empathie ist ein komplexes sozioemotionales Konstrukt, für welches es beinahe gleich viele Definitionen wie Forscher auf dem Gebiet gibt (Cuff, Brown, Taylor, & Howat, 2016). Während beispielsweise Barker (2008) unter Empathie das Wahrnehmen, Verstehen, Erfahren und Reagieren auf den emotionalen Zustand einer anderen Person versteht, unterscheiden andere Forscher verschiedene mit Empathie assoziierte Konstrukte. So unterscheiden beispielsweise Eisenberg, Shea, Carlo und Knight (1991) Empathie (ich fühle dieselbe Emotion wie mein Gegenüber), kognitive Perspektivenübernahme (ich weiss, wie sich mein Gegenüber fühlt), personal distress (die Emotion des Gegenübers löst bei mir selbstbezogene negative Gefühle aus) und Mitgefühl (sympathyich mache mir Sorgen um mein Gegenüber). Empathie wird ausserdem von prosozialem Verhalten abgegrenzt. Unter prosozialem Verhalten versteht man Handlungen wie Teilen, Helfen oder Trösten (Paulus, 2018). Dennoch ist prosoziales Verhalten eng mit Empathie verknüpft, weshalb sie häufig zusammen untersucht werden. Diese Definitionen unterstreichen einerseits die Komplexität von Empathie und den mit ihr assoziierten Konzepten, machen es andererseits aber auch schwierig, die zahlreichen Forschungsergebnisse zu integrieren.  

Bedeutung von Empathie 

Viele Forscher sind sich einig, dass Empathie eine wichtige Voraussetzung für soziales und gesellschaftliches Zusammenleben ist (z.B. Decety, 2015; de Waal, 2008). Die evolutionäre Bedeutung von Empathie sieht der Primatologe Frans de Waal (2008) in der Eltern-Kind-Beziehung. Die Emotionen des Kindes zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren, erhöht das Überleben des Nachwuchses. Dies gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für andere Säugetiere (de Waal, 2008). Ganz im Sinne vom motivational autonomy Prinzip — das besagt, dass evolutionär notwendige und sinnvolle Prozesse nicht auf ihren Bestimmungszweck limitiert sind und anders genutzt werden — hat sich auch Empathie auf andere Kontexte ausgeweitet (de Waal, 2008). Neben der Bedeutung für Beziehung und Bindung zwischen Eltern und Kind hat Empathie noch weitere Funktionen. So zeigte sich zusätzlich zur Verknüpfung mit prosozialem Verhalten auch ein Zusammenhang von Empathie mit moralischem Verstehen und Argumentieren (Malti, Eisenberg, Kim, & Buchmann, 2013; Malti, Gummerum, Keller, & Buchmann, 2009). Die Frage, ob Empathie moralisches Verhalten fördert, ist allerdings umstritten. So argumentiert der Harvard Professor Paul Bloom, dass Empathie sogar hinderlich für moralisches Verhalten ist. Der Grund dafür liege darin, dass Empathie das Schicksal von einzelnen Menschen salient mache und abstraktere Probleme, die viele Menschen betreffen, vernachlässige (Bloom, 2017).  

Entwicklung von Empathie 

Durch die Komplexität von Empathie und ihrer Mitbeeinflussung durch kognitive Prozesse entwickelt sich Empathie nicht von heute auf morgen. Studien zeigen, dass sich Empathie bis ins junge Erwachsenenalter hinein weiterentwickelt (Eisenberg et al., 2002; Eisenberg, Carlo, & Murphy, 1995; Luengo Kanacri, Pastorelli, Eisenberg, Zuffianò, & Caprara, 2013). Diese Entwicklung beginnt laut traditionellen psychologischen Annahmen im zweiten Lebensjahr, wenn sich auch zunehmend ein Verständnis für sich selbst, als von anderen unterschiedlich, ausprägt (Hoffman, 2000). Diese Annahmen haben dazu geführt, dass die Empathie-Entwicklung bei Kleinkindern meist erst ab dem zweiten Lebensjahr untersucht wurde. Es gibt jedoch neuere Studien, die Empathie bereits ab dem ersten Lebensjahr untersuchen. Die Studie von Roth-Hanania, Davidov und Zahn-Waxler (2011) zeigt, dass schon achtmonatige Kinder auf das Leid von Müttern und Peers mit empathischem Verhalten reagieren. Als Hinweise auf empathisches Verhalten haben die Autor|innen Mimik, Gestik und Lautäusserungen interpretiert (Roth-Hanania et al., 2011). Empathie mit zehn Monaten konnte ausserdem prosoziales Verhalten im zweiten Lebensjahr vorhersagen. Dieser Befund unterstützt die enge Verknüpfung von Empathie und prosozialem Verhalten und dies schon in der frühen Kindheit (Roth-Hanania et al., 2011).  

Schon im Kleinkindalter werden individuelle Unterschiede in empathischen Reaktionen festgestellt. Für Unterschiede im Entwicklungsverlauf von Empathie werden in der Literatur einige Einflussfaktoren diskutiert. Sie lassen sich grob in biologische Ursprünge sowie Sozialisierungseinflüsse einteilen. 

Biologische Grundlagen 

Empathie ist eine soziale Emotion, die nicht allein durch biologische Prozesse erklärt werden kann. Da die Grundlagen von Empathie, wie beispielsweise emotion contagion, auch bei Tieren beobachtet werden können, wird dennoch eine evolutionsbiologische Wurzel von Empathie vermutet.  

Neuronale Studien zeigen, dass vor allem die Verbindungen zwischen Hirnstamm, Amygdala, Hypothalamus, Basalganglien und dem orbitofrontalen Kortex für empathisches Verstehen und Reagieren bei Säugetieren verantwortlich sind (Decety, 2015). Es wird angenommen, dass beim Betrachten von schmerzverzerrten Gesichtern dieselben Hirnareale wie beim Erfahren von Schmerz aktiviert werden. Darunter sind der anteriore cinguläre Kortex, die anteriore Insel, die Amygdala und der somatosensorische Kortex (Decety, 2015). 

Besonders wird auch die Rolle der Spiegelneuronen in der Entstehung von Empathie diskutiert. Diese Spiegelneuronen werden einerseits aktiviert, wenn wir Handlungen durchführen, aber auch, wenn wir sie beobachten (Iacoboni & Dapretto, 2006). Die Studie von Nummenmaa, Hirvonen, Parkkola und Hietanen (2008) zeigte, dass bei Erwachsenen diese Spiegelneuronen vor allem beim Fühlen von Empathie aktiviert sind, aber nicht beim Übernehmen der Perspektive von jemand anderem.  

Ausserdem werden auch die Neuropeptide Oxytocin und Vasopressin mit Mitgefühl und weiteren sozialen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht (Decety, 2015). Die Studie von Weisman, Zagoory-Sharon und Feldman (2012) beispielsweise zeigt, dass Väter, denen Oxytocin verabreicht wurde, eher Verhaltensweisen gegenüber ihrem fünf Monate alten Kind zeigen, die eine Bindung zwischen Vater und Kind fördern. Diese Verhaltensweisen wiederum waren beim Kind mit höheren Oxytocin-Werten im Speichel assoziiert. Die höheren Oxytocinwerte hingen positiv mit sozialen Verhaltensweisen der Kinder, wie Blicken oder Reziprozität, zusammen (Weismann et al., 2012).  

Empathie scheint ausserdem genetisch beeinflusst zu werden. So zeigt die Studie von Knafo, Zahn-Waxler, Van Hulle, Robinson und Rhee (2008) mit 14- bis 36-Monate alten eineiigen und zweieiigen Zwillingen, dass genetische Einflüsse sowohl mit Stabilität als auch mit Veränderungen in Empathie assoziiert waren. Während die Empathie vor dem Alter von zwei Jahren noch nicht von genetischen Einflüssen erklärt werden konnte, kann die genetische Komponente im Alter von 24 Monaten einen Viertel der Varianz in der Ausprägung von Empathie aufklären. Dieser genetische Einfluss auf die Entwicklung von Empathie fällt zusammen mit Entwicklungen in anderen Bereichen, wie der Sprache und der Unterscheidung vom Selbst von anderen. Sowohl Sprache als auch die Wahrnehmung von sich selbst als von anderen unabhängig werden in der Forschung ebenfalls als Einflussfaktoren auf die Empathie-Entwicklung untersucht (Knafo et al., 2008). 

Die Literatur zeigt also, dass Empathie durchaus eine biologische Grundlage hat. Neben neuronalen Grundlagen, u.a. durch Spiegelneuronen, deuten Forschungsergebnisse auch auf den Einfluss von Hormonen und Genen hin. Trotzdem machen Umwelt-Einflüsse immer noch einen Grossteil des Einflusses aus.  

Soziale Einflüsse 

Soziale Einflüsse auf die Empathie-Fähigkeit von Kleinkindern kommen vor allem von den Eltern. Dabei sind verschiedenste Faktoren relevant. So zeigt beispielsweise die Studie von Taylor, Eisenberg, Spinrad, Eggum und Sulik (2013), dass mütterliche Emotionssozialisierung im Alter von 18 Monaten das Ausmass der Empathie des Kindes im Alter von 24 Monaten vorhersagen konnte. Die Sozialisierung der Mutter im Alter von 18 Monaten konnte aber nicht die Veränderung der empathischen Fähigkeiten des Kindes über die nächsten zwei Jahre vorhersagen. Unterschiede im kindlichen Temperament im Alter von 18 Monaten konnten ebenfalls die Empathie-Ausprägung im Alter von 24 Monaten vorhersagen (Taylor et al., 2013). Nicht nur die Emotionssozialisierung der Mutter, sondern auch das Ermuntern, die Perspektive von anderen einzunehmen, hängt bei vier- bis fünfjährigen Kindern mit ihrer Empathie-Fähigkeit zusammen (Farrant, Devine, Maybery, & Fletcher, 2012). Mütter, die selber eine höhere Empathie berichteten, förderten eher die Perspektivenübernahme ihrer Kinder (Farrant et al., 2012). Dies könnte ein Mechanismus sein, wie Empathie zwischen Generationen weitergegeben wird.  

Auch der Bindungsstil wurde im Zusammenhang mit kindlicher Empathie untersucht. Die Studie von Kim und Kochanska (2017) zeigte, dass ein sicherer Bindungsstil zwischen dem Kind und seiner Mutter positiv mit der kindlichen Empathie zusammenhing. Für die Vater-Kind-Bindung zeigte sich kein Zusammenhang mit der Empathie. Dies könnte daran liegen, dass die Bindung zu Mutter und Vater unterschiedliche Bedeutungen für die kindliche Entwicklung haben (Kim & Kochanska, 2017). Ein Zusammenhang zwischen Empathie und prosozialem Verhalten zeigte sich allerdings nur für unsicher gebundene Kinder (Kim & Kochanska, 2017).  

Zusammenfassend entwickelt sich Empathie als komplexe soziale Kompetenz bis ins junge Erwachsenenalter (und darüber hinaus) weiter. Während die Ursprünge von Empathie bisher im zweiten Lebensjahr vermutet wurden, zeigt neuere Forschung, dass Kleinkinder schon im ersten Lebensjahr empathisch reagieren können. Biologische Ursachen legen dabei einen Grundstein für die Entwicklung von Empathie, wobei vor allem Einflüsse der Eltern die Empathie bei Kleinkindern fördern können.  

Kosten von Empathie 

Der Einfluss der elterlichen Empathie und Erziehungspraktiken auf die positive Entwicklung ihrer (jugendlichen) Kinder konnte vielfach bestätigt werden. Die Studie von Manczak, Delongis und Chen (2016) zeigt allerdings, dass dies für die Eltern nicht ohne Kosten bleibt. Während die Empathie der Eltern positiv mit einer besseren Emotionsregulationsfähigkeit, sowie weniger chronischen Entzündungswerten bei ihren jugendlichen Kindern zusammenhing, sagte elterliche Empathie erhöhte Entzündungswerte bei den Eltern vorher. Diese sind ein Risikofaktor für verschiedenste Krankheiten. Die erhöhten Entzündungswerte könnten laut den Autor|innen darauf zurückzuführen sein, dass empathischere Eltern das Wohl ihrer Kinder vor die eigene Gesundheit stellen. 

(Manczak, Delongis, & Chen, 2016) 

Robo-Empathie 

Nicht nur Psycholog|inen und Biolog|inen beschäftigen sich mit der Entstehung und Entwicklung von Empathie, sondern auch Robotiker|innen. Die Studie von Lim und Okuno (2015) beschreibt, wie die Autor|innen versuchten, ausgehend von Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie, einem Roboter Empathie beizubringen. Dafür statteten sie den Roboter mit einem artifiziellen Spiegelneuronen-System aus, damit der Roboter die von ihm beobachtete Person physisch imitieren kann. Durch Lernprozesse assoziierte der Roboter die Handlung mit einer Art „Bauchgefühl“ (z.B. Füllstand der Batterie). Dadurch wird dem Roboter eine Art Unwohlsein simuliert. Genau wie Kinder in der Interaktion mit ihren Bezugspersonen lernen, nahmen die Autor|innen an, dass Roboter in der Interaktion mit Menschen die Assoziationen zwischen Bewegungen und ‚Bauchgefühl’ lernen können. Eltern verwenden in der Interaktion mit ihren Kindern häufig mothereseeine in Mimik und Tonfall übertriebene Betonung und Äusserung der Sprache, weshalb die Autor|innen davon ausgehen, dass motherese auch bei Robotern die Empathie-Entwicklung beeinflussen könnte. Die Resultate zeigten, dass der Roboter auf fröhliche Stimmen meist mit einem positiven Zustand reagierte und auf traurige Stimmen meist mit einer negativen Reaktion. Dies impliziert, dass Roboter durch Interaktion mit Menschen Empathie lernen können.  


Zum Weiterlesen 

Knafo, A., Zahn-Waxler, C., Van Hulle, C., Robinson, J. A. L., & Rhee, S. H. (2008).  

The Developmental Origins of a Disposition Toward Empathy: Genetic and  

Environmental Contributions. Emotion8(6), 737–752. doi:10.1037/a0014179 

Lim, A., & Okuno, H. G. (2015). A Recipe for Empathy: Integrating the Mirror System, 

Insula, Somatosensory Cortex and Motherese. International Journal of Social Robotics

7(1), 35–49. doi:10.1007/s12369-014-0262-y 

Waal, F. (2009). The Age of Empathy: Nature’s Lessons for a Kinder Society. New York: Harmony Books. 

«The full capacity [of empathy] seems put together like a Russian doll. At its core is an automated process shared with a multitude of species, surrounded by outer layers that fine-tune its aim and reach. Not all species possess all layers: only a few take another’s perspective, something we are masters at. But even the most sophisticated layers of the doll normally remain firmly tied to its primal core» Frans de Waal, 2009, S. 208f. 

Literatur

Barker, R. L. (2008). The social work dictionary. Washington, DC: NASW Press. 

Bloom, P. (2017). Empathy and Its Discontents. Trends in Cognitive Sciences21(1), 24–31. http://doi.org/10.1016/j.tics.2016.11.004 

Cuff, B. M. P., Brown, S. J., Taylor, L., & Howat, D. J. (2016). Empathy : A review of the concept. Emotion Review8(2), 144–153. http://doi.org/10.1177/1754073914558466 

de Waal, F. B. M. (2008). Putting the Altruism Back into Altruism: The Evolution of Empathy. Annual Review of Psychology59(1), 279–300. http://doi.org/10.1146/annurev.psych.59.103006.093625 

Decety, J. (2015). The neural pathways, development and functions of empathy. Current Opinion in Behavioral Sciences3, 1–6. http://doi.org/10.1016/j.cobeha.2014.12.001 

Eisenberg, N., Carlo, G., & Murphy, B. (1995). Prosocial development in late adolescence : A longitudinal study. Child Development66, 1179–1197. 

Eisenberg, N., Guthrie, I. K., Cumberland, A., Murphy, B. C., Shepard, S. A., Zhou, Q., & Carlo, G. (2002). Prosocial development in early adulthood: A longitudinal study. Journal of Personality and Social Psychology82(6), 993–1006. http://doi.org/10.1037/0022-3514.82.6.993 

Eisenberg, N., Shea, C. L., Carlo, G., & Knight, G. P. (1991). Empathy-related responding and cognition: A “chicken and the egg” dilemma. In W. M. Kurtines & J. L. Gewirtz (Eds.), Handbook of Moral Behavior and Development (pp. 63–88). Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates. 

Farrant, B. M., Devine, T. A. J., Maybery, M. T., & Fletcher, J. (2012). Empathy, Perspective Taking and Prosocial Behaviour: The Importance of Parenting Practices. Infant and Child Development21(2), 175–188. http://doi.org/10.1002/icd.740 

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Iacoboni, M., & Dapretto, M. (2006). The mirror neuron system and the consequences of its dysfunction. Nature Reviews Neuroscience7(12), 942–951. http://doi.org/10.1038/nrn2024 

Kim, S., & Kochanska, G. (2017). Relational antecedents and social implications of the emotion of empathy: Evidence from three studies. Emotion17(6), 981–992. http://doi.org/10.1037/emo0000297 

Knafo, A., Zahn-Waxler, C., Van Hulle, C., Robinson, J. A. L., & Rhee, S. H. (2008). The Developmental Origins of a Disposition Toward Empathy: Genetic and Environmental Contributions. Emotion8(6), 737–752. http://doi.org/10.1037/a0014179 

Lim, A., & Okuno, H. G. (2015). A Recipe for Empathy: Integrating the Mirror System, Insula, Somatosensory Cortex and Motherese. International Journal of Social Robotics7(1), 35–49. http://doi.org/10.1007/s12369-014-0262-y 

Luengo Kanacri, B. P., Pastorelli, C., Eisenberg, N., Zuffianò, A., & Caprara, G. V. (2013). The Development of Prosociality from Adolescence to Early Adulthood: The Role of Effortful Control. Journal of Personality81(3), 302–312. http://doi.org/10.1111/jopy.12001 

Malti, T., Eisenberg, N., Kim, H., & Buchmann, M. (2013). Developmental trajectories of sympathy, moral emotion attributions, and moral reasoning: The role of parental support. Social Development22(4), 773–793. http://doi.org/10.1111/sode.12031 

Malti, T., Gummerum, M., Keller, M., & Buchmann, M. (2009). Children’s Moral Motivation, Sympathy, and Prosocial Behavior. Child Development80(2), 442–460. 

Manczak, E. M., Delongis, A., & Chen, E. (2016). Does Empathy Have a Cost ? Diverging Psychological and Physiological Effects Within Families, 35(3), 211–218. 

Nummenmaa, L., Hirvonen, J., Parkkola, R., & Hietanen, J. K. (2008). Is emotional contagion special? An fMRI study on neural systems for affective and cognitive empathy. NeuroImage43(3), 571–580. http://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2008.08.014 

Paulus, M. (2018). The multidimensional nature of early prosocial behavior: a motivational perspective. Current Opinion in Psychology20, 111–116. http://doi.org/10.1016/j.copsyc.2017.09.003 

Roth-Hanania, R., Davidov, M., & Zahn-Waxler, C. (2011). Empathy development from 8 to 16 months: Early signs of concern for others. Infant Behavior and Development34(3), 447–458. http://doi.org/10.1016/j.infbeh.2011.04.007 

Taylor, Z. E., Eisenberg, N., Spinrad, T. L., Eggum, N. D., & Sulik, M. J. (2013). The relations of ego-resiliency and emotion socialization to the development of empathy and prosocial behavior across early childhood. Emotion13(5), 822–831. http://doi.org/10.1037/a0032894 

Weisman, O., Zagoory-Sharon, O., & Feldman, R. (2012). Oxytocin administration to parent enhances infant physiological and behavioral readiness for social engagement. Biological Psychiatry72(12), 982–989. http://doi.org/10.1016/j.biopsych.2012.06.011 

Rätselhafte Bewusstseinsprobleme

Dass Tiere kein Bewusstsein haben, kann man nicht beweisen, das Gegenteil aber auch nicht. 

Es herrscht Konsens darüber, dass Menschen über ein Bewusstsein verfügen. Was ist das überhaupt, wie manifestiert es sich im Alltag und welche weitere Organismen verfügen über ein Bewusstsein? Durch das Fehlen einer fundierten Erklärung der Interaktion zwischen Körper und Psyche und der gemeinsamen Sprache zwischen Mensch und Tier, bleiben diese Fragen unbeantwortet. Es gibt aber Wissenschaftler|innen, welche sich nicht auf diesen von Descartes ausformulierten natürlichen Grenzen ausruhen.  

Von Yesica Martinez 
Lektoriert von Selina Engeli und Laurina Stählin
Illustriert von Yesica Martinez 

«Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates them; and each mind perceives a different beauty.» 

Hume, 1907, S. 169  

Das Bewusstsein ist ein Wunder. Ich verdanke ihm, dass mein tägliches Teetrinken überhaupt Wohlbefinden und Genuss in mir auslösen kann. Dank unserem Bewusstsein können wir voller Gefühle wie Liebe, Schmerz oder Glück sein. Wir haben dadurch diverse Kulturen erschaffen und den Sinn für das Schöne verdankt man demselben Phänomen. Wie Hume (1907) andeutet, würde die Welt keinen subjektiven Gehalt haben ohne bewusste Psyche. Wir sind zwar hochentwickelt und scheinen mit Bestimmtheit mit einem Bewusstsein gesegnet zu sein. Aber Fitzgerald (1995) schrieb dagegen, «wer das Bewusstsein erfand, würde eine Menge Schuld tragen» (S. 216). Auch Jäncke (2016) fasste einen ähnlichen Gedanken: Kein ihm bekanntes Wesen ist sich selbst seine grösste Gefahr, nur der Mensch «bekämpft sich […] inzwischen nicht mehr vorrangig wegen lebensnotwendige[n] Ressourcen, sondern insbesondere aufgrund kultureller und damit erlernter Unterschiede» (S. 29). Die beiden Autoren kommentieren das verbreitete Hochpreisen der befähigten Menschen also eher mit Resignation und Bedenken. Dieses könnte zum Gedanken verleiten, dass wir uns ethisch über- und so die Tiere unterschätzen.  

Das konzeptuelle Problem 

Viele Philosoph|innen und Psycholog|innen haben sich seit Jahrtausenden mit den Problemen des Bewusstseins auseinandergesetzt – und das Interesse hält bis heute an. Das konzeptuelle Problem besteht darin, dass noch keine allgemeine Auffassung darüber herrscht, wie das Bewusstsein am besten definiert werden soll. Alle Erklärungsversuche beruhen eben nicht wie üblich auf objektiv beobachtbarer Materie. Man weiss noch nicht, wie man ein subjektiv erlebtes Phänomen einfangen und physikalische Gesetze darüber verfassen kann. Zwar bieten bildgebende Verfahren in den Neurowissenschaften eine Beobachtung und Messung dessen, was sich in unserem Inneren abspielt. Aber dieser Einblick gewährt kein Wissen darüber, wie sich dieses Feuern von Neuronen tatsächlich anfühlt. 

Ein prominenter Definitionsversuch des Bewusstseins stammt von Nagel (1974, S. 436): 

«(…) [F]undamentally an organism has conscious mental states if and only if there is something that it is like to be that organism—something it is like for the organism».  

Wir trinken Tee und sind uns der begleitenden Qualität des Geschmacks und der Wärme bewusst. Nagel (1974) nennt diesen schwer vermittelbaren und demnach schwer vergleichbaren Zustand auch qualia. Chalmers (1995) definierte das Bewusstsein als qualitatives Gefühl oder bewusstes Erleben. Es geht für beide nicht darum, dass die Wahrnehmung intakt ist, es geht vielmehr um das begleitende, sich irgendwie Anfühlende. Ausserdem muss Wahrnehmung per se nicht mit bewussten, mentalen Repräsentationen assoziiert sein. Die Psychologie bietet beispielhaft zahlreiche Argumente für unbewusste Wahrnehmungen und daraus folgend unbewusstes Funktionieren, Entscheiden und Handeln im Alltag (Jäncke, 2016). Aus dem Wissen über die Kraft des Unbewussten kristallisiert sich ein weiteres Problem heraus. 

Das naturbedingte Problem  

«Is consciousness an extra ingredient added to our ability to perceive, think, and feel, or is it inseparable from being able to perceive, think and feel?» 

Blackmore, 2005, S.8 

Die prominente These, dass lediglich ein kleiner Teil von all dem Wahrnehmbaren –  um uns und in uns –  tatsächlich bewusst wird und der grösste Teil unbewusst ablaufende Verarbeitungsprozesse darstellt, bewahrt uns vor einer Reizüberflutung (Jäncke, 2016). Wir verarbeiten nämlich nach Jäncke (2016) 1’375’000 Byte pro Sekunde, wobei geschätzt nur sieben Byte davon ins Bewusstsein gelangen. Die Regulierung zahlreicher Systeme, wie z. B. autonome vegetative Reaktionen des Nervensystems, geschieht ohne dass man sich dessen zwingend bewusst sein muss. Das naturbedingte Problem geht der Frage nach, wie und wieso manche Dinge bewusst werden, beziehungsweise wieso sie nicht einfach unbewusst bleiben. Bei diesem Problem gibt es unter Neurowissenschaftler|innen eine dominierende These. Unter dem Titel der Epiphänomenalist|innen wird dafür plädiert, dass das Bewusstsein ein Nebenprodukt neuronaler Vorgänge darstellt. In diesem Sinn betont Jäncke (2016), dass das Bewusstsein «unmöglich» (S. 273) auf das materielle Gehirn bzw. die neuronale Aktivität einwirken kann. Somit teilen sie dem Bewusstsein keine Funktion zu, weil es eigentlich nach unserem heutigen physikalischen Verständnis keine Funktion hat. Funktionalist|innen hingegen sehen das Bewusstsein nicht als Nebenprodukt, sondern als funktionelle Einheit. Tye (2016) beschreibt somit den Funktionalismus als Alternativerklärung für das naturbedingte Problem. Vereinfacht dargestellt argumentiert er beispielsweise, dass ein Schmerzverhalten, wie das Hinken, einen Hinweis auf ein Schmerzgefühl und die Funktion der Schmerzlinderung darstellt. Tiere, wie z. B. Bienen, die ebenfalls durch Verletzungen hinken, und somit auch ein Schmerzgefühl haben könnten, wären nach Tye (2016) bewusste Wesen. Ihm zufolge soll man davon ausgehen, dass dem so ist, solange man keine Gegenbeweise hat. Interessanterweise betont er, dass es multiple Realisationen für denselben Bewusstseinszustand geben kann. Somit kann es z. B. bei Menschen durch das Feuern von C-Fasern zu einem Schmerzgefühl kommen, beim Tier aber durch ein Feuern von D-Fasern. Seine philosophische Methodik basiert also auf dem Newtonschen Gesetz, welches folgendermassen lautet: «The general point is that I am entitled to infer sameness of cause from sameness of effect […], unless I have evidence that defeats the inference» (Tye, 2016, S. 73). Beide Ansätze zusammen gehören zu den Materialist|innen, welche sich weiterhin als Monist|innen bezeichnen. Monist|innen sagen, dass sich das Bewusstsein intrinsisch und nicht trennbar von unserem Gehirn ereignet. Egal wo und wie es entstanden sei, es gehöre biologisch einfach dazu, so wie das Blut zum lebendigen Körper. Sie unterscheiden sich insofern vom kartesischen Dualismus, als dass sie verneinen, dass die bewusste Psyche und der Körper aus verschiedenen Materien bestehen. Somit umgehen sie die Descartessche Problematik der physikalisch unerklärlichen Interaktion zwischen Materiellem und Immateriellem. Die Monist|innen aber haben trotzdem noch nicht endgültig erklärt, wie aus der Materie subjektive Erfahrung entstehen kann (Blackmore, 2017). 

Das epistemologische Problem  


Dass wir Menschen den einen und nicht den anderen Teebeutel wählen, scheint eng mit dem gewünschten Geruch beziehungsweise Geschmack in Raum und Mund zusammenhängend zu sein. Was wäre Geschmack ohne Bewusstsein? Einige Theoretiker|innen behaupten, dass es bei der Nahrungsauswahl der Tiere um die Nährstoffaufnahme geht und nicht um den Geschmack. Dass Bienen beispielsweise den Nektar der Blumen saugen, habe nichts damit zu tun, dass es irgendwie süss schmecke, sondern dass chemische Moleküle in ihre Rezeptoren passen und dadurch weitere Mechanismen angekurbelt würden, ohne dass Bienen den Nektar schmecken müssen. Ausserdem sehen Bienen die bunte Blume nicht so, als würde sich die Farbe Rot «rot» anfühlen, sondern vielmehr wird unbewusst eine Farbe repräsentiert, damit das Andockverhalten unterstützt wird. Einige Philosoph|innen wie z. B. Tye (2016) können diese Argumentation nicht unterstützen. Damit verbunden stellen sie sich vor ein nächstes Problem: Wieso sollten denn nur wir Menschen die Auserwählten sein? Das epistemologische Problem befasst sich mit dem Versuch zu erkennen, ob ein Etwas oder ein Jemand ein Bewusstsein hat. Dafür müssen Kriterien definiert werden, was ein bewusstes Wesen ausmacht. Das bedeutet, um dieses Problem zu lösen, müssten sowohl das konzeptuelle als auch das naturbedingte Problem gelöst sein. Oder es wäre zumindest von Vorteil. Nach Nagel (1974) könnte man sich fragen, wie es wohl wäre, eine täglich mit heissem Wasser gefüllte Teetasse zu sein. Womöglich ist man sich einig, dass es sich gar nicht nach etwas anfühlen würde. 

Descartes war der Meinung, dass «Sprache […] das einzige sichere Anzeichen dafür [sei], dass im Körper ein Geist verborgen ist» (Descartes, 1944). Durch den berühmten Satz «Ich denke, also bin ich.» ist für ihn das Denken, in Form von Sprache im eigenen Kopf, das zentrale Element, woraus das Bewusstsein erzeugt wird. Daraus schloss er, dass Tiere unbewusste Automaten seien – Körper ohne Psychen (Descartes, 1944). Nagel (1974) ging nicht so weit wie Descartes, schrieb aber, dass die Frage ein unbeantwortetes Mysterium ist und bleibt, da man ein Tier nicht einfach fragen kann, ob sich seine Existenz so oder anders anfühlt. Die Frage ist aber seither nicht abgetan: Haben Tiere ein Bewusstsein und kann man somit ohne unsere Sprache denken? Für ihre Fähigkeiten berühmte Tiere wie Raben oder Oktopusse scheinen sehr lernfähig zu sein, zeigen ein flexibles, sich stets anpassendes Verhalten, und verfolgen Ziele intentional. Ausserdem scheinen Gedächtnisfähigkeiten beim Raben und Sinneszellen beim Oktopus bemerkenswert weit entwickelt zu sein. Agieren sie mit Bewusstsein oder sind sie entsprechend der Argumentation von Descartes dazu verdammt, von uns als unbewusstes und vegetatives Nervensystem verstanden zu werden?  

Der Neurowissenschaftler Damasio hat für diese Frage einen diametral entgegengesetzten Ansatz zu Descartes. Er schreibt den Gefühlen eine der bedeutendsten Basen für das Bewusstsein zu – welche interessanterweise von Descartes (1944) als «störend» bezeichnet wurden. Nach Damasio (2000) heisst es: «Ich fühle, also bin ich». Damit verbunden schreibt er dem Körper eine tragende Rolle zu, denn der Körper dient als Wegbereiter jener unbewussten Emotionen, aus denen schlussendlich bewusste Gefühle entstehen (Damasio, 2000; Godfrey-Smith, 2017).  

Damasio (2001) postuliert für ein Verständnis des Bewusstseins, welches auch ohne komplexe Sprach- oder Gedächtnisleistungen persistiert. Die bewusste Psyche kann nicht ohne Körper entstehen und ist somit sehr eng mit all dem verbunden, was der Körper produziert. Damasio (2001) sieht das Gehirn als komplexes Steuerorgan, um den Körper zu erhalten: «Um wirkungsvoller zu steuern, braucht das Gehirn eine Vorstellung davon, was im Körper vor sich geht. […] Und alles was in unserem Kopf geschieht, dreht sich um die Beziehung zwischen Abbildungen des Körpers und Abbildungen von anderen Dingen.» (Damasio, 2001). Der Organismus würde sich z. B. in Anwesenheit eines Objektes oder einer Person verändern und so wird nach Damasio (2001) eine Basis für das Bewusstsein gelegt. Diese Veränderung würde in Form von Gefühlen in unserem Bewusstsein erscheinen (Godfrey-Smith, 2017).  

Neuere Ansätze suchen vielmehr nach potentiell gemeinsamen Kriterien für das Bewusstsein bei Mensch und Tier, um dann zu untersuchen, ob diese Kriterien tatsächlich bei beiden zu finden sind. Demnach könnte man durch die Gefühls- und Emotionswelt Ansätze für die Frage finden, ob Tiere ein Bewusstsein haben. Vom bestehenden Problem der Sprache lässt man sich nicht aufhalten. Für Damasio (2001) steht fest, dass andere Organismen auch eine Form von Bewusstsein haben. Er schuf aber keine Liste mit Tieren, bei welchen eine solche Form zutrifft. Vom Philosoph Godfrey-Smith (2017) wurde die Idee nämlich verworfen, dass Bewusstsein in der Evolution beim Menschen plötzlich eingetreten ist. Vielmehr plädiert er für ein graduelles Verständnis vom Bewusstsein. Ähnlich steht Jäncke (2016) für ein kontinuierliches Verständnis von unbewusst zu bewusst ein. Dazwischen könnte z. B. Ahnung oder Vertrautheit stehen. Aus dieser flexiblen Idee des Bewusstseins springt eine weitere hervor, dass es nämlich nicht nur die eine Form geben kann, die wir als Bewusstsein kennen. Dies könnte zum Schluss führen, dass bei Tieren andere Kriterien gälten (Godfrey-Smith, 2017). 

Das ethische Problem 

Und wenn die Bewusstseinsforschung alle oben genannten Probleme gelöst hätte, würde mindestens ein weiteres Problem folgen: das ethische Problem. In Peter Singers Buch Animal Liberation (1995) wird für die Dringlichkeit einer Revision der Tierethik argumentiert. Vorweg ist für ihn die Spezieszugehörigkeit keine hinreichende Bedingung für eine unterschiedlich geltende Moral. Für manche endet die ethische Diskussion wegen Unstimmigkeit an diesem Punkt. Aber für damit übereinstimmende Denker|innen hat die Diskussion noch gar nicht richtig begonnen. Man kann sich primär die Frage stellen, ob ein Wesen mit Bewusstsein – z. B. durch Schmerzgefühle – einen besonderen moralischen Status hat. Nach Singer wäre das Leiden der Tiere ein starkes Argument, um deren Rechte neu zu schreiben. Durch die noch nicht beendete Diskussion über den potentiell bewussten Psychen der Tiere, stehen die Wege zu einer gleichwertigeren Betrachtung von Mensch und Tier noch offen. So könnte die Ethik für Tierindustrien und dem damit verbundenen Konsumverhalten, Tierversuchen oder Lebensraumzerstörungen neu gedacht werden. Diese aufeinander aufbauenden und rätselhaften Bewusstseinsprobleme könnten zu vorsichtigerem Denken führen und voreiligen Schlussfolgerungen – wie z. B. über das Nichtvorhandensein eines Bewusstseins beim Tier – den Wind aus den Segeln nehmen.  

Der Neglect  

Ein interessantes Beispiel für ein Syndrom, welches eng mit dem Bewusstsein assoziiert wird, ist der Neglect (Blackmore, 2017). Der Neglect (lateinisch neglegere = nicht wissen, vernachlässigen) wird dadurch definiert, dass ein|e Patient|in die kontralaterale Raum- oder Körperseite zu einer Hemisphärenläsion «[…] vernachlässigt oder in [ihrer] Existenz ignoriert, […]» (Bähr & Frotscher, 2003, S. 398). Die Vernachlässigung darf per Definition nicht durch primär motorische oder sensorische Beeinträchtigungen erklärbar sein. Daraus resultiert eine Symptomatik, welche verschiedene Modalitäten betreffen kann: Zum Beispiel rasieren Patient|innen nur eine Hälfte des Gesichts, haben halbseitig kein Schmerzgefühl, fühlen sich von der einen Seite nicht angesprochen, übersehen Hindernisse in der einen Raumhälfte, zeichnen konstant nur die Hälfte eines Gegenstandes oder handeln nur in die ipsiläsionale Seite hinein (Schnider, 2004).  

In der berühmten Studie von Bisiach und Luzzatti (1978) wurden Patient|innen gebeten, alle Geschäfte rund um den Platz des Mailänder Doms aufzuzählen. Dabei gab es einerseits die Bedingung, dass sie sich vorstellen mussten, zum Eingang des Doms zu schauen, und andererseits mussten sie in Gedanken mit dem Rücken zum Eingang stehen und von diesem wegschauen. Interessanterweise zählten Patient|innen in beiden Bedingungen nur jeweils die Geschäfte auf, welche zur mentalen rechten Seite ihres imaginären Standortes zu sehen waren. Die linke Seite schien trotz Wissen und Willen nicht bewusst und somit vorübergehend nicht existent zu sein (Bisiach & Luzzatti, 1978). 


Zum Weiterlesen

Blackmore, S. (2017). Consciousness: A very short introduction. Oxford University Press. 

 
Godfrey-Smith, P. (2017). Other Minds: The Octopus and the Evolution of Intelligent Life. HarperCollins UK. 

Literatur 

Bähr, M., & Frotscher, M. (2003). Duus‚ neurologisch-topische Diagnostik: Anatomie, Funktion, Klinik. Georg Thieme Verlag. 

Bisiach, E., & Luzzatti, C. (1978). Unilateral neglect of representational space. Cortex14(1), 129-133. 

Blackmore, S. (2005). Consciousness: A very short introduction. Oxford University Press. 

Blackmore, S. (2017). Consciousness: A very short introduction. Oxford University Press. 

Damasio, A. R. (2000). Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. List, München. 

Damasio, A. (2001). Das Gehirn ist nur der Manager. In: Bild der Wissenschaft, unter: http://www.wissenschaft.de/archiv/-/journal_content/56/12054/1527368/Antonio-Damasio%3A-%E2%80%9EDas-Gehirn-ist-nur-der-Manager%22/ (abgerufen am 12.01.2018). 

Descartes, R. (1644). Principia philosophiae, Amsterdam. Pt, 2, 57-59. 

Fitzgerald, F. S. (1995). The Short Stories of F. Scott Fitzgerald: A New Collection. Simon and Schuster. 

Hume, D. (1907). Essays: Moral, political, and literary (Vol. 1). Longmans, Green, and Company. 


Godfrey-Smith, P. (2017). Other Minds: The Octopus and the Evolution of Intelligent  

Life. HarperCollins UK. 

Jäncke, L. (2016). Ist das Hirn vernünftig. Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Verlag Hans Huber, Bern. 

Nagel, T. (1974). What is it like to be a bat?. The philosophical review83(4), 435-450. 

Schnider, A. (2004). Verhaltensneurologie: die neurologische Seite der Neuropsychologie; eine Einführung für Ärzte und Psychologen. Thieme.  

Singer, P. (1995). Animal liberation. Random House. 

Tye, M. (2016). Tense Bees and Shell-shocked Crabs: Are Animals Conscious?. Oxford University Press. 

Über den Umgang mit Trennungen

Ein kurzer Ratgeber für frisch Getrennte und ihr Umfeld 

Welche Faktoren beeinflussen das Auftreten von Trennungsproblemen? Wie können diese Probleme verringert werden? Welche Rolle spielen soziale Medien im Umgang mit Trennungen? Wie kann man jemanden bei einer Trennung unterstützen? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. 

Von Rafael Wespi
Lektoriert von Marina Reist und Celina Weder
Illustriert von Janice Lienhard

Faktoren die Trennungsanpassung beeinflussen können 

Das Beenden einer romantischen Beziehung gehört zu einer oftmals schmerzhaften, jedoch wichtigen Erfahrung in der Entwicklung der meisten Menschen. Im besten Fall hinterlassen Trennungen Erinnerungen sowie minimale Narben. Ebenso gut besteht die Möglichkeit, dass man nicht über den Verlust hinwegkommt, was oft mit dem Auftreten von psychischen Störungen wie Depressionen oder dem Gefühl von Einsamkeit zusammenhängt (Low et al., 2012). 

Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf Trennungen. Dabei steht ausser Frage, dass es sich bei den meisten Trennungen zumindest für einen der beiden Betroffenen um ein schmerzhaftes Ereignis mit oft noch schmerzhafteren und teils weitreichenden Folgen handelt (Gomillion et al., 2015; Haimson et al., 2018; Low et al., 2012; Nongpong & Charoensukmongkol, 2016; Smith & Cohen, 1993; Yıldırım & Demir, 2015). Die Ausprägungen und Dauer der Trennungsfolgen hängen dabei unter anderem davon ab, ob die Trennung von einem selbst eingeleitet wurde, man bereits eine neue Beziehung eingegangen ist, ob man sich des Trennungsgrundes bewusst ist und ob man nach der Trennung die soziale Unterstützung erhält, die man benötigt (Gomillion et al., 2015; Yıldırım & Demir, 2015). 

«Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht.» 

William Shakespeare, 1564-1616

Auf einige Faktoren, die den Verlauf einer Trennungsanpassung beeinflussen, kann man selbst nur in einem geringen Mass Einfluss nehmen. Es handelt sich dabei zum Beispiel darum, von wem die Trennung eingeleitet wird oder ob bereits / schon bald eine neue romantische Beziehung eingegangen wird / wurde (Yıldırım & Demir, 2015). Einige Faktoren für eine möglichst reibungslose Trennung lassen sich einfacher beeinflussen, wie das Ergründen und Verstehen des Trennungsgrundes oder jemandem durch das Geben von sozialer Unterstützung beizustehen. Es wurde beispielsweise festgestellt, dass sich bei mangelndem Verständnis für die Ursache einer Trennung ein Abschluss der Beziehung als schwierig erweisen kann, unter Anderem, wenn eine Beziehung ohne ein ausführliches abschliessendes Gespräch beendet wurde (Yıldırım & Demir, 2015). Ebenfalls entstehen daraus häufig Unsicherheiten bezügliche der eigenen Qualitäten und Beziehungsfähigkeit sowie das Gefühl eine Sache nicht abgeschlossen zu haben (Yıldırım & Demir, 2015). Soziale Unterstützung in Folge einer Trennung kann die Anpassung an die neue Situation verbessern und verringert möglicherweise die entstehenden Schwierigkeiten (Gomillion et al., 2015; Yıldırım & Demir, 2015). Dies zeigt sich vor allen Dingen bei der Person, welche in einer Partnerschaft mehr instrumentelle Unterstützung erhalten als selber gegeben hat. Im Zuge der Trennung kommt es häufig dazu, dass die Person, welche mehr instrumentelle Unterstützung vom*von der Beziehungspartner*in bezogen hat, infolge der trennungsbedingt fehlenden Unterstützung individuell wichtige Ziele nicht mehr verfolgen kann (Gomillion et al., 2015). Bei instrumenteller Unterstützung in diesem Sinne, kann es sich zum Beispiel um eine finanzielle Unterstützung, Hilfe im Haushalt oder einem kostenlosen / -günstigen Beherbergen des*der Partners*in im eigenen Haushalt handeln. Das Wegfallen dieser Unterstützung kann weitreichende Folgen auf das Wohlbefinden und das Selbstkonzept dieser Person haben, da sie neben dem*der Partner*in zusätzlich einen wichtigen Lebensinhalt verlieren könnte, wobei allerdings die persönlichen Ziele meist gleich wichtig bleiben wie während der Beziehung (Gomillion et al., 2015). Daneben tragen emotionale und informationelle Unterstützung (siehe Kästchen) ebenfalls ihren Teil zu einer besseren Trennungsverarbeitung bei (Yıldırım & Demir, 2015).  

«Wer schon sitzen gelassen wurde und liegen blieb, ist froh, wenn er sich aufgehoben fühlt.» 

Sarah Razak, *1975 

Hohe Selbstkomplexität als Schutzfaktor vor Trennungen 

Ergänzend zu den bisher genannten Faktoren, gibt es verschiedene, eher unbekannte Einflussgrössen, welche die Verarbeitung einer Trennung beeinflussen können. Dazu gehört das Konzept der Selbstkomplexität (Smith & Cohen, 1993). Dabei handelt es sich um ein Mass für Selbstaspekte, die voneinander unabhängig vorliegen und für die jeweilige Person als Charakterisierung des eigenen Selbst dienen. Als Selbstaspekte werden Rollen, Aktivitäten, Eigenschaften und Ähnliches bezeichnet, die für die Selbstrepräsentation eine Rolle spielen. Je mehr Selbstaspekte unabhängig voneinander vorliegen, umso höher ist die Selbstkomplexität. Eine hohe Selbstkomplexität stellte sich in verschiedenen Studien als ein Puffer für Stress und negative Lebensereignisse heraus (McConnell et al., 2005; Smith & Cohen, 1993). Nach Smith und Cohen (1993) können Personen mit einer hohen Selbstkomplexität im Falle eines Aspekt-Verlustes auf weitere Selbstaspekte zurückgreifen, wodurch sie ihre soziale Identität nicht verlieren. Dasselbe zeigte sich bei der Reaktion von Studierenden auf eine Trennung (Smith & Cohen, 1993). Die Problematik des Identitätsverlustes könnte durch mangelnde Ressourcen oder fehlende soziale Unterstützung verstärkt werden, womit eine Trennung als noch schwerwiegender wahrgenommen werden kann (Smith & Cohen, 1993). 

Die Rolle von Facebook bei Trennungen 

Der folgende Abschnitt befasst sich mit den Auswirkungen von sozialen Medien auf Trennungen. Dabei wird überwiegend auf Studien zurückgegriffen, die sich mit Facebook befassten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass andere soziale Netzwerke einen ähnlichen Effekt auf eine Trennung haben können, was allerdings bisher nicht explizit untersucht wurde. Dazu können Plattformen wie Snapchat, Instagram oder Ähnliches gehören. 

Bereits bevor es zu einer Trennung kommt, kann der übermässige Gebrauch von Facebook in der Anwesenheit des*der Partners*in zu einem erhöhten Gefühl von Einsamkeit, Eifersucht und zu gering wahrgenommener Führsorge führen, was wiederum eine Trennung begünstigen kann (Nongpong & Charoensukmongkol, 2016). 

Nach einer Trennung ändern Getrennte ohne Wunsch auf Offenlegung ihren Beziehungsstatus auf Facebook oftmals nicht. Ein Grund dafür ist, dass sie sich mit ihrem neuen Beziehungsstatus oft nicht wohl fühlen oder verhindern wollen, von Freunden und Bekannten auf das Ende ihrer Beziehung angesprochen zu werden (Haimson et al., 2018). Bei der öffentlichen Änderung des Beziehungsstatus auf einer Plattform wie Facebook spricht man von einer one-to-many Kommunikation (Haimson et al., 2018). Es kommt ebenfalls vor, dass einige ihren Beziehungsstatus zwar ändern, jedoch in Folge dessen die Anzeige ihres Beziehungsstatus verbergen. Dieses Vorgehen kann ihnen dabei helfen, ihre Selbstwahrnehmung entsprechend des neuen Beziehungsstatus zu verändern und stellt für sie ein Schritt ins Single-Leben dar. Hierbei spricht man von einer one-to-self Kommunikation. An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, was eine Trennung in vielen Fällen für einen Stellenwert im Leben und der Entwicklung der Betroffenen haben kann (Haimson et al., 2018). In einer Studie von Lukacs und Quan-Haase (2015) konnte gezeigt werden, dass Personen, die im Vergleich zu anderen Teilnehmenden aus derselben Stichprobe starken Stress durch die Trennung erlebt hatten, häufig ihren*ihre Partner*in als Facebook-Freund*in entfernt haben. Ebenfalls zeigte sich, dass Personen, die von Anbeginn nicht mit ihren Ex-Partnern*innen auf Facebook befreundet waren, mehr Stress durch die Trennung erlebten als andere (Lukacs & Quan-Haase, 2015). Die meisten Getrennten berichteten jedoch, dass man durch eine Facebook-Freundschaft in einem fortlaufenden, wenn auch nur einseitigen, Kontakt mit dem*der Ex-Partner*in bleibt. In diesem Fall besteht zwar kein Austausch im klassischen Sinne, wobei man sich als stille beobachtenden Person der / dem Ex-partner*in dennoch verbunden fühlen kann. Durch diesen Kontakt erscheinen die Aktivitäten des*der Ex-Partners*in als weniger geheimnisvoll und unzugänglich, was zu einem Gefühl der Verbundenheit führen kann. Diese Erkenntnis legt den Schluss nahe, dass für viele eine Entfreundung des*der Ex-Partners*in keine sinnvolle Copingstrategie bei Trennungen darstellt (Lukacs & Quan-Haase, 2015). Diese Verbindung kann jedoch auch Schattenseiten haben. Während des einseitigen Kontaktes kann der Wunsch auf Wiederaufnahme der Beziehung grösser werden, wobei die Hoffnung darauf (aufgrund der nicht vorhandenen Rückmeldung der anderen Person) in ähnlichem Masse ansteigen kann. Dadurch kommt es in den vielen Fällen zu einem erhöhten Stresserleben und vermehrten negativen psychischen Folgen (Lukacs & Quan-Haase, 2015).  

Praktische Empfehlungen 

Bei den zuvor aufgezeigten Faktoren sowie bei Facebook handelt es sich um einen kurzen Überblick der aktuellen Forschung. Zudem ist auf die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Beziehungen hinzuweisen. Trotzdem lassen sich einige Empfehlungen aus den gewonnenen Erkenntnissen ableiten, wie Praktiker*innen, Familie und Freunde mit Getrennten umgehen können, um diese möglichst gut zu unterstützen: 

  • Nehmen Sie sich Zeit für die Betroffenen und üben Sie keinen Druck aus. Wenn den Getrennten danach ist, werden sie von ihrer Trennung und den damit verbundenen Gefühlen erzählen (Yıldırım & Demir, 2015). 
  • Helfen Sie den Getrennten dabei, den Grund für die Trennung zu verstehen und zu akzeptieren, damit es ihnen leichter fällt, einen Schlussstrich unter die Beziehung zu ziehen (Yıldırım & Demir, 2015). 
  • Bieten Sie nach Möglichkeit und Notwendigkeit der getrennten Person instrumentelle Unterstützung an, um zu verhindern, dass sie neben dem*der Partner*in zusätzlich ihre Ziele und allenfalls einen weiteren wichtigen Lebensinhalt verliert (Gomillion et al., 2015; Smith & Cohen, 1993). 
  • Zeigen Sie der gerade getrennten Person auf, dass sich neben den möglicherweise aktuell präsenten Selbstaspekten des Ex-Partners, Verlierers oder auf immer alleine seienden noch weitere, positive Selbstaspekte in ihnen befinden. Hierbei können verschiedene Aspekte in den Fokus gerückt werden, wie beispielsweise Hobbys, Arbeit oder Familie. Dadurch kann ihre Selbstkomplexität und damit der Stresspuffer erhöht werden (Smith & Cohen, 1993). Dabei sollte jedoch auf eine möglichst breite Verteilung von verschiedenen Aspekten geachtet werden, damit ein maladaptives Coping möglichst im Vorfeld ausgeschlossen werden kann. Zum Beispiel ein sich in die Arbeit stürzen, übermässiges Feiern oder ähnliches. 
  • Beachten Sie die Rolle die Facebook und andere sozialen Medien in der heutigen Zeit spielen (Lukacs & Quan-Haase, 2015; Nongpong & Charoensukmongkol, 2016). Ihr Einfluss ist nicht zu vernachlässigen, da diese Plattformen zum täglichen Leben gehören. 
  • Thematisieren Sie den Umgang mit sozialen Medien und machen Sie die Getrennten auf Chancen und Risiken aufmerksam, welche sich daraus ergeben können, weiterhin mit dem*der Ex-Partner*in digital befreundet zu bleiben (Lukacs & Quan-Haase, 2015; Nongpong & Charoensukmongkol, 2016). 

Formen von sozialer Unterstützung  

Bei dem Erhalten von sozialer Unterstützung handelt es sich um das Erlangen externer Ressourcen in Form von Bewältigungshilfe, Austauschmitteln oder Ähnlichem, welche wiederum in instrumentelle, informationelle und emotionale Unterstützung unterteilt werden. Von instrumenteller Unterstützung ist bei alltäglicher Hilfe, wie zum Beispiel Mithilfe beim Aufbauen von Möbeln, Erledigen von Einkäufen oder finanzieller Unterstützung jeglicher Art die Rede. Bei informationeller Unterstützung handelt es sich insbesondere um das Erteilen von Ratschlägen, während emotionale Unterstützung aus Zuhören und dem Vermitteln von positiven Gefühlen besteht (Schwarzer & Knoll, 2007).  


Zum Weiterlesen

Yıldırım, F. B., & Demir, A. (2015). Breakup adjustment in young adulthood. Journal of Counseling & Development, 93(1), 38-44. doi: 10.1002/j.1556-6676.2015.00179.x 

Lukacs, V., & Quan-Haase, A. (2015). Romantic breakups on Facebook: New scales for studying post-breakup behaviors, digital distress, and surveillance. Information, Communication & Society, 18(5), 492-508. doi: 10.1080/1369118X.2015.1008540 

Literatur 

Gomillion, S., Murray, S. L., & Lamarche, V. M. (2015). Losing the wind beneath your wings: The prospective influence of romantic breakup on goal progress. Social Psychological and Personality Science6(5), 513–520. https://doi.org/10.1177/1948550614568160 

Haimson, O. L., Andalibi, N., De Choudhury, M., & Hayes, G. R. (2018). Relationship breakup disclosures and media ideologies on Facebook. New Media & Society20(5), 1931–1952. https://doi.org/10.1177/1461444817711402 

Low, N. C., Dugas, E., O’Loughlin, E., Rodriguez, D., Contreras, G., Chaiton, M., & O’Loughlin, J. (2012). Common stressful life events and difficulties are associated with mental health symptoms and substance use in young adolescents. BMC Psychiatry12(1), 116. https://doi.org/10.1186/1471-244X-12-116 

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Nongpong, S., & Charoensukmongkol, P. (2016). I don’t care much as long as I am also on Facebook: Impacts of social media use of both partners on romantic relationship problems. The Family Journal24(4), 351–358. https://doi.org/10.1177/1066480716663199 

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Study-Life-Balance

Wie sich Studium, Arbeit und Freizeit die Waage halten – Mit Fokus auf die Schweizer Studierenden 

Setz dir Ziele, treibe Sport, treffe Mitmenschen, gönn dir etwas, vergleich dich nicht, finde deine Lernstrategie, nimm es mit Humor… Das sind Tipps des Internets für die perfekte Study-Life-Balance: Verallgemeinernd, fraglich hilfreich, beschränkt umsetzbar. Doch was macht sie tatsächlich aus und wodurch wird sie erschwert? 

Von Julia Schmid
Lektoriert von Isabelle Barthalomä und Mandana Fröhlich
Illustriert von Alba Lopez

Der Begriff «Work-Life-Balance» ist weit verbreitet (Deuer, 2013). Durch gesellschaftliche Trends wie die Individualisierung hat die Arbeit einen anderen Stellenwert eingenommen als früher. Für viele ist es nicht mehr nur wichtig einen Job zu haben, sondern den für sich richtigen Arbeitsplatz zu finden, an dem man sich wohlfühlt und nicht überlastet wird (Stressfrei, 2018). Meist wird der Begriff «Work-Life-Balance» mit einer familienfreundlichen Arbeitsgestaltung assoziiert. Diese Verwendung ist unbefriedigend, da letztlich alle Personen, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmass, von einer fehlenden Balance betroffen sein können. Dies gilt auch für die Studierenden (Deuer, 2013). Die Forschung in diesem Bereich ist aber noch mangelhaft, obwohl gerade für jüngere Generationen in den letzten Jahren die Bedeutung der Work-Life-Balance stark zugenommen hat (Deuer, 2013). Lediglich Beratungsliteratur befasst sich speziell mit dem Aspekt des Studiums bzw. der Study-Life-Balance. Herzog und Otto (2013) vermuten den Grund dafür in der Subjektivität des Wortes «Balance».  

Der Begriff «Study-Life-Balance» steht für die Beziehung zwischen dem Studium und persönlichen Lebensaktivitäten, die für jede*n Einzelne*n unterschiedlich ist (Kumar & Chaturvedi, 2018). Eine gute Study-Life-Balance bedeutet, mit dem Gleichgewicht verschiedener Rollen in seinem Leben zufrieden zu sein (Drago, 2007) und akademische Leistungen zu erbringen, ohne dabei soziale, sportliche und kulturelle Aspekte zu vernachlässigen. Wichtig dabei ist gemäss Wittmann (2016) die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwichtigen zu unterscheiden. Die emotionale Intelligenz erklärt über die Persönlichkeit hinaus einen Teil der Varianz der Study-Life-Balance (Namin-Hedayati, 2007). Balance ist dabei kein statischer Zustand, sondern ein tieferes Verständnis für den Wandel zwischen Phasen der Anspannung und Leistung und Phasen der Ruhe und Erholung (Wittmann, 2016). Soziale Unterstützung verbessert die Study-Life-Balance, diese wiederum erhöht die Lebenszufriedenheit (Kumar & Chaturvedi, 2018). 

Das Empfinden der Studierenden 

Während des Semesters gibt gemäss Deuter (2013) nur jeder vierte Studierende an, genügend Zeit für Privates zu haben und lediglich jeder Dritte empfindet das Verhältnis zwischen Studium und Privatleben als ausgewogen. Gleichzeitig betreiben nur sehr wenige Studierende mehr als zwei Stunden Sport pro Woche (Deuer, 2013). In vorlesungsfreien Phasen haben die meisten Studierenden Zeit für persönliche Aktivitäten und bezeichnen ihre Study-Life-Balance als gut. Auch ist der Anteil der Studierenden, die Sport treiben, höher (70 Prozent) (Deuer, 2013). Demzufolge scheint vor allem während dem Semester die Study-Life-Balance nicht gegeben zu sein; worin liegt dies begründet? 

Die Herausforderungen 

Das Studium wird immer wieder als «die beste Zeit des Lebens» bezeichnet. Es bringt aber nicht nur Freiheit und Selbstverwirklichung, zu dieser Zeit wird auch sehr viel Fleiss, Disziplin und Selbstständigkeit gefordert. Durch das Lernen zu Hause und einem unregelmässigen Tagesablauf können die Grenzen zwischen Arbeit (Study) und Freizeit (Life) verwischen (Deuer, 2013). Gleichzeitig sind Schweizer Studierende häufiger von materieller Entbehrung betroffen und haben ein geringeres Einkommen als nichtstudierende Schweizer im gleichen Alter. Weitere Herausforderung sind die verglichen mit deren der erwerbstätigen Bevölkerung längeren Pendelzeiten und die Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche (Fischer, Boughaba, & Gerhard Ortega, 2017). Auch die ungleiche Verteilung der Prüfungen über das Semester stellt ein Hindernis der Study-Life-Balance dar (König, 2017). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass kein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen der investierten Studienzeit und der Belastung nachgewiesen werden kann. Studierende fühlen sich teilweise trotz geringem quantitativen Zeitaufwand stark belastet (König, 2017). Die Belastungen im Studium entstehen gemäss König (2017) neben strukturellen Bedingungen durch personenbezogene Merkmale wie Stressresistenz, Erholungsfähigkeit und persönliche Flexibilität. 

Ein Grund für die teils auch in der vorlesungsfreien Zeit fehlende Balance könnte die Studienbelastung aufgrund der Bologna-Reform, beispielsweise in Form von Prüfungen, Hausarbeiten und Praktika, sein (Deuer, 2013). Anderseits kann paradoxerweise auch durch die Freiheit, die Zeit selbst einteilen zu können, eine Belastung entstehen (Gross & Boger, 2011). Die Studierenden können frei entscheiden, wie sie die vorlesungsfreie Zeit gestalten wollen, müssen sich aber auch selbst darum kümmern. Entsprechend unterscheiden sich die Studierenden sehr darin, in welchem Ausmass sie die Zeit für Praktika und Jobs nutzen (Deuer, 2013). Neben der studienbedingten Belastung, die alle Studierenden betrifft, sind einige durch Erwerbstätigkeit einer Doppelbelastung bzw. durch Elternschaft sogar einer Dreifachbelastung ausgesetzt (Fischer et al., 2017).  

Work-Study-Life-Balance 

Drei Viertel der mehr als 150’000 Schweizer Studierenden arbeiten neben dem Studium (Fischer et al., 2017). Die Hälfte aller Studierenden weist einen Beschäftigungsgrad bis zu 40 Prozent auf. Jeder zehnte Studierende arbeitet sogar mehr als 60 Prozent (BFS, 2015). Ihr Zeitbudget ist durch die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Studium, Arbeit, Haushalt, Familie und weiteren Freizeitaktivitäten geprägt. Da die Gesamtzeit, die wöchentlich zur Verfügung steht, beschränkt ist, kann es zu Zielkonflikten kommen (Fischer et al., 2017). 

Family-Work-Study-Life-Balance 

Fünf Prozent der Schweizer Studierenden haben Kinder. Einem Grossteil davon hilft die Kinderbetreuung, ihr studentisches Leben zu strukturieren oder schwierige Phasen während des Studiums zu überbrücken. Einige Studierende können aber nicht alle Studienveranstaltungen besuchen und empfinden die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Studium als (eher) schwierig. Bei manchen hat das Studium durch die Elternschaft an Bedeutung verloren. Ein Fünftel sieht die Kinderbetreuung als mögliches Hindernis für einen erfolgreichen Studienabschluss. 14 Prozent, vor allem Mütter, berichten gesundheitliche Probleme aufgrund der Doppelbelastung (Fischer et al., 2017). Studierende mit Kindern haben mit fast 70 Stunden pro Woche eine deutlich höhere Gesamtbelastung, wobei gleichzeitig weniger Zeit in das Studium investiert werden kann (Fischer et al., 2017). 

Studierende, die nicht erwerbstätig sind, investieren durchschnittlich 42 Stunden pro Woche in das Studium. Dies entspricht einem 100 Prozent Arbeitspensum. Bei den erwerbstätigen Studierenden fällt der zeitliche Studienaufwand mit zunehmendem Beschäftigungsgrad geringer aus (Fischer et al., 2017). Beispielsweise investieren Studierende, die 50 Prozent arbeiten, nur 25 Stunden pro Woche in das Studium (BFS, 2015). Mehr als die Hälfte der Zeit, die zum Arbeiten aufgewendet wird, geht zu Lasten der für das Studium verfügbaren Zeit. Dabei ist die Kausalität aber nicht geklärt (Fischer et al., 2017). Mit jeder weiteren Stunde Erwerbstätigkeit werden durchschnittlich 30 Minuten weniger in das Studium investiert. Umgekehrt betrachtet erhöht sich die Erwerbstätigkeit um 20 Minuten mit jeder weniger in das Studium investierten Stunde (Fischer et al., 2017). Es könnte sein, dass insbesondere die Studierenden neben dem Studium arbeiten, die alle anderen Lebensbereiche «im Griff» und somit noch Potenzial, Kapazitäten und Energie haben (Deuer, 2013). Die Arbeitsstunden, die nicht zu Lasten des Studiums gehen, werden zusätzlich aufgewendet (BFS, 2015). Durch die Doppelbelastung erhöht sich das Gesamtarbeitsvolumen der Studierenden, was die Freizeit verringert (Herzog & Otto, 2013).  

«Ein Studium neben einer Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung bedeutet für die Studierenden eine Dreifachbelastung durch Arbeit, Studium und Familie/Freizeit.» 

Gaedke et al., 2011, S. 198 

Die Doppelbelastung sowie der Umstand, aus finanziellen Gründen nicht mehr Zeit für das Studium aufwenden zu können, erachten die Studierenden als die Aspekte, die das Studium am meisten erschweren. Je höher der Beschäftigungsgrad ist, desto kritischer wird die Doppelbelastung eingeschätzt (Fischer et al., 2017). Berufsbegleitend Studierende reduzieren auf Grund der Belastung ihre Ansprüche an das eigene Leistungsniveau und ihre privaten Aktivitäten (Freunde, Familie, Hobbies…). Letzteres stellt eigentlich eine wichtige Ressource im Hinblick auf die Vermeidung eines Burnouts dar (Gaedke, Venegas, Recker, & Janous, 2011). Die Erwerbstätigkeit hat aber auch positive Auswirkungen; sie gibt Anregungen für das Studium und führt zu einer zielgerichteteren Arbeitsweise. Studentische Erwerbstätigkeit, die einen umfangreicheren Beschäftigungsgrad, sowie Fachwissen voraussetzt, wirkt sich eher negativ auf die Work-Study-Life-Balance aus, die Studierenden können aber im Hinblick auf das Studium stärker profitieren (Fischer et al., 2017). 

«Zusätzlich reduzieren berufsbegleitend Studierende ihre privaten Aktivitäten wesentlich stärker als Vollzeitstudierende.» 

Gaedke et al., 2011, S. 209

Der wöchentliche Aufwand der Studierenden für Studium, Erwerbstätigkeit und Haushalt, inklusive Kinderbetreuung, beträgt durchschnittlich 50 Stunden. 35 Stunden werden für das Studium benötigt, neuneinhalb für die Arbeit und fünfeinhalb für den Haushalt. Im Verlauf des Studiums nimmt der Zeitaufwand für das Studium ab, der für die Arbeit und den Haushalt aber zu, wodurch der gesamte Aufwand ansteigt (Fischer et al., 2017). 

Prädiktoren und Konsequenzen einer mangelhaften (Work-) Study-Life-Balance  

Studierende nehmen viele Rollen ein, was zu einem Konflikt führen kann (Kumar & Chaturvedi, 2018). Sie sind verschiedenen Stressfaktoren, wie übermässigen Hausaufgaben, Angst vor dem Scheitern, unklaren Aufgaben, Abgabefristen, Beziehungen zu Fakultätsmitgliedern, Zeitdruck, finanziellem Druck, Einsamkeit und unsicheren Zukunftsaussichten ausgesetzt (Doble & Supriya, 2011). Auch der hohe Prüfungs-, Noten- und Erfolgsdruck macht einigen zu schaffen (König, 2017). Gelingt es nicht, diese Faktoren zu bewältigen, entsteht Stress (Doble & Supriya, 2011). Auch die Kombination von Arbeit und Studium (und Familie) kann zu Stress führen. Mehr als jeder zweite erwerbstätige Studierende gibt an, dass sein Studium durch die Arbeit negativ beeinflusst wird (Robotham, 2008). 

Gemäss Deuter (2013) empfinden 50 Prozent der Studierenden in der vorlesungsfreien Zeit hohen Stress. Während dem Semester sogar 90 Prozent (Deuer, 2013). In der Schweiz nennen 15 Prozent Stress und Überlastung als Grund, sich mindestens ein Semester frei zu nehmen und über ein Viertel der Studienabbrecher*innen begründen den Abbruch mit Stress und Überlastung (Fischer et al., 2017). 

Stress beeinträchtigt die Study-Life-Balance. Dies wiederum verringert die Lebens-, sowie akademische Zufriedenheit und senkt die akademische Leistung (Pluut, Curşeu, & Ilies, 2015; Kumar & Chaturvedi, 2018). Der genannte Stress kann auch zu psychischen und physischen Problemen führen (Doble & Supriya, 2011). Fast 20 Prozent der Schweizer Studierenden geben an, unter dauerhaften Gesundheitsproblemen zu leiden. Am häufigsten nennen sie chronische Krankheiten (41 Prozent) und psychische Probleme (26 Prozent). Im Vergleich zur gleichaltrigen Wohnbevölkerung weisen sie eine schlechtere Gesundheit auf. Dies könnte auf kumulativen Effekten, also die studien-, arbeits- und elternschaftsbedingte Belastung, sowie finanzielle Probleme zurückzuführen sein (BFS, 2018).  

Eine fehlende Work-Study-Life-Balance kann zu einem Burnout führen (Gusy, Lohmann, Drewes, 2010). Besonders gefährdet sind zum einen junge Menschen mit sehr hohen Erwartungen an sich selbst, die sich in ihrer Leistungsfähigkeit überschätzen und zum anderen Studierende, die neben dem Studium sehr viel Energie für ihre Existenzsicherung aufwenden müssen (Wittmann, 2016). 

Die zu Beginn des Artikels genannten Tipps des Internets suggerieren, dass jeder seine Study-Life-Balance beeinflussen kann und komplett selbst für sie verantwortlich ist. Die Forschung zeigt aber, dass die Study-Life-Balance stark von der Persönlichkeit und den Umständen abhängt. Wie gross der veränderbare Teil tatsächlich ist und wie die Study-Life-Balance verbessert werden kann, sollte Gegenstand künftiger Forschung sein. Bis dahin lässt sich mit einem Augenzwinkern sagen: Setz dir Ziele, treibe Sport… 


Zum Weiterlesen 

Deuer, E. (2013). Work-Life-Balance in Ausbildung und Studium. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis42(1), 36-40. 

Fischer, P., Boughaba, Y., Gerhard Ortega, S. (2017). Studien- und Lebensbedingungen an den Schweizer Hochschulen – Hauptbericht der Erhebung 2016 zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden. Schweiz: Bundesamt für Statistik. 

Literatur

BFS. (2015). Studien- und Lebensbedingungen an den Schweizer Hochschulen – Hohe Erwerbstätigkeit der Studierenden. Retrieved from https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/personen-ausbildung/soziale-wirtschaftliche-lage-studierenden.assetdetail.38508.html 

BFS (2018). Gesundheit der Studierenden an den Schweizer Hochschulen im Jahr 2016. Retrieved from https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/personen-ausbildung/soziale-wirtschaftliche-lage-studierenden.assetdetail.6468263.html 

Deuer, E. (2013). Work-Life-Balance in Ausbildung und Studium. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis42(1), 36-40. 

Doble, N., & Supriya, M. V. (2011). Student life balance: myth or reality?. International Journal of Educational Management, 23(3), 237-251.  

Fischer, P., Boughaba, Y., Gerhard Ortega, S. (2017). Studien- und Lebensbedingungen an den Schweizer Hochschulen – Hauptbericht der Erhebung 2016 zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden. Schweiz: Bundesamt für Statistik. 

Gaedke, G., Venegas, B. C., Recker, S., & Janous, G. (2011). Vereinbarkeit von Arbeiten und Studieren bei berufsbegleitend Studierenden. Zeitschrift für Hochschulentwicklung

Groß, L., & Boger, J. M. A. (2011). Subjektives Belastungsempfinden von Studierenden. In Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten, 6(2), 198-213. 

Gusy, B., Lohmann, K., & Drewes, J. (2010). Burnout bei Studierenden, die einen Bachelor-Abschluss anstreben. Prävention und Gesundheitsförderung5(3), 271-275. 

Herzog, M., & Otto, C. (2013). Beruflich qualifiziert Studieren: Alles eine Frage der Work-Study-Life-Balance. Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung (Hg.): Beruflich qualifiziert studieren–Herausforderung für Hochschulen. Ergebnisse des Modellprojekts Offene Hochschule Niedersachsen. Bielefeld, 99-107. 

König, K. (2017). Gut studieren? Heute! Spurensuche nach Bedingungen und Möglichkeiten eines gelingenden Studiums in Bologna-Strukturen. München: Avm. 

Kumar, K., & Chaturvedi, R. (2018). An empirical study of social support, stress and life satisfaction among engineering graduates: mediating role of perceived work/study life balance. International Journal of Happiness and Development4(1), 25-39. 

Namin-Hedayati, F. (2007). An exploration of the effects of emotional intelligence on work-life balance, above and beyond personality components in working, graduate and undergraduate students. Dissertation Abstracts International: Section B: The Sciences and Engineering, 68(2-B), 1315.  

Pluut, H., Curşeu, P. L., & Ilies, R. (2015). Social and study related stressors and resources among university entrants: Effects on well-being and academic performance. Learning and Individual Differences37(1), 262-268. 

Stressfrei. (2018). Retrieved Januar 20, 2020, form https://www.stressfrei.de/2018/08/13/study-life-balance-work-life-balance-fuer-auszubildende-und-studierende/ 

Robotham, D. (2008). Stress among higher education students: Towards a research agenda. Higher education56(6), 735-746. 

Wittmann, C. (2016). Study-Life-Balance – Wie man Stress und Leistungsdruck am besten vermeidet. Retrieved from https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/zeitmanagement-interview-study-life-balance-100.html 

So nah und doch so fern

Liebe auf Distanz – Was zeichnet Fernbeziehungen aus und wie funktionieren sie? 

Wir leben in einer globalisierten Welt, sind so vernetzt wie noch nie und Distanz ist kaum noch relevant. Doch wie sieht es mit der Liebe aus, in der Nähe und gemeinsam verbrachte Zeit doch eine vermeintlich essenzielle Rolle spielen?  

Von Selina Landolt
Lektoriert von Zoé Dolder und Hannah Meyerhoff
Illustriert von Selina Landolt

Wie gross muss die geographische Distanz sein, damit man sich in einer Fernbeziehung (engl. long distance relationship) befindet? Wie viele Kilometer sind notwendig, bis sich zwei Partner*innen nicht mehr «geographisch nahe» nennen dürfen? Forschende – und wohl auch betroffene Paare – sind sich nicht immer einig, wie eine Fernbeziehung zu definieren ist. Vor allem in der neueren Forschung findet sich aber vorwiegend Pistole und Roberts (2011) Auffassung von Fernbeziehungen. Darin zeichnen sich Fernbeziehungen erstens durch eine beträchtliche geographische Distanz zwischen den Partner*innen aus, sodass es praktisch unmöglich wäre, sich jeden Tag zu sehen. Zweitens unterscheiden sich Fernbeziehungen von Beziehungen ohne Distanz durch ihre Kommunikation, von welcher ein Grossteil nicht von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Doch ganz unabhängig von den Kilometern: Wie sehen denn Fernbeziehungen im Alltag aus? 

Emotionale Nähe und geographische Distanz – geht das? 

Das Phänomen Fernbeziehung ist kein seltenes. Vor allem bei jungen Erwachsenen sind Fernbeziehungen nicht ungewöhnlich und werden immer populärer. Gründe dafür sind die sich immer weiterentwickelnde Globalisierung, Flugtickets zu Spottpreisen oder berufliche Karrieren, welche teilweise eine hohe geographische Flexibilität erfordern. Mehr als die Hälfte der Studierenden haben sich in ihrem Leben mindestens einmal in einer Fernbeziehung wiedergefunden (Arnett, 2000; Larsen, Urry & Axhausen, 2006). Betrachtet man nicht nur junge, gebildete Menschen, sondern beobachtet Häufigkeiten über die Gesamtbevölkerung, so findet man, dass etwa 10 Prozent in einer Partnerschaft mit getrennten Haushalten leben. Diese Paare werden mit dem Begriff Living Apart Together betitelt und können, müssen aber nicht einer Fernbeziehung nach Pistole und Roberts (2011) entsprechen (siehe Kästchen) (Asendorpf, 2008). Partnerschaften auf Distanz sind also keine Einzelfälle: Eine nähere Betrachtung der Vor- und Nachteile von Fernbeziehungen scheint sich folglich zu lohnen. 

«I exist in two places, here and where you are.» 

Margaret Atwood

Trotz Schmetterlingen im Bauch sind Fernbeziehungen nicht immer ein Zuckerschlecken. Im Vergleich zu geographisch nahe wohnenden Partner*innen erwähnt Rohlfing (1995) charakteristische Herausforderungen für Personen in Fernbeziehungen. Diese sind a) eine erhöhte finanzielle Belastung zur Aufrechterhaltung der Beziehung, b) die Schwierigkeit, gleichzeitig geographisch nahe Freundschaften zu pflegen, c) die erschwerte Beurteilung des Zustandes einer Beziehung aus der Entfernung und d) hohe Erwartungen an den*die Partner*in sowie an die Qualität der begrenzten, gemeinsamen Zeit.  

Diese Schwierigkeiten können sich bei Einzelpersonen in Form von Stress und Einsamkeit äussern. So kommt der Stress vor allem durch die unausweichlichen, bevorstehenden Trennungen nach jedem Wiedersehen der Partner*innen und den vielen Reisen zustande, die für die Aufrechterhaltung der Beziehung notwendig sind. Gefühle von Einsamkeit dagegen treten vermehrt während der Zeit der räumlichen Trennung auf und sind während dieser sehr belastend für die Partner*innen (Sahlstein, 2004).  

Doch trotz oder dank der erschwerenden Distanz haben Fernbeziehungen auch einzigartige Vorteile gegenüber Beziehungen ohne Distanz. Die seltene, meist gut eingeplante gemeinsam verbrachte Zeit wird von Partner*innen umso mehr wertgeschätzt und ausgeschöpft (Sahlstein, 2004). Langeweile entsteht so vermutlich weniger. Ein weiterer positiver Aspekt kann die für Partner*innen in Fernbeziehungen typische Segmentierung ihrer Zeit sein. Dies bedeutet, dass sie sich in Zeiten geographischer Nähe besonders auf die Beziehung und die gemeinsamen Momente fokussieren, während sie sich in der restlichen Zeit mehr auf die Schule, den Beruf oder Freunde konzentrieren können (Sahlstein, 2004). Das kann wiederum in einem Gefühl von Unabhängigkeit resultieren, welches viele Personen in einer Fernbeziehung geniessen (Stafford, Merolla & Castle, 2006). Eine Fernbeziehung zu führen ist folglich durchaus möglich, sofern man sich mit den Vor- und Nachteilen einer solchen Beziehungsform arrangieren kann.  

Sind Personen in Fernbeziehungen weniger zufrieden? 

Studien, welche die allgemeinen Beziehungszufriedenheit in Fernbeziehungen im Vergleich zu geographisch nahe wohnenden Paaren untersuchten, zeigen gemischte Ergebnisse. Während einige wenige Studien über eine geringere Beziehungszufriedenheit berichten, zeigen andere eine gleich hohe oder sogar höhere Beziehungszufriedenheit in Fernbeziehungen (Du Bois et al., 2016; Kelmer, Rhoades, Stanley &, Markman, 2013). 

Doch zumindest für die Studienergebnisse mit einer besonders hohen Beziehungszufriedenheit hat die psychologische Wissenschaft eine Erklärung. Sie könnten nämlich durch das Phänomen der Idealisierung des*der Partners*in zustande gekommen sein, welches in Fernbeziehungen – im Vergleich zu Paaren mit geringer geographischer Distanz – vermehrt auftaucht (Stafford & Merolla, 2007). Diese Idealisierung kann durch die eingeschränkte Kommunikation sowohl als auch begrenzter Interaktion entstehen und aufrechterhalten werden, da allenfalls fehlerhafte, romantische Vorstellungen über die andere Person nicht korrigiert werden (Stafford & Merolla, 2007). So geben sich Partner*innen in einer Fernbeziehung während ihrer begrenzten gemeinsamen Zeit womöglich mehr Mühe, die getragenen Socken nicht mehrere Tage im Schlafzimmer liegen zu lassen oder die Haare im Waschbecken zu entfernen. Die Idealisierung geht jedoch über nervige Alltagsgewohnheiten hinaus. So berichten Personen in Fernbeziehungen beispielsweise über mehr empfundene Liebe für ihre Partner*innen, mehr Spass mit ihren Partner*innen und eine höhere Kommunikationsqualität (Kelmer et al., 2013). Letzteres ist wohl ein Muss für das Funktionieren von Fernbeziehungen, da man sich körperlich nur begrenzt nahe sein kann und die Kommunikation meist nur über digitale Geräte stattfindet. 

Mögliche Gründe für eine niedrigere Beziehungszufriedenheit können ein höheres allgemeines Stresslevel in Fernbeziehungen aufgrund ihrer charakteristischen Herausforderungen nach Rohlfing (1995) sein (Du Bois et al., 2016). Die über alle Studien hinweg zusammengefassten Ergebnisse von geographisch nahen und fernen Paaren lassen jedoch festhalten, dass die Beziehungszufriedenheit beider Gruppen im Mittel vergleichbar ist (Dargie, Blair, Goldfinger & Pukall, 2015; Du Bois et al., 2016).  

Brücken bauen durch Kommunikation 

Digitale Kommunikation spielt eine wichtige Rolle für die Pflege der Paarbeziehung (Maguire & Connaughton, 2011). Fernbeziehungen sind heute aufgrund von Fortschritten in technologischen und sozialen Medien einfacher aufrechtzuerhalten als zu Zeiten, in denen internationale Telefonate noch teuer waren und Nachrichten per Brief nur mit grosser zeitlicher Verzögerung beim Empfänger ankamen (Oakes & Brown, 2016) – Skype, Facebook, Instagram und Snapchat sei Dank. Auch wenn im Vergleich zur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht einige Informationen, wie die nonverbale Kommunikation, vernachlässigt werden, sind viele der modernen Kommunikationskanäle synchron (d. h. Senden und Empfangen von Nachrichten sind zeitgleich) und erlauben eine unmittelbare Interaktion der Partner*innen (Neustaedter & Greenberg, 2012). Vor allem visuelle und auditive Kommunikationskanäle sind für Paare in einer Fernbeziehung sehr wichtig, da sie Intimität und emotionale Nähe ermöglichen (Janning, Gao & Snyder, 2018; Kolozsvari, 2015). Dies wiederum verringert die Gefahr einer Idealisierung des*der Partner*in (Stafford & Merolla, 2007). 

«In true love the smallest distance is too great and the greatest distance can be bridged.» 

Hans Nouwens 

Eine häufigere Kommunikation geht mit einer höheren Zufriedenheit in Fernbeziehungen einher Dainton & Aylor (2002). Dabei bevorzugen Partner*innen in Fernbeziehungen gewisse Kommunikationskanäle. Skype wird für den gegenseitigen Austausch am häufigsten verwendet und ist mit einer höheren Beziehungs- und Kommunikationszufriedenheit assoziiert. Weiter werden Text-Nachrichten (Empfangen und Senden von Nachrichten beispielsweise über WhatsApp oder iMessage) anderen Kanälen wie Facebook, Twitter und Snapchat vorgezogen (Hampton, Rawlings, Treger & Sprecher, 2018). Letztere gehen teilweise gar mit einer niedrigeren Beziehungszufriedenheit einher und können Konflikte, Spannungen und Eifersucht hervorrufen (Hampton et al., 2018; Hertlein & Ancheta, 2014; Murray & Campbell, 2015; Neustaedter & Greenberg, 2012; Ruppel, 2015; Stewart, Dainton & Goodboy, 2014). 

Trotz fortgeschrittenen digitalen Medien sollte jedoch der Kontakt von Angesicht zu Angesicht nicht vernachlässigt werden. Je weniger digitale Kommunikation, desto geringer ist die empfundene Unsicherheit bezüglich Beziehungsstabilität in Fernbeziehungen (Dainton & Aylor, 2002). Ein weiterer Grund also, sich öfters Besuche abzustatten. 

Und wie steht’s mit der Sexualität? 

Sexualität ist für eine Beziehung sehr entscheidend (z. B. Byers, 2005). Für die sexuelle Interaktion in Fernbeziehungen ist die geographische Distanz jedoch eine Barriere, die besonders schwer zu überwinden ist. Die Sexualität wird vorwiegend online gelebt, beispielsweise mittels Selbstbefriedigung, während man mit dem*der Partner*in über Skype in Kontakt ist (Shaughnessy, Byers & Walsh, 2011). Dies hat zur Folge, dass die sexuelle Interaktion weniger persönlich ist und insgesamt seltener stattfindet als bei Paaren mit geringer Distanz, was wiederum zu Einbussen in der sexuellen Zufriedenheit führen kann (Byers & Wang, 2004). Erstaunlicherweise berichten Paare in Fernbeziehungen allerdings über eine vergleichbare sexuelle Zufriedenheit und sexuelle Kommunikation wie Paare ohne geographische Distanz (Kelmer et al., 2013). Dies lässt sich wohl mit den Möglichkeiten der modernen Technologie erklären, in der zumindest eine eingeschränkte Sexualität möglich ist. Ein weiterer Grund könnte die Idealisierung sein, die sich auch auf den sexuellen Aspekt der Beziehung ausbreiten kann. 

Was die Untreue in Fernbeziehungen betrifft, berichten einige Studien über einer erhöhten Wahrscheinlichkeit sexueller Aktivitäten ausserhalb der Beziehung. Diese finden online, aber auch im persönlichen Kontakt statt (Crystal Jiang & Hancock, 2013). Dabei lässt sich ein Geschlechterunterschied finden: Männer sind öfters untreu als Frauen (Allen & Baucom, 2004; Martins et al., 2016). Andere Ergebnisse wiederum widersprechen Befunden zur Untreue (Goldsmith & Byers, 2018). Zusammenfassend kann wohl gesagt werden, dass die Sexualität in Fernbeziehungen zwar anders, nicht aber besser oder weniger gut funktioniert. Einzig die Häufigkeit sexueller Aktivitäten unterscheidet sich gegenüber Beziehungen ohne geographische Distanz. 

Der Härtetest: Das Zusammenziehen 

Entscheiden sich Partner*innen dazu, zusammenzuziehen, bedeutet dies auch ein neuer Anfang als Paar und kann mit einer Neudefinition der Rollen innerhalb der Beziehung einhergehen (Goldsmith & Byers, 2018). Für einige ist dies aber auch der Anfang vom Ende: Etwa ein Drittel aller Fernbeziehungen werden innerhalb von drei Monaten nach dem Zusammenziehen beendet (Stafford et al., 2006). Häufiger wird dabei die Beziehung von Seiten der Frau beendet. Unabhängig von wem die Trennung ausgeht, gehen Frauen und Männer unterschiedlich mit einer Trennung um. Frauen scheinen sich allgemein besser mit der Beendigung einer Fernbeziehung zurechtzufinden und sehen ein Ende der Beziehung eher voraus (Helgeson, 1994). 

Neben dem Auseinanderbrechen der Beziehung sind Partner*innen allerdings noch weiteren Gefahren beim Zusammenziehen ausgesetzt: Fast alle Partner*innen berichten über einen Verlust der Vorteile einer Fernbeziehung. Schwächen der Partner*innen werden plötzlich offengelegt, die Idealisierung der anderen Person fällt weg und die gegenseitige Abhängigkeit wird grösser. Zudem gewöhnt man sich an die alltägliche Interaktion und die gemeinsame Zeit ist nichts Besonderes mehr, plötzlich fast unbegrenzt verfügbar und wird dementsprechend nicht mehr gleich wertgeschätzt wie noch zu Zeiten der räumlichen Trennung (Stafford et al., 2006). Doch trotz allen Nachteilen des Zusammenziehens – schafft man es, die Beziehung erfolgreich weiterzuführen, kann man sich getrost gemeinsam mit den Schlabberhosen aufs Sofa fläzen, durch Netflix-Serien bingen und muss nicht daran denken, wann man sich von seinem Lieblingsmenschen wieder trennen muss. 

Living Apart Together 

Personen, welche nicht im gleichen Haushalt wohnen, sind nur bedingt solchen in einer Fernbeziehungen gleichzustellen. Verschiedene Gründe können dazu führen, dass Partner*innen an zwei verschiedenen Orten wohnen, wobei sich die verschiedenen Paare grob in drei Gruppen einteilen lassen (Levin, 2004; Reimondos, Evans & Gray, 2011): 

  1. Vorstufe: Eher jugendliche Partnerschaften mit schwacher Verfestigung der Beziehung und hohem Trennungsrisiko (Asendorpf, 2008). 
  1. Berufsbedingte Fernbeziehung: Häufig «Zwei-Karrieren-Partnerschaften» (Peuckert, 2008), es ist von einer Verzögerung der Kohabitation auszugehen. 
  1. Beziehungsideal: Von Partner*innen bewusst gewähltes Arrangement, dass mehr Unabhängigkeit und Distanz sowie individuelle Autonomie erlaubt (Singly, 1994). 

Zum Weiterlesen

Piazza, J. (2018, June 19). How to make a long-distance relationship work, according to experts. TIME. Retrieved from https://time.com/5316307/best-long-distance-relationship-tips-experts/ 

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Literatur

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Byers, E. S. (2005). Relationship satisfaction and sexual satisfaction: A longitudinal study of individuals in long‐term relationships. Journal of Sex Research42(2), 113–118. https://doi.org/10.1080/00224490509552264 

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Singly, F. (1994). Familie der Moderne. Eine soziologische Einführung. Universitäts-Verlag. 

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«Morgen ist auch noch ein Tag…»

Prokrastination bei Studierenden: Das unproduktive Kavaliersdelikt 

«Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen» heisst das berüchtigte Sprichwort. Der entstehende Stress lässt bei vielen Studierenden die Motivation im Keim ersticken und erschwert das Studium um einiges. Es wird nach Strategien gesucht, wichtige Termine nicht auf die lange Bank zu legen. 

Von Tatonka Brunner
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Laura Trinkler
Illustriert von Nathalie Vital

Das deutsche Wort «prokrastinieren» geht auf das lateinische «procrastinare» zurück, übersetzt «vertagen» (crastinum = morgen, der morgige Tag) (Höcker et al., 2013). Ursprünglich war damit eine eher positiv konnotierte Verhaltensweise gemeint, nämlich das reflektierte Aufschieben von schwierigen Entscheidungen hin zu einem günstigeren Zeitpunkt. In unserem heutigen Sprachgebrauch kommt «prokrastinieren» jedoch eine mehrheitlich negative Bedeutung zu, im Sinne von «eine Sache nicht in Angriff nehmen, obwohl sie längst fällig wäre» (Höcker et al., 2013). 

Oftmals sind priorisierte Tätigkeiten diejenigen, die schnellstmöglich zu erledigen sind (Bauer, 2019). Somit erscheint das Aufschieben von Tätigkeiten auf den ersten Blick als eine flexible Handlungskontrolle, weil man sich den unmittelbar anstehenden Aufgaben zuwendet. Man spricht auch heute noch vom positiven Aufschieben: Wir schlafen eine Nacht über Entscheidungen, bevor wir reagieren und handeln. Positiv im Bewusstsein, dass es ein gesundes Mass an Aufschieben ist, durch das man bei Entscheidungen mehr Sicherheit gewinnt (Bauer, 2019). Da beim Prokrastinieren die aufgeschobenen Ereignisse nicht wegfallen, sondern auf der Prioritätenliste nur weiter nach unten rutschen, verschiebt man diese Aufgaben ins Ungewisse und sie werden schlussendlich ausgeblendet. Der Zyklus beginnt von neuem (Bauer, 2019). Ein Thema für die klinische Psychologie wird die Prokrastination, sobald sie habituell wird und nicht mehr unterlassen werden kann (Höcker et al., 2013). 

Spricht man von einer Störung? 

Weder in der ICD-10 noch im DSM-IV werden diagnostische Kriterien für die Prokrastination aufgeführt (Höcker et al., 2013). Dort wird das Prokrastinieren lediglich als Symptom von anderen Störungen genannt, zum Beispiel bei der Depression. Prokrastination stellt eine dysfunktionale Form der Selbstregulation dar, die erhebliche Folgen für die Lebensführung mit sich bringt und dazu psychischen Aufwand fordert, um sie aufrechtzuerhalten. Dies kann wiederum eine Ursache von psychischen Störungen sein (Höcker et al., 2013). Es wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Tendenz zu prokrastinieren, der eigenen Unzufriedenheit und depressiven Symptomen gefunden. Weiter wurde entdeckt, dass die Unzufriedenheit bei Studierenden mit der Semesterzahl zunimmt (Deters, 2006). Denn die höchsten Prokrastinationswerte wurden bei Studierenden gefunden, die sich zum Zeitpunkt der Befragung ausserhalb der Regelstudienzeit befanden. Mit zunehmender Semesterzahl werden die psychischen Folgen des Aufschiebens immer gravierender (Deters, 2006). 

In der Forschung wird zwischen der akademischen Prokrastination und einer Alltags-Prokrastination unterschieden, wobei jeweils unterschiedliche Ziele und Aktivitäten betroffen sind. Es stellte sich heraus, dass bei Prokrastinierenden in der Regel beide Bereiche betroffen sind (Höcker et al., 2013). 

Wie entsteht und überlebt Prokrastination? 

Am besten gedeiht Prokrastination bei mangelnder Steuerungsfähigkeit (Brisch, 2014). Im Klima von unregelmässigem Schlaf, wenig Bewegung, unausgewogener Ernährung und fehlender Routine können Lernende der Prokrastination zum Opfer fallen. Das gilt vor allem für Jugendliche, bei denen das Gehirn noch mitten in hormonellen Umstellungen und sonstigen massiven Veränderungsprozessen steckt (Brisch, 2014). 

Ein weiterer Punkt ist die Aktivität beziehungsweise die Inaktivität (Brisch, 2014). Junge Studierende haben das Interesse, ihre neu erlernten Kompetenzen zu testen: unweigerlich auch ihre Tätig- und Untätigkeit. Die eigenen Grenzen ausweiten, herausfinden wie weit man gehen kann, bis Nachteile aufkommen. Prokrastination wird dann zur geläufigen Methode und das motivierte Lernen erstickt im Keim. Eine wichtige Rolle bei der «Aufschieberitis» spielt auch das sogenannte «Gewächshauspflanzen-Syndrom» (Brisch, 2014). Es beschreibt Studierende, die von zu Hause aus hohen Ansprüchen akademisch geprägter Familien genügen müssen, wobei zu wenig Wert auf die Entwicklung der emotionalen Intelligenz (EQ) gelegt wird. Manche bemerken beim Lernen, dass es ihnen bei der Strukturierung, Planung und Selbststeuerung an Selbstständigkeit fehlt. Denn ein zu hoher Erfolgsdruck erlaubt es den Studierenden nicht, mit der Arbeit anzufangen aus Angst vor möglichem Versagen (Brisch, 2014). Das Aufschieben schiebt diese Angst kurzzeitig mit sich weg. Dazu kommen der soziale Druck und der Wunsch, gesellig zu sein. Dies erschwert das Bewahren der Eigenständigkeit, die für das Planen des individuellen Studiums notwendig ist. Prokrastination ist sehr ansteckend! 

Dem ungewollten Verschieben die Stirn bietenWichtig oder dringend? 

Als erstes gilt es, Prioritäten zu finden und zu setzen: Mit der «Getting Things Done» (GTD) Methode von David Allen gewinnt man die Übersicht über die vielen Termine (Bauer, 2019). Dabei werden alle Aufgaben aus den verschiedenen Lebensbereichen aufgelistet, vom Kleiderschrank ausmisten bis zum Fertigstellen der Seminararbeit. Als nächstes erstellt man eine Rangordnung der Aufgaben nach deren Dringlichkeit. Da kommt eine hilfreiche Matrix ins Spiel, die an die berühmte Eisenhower-Methode angelehnt ist (Bauer, 2019). 

Wichtig und dringend Wichtig und nicht dringend 
Nicht wichtig und dringend Nicht wichtig und nicht dringend 

Auf der horizontalen Achse wird der Wert der Dringlichkeit und auf der vertikalen die Wichtigkeit abgebildet (Bauer, 2019). Die Aufgaben auf der erstellten GTD-Liste werden hier eingegliedert und nach Bedarf in der Matrix umhergeschoben. Wichtig ist, sich dann proaktiv Kästchen für Kästchen durchzuarbeiten, von oben links über oben rechts nach unten rechts. Diese Tabelle ist ein guter Einstieg, um den Berg an Aufgaben systematisch zu meistern (Bauer, 2019). Also sofort beginnen! 

«Morgen ist ein Tag zu spät» 

Gielas, 2011, Titelsatz 

Rituale und Struktur – Wenn nicht jetzt, wann dann? 

Beim Lerneinstieg oder einem Motivationstief hilft es enorm, sich feste Rituale anzueignen, die das Gehirn schon bei Beginn der Arbeit in einen automatisierten Arbeitsmodus versetzen (Bauer, 2019). Bereits ein morgendlicher Wecker ist eine erste Strukturhilfe. Ein festes Frühstück, eine kurze Sporteinheit oder eine Meditationsübung helfen, Motivation aufzubauen. Rund um den Arbeitsplatz können zahlreiche Rituale gefunden werden, die das Loslegen unterstützen. So wirkt auch im Homeoffice der Weg vom Schlafzimmer an den Schreibtisch unterstützend, um Motivation zu schöpfen. Es kann ausprobiert werden, ob Musik oder lärmschützende Kopfhörer bei der Konzentration helfen (Bauer, 2019). Hier gelten die Leitfragen: Welche Grundvoraussetzungen müssen für mich gegeben sein? Wo kann ich mich am besten konzentrieren? Wie muss mein Arbeitsplatz angeordnet sein, oder mit wem gelingt mir die Arbeit noch besser? 

Faktor Zeit – Eigene Tipps, um auch im Prüfungsstress erfolgreich aktiv zu bleiben 

Manchmal braucht es eine grosszügige Pause. Angenommen, die vorgenommene Zeiteinteilung mit der GTD Liste hat nicht funktioniert oder man hat es an einem Tag nicht geschafft, richtig anzufangen, «dann leiste ich jetzt, was im Moment geht, mit der Einstellung, die ich zum gegebenen Zeitpunkt gegenüber meiner Arbeit habe. Ich versuche, die Energie in die Arbeit mitzunehmen» (Zitat von Suanne Pollmeier, Schauspieldozentin an der Stage School Hamburg). Ein hilfreicher Tipp bei wenig Zeit: Es ist besser, das bereits Gelernte zu festigen, als zu versuchen, komplett neue Themen zu erlernen. Im Studium braucht es stets Mut zur Lücke! 

«Es ist sehr wichtig, die verdienten Pausen nach Bedarf zu setzen, nicht fix in den Terminkalender einzuplanen. So kann man entspannter auf ein Motivationstief reagieren und ohne Reue eine Pause einlegen, das verleiht Handlungskontrolle. Denn fängt man auf niedriger Flamme an zu lernen, benötigt man mehr Zeit für eine Arbeit, die auf voller Flamme weniger Zeit in Anspruch nehmen würde.» (Auszug aus dem Interview mit Romina Behrend, Studentin der UZH) 

«Für eine Arbeit am Mittwoch, versuche ich am Sonntag damit fertig zu sein.» Romina Behrend, Studentin der Universität Zürich 


Zum Weiterlesen

Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe. 

Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag. 

Literatur

Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag.  

Brisch, K. H. (2013). Bindung und Jugend: Individualität, Gruppen und Autonomie. Klett-Cotta. 

Deters, B., Engberding, M., & Rist, F. (2006). Prokrastination bei Studierenden: Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter. Retrieved from Prokrastination bei Studierenden – Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter (adhs-studien.info) 

Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe. 

Gielas, A. (30. Mai 2011). Morgen ist ein Tag zu spät. Neue Zürcher Zeitung. 

Klimawandel? Nein Danke

Ansatzpunkte und Hürden im Kampf gegen die Erderwärmung

Die Auswirkungen des Klimawandels betreffen uns alle. Lösungen für die Umweltprobleme werden dabei häufig in multilateralen Abkommen der Weltpolitik gesucht. Stattdessen den Fokus auf das Verhalten jedes Einzelnen zu legen, bedeutet im Fachgebiet der Psychologie nach Lösungen zu suchen.

Von Jan Nussbaumer
Lektoriert von Madeleine Lanz und Stefan Dorner
Illustriert von Kerry Willimann

2017 kündigte Donald Trump den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen an. Dies stellte einen beträchtlichen Rückschritt in der Klimapolitik dar. Das Pariser Abkommen setzte zum Ziel, die Klimaerwärmung auf unter zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Stand zu halten. Dieses Abkommen zeigt, wie in der Politik mit multilateralen Abmachungen nach Lösungen des Klimaproblems gesucht wird. Das ist notwendig, denn der ökologische Fussabdruck der Menschheit übersteigt die Kapazität der Erde. Nach unserer heutigen Lebensweise bräuchten wir 1.6 Erden, um den momentanen Ressourcenverbrauch der Menschheit zu decken (Global Footprint Network, 2016). Doch wie können wir nachhaltiger Handeln, so dass die Erde reicht, die wir haben? Auf die eine grosse Lösung zu warten scheint utopisch. Also verabschieden wir uns für einen Moment von den Abkommen der Weltpolitik, von den Masterplänen von Macron, Merkel und Konsorten und wenden uns stattdessen dem Verhalten der einzelnen Menschen zu, womit wir uns im Gebiet der Psychologie befinden.

Dies mag weniger aufregend klingen als die grossen Lösungen, doch letztlich trägt jeder von uns zu der Misere bei, die wir Klimawandel nennen. Kann die Psychologie Umweltverhalten und nachhaltiges Handeln erklären? Können wir umweltförderndes Handeln fördern, und falls wir das können – wie? Was steht nachhaltigem Handeln im Weg?

Unterschied zwischen Problembewusstsein und Verhalten

Der erste Impuls liegt meist darin, nach Schuldigen zu suchen. Wie wäre es mit Donald Trump – dem Sündenbock schlechthin? Oder allgemein den Klimaleugnern? Wenn es die nicht gäbe, hätten wir das Problem doch schon längst gelöst. Oder etwa nicht?

So einfach scheint es nicht zu sein, denn sowohl in armen als auch in reichen Ländern überwiegt die Anzahl Personen, welche den Umweltschutz über das wirtschaftliche Wachstum stellen (Dunlap, Gallup Jr., & Gallup, 1993). Auch sehen die meisten Menschen es als persönlich wichtiges Ziel an, sich um die Umwelt zu kümmern (Milfont & Schultz, 2016). Doch leider reicht das nicht. Ein hohes Bewusstsein und Sorgen um die Umwelt führen allein nicht zu umweltverträglichem Verhalten. Bamberg und Möser (2007) zeigten in ihrer Metaanalyse, dass das Bewusstsein um Umweltprobleme nur einen geringen Zusammenhang mit tatsächlichem Verhalten hat. Die Bekehrung der Klimaleugner wird demnach nicht die Lösung sein.

«Was steht nachhaltigem Handeln im Weg?»

Prägung in der Kindheit

In einem anderen Ansatz werden Faktoren in der Kindheit untersucht, welche nachhaltiges Handeln im Erwachsenenalter beeinflussen. Evans, Otto und Kaiser (2018) versuchten dem in einer zwölf Jahre dauernden Längsschnittstudie auf den Grund zu gehen. Sie untersuchten Kinder im Alter von sechs Jahren und prüften, welche Variablen in der Kindheit deren Umweltverhalten im Alter von 18 Jahren voraussagen können. Sie fanden vier Variablen, die mit dem späteren Verhalten zusammenhängen: Die Bildung der Mutter, die Zeit, die das Kind draussen spielt, die Umwelteinstellung der Mutter und das Umweltverhalten der Mutter. Die Autoren benutzten diese vier Variablen, um in einem linearen Modell die Änderung des Umweltverhaltens vorherzusagen. Wenn jedoch alle vier Variablen miteinander die Änderung des Umweltverhaltens voraussagen sollten, hatten nur noch die Bildung der Mutter und die Zeit, die das Kind draussen spielt, einen Einfluss. Dies zeigt, dass der Zusammenhang des Umweltverhaltens und der Umwelteinstellung der Mutter mit dem Umweltverhalten der Jugendlichen zwölf Jahre später, durch die Zeit, welche sie draussen verbringen und die Bildung der Mutter erklärt werden kann. Interessant ist auch, dass die politische Einstellung der Mutter keinen Einfluss auf das Umweltverhalten der Jugendlichen hatte.

Viele Hebel an denen man ansetzen kann

Generell können auch sozialpsychologische Handlungsmodelle zur Erklärung von umweltrelevantem Handeln genutzt werden. Als Beispiel sei hier die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991) genannt. Danach können Interventionen an verschiedenen Punkten ansetzen. Dies wird auch im Modell zum umweltbewussten Handeln von Fietkau und Kessel (1981) deutlich. Im Gegensatz zu den allgemeinen sozialpsychologischen Modellen handelt es sich dabei um ein spezifisches Modell für umweltrelevantes Verhalten. Dementsprechend können daraus diverse Ansatzpunkte für Interventionen einfacher abgeleitet werden (siehe Illustration). Um umweltrelevantes Verhalten zu fördern, kann nach dem Modell an fünf Punkten angesetzt werden: Als Erstes können Handlungsangebote geschaffen werden, welche Möglichkeiten bieten, umweltverträglich zu Handeln. Ohne ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz und eine intakte Bahninfrastruktur können die meisten Menschen nicht auf das Auto verzichten. Je weniger Velowege es gibt, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass wir mit dem Velo zur Arbeit fahren. Die zweite Möglichkeit besteht in der Vermittlung von umweltbezogenen Werten und Einstellungen, welche das nachhaltige Handeln fördern, denn wem die Natur nichts bedeutet und wer keinen Wert in der Artenvielfallt sieht, der wird sein Verhalten nicht danach ausrichten. Drittens kann umweltrelevantes Wissen vermittelt werden. Wenn ich nicht weiss, dass mein Auto die Umwelt belastet, komme ich nicht auf die Idee, mein Verhalten anzupassen. Der Bauer, dem die Natur wichtig ist, wird seine Produktion erst anpassen, wenn ihm bewusst ist, dass die Überdüngung von Böden und die Ausschwemmung der Nährstoffe in die Gewässer ein grosses Problem darstellen. Als Viertes können die Konsequenzen des eigenen Handelns mit Feedback sichtbar gemacht werden. Wenn ich den Wasserverbrauch während dem Duschen ablesen kann, beeinflusst das meinen Wasserverbrauch. Wenn ich die Emissionen meines Ferienfluges rückgemeldet bekomme, werde ich vielleicht auf den nächsten Flug verzichten. Fünftens können Handlungsanreize geschaffen werden. Der Staat kann mit Steuern den Verbrauch von Schadstoffen sanktionieren und den Bahnverkehr subventionieren.

Theorie des geplanten Verhaltens

Die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991) ist eine Erweiterung der Theorie des überlegten Verhaltens. Mit ihr wird bewusstes Handeln vorhergesagt. Dabei bestimmen die Einstellung gegenüber dem Verhalten, die subjektive Norm und die wahrgenommene Verhaltenskontrolle die Verhaltensabsicht. Die Verhaltensabsicht ist wiederum der Prädiktor für das Verhalten. Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle beeinflusst dabei sowohl die Verhaltensabsicht als auch das Verhalten.

Nebenwirkungen beachten!

Wer nun begonnen hat sein Handeln nachhaltiger zu gestalten, dem bleibt noch das Problem der mentalen Buchhaltung. Nach der Theorie der mentalen Buchhaltung (Thaler, 1980) wird ein umweltschonendes Verhalten als solches in der geistigen Abrechnung verbucht. Die Wahrscheinlichkeit bei einer weiteren Entscheidung das umweltschonende Verhalten zu bevorzugen sinkt, da das Konto bereits ausreichend gefüllt und somit das schlechte Gewissen getilgt ist.

«Kann die Psychologie Umweltverhalten und nachhaltiges Handeln erklären?»

Chatelain und Kollegen (2018) untersuchten den Effekt der mentalen Buchhaltung für umweltrelevantes Verhalten. Sie fanden den Effekt bei aufeinanderfolgenden Verhaltensweisen, die ähnlich sind – zum Beispiel zweimal Recycling. Wenn sich die Handlungen aber deutlich unterschieden gab es den Effekt nicht. Interessant war auch der Einfluss von Emotionen. Positive Emotionen konnten wiederholtes Umweltverhalten fördern und den Effekt der mentalen Buchhaltung kompensieren. Der Effekt der mentalen Buchhaltung zeigte sich nur bei der Gruppe, in der eine Werbung präsentiert wurde, welche negative Emotionen verursachte.

Dies zeigt, dass Angstmacherei und die Förderung von nachhaltigem Verhalten über schlechtes Gewissen keinen langfristigen Effekt haben. Umweltverhalten muss Freude bereiten. Also sorgen wir besser dafür, dass Kinder möglichst viel Zeit in der Natur verbringen und später nachhaltig und umweltbewusst handeln. Hoffentlich ist es nicht zu spät.


Zum Weiterlesen

Hänggi, M. (2018). Null Öl. Null Gas. Null Kohle. Wie Klimapolitik funktioniert. Ein Vorschlag. Zürich: Rotpunktverlag.

[An Grafik-Team: Bei den Zitaten je nach Platz 0-2 auswählen; ihr habt die Freiheit]

Literatur

Ajzen, I. (1991). The theory of planned behavior. Organizational Behavior And Human Decision Processes, 50(2), 179-211. doi:10.1016/0749-5978(91)90020-T

Bamberg, S., & Möser, G. (2007). Twenty years after Hines, Hungerford, and Tomera: A new meta-analysis of psycho-social determinants of pro-environmental behaviour. Journal Of Environmental Psychology, 27(1), 14-25. doi:10.1016/j.jenvp.2006.12.002

Chatelain, G., Hille, S. L., Sander, D., Patel, M., Hahnel, U. J., & Brosch, T. (2018). Feel good, stay green: Positive affect promotes pro-environmental behaviors and mitigates compensatory ‚mental bookkeeping‘ effects. Journal Of Environmental Psychology, 56, 3-11. doi:10.1016/j.jenvp.2018.02.002

Dunlap, R. E., Gallup, G. H., Jr., & Gallup, A. M. (1993). Of Global Concern: Results of the Health of the Planet Survey, Environment, 35(9), 7-39. doi:10.1080/00139157.1993.9929122

Evans, G. W., Otto, S., & Kaiser, F. G. (2018). Childhood origins of young adult environmental behavior. Psychological Science, 29(5), 679-687. doi:10.1177/0956797617741894

Fietkau, H.-J., & Kessel, H. (1981). Umweltlernen. Veränderungsmöglichkeiten des Umweltbewusstseins. Königstein: Hain.

Global Footprint Network. (2016). Living Planet Report 2016. Retrieved from http:// www.footprintnetwork.org/living-planet-report/.

Milfont, T. L., & Schultz, P. W. (2016). Culture and the natural environment. Current Opinion In Psychology, 8194-199. doi:10.1016/j.copsyc.2015.09.009

Thaler, R. (1980). Toward a positive theory of consumer choice. Journal of Economic Behavior & Organization, 1(1), 39-60. doi:10.1016/0167-2681(80)90051-7