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Beiträge aus der Kategorie ‘Alltag’

Gewohnheitstiere

Möglichkeiten in unseren alltäglichen Gewohnheiten

Die Stärke von kleinen «Habits» ist schon länger bekannt, aber was steckt wirklich dahinter? Entscheide ich mich bewusst für meine Gewohnheiten und wie beeinflussen diese meinen Alltag? Ein Einblick in unsere Gewohnheitsbildung.

Von Anna Boeker
Lektoriert von Rosmarie Elisabeth Nigg und Anja Blaser
Illustriert von Anja Blaser

Von Zähneputzen, über Autofahren, bis hin zu Scrolling-Verhalten: Alles kleine Gewohnheiten, die fast schon automatisch in unserem Tagesablauf passieren. Es kostet uns kaum einen vergleichbaren Aufwand mit dem Auto zu fahren wie damals in der ersten Fahrstunde. Die kleinen, unbewussten Gewohnheiten sind es, die uns den Tag erleichtern. Würden wir uns jeden Tag neu entscheiden und überlegen, ob und wie wir die Zähne putzen oder wie wir nochmal in den zweiten Gang schalten, hätten wir einen recht aufwendigen Start in den Tag. Gewohnheiten und automatisches Verhalten unterstützen uns somit in der Bewältigung unseres Alltags. Natürlich sind nicht alle Gewohnheiten nützlich oder gesund für uns (Duhigg, 2012).

Sich bewusst werden über simple Gewohnheiten, die wir immer wiederholen, ist einer der ersten Schritte zur Veränderung dieser. Fast alle Verhaltensänderungen, die wir erreichen wollen, hängen mit unseren Gewohnheiten zusammen. Ob es hierbei um Sport, Hygienemaßnahmen oder Essverhalten geht – die kleinen Gewohnheiten können den Unterschied machen (Harris, 2020).

Das selbst ohne bewusstes Erinnerungsvermögen und ohne bewusste Entscheidungen neue Gewohnheiten erlernt werden können, wurde durch Eugene Pauly gezeigt.

Diese und viele weitere Erkenntnisse der Forschung rund um Gewohnheiten stammen von dieser spannenden Case Study von Larry Squire und Kollegen aus den 90er Jahren. Eugene Paulys medialer Temporallappen, welcher oft mit kognitiven Fähigkeiten wie Erinnerung an die Vergangenheit und Emotionsregulation in Verbindung gesetzt wird, wurde durch einen Virus fast gänzlich zerstört. Seine Gedächtnisfähigkeit wurde stark eingeschränkt und er konnte keine deklarativen Erinnerungen mehr bilden. Larry Squire und sein Team konnten zeigen, dass jemand, der sich nicht mal an sein eigenes Alter erinnern kann oder an auch sonst kaum etwas, trotzdem neue Gewohnheiten, die sogar recht komplex erscheinen, erlernen kann (Duhigg, 2012). Eugene machte allein Spaziergänge, die er bereits einige Male mit seiner Frau gegangen war, ohne bewusst sagen oder beschreiben zu können, wo er langgehen muss. Auf die Frage, wo er wohnt, sagte er, er wisse es leider nicht genau, lief dann aber kurze Zeit später durch seine Haustüre. Dieser spannende Fall öffnete einige Türen für die Gewohnheitsforschung (Duhigg, 2012).

Heutzutage erkennen viele das Potenzial unserer kleinen Gewohnheiten. Nicht nur die Forschung, sondern auch Ratgeber und Podcasts beschäftigen sich mehr und mehr mit dem Thema. Tiny Habits von BJ Fogg, The Power of Habit von Charles Duhigg und der Bestseller Atomic Habits von James Clear sind einige Literaturbeispiele. Hier wird die Idee vermittelt, dass kleine Veränderungen zu bemerkenswerten Ergebnissen führen können. Dort werden Guides und Strategien zum Erlernen oder Ablegen von Gewohnheiten gegeben (Duhigg, 2012).

Wie lange es schließlich braucht, eine neue Gewohnheit zu erlernen, ist oft sehr individuell und auch abhängig von der Gewohnheit selbst. Vor circa 10 Jahren sorgte eine Studie für Aufsehen, die den Zeitraum von 66 Tagen als ungefähres Plateau für eine neue Gewohnheit fand (Lally et al., 2010). Doch auch hier lag die Spannweite für den Zeitraum des Erlernens einer neuen Gewohnheit zwischen 18 und 254 Tagen. Verallgemeinernde Aussagen über den Zeitraum zur Gewohnheitsausbildung mit Vorsicht betrachtet werden. Es wird schon lange und auch weiterhin an den wichtigen Umständen für neue Gewohnheiten geforscht. Das Habit Lab in Amsterdam versucht zum Beispiel die Lücke zwischen der Grundlagenforschung über Gewohnheiten und der Klinischen- und Gesundheitspsychologie zu schließen (Devit, 2022).

Im Alltag gilt es erst einmal, sich den eigenen Gewohnheiten bewusst zu werden, aber auch eigene Möglichkeiten zu erkennen, Zeitfenster zu nutzen, um kleine neue Gewohnheiten zu erlernen (Duhigg, 2012).


Zum Weiterlesen

Duhigg, C. (2012). The power of habit: Why we do what we do in life and business (Vol. 34, No. 10). Random House.

Fogg, B. J. (2019). Tiny habits: The small changes that change everything. Eamon Dolan Books.

Harris, S. (2020). Creatures of Habit (No. 200) [Audio Podcast Episode]. In Making Sense with Sam Harris. Spotify. https://open.spotify.com/episode/4qtklPztpWcphQvk7NRs0I?si=b0008ac658e74010

Literatur

Devit, S. (2022). The Role of Habits in Mental Disorders. HABIT LAB. University of Amsterdam. http://www.habitlab.nl/

Duhigg, C. (2012). The power of habit: Why we do what we do in life and business (Vol. 34, No. 10). Random House.

Fogg, B. J. (2019). Tiny habits: The small changes that change everything. Eamon Dolan Books.

Harris, S. (2020). Creatures of Habit (No. 200) [Audio Podcast Episode]. In Making Sense with Sam Harris. Spotify. https://open.spotify.com/episode/4qtklPztpWcphQvk7NRs0I?si=b0008ac658e74010

Lally, P., Van Jaarsveld, C. H., Potts, H. W., & Wardle, J. (2010). How are habits formed: Modelling habit formation in the real world. European journal of social psychology, 40(6), 998-1009. doi.org/10.1002/ejsp.674

Was gibt’s zu essen?

Und was macht das mit der Psyche und dem subjektiven Wohlbefinden?

«Du bist, was du isst». Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, hat grossen Einfluss auf unser tagtägliches Leben. Die Forschung berichtet von diversen Zusammenhängen zwischen Ernährung und Gesundheit. Wie sieht es mit mentaler Gesundheit und subjektivem Wohlbefinden aus?

Von Isabelle Bartholomä
Lektoriert von Marina Reist und Andrea Frei
Illustriert von Alba Lopez

«Was gibt’s heute zu essen?» Diese Frage stellen wir uns alle täglich in verschiedenen Kontexten. Sei es, weil wir zum Abendessen bei Bekannten eingeladen sind, weil die Gedanken nach stundenlangem Büffeln in der Bibliothek abschweifen, oder einfach, weil wir gerade ein Hungergefühl verspüren. Was wir in welcher Situation dann tatsächlich essen, hängt von vielen verschieden Faktoren ab: von Körpergefühl, Körperwahrnehmung, Geschmacksvorlieben, Lebensalter, Geschlecht, Gewohnheiten, Alltagsabläufen, soziokultureller Zugehörigkeit, aktuell verfügbarer Zeit, persönlichem Wissen, Fertigkeiten, Nahrungsangebot und so weiter (Sauter, 2020). Je nach Person fliessen zu unterschiedlichem Ausmass in die Entscheidung auch Wissen und Überzeugungen zu gesunden Ernährungsweisen ein. Kein Fleisch zu essen ist beispielsweise mit vielen Vorteilen für die körperliche Gesundheit verbunden, wie zum Beispiel einem geringeren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, tieferem Blutdruck und reduziertem Risiko für Übergewicht, Typ 2 Diabetes und Dickdarmkrebs (Costa et al., 2019). Gibt es darüber hinaus Zusammenhänge mit Variablen psychischer Gesundheit?

Nährstoffe und psychische Gesundheit

Bei einer Lebenserwartung von 75 Jahren und drei Mahlzeiten pro Tag nimmt der Mensch in seinem Leben ungefähr 80‘000 Mahlzeiten zu sich (Sauter, 2020). Dabei wirkt sich sowohl das Essverhalten auf die Psyche aus als auch umgekehrt die Psyche auf das Essverhalten. Alkohol hebt die Stimmung, enthemmt oder macht aggressiv. Schokolade kann Glücksgefühle hervorrufen. Andererseits essen und trinken Menschen nicht nur, weil sie Hunger und Durst haben, sondern auch aus Trauer, Langeweile, Freude, Geselligkeit, Stress oder weil sie sich belohnen wollen. Mahlzeit haben auch eine starke soziale Komponente. So kann beispielsweise ein gemeinsamer Kaffee als Hilfsmittel zur Beziehungsaufnahme dienen (Sauter, 2020). Obwohl es also beim Essen um deutlich mehr geht als nur die Aufnahme von Nährstoffen, sind diese durchaus von Bedeutung, wenn es um Variablen psychischen Wohlbefindens geht.

Firth und Kollegen (2020) liefern einen Überblick über die komplexen Einflüsse von Ernährung und Nährstoffen auf das Gehirn und die Psyche. So zeigt beispielsweise längsschnittliche Forschung einen Zusammenhang zwischen raffinierten Kohlenhydraten und dem Einsetzen von depressiven Symptomen. Kalorienreiches Essen, das reich an gesättigten Fettsäuren ist, scheint das Immunsystem zu aktivieren und entzündende Effekte zu haben, die wiederum mit kognitivem Abbau, Dysfunktion des Hippocampus (einer Hirnstruktur, die mit dem Gedächtnis in Zusammenhang steht) und Beeinträchtigungen der Blut-Hirn-Schranke zusammenhängen. Umgekehrt können antiinflammatorische Nährstoffe und Ernährungsweisen (z. B. mediterrane Ernährung, siehe auch Owen & Corfe (2017)) depressive Symptome reduzieren. Dieser Zusammenhang ist jedoch sehr komplex und wird beispielsweise durch Stressoren und die persönliche Krankheitsgeschichte mit Depressionen beeinflusst. Firth und Kollegen (2020) fassen zusammen, dass sich möglicherweise eine vermehrt gesunde, nährstoffreiche Ernährung und die gleichzeitige Reduktion von stark verarbeiteten «Junkfoods» über die bekannten Vorteile für die körperliche Gesundheit hinaus auch in einem verbesserten psychologischen Wohlbefinden zeigen können.

Beziehungen von Vegetarier*innen

Vegetarismus ist nicht nur eine Ernährungsform, sondern kann einen wichtigen Teil der sozialen Identität darstellen (Nezlek & Forestell, 2020). Insofern gibt es auch Zusammenhänge mit sozialen Beziehungen. Beispielsweise erleben Vegetarier*innen Sticheleien von Freund*innen und Familienmitgliedern, sowie Mikroaggressionen (Pfeiler & Egloff, 2020). Ausserdem können die Unterschiede in den Werten zu «vegetarian threat» führen, also dass Fleischessende eine Bedrohung ihrer eigenen Werte durch Vegetarier*innen wahrnehmen (Nezlek, Cypryanska, & Forestell, 2021). Bleiben Letztere also vermehrt unter sich? Eine Reihe von Studien von Nezlek, Cypryanska und Forestell (2021) mit Amerikaner*innen und Pol*innen zeigt, dass Vegetarier*innen deutlich wahrscheinlicher vegetarische Freunde haben. Ausserdem haben sie mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine*n vegetarische*n Partner*in, im Vergleich zu 4 Prozent der Fleischessenden. Tatsächlich scheinen Vegetarier*innen also Beziehungen zu Personen mit ähnlichem Ernährungsstil zu präferieren.

Vegetarische und vegane Ernährungsweise

Spezifische Ernährungsweisen, welche zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten, sind einerseits die vegetarische Ernährung, die auf Fleisch verzichtet, und andererseits die vegane Ernährung, die alle tierischen Produkte aus dem Menüplan streicht. In der Forschung werden diese Ernährungsformen oft nicht getrennt untersucht, sondern in einen Topf geworfen, oder der Fokus wird nur auf Vegetarier*innen gelegt. Nezlek und Forestall (2020) schlagen vor, Vegetarismus als soziale Identität im Sinne der Social Identity Theory nach Taijfel und Turner (1979, zitiert nach Nezlek & Forestell, 2020) zu betrachten. Das beinhaltet, dass Personen sich und andere in Gruppen kategorisieren, die Ideen, Meinungen, Wissen und Überzeugungen – in diesem Fall zur fleischlosen Ernährung – teilen, und die eigene Gruppe als besser und heterogener als andere Gruppen wahrgenommen wird. Vegetarismus als soziale Identität geht also über ernährungsbezogene Präferenzen hinaus. Vielmehr hat die Wahl der Ernährung auch die Funktion, Ideale und Identitäten auszudrücken, und kann die breitere Lebensphilosophie einer Person repräsentieren (Nezlek & Forestell, 2020).

«Being a vegetarian is more socially visible and has more implications for one’s social life than eating less meat has.»

Nezlek & Forestell, 2020, 47

Auch Veganismus kann eine Form von Aktivismus, beziehungsweise eine politische Ernährung werden, mit der Personen ihre Ernährung mit ihren ethischen und moralischen Einstellungen in Einklang bringen können (Costa et al., 2019). Aus Interviews mit zehn australischen Veganerinnen leiten Costa und Kollegen (2019) ab, wie junge Frauen sich auf ihrem Weg zum Veganismus verändern. Zunächst verfügen die Frauen über starke ethische Einstellungen bezüglich Tierrechten. Sie identifizieren sich mit der veganen Subkultur und verändern ihren eigenen Lebensstil deutlich, nicht nur bezogen auf Ernährung, sondern auch auf ihre Identität. Die Frauen erleben einige positive Veränderungen in der Beziehung zu sich selbst, anderen Personen, Tieren und der Umwelt. Die Identifikation als Veganerin scheint ihre Beziehung zum Essen zu verbessern, genauso wie ihr Wohlbefinden (Costa et al., 2019).

Menschen, die sich freiwillig vegetarisch ernähren, weisen eher liberale politische Sichtweisen auf, legen Wert auf Umweltschutz, Gleichbehandlung und soziale Gerechtigkeit und sind gegen Autoritarismus, die Todesstrafe und Gewalt im Allgemeinen (Nezlek & Forestell, 2020). Sie sind empathischer und altruistischer als Fleischessende. Jedoch zeigt die Forschung, dass Vegetarier*innen auch schlechter angepasst, neurotischer, depressiver und ängstlicher sind, sowie häufiger schlechte Stimmung haben. Dafür gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten. Einerseits kann es sein, dass Nährstoffmangel aufgrund vegetarischer Ernährung zu Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit führt. Eine andere Erklärung besteht darin, dass Vegetarier*innen als soziale Minderheit – sie machen in westlichen, industrialisierten Ländern maximal 10 Prozent der Population aus – abgewertet werden und oft soziale Ablehnung und Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft, den Fleischessenden, erfahren. Ausserdem könnte das geringere Wohlbefinden daraus resultieren, dass die ausgeprägtere prosoziale Haltung und das Klimabewusstsein der Vegetarier*innen sie mehr unter den bestehenden sozialen und umweltbezogenen Missständen leiden lassen. Es stellt sich somit auch die Frage der Kausalitätsrichtung, also ob die vegetarische Ernährung zu schlechterem Wohlbefinden führt, oder ob Personen mit geringerem Wohlbefinden sich eher vegetarisch ernähren (Nezlek & Forestell, 2020).

Es gibt jedoch auch Zweifel daran, ob Vegetarier*innen tatsächlich ein geringeres subjektives Wohlbefinden aufweisen. Beispielsweise kann die Diskriminierung als Vegetarier*in oder Veganer*in zu erhöhter Identifikation mit der jeweiligen Gruppe führen und dadurch das Wohlbefinden steigern (Pfeiler & Egloff, 2020). Pfeiler und Egloff (2020) stellten fest, dass Studien zu diesem Thema sehr inkonsistente und teilweise widersprüchliche Ergebnisse liefern und haben sich der Fragestellung mit zwei repräsentativen Stichproben aus Deutschland und Australien angenommen. Die Vegetarier*innen wiesen jeweils leicht höhere Werte in negativem Affekt auf, jedoch auch in Zufriedenheit mit ihrem Gesundheitszustand und in der deutschen Stichprobe auch mit Lebenszufriedenheit. Bei positivem Affekt gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Vegetarier*innen und Fleischessenden. Da jedoch das subjektive Wohlbefinden und die Ernährungsweise auch mit Variablen wie Alter und Geschlecht zusammenhängen, wurde in einem zweiten Analyseschritt für demografische Variablen kontrolliert, also der Effekt derselben statistisch herausgerechnet. Danach zeigte sich nur noch ein sehr kleiner Effekt beim negativen Affekt, was darauf schliessen lässt, dass die Effekte der Ernährung auf das subjektive Wohlbefinden vernachlässigbar sind, zumindest gemittelt über eine grosse Stichprobe hinweg (Pfeiler & Egloff, 2020). Interessant wäre es zu untersuchen, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Vegetarier*innen gibt.

Auch Rossa-Roccor und Kollegen (2021) fanden keinen Zusammenhang zwischen pflanzenbasierter oder tierischer Ernährungsweise mit Indikatoren für mentale Gesundheit und Lebensqualität in einer kanadischen Stichprobe. Da selbstberichtete Essgewohnheiten jedoch typischerweise zu einer Unterschätzung der Effektgrössen führt, fordern die Autor*innen zu weiterer Forschung hierzu auf.

Biolebensmittel

Mit dem Zusammenhang zwischen Biolebensmitteln und subjektivem Wohlbefinden haben sich Apaolaza und Kollegen (2018) beschäftigt. In zwei Studien mit einer spanischen und einer australischen Stichprobe fanden sie heraus, dass das Konsumieren von Biolebensmitteln zu einem erhöhten subjektiven Wohlbefinden führt, wobei die Überzeugung, dass «bio» gesund ist, und das Interesse an der eigenen Gesundheit eine Rolle spielten. Dabei könnte es sich rein um einen Labeleffekt handeln, da sich der Unterschied auch zeigte, als zwei Versuchspersonengruppen den gleichen konventionellen Orangensaft mit oder ohne Biolabel tranken. Da Biolebensmittel zusätzlich zur Wohlbefindenssteigerung auch besser für die Umwelt sind, scheint es dennoch sinnvoll, den Konsum derselben zu fördern (Apaolaza et al., 2018).

«Still, even with only a psychological label effect in place, an increase in subjective wellbeing should be welcomed.»

Apaolaza et al., 2018, 59

Genuss

Ein weiterer Ansatz zur Herangehensweise an eigene Essensentscheidungen besteht darin, den Genuss zu maximieren. Laut Schönberger und Schmitt (2008) macht das vor dem Hintergrund der Betrachtungsweise von Gesundheit als über die Abwesenheit von Krankheit hinausgehend auch Sinn. Denn Genuss, hier gekennzeichnet von Sinnlichkeit, Lust und Reflexivität – also auch von Selbstkontrolle und Masshalten – kann Einfluss auf die Widerstandsressourcen gegen Stressoren haben und somit auch auf das Wohlbefinden (Schönberger & Schmitt, 2008). Schuldgefühle hingegen, die beispielsweise durch das Nicht-Erreichen von Ernährungszielen wie Vegetarismus ausgelöst werden könnten (Pfeiler & Egloff, 2020), können Stress erzeugen. Insofern plädieren Schönberger und Schmitt (2008) dafür, einen schuldfreien Umgang mit Genuss anzustreben.

  

Was gibt’s?

Die Antwort auf die Frage «Was gibt’s heute zu essen?» ist individuell und in jeder Situation abhängig von vielen Faktoren. Unsere Ernährungsweise kann mehr oder weniger stark unsere Identität bestimmen. Die Zusammenhänge mit psychischen Variablen wie mentaler Gesundheit und Wohlbefinden sind komplex. Die vielleicht einfachste und beste Antwort könnte also sein: «Etwas, das Freude bereitet».


Zum Weiterlesen

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Eat organic – Feel good? The relationship between organic food consumption, health concern and subjective wellbeing. Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Literatur

Apaolaza, V., Hartmann, P., D’Souza, C., & López, C. M. (2018). Food Quality and Preference, 63, 51-62. http://dx.doi.org/10.1016/j.foodqual.2017.07.011

Costa, I., Gill, P. R., Morda, R., & Ali, L. (2019). “More than a diet”: A qualitative investigation of young vegan Women’s relationship to food. Appetite, 143, 104418. https://doi.org/10.1016/j.appet.2019.104418

Firth, J., Gangwisch, J. E., Wootton, R. E., & Mayer, E. A. (2020). Food and mood: how do diet and nutrition affect mental wellbeing? BMJ, 369, m2440. https://doi.org/10.1136/bmj.m2382

Nezlek, J. B., Cypryanska, M., & Forestell, C. A. (2021). Dietary similarity of friends and lovers: Vegetarianism, omnivorism, and personal relationships. The Journal of Social Psychology, 161(5), 519-525. https://doi.org/10.1080/00224545.2020.1867042

Nezlek, J. B., & Forestell, C. A. (2020). Vegetarianism as a social identity. Current Opinion in Food Science, 33, 45-51. https://doi.org/10.1016/j.cofs.2019.12.005

Owen, L., & Corfe, B. (2017). The role of diet and nutrition on mental health and wellbeing. Proceedings of the Nutrition Society, 76, 425-426. https://doi.org/10.1017/S0029665117001057

Pfeiler, T. M., & Egloff, B. (2020). Do vegetarians feel bad? Examining the association between eating vegetarian and subjective well-being in two representative samples. Food Quality and Preference, 86, 104018. https://doi.org/10.1016/j.foodqual.2020.104018

Rossa-Roccor, V., Richardson, C. G., Murphy, R. A., & Gadermann, A. M. (2021). The association between diet and mental health and wellbeing in young adults within a biopsychosocial framework.PLOS ONE, 16(6), e0252358. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0252358

Sauter, D. (2020). Essen und Trinken, alltäglich und existentiell. Psychiatrische Pflege, 5(2), 9-12. https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000288

Schönberger, G., & Schmitt, N. (2008). Wie viel Genuss tut gut? Fakten, Trends und Meinungen, 1. https://www.gesunde-ernaehrung.org/Themenpapiere.html

Sinn(e) des Lebens

Was suchen wir als Sinn des Lebens?

Sinn im Leben scheint eine zentrale Motivation des menschlichen Lebens zu sein: Wer ihn hat, ist gelassener und glücklicher, wer ihn nicht hat, ist eher rastlos und depressiv (George & Park, 2016). Doch wie genau verstehen wir den Sinn des Lebens und was kann uns Sinn im Leben geben?

Von Marco Altorfer
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Berit Barthelmes
Illustriert von Katrin Grings

Was ist der Sinn des Lebens? Je nachdem, wen man fragt, erhält man in der Regel ganz unterschiedliche Antworten: Religiöse Personen antworten vielleicht «Gottes Wille erfüllen», Biolog*innen «die eigenen Gene verbreiten», Humanist*innen «eine bessere Gesellschaft erschaffen» und Science-Fiction Enthusiast*innen «42». Die Unterschiedlichkeit der Antworten deutet an, dass nur schon die Frage ganz unterschiedlich verstanden werden kann. Was sind die verschiedenen Bedeutungen vom «Sinn des Lebens» und was für Antworttypen sind möglich?

Was meinen wir mit «Sinn»?

Sinn ist im Kontext von «Sinn des Lebens» ungefähr ein Synonym für «Bedeutung» (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Im Englischen beispielsweise wird von «Meaning of Life» also «Bedeutung des Lebens» gesprochen. Dabei sind drei eng verwandte, aber doch unterschiedliche Aspekte von Sinn besonders relevant: Erstens Sinn als «Kohärenz», zweitens Sinn als «Zweckerfüllung» und drittens Sinn als «Signifikanz». Oder anders formuliert erstens als «Sinn ergeben», zweitens als «Sinn haben» und drittens als «sinnvoll sein» (die drei Formulierungen werden aber oft synonym gebraucht) (George & Park, 2016; Seachris, 2011).

«Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.»

Nietzsche, 1889, S. 54

«Sinn ergeben»

Etwas ergibt Sinn, wenn es auf die richtige Weise in ein Wissenssystem oder Theoriegebilde passt, also wenn es plausibel oder kohärent ist (Seachris, 2011). Zum Beispiel ergibt es Sinn, den Klimawandel mit einer Eindämmung von CO2-Emissionen zu bekämpfen. Auf der anderen Seite ergibt etwas keinen Sinn, wenn es keine theoretische oder empirische Grundlage hat, also wenn es nicht plausibel oder inkohärent ist (Seachris, 2011). Zum Beispiel ergibt es keinen Sinn, den Klimawandel mit Klimaanlagen zu bekämpfen. Bezüglich Sinn des Lebens wollen wir also, dass unser (oder aller) Leben kohärent in einen grösseren Wissenskontext passt (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Dieser Wissenskontext kann unter anderem religiös (z. B. biblische Lehre des Christentums), aber auch wissenschaftlich (z. B. Evolution und Urknall) geprägt sein.

«Sinn haben»

Etwas hat Sinn, wenn es einen Zweck erfüllt, beziehungsweise einem Ziel dienlich ist (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel hat mein Studium (unter anderem) den Sinn, mich zu bilden. Lerne ich im Studium aber nichts, hat es wohl (leider) keinen Sinn. Der Sinn des Lebens kann also so verstanden werden, dass wir wollen, dass unser (oder aller) Leben einen Zweck erfüllt, also dass wir etwas bewirken im Leben (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel kann ich den Zweck meines Lebens darin sehen, Gottes Wille zu befolgen oder die Welt zu verbessern.

«Alles kann einem Mann abgenommen werden, aber nur eines: die letzte der menschlichen Freiheiten – die eigene Einstellung unter den gegebenen Umständen zu wählen und den eigenen Weg zu wählen.»

Frankl, 1946, S. 75

«Sinnvoll sein»

Etwas ist sinnvoll, wenn es uns als signifikant, wichtig, bedeutungsvoll oder wertvoll erscheint (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Es geht also um eine evaluative oder wertende Perspektive. Zum Beispiel wird moralisches Handeln, wie Armen zu helfen, oft als sinnvoll angesehen. Alltägliche Dinge wie Netflix schauen hingegen nicht. Der Sinn unseres Lebens soll also etwas sein, das unser Leben zu etwas Besonderem und Wertvollen macht (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel werden von vielen Personen grosse wissenschaftliche Leistungen wie die Erforschung der Radioaktivität von Marie Curie oder moralische, heroische Taten wie der Kampf gegen Unterdrückung von Gandhi und Martin Luther King als sinnvoll angesehen. Anderen Personen erscheinen kleinere Dinge als sinnvoll, wie der gute Umgang mit seinen Mitmenschen oder möglichst oft in Fortnite zu gewinnen.

Die drei Aspekte von Sinn bezüglich Sinn des Lebens können verbunden werden: Leben kann Sinn ergeben, haben und sinnvoll sein (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Beispielsweise kann mein Leben Sinn ergeben, indem es in den Kontext einer Religion passt, Sinn haben, indem es Gottes Willen dieser Religion folgt und sinnvoll sein, indem es spezielle moralische Leistungen beinhaltet. In der Regel müssen wir alle Aspekte des Sinns des Lebens zumindest zum Teil erfüllen, um unser Leben als sinnvoll zu erachten (George & Park, 2016). Doch verstehen wir den Sinn des Lebens zwingend aus der individuellen Perspektive oder kann er auch aus einer allgemeineren gesehen werden?

Sinn im Leben oder des Lebens?

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist in der Regel eine persönliche (Metz, 2007). Es wird gefragt: «Hat mein Leben einen Sinn?». Doch unweigerlich dazu gesellt sich meist die andere, verwandte Frage: «Hat das Leben einen Sinn?». Das heisst, es wird auch gefragt, ob das Leben generell oder für irgendjemanden einen Sinn hat (Metz, 2007). Der «Lebensaspekt» im Sinne des Lebens kann als Spektrum von einer individuellen bis zu einer (völlig) universellen Sichtweise verstanden werden (Seachris, 2011). So kann sich der Lebensaspekt unter anderem auf ein Menschenleben, alle Menschenleben, alles biologische Leben oder die ganze Existenz (Sinn von «allem») beziehen. Simplifizierend wird dabei jeweils Sinn im Leben (oder Sinn meines Lebens) und Sinn des Lebens unterschieden, wobei Sinn im Leben das individuelle Leben betrachtet und Sinn des Lebens alle distanzierteren Sichtweisen (Metz, 2007; Seachris, 2011). Eine umfassende Sinntheorie, wie sie zum Beispiel die meisten Religionen geben, umfassen dabei generell beide Aspekte (Metz, 2007). Je nach Theorie sind die beiden Sinnarten unterschiedlich, gleich oder die Existenz der einen (oder beider) wird jeweils abgestritten. Theorien des Sinns des Lebens bestehen in der Regel aus Erklärungen für mehrheitlich metaphysische Fragen wie der Entstehung des Universums, Wirkungsmechanismen des Universums und Leben nach dem Tod (Seachris, 2011). Dabei gibt es religiöse und wissenschaftliche Erklärungen. Viele Religionen erklären die Entstehung des Universums durch Gott, die Wirkungsmechanismen des Universums durch Gottes Willen und das Leben nach dem Tod durch eine Seelenwanderung. Geläufige wissenschaftliche Theorien sind der Urknall für die Entstehung des Universums, Physik und Evolution für Wirkungsmechanismen des Universums und «nichts» als Leben nach dem Tod (Seachris, 2011). Bezüglich des Sinns im Leben gibt es drei Theoriefamilien, die im Folgenden vorgestellt werden.

Frankls Sinn im Konzentrationslager

Der österreichische Psychiater Viktor Frankl überlebte die Inhaftierung in Konzentrationslagern der Nazis im Zweiten Weltkrieg (Frankl, 1946). Er verarbeitete und analysierte seine Erlebnisse im Buch «… Trotzdem Ja zum Leben sagen». Darin beschreibt er, dass im Konzentrationslager nicht die physisch fittesten am längsten überlebten, sondern jene, die weiterhin einen Sinn in ihrem Leben sehen und somit das Leiden ertragen konnten. Frankl kommt zum Schluss, dass selbst wenn einem jegliche Freiheit genommen wird, man immer noch seine Einstellung zum Leben wählen kann. Somit kann Sinn in jedem Moment des Lebens gefunden werden, auch im Leiden und im Sterben (Frankl, 1946).

Nihilismus

Beginnen wir mit der pessimistischsten Theoriefamilie. Der Nihilismus behauptet, dass das Leben keinen Sinn hat oder, dass Sinn im Leben nicht erreichbar ist (Metz, 2007). Generell gehen Nihilist*innen so vor, dass sie Bedingungen für Sinn im Leben aufstellen und dann gegen diese argumentieren. So kann ein Nihilist beispielsweise die Existenz von Gott für Sinn im Leben voraussetzen, aber Atheismus vertreten (was aber eher selten ist). Die häufigste Strategie von Nihilist*innen besteht darin, objektive Werte oder moralische Standards für Sinn im Leben vorauszusetzen, aber deren Existenz oder Erreichbarkeit zu bestreiten (Metz, 2007).

Eng verwandt mit dem Nihilismus ist die Sichtweise, dass die Sinnfrage unbeantwortbar ist, entweder weil die Frage an sich ungültig (oder sinnlos) ist, da sie keine abschliessende oder befriedigende Antwort zulässt, oder weil wir nicht die kognitiven Fähigkeiten haben, sie zu beantworten (Wittgenstein, 1921).

«Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.»

Wittgenstein, 1921, S. 90

Supranaturalismus

Supranaturalistische Theorien postulieren, dass der Sinn im Leben durch übernatürliche Entitäten gegeben wird (Metz, 2007; Seachris, 2011). Dies ist grundsätzlich die Domäne der Religionen. Üblicherweise wird in Religionen von einer oder mehreren Gottheiten ausgegangen, die die Welt kreiert haben und das menschliche Zusammenleben regeln, sowie eines Lebens nach dem Tod meist in Verbindung mit einer überlebenden Seele (dies entspricht in etwa dem Sinn des Lebens). Der Sinn im Leben wird nun in der Regel in der Befolgung des Willens der Götter und im Erreichen des Nachlebens gesehen (Metz, 2007; Seachris, 2011). Ausserdem gibt es den sogenannten moderaten Supranaturalismus, deren Befürworter dafür einstehen, dass es Sinn im Leben ohne übernatürliche Entitäten geben kann, aber dass nur mit ihnen «vollständiger» oder «absoluter» Sinn erreicht werden kann (Metz, 2007).

Naturalismus

Anhänger des Naturalismus sind überzeugt, dass Sinn im «normalen» physischen Leben gefunden werden kann (Metz, 2007; Seachris, 2011). Er unterteilt sich in subjektive, objektive und hybride Theorien. Laut subjektiven Theorien kann in der Regel alles dem Leben einer Person Sinn geben, was diese Person als sinnerfüllend empfindet. Dieser Sinn kann durchaus von anderen geteilt werden, wie zum Beispiel bei der Familiengründung. Der Sinn kann aber auch höchst individuell sein, beispielsweise alle Kieselsteine auf der Welt zu zählen. Objektive Theorien hingegen postulieren, dass Sinn nur aus objektiven Werten stammen kann, das heisst Dingen, die einen inhärenten oder intrinsischen Wert haben. Häufige Beispiele sind ein moralisches Leben führen, nach Wahrheit streben oder Schönheit kreieren. Der Sinn entsteht dabei nicht dadurch, dass die eigene Lebensweise als sinnvoll empfunden wird, sondern dadurch, dass sie den objektiven Wert erfüllt. Das Problem der subjektiven Theorien ist, dass sie absurde oder auch unmoralische Lebensweisen als sinngebend erlauben. Das Problem der objektiven Theorien dagegen ist, dass es fraglich ist, ob objektive Werte existieren und dass Sinn im Leben in der Regel mit einem Sinngefühl verbunden wird. Hybride Theorien versuchen nun, die beiden Theorien zu vereinen, indem sie postulieren, dass Sinn im Leben sowohl subjektive wie auch objektive Werte benötigt. Das heisst, der sinnerfüllende objektive Wert muss von der Person auch als sinnerfüllend empfunden werden (Metz, 2007; Seachris, 2011).

Die Theorien zum Sinn im Leben versuchen zu erklären, wie unser Sinn im Leben entsteht. Was sie jedoch nicht erklären ist, wieso wir überhaupt nach Sinn im Leben streben.

«Meaning arises when subjective attraction meets objective attractiveness.»

Wolf, 1997, S. 224

Wieso brauchen wir Sinn?

Die «terror management theory» (TMT) liefert interessante Anhaltspunkte, warum wir den Wunsch nach Sinn im Leben besitzen (George & Park, 2016; Solomon et al., 2015). Die TMT postuliert, dass während der Evolution des Menschen mit dem wachsenden Intellekt das Problem vom Bewusstsein des Todes und daraus resultierender Todesfurcht („death terror“) entstand. Damit diese Todesfurcht den Menschen nicht paralysiert und handlungsunfähig macht, mussten in der Evolution kognitive Mechanismen entwickelt werden, um diese zu puffern. Die TMT geht von zwei übergreifenden Puffern aus: Ein überdauerndes kulturelles (unter anderem religiöses) Weltbild und Selbstwertgefühl. In verschiedenen Studien konnte festgestellt werden, dass Erinnerungen an den Tod zu weniger Angst führen, wenn das Vertrauen in das eigene Weltbild oder das Selbstwertgefühl gestärkt wird. Das kulturelle Weltbild hat nun eine enge Verwandtschaft mit dem Sinn des Lebens und das Selbstwertgefühl im Kontext der TMT eine enge Verwandtschaft mit dem Sinn im Leben. Unser Sinngefühl hilft uns also, Todesfurcht zu überwinden und unser Leben aktiv zu gestalten (George & Park, 2016; Solomon et al., 2015).


Zum Weiterlesen

Frankl, V. (1946). … Trotzdem Ja zum Leben sagen.

George, L. S., & Park, C. L. (2016). Meaning in Life as Comprehension, Purpose, and Mattering: Toward Integration and New Research Questions. Review of General Psychology, 20(3), 205–220. https://doi.org/10.1037/gpr0000077

Nietzsche, F. (1889). Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.

Literatur

Frankl, V. (1946). … Trotzdem Ja zum Leben sagen.

George, L. S., & Park, C. L. (2016). Meaning in Life as Comprehension, Purpose, and Mattering: Toward Integration and New Research Questions. Review of General Psychology, 20(3), 205–220. https://doi.org/10.1037/gpr0000077

Metz, T. (2007). The Meaning of Life. In E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021). Metaphysics Research Lab, Stanford University. https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/life-meaning/

Nietzsche, F. (1889). Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.

Seachris, J. (2011). Meaning of Life: Contemporary Analytic Perspectives. In Internet Encyclopedia of Philosophy. https://iep.utm.edu/mean-ana/

Solomon, S., Greenberg, J., & Pyszczynski, T. (2015). The worm at the core: On the role of death in life. Random House.

Wittgenstein, L. (1921). Tractatus logico-philosophicus.

Wolf, S. (1997). Happiness and meaning: Two aspects of the good life. Social Philosophy and Policy, 14(1), 207–225.

Wie bringe ich meine Stimmung nach oben?

Der Einfluss des Dopaminsystems auf unser Befinden

Von Janice Lienhard

Am liebsten würden wir uns ständig glücklich fühlen, obwohl wir kaum eine Person getroffen haben, bei der dies tatsächlich zutrifft. Trotzdem kennzeichnet uns das Streben nach konstantem Glück als Menschen. Zur Erklärung unserer Glücksfluktuationen wird hier die Theorie der «Pain-Pleasure-Scale» vorgestellt.

Von Engji Blickensdorfer
Lektoriert von Julia Küher und Anja Blaser
Illustriert von Janice Lienhard und Darius Hell

Jede Person weiss, wie es sich anfühlt, einen guten Tag zu haben. Manchmal beginnt es schon am Morgen im Bett, wenn sich das Aufstehen nicht mühsam, sondern erholsam und süss anfühlt. Beim Frühstücken schmeckt das Croissant besonders knusprig und ein Cappuccino dazu rundet die Geschmackspalette ab. Alles läuft rund. Der Sport macht Spass, die To-Do’s erledigen sich wie von selbst und am liebsten würde man jede Person anlächeln, die einem begegnet, weil man sich so gut fühlt. Wie schön wäre es, wenn jeder Moment unseres Lebens so aussehen würde? Bloss aber, dass wir als menschliche Wesen geboren wurden. In dieser komplexen Körperhülle existierend, sind wir mit Mechanismen ausgestattet, die ständig nach Balance suchen, so auch bei unserer Stimmung (Billman, 2020).

Streben nach Glück

Intuitiv ist es uns schon bewusst, dass wir uns nicht durchgehend glücklich und «high» fühlen können. Aber warum ist das so? Oftmals habe ich mich selbst gefragt: «Wieso geht es mir oft schlecht nach einem Tag mit sehr vielen Glücksmomenten? Warum habe ich mich innerlich leer gefühlt, unmittelbar nachdem ich mit der allerletzten Prüfung meines Bachelors in Psychologie fertig war? Warum fährt meine Laune nach unten, nachdem ich einen tollen Nachmittag mit meinen Freunden verbracht habe?» Dieses Jahr bekam ich unerwarteterweise eine Antwort auf diese Fragen, und zwar von einer Professorin von der Stanford University. Prof. Dr. Lembke untersucht seit mehreren Jahrzehnten das Thema «Sucht» und stellte im Rahmen ihrer Recherchen die Theorie der «Pain-Pleasure-Scale» auf (Lembke, 2021). Diese Theorie ist in der Lage, viele Phänomene zu erklären, darunter auch, warum es Personen nicht die ganze Zeit über gut gehen kann und wie es geschafft werden kann, die eigene Stimmung zu verbessern (Lembke, 2021). Die «Pain-Pleasure-Scale»bezieht sich hauptsächlich auf den Neurotransmitter Dopamin und deckt dessen Rolle im alltäglichen Verhalten auf (Lembke, 2021).

Dopamin in Kürze

Von Darius Hell

Dopamin ist ein Molekül bzw. ein Neurotransmitter, welches mit dem Erleben von Freude bzw. Lust korreliert (Jäncke, 2017). Noch dazu korreliert Dopamin mit Hochstimmung, Motivation und Zielstrebigkeit (Huberman, 2021). Lange waren Wissenschaftler*innen der Meinung, dass Dopamin als Reaktion auf für uns angenehme Stimuli ausgeschüttet wird. Jedoch wurde entdeckt, dass die Dopaminausschüttung eigentlich nicht die Konsequenz des angenehmen Stimulus an sich ist, sondern eine Reaktion darauf, dass der Stimulus antizipiert bzw. begehrt wird (Lieberman & Long, 2018). Wenn eine Person beispielsweise Eiscreme mag, wird Dopamin nicht wegen der Eiscreme an sich ausgeschüttet, sondern weil sie die Eiscreme haben möchte. Immer, wenn Ziele verfolgt werden, wird Dopamin ausgeschüttet (Huberman, 2021). Jede Person hat eine andere Dopaminbaseline und es wird vermutet, dass dies auf unterschiedliche Umwelt- und Genetikfaktoren zurückzuführen ist (Huberman, 2021). Dopamin ist mit vielen menschlichen Zuständen assoziiert. Beispielsweise wird das Burnout-Syndrom mit einem Dopaminmangel in Verbindung gebracht (Tops et al., 2007). Eine starke Dopaminausschüttung ist ebenfalls zuständig für die ausgeprägte Hochstimmung in der ersten Phase einer Liebesbeziehung (Lieberman & Long, 2018). Das Gefühl der Verliebtheit zum Partner dauert laut Anthropologin Helen Fischer 12 bis 18 Monate, weil die neue Beziehung in dieser Zeit neue Möglichkeit antizipieren lässt (Fisher, 2004). Dementsprechend wird sehr viel Dopamin ausgeschüttet, was für ein gutes Gefühl sorgt (Fischer, 2004). Des Weiteren ist eine Dopamindysfunktion bzw. Unterfunktion mit Symptomen von Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert (Dawei et al., 2006).

«Pain-Pleasure-Skala»

Nach der obigen Ausführung, was Dopamin ist, lässt sich nun die Einbettung in die «Pain-Pleasure-Scale» besser verstehen. Prof. Lembke (2021) schreibt in ihrem Buch Dopamine nation, dass beim Streben nach oder beim Erleben von etwas, das für uns angenehm ist, ein bestimmtes Mass an Dopamin ausgeschüttet wird. Es wird ein Peak an Dopamin erlebt und sich gut gefühlt. Damit die Balance wiederhergestellt wird, bewegt sich die «Skala» unmittelbar nach dem Peak in die Gegenrichtung, was als «Schmerz» empfunden wird (Lembke, 2021). Dieser Schmerz ist jedoch nicht als ein echter physiologischer Schmerz zu verstehen, sondern als ein unangenehmes Gefühl, was infolge des jetzigen Mangels bzw. der Senkung an Dopamin entsteht. Am Beispiel der Eiscreme wird der «Schmerz» als ein Craving nach mehr Eiscreme sichtbar, wenn die Eiscreme aufgegessen ist. Wenn wir etwas Aufregendes erleben, macht es dieser Theorie nach Sinn, dass Schmerz in Form von Langeweile sichtbar wird. Die Anwesenheit einer schlechteren Stimmung infolge einer früheren guten Stimmung erscheint im Lichte dieser Theorie ebenfalls logisch. Dieses Phänomen ist nach Prof. Lembke ein normales alltägliches Phänomen, welches unser Sterben nach Balance widerspiegelt. Es beginnt uns dann sehr schlecht zu gehen, wenn wir die «Pain-Pleasure-Skala» zu sehr an das eine Extrem bringen, und zwar, wenn unser Hirn zu viel Dopamin ausschüttet (Lembke, 2021). Dies ist unter anderen in zwei Situationen der Fall: Beim Drogenkonsum und bei einer konstanten Anhäufung mehrerer dopaminausschüttenden Stimuli (Huberman, 2021).

«Pleasure and pain are processed in the same parts of the brain, and the brain tries hard to keep them in balance.»

Lembke, 2021, S. 1

Drogenkonsum

Bei den meisten Menschen gibt es eher selten Anlässe für eine sehr grosse Dopaminausschüttung, ausser beim Konsum von Drogen (Huberman, 2021). Prof. Huberman erklärt, dass beim Konsum von Drogen (z. B. Kokain) eine grosse Menge an Dopamin ausgeschüttet wird, was normalerweise mit viel «Pleasure» gleichzusetzen ist. Gemäss der Theorie wird nach jeder Dopaminausschüttung das gleiche Ausmass an Schmerz unmittelbar danach ausgelöst. Bei Drogenkonsument*innen wird der Abfall des Dopamins viel intensiver sein, und zwar im Verhältnis zum vorherigen Anstieg. Weil der «Schmerz» bzw. der Mangel an Dopamin für sie äusserst unangenehm und kaum aushaltbar ist, nehmen diese Personen mit grosser Wahrscheinlichkeit immer mehr Drogen zu sich, damit noch mehr Dopamin freigesetzt wird. Dieser Vorgang läuft unbewusst ab. Laut Prof. Huberman ist das Düstere an Drogen aber, dass sie eine graduelle Senkung der normalen Dopaminbaseline bewirken, sodass die Betroffenen insgesamt weniger «Pleasure» erleben (auch von anderen Stimuli) und sie durch das erfolglose Versuchen, den Dopaminspiegel wieder hochzubringen, die verfügbaren Dopaminvesikel in den Präsynapsen weiter erschöpfen (Huberman, 2021). Im Grunde genommen geht es ihnen schlecht, weil sie so fest versuchen, sich wieder gut zu fühlen.

Fehldiagnose ADHS

In seiner Vorlesung zu «Dopamin und Süchten» stellt Prof. Huberman (2021) das Beispiel eines Bekannten vor, bei welchem mit 14 Jahren eine ADHS-Diagnose vermutet worden sei. Er sei süchtig nach Videospielen und den sozialen Medien gewesen, weshalb er sich zusammen mit seinen Eltern dazu entschlossen habe, eine 30-tägige Handypause sowie eine Abstinenz von den sozialen Medien und Videospielen zu machen. Bis zum 14. Tag sei ihm dies äusserst schwergefallen, weil er seine vorhandenen Dopaminvesikel komplett erschöpft habe. Erst ab dem 14. Tag hätten sich neue Dopaminvesikel zu bilden begonnen, was dazu geführt habe, dass er sich graduell besser gefühlt habe. Am Ende habe der Junge keine ADHS-Symptome mehr gezeigt (Huberman, 2021).

Leistungsgesellschaft

Bei einer Anhäufung dopaminausschüttender Aktivitäten sind gesunde Menschen ebenfalls gefährdet, einen graduellen und sehr subtilen Abfall der Dopaminbaseline zu erleben (Huberman, 2021). In einer Leistungsgesellschaft ist dies oftmals der Fall, besonders wenn Druck verspürt wird, konstant leisten zu müssen, ohne gut abschalten zu können (Kuchel & Kuchel, 1991). Wie oft passiert es uns im Alltag, dass wir unsere Aufmerksamkeit sehr vielen Beschäftigungen zeitgleich widmen? Heute musste ich beispielsweise zwei Vorlesungen anschauen, diese zusammenfassen, emotional anspruchsvolle Sitzungen mit meinen Proband*innen im Praktikum durchführen, in Whatsappchats zurückschreiben, Einkaufen gehen, Zeit mit Freunden verbringen, etc. Menschen sind ständig von sehr vielen Stimuli umgeben, die die Aufmerksamkeit bzw. Dopamin beanspruchen, sodass es nicht überraschend ist, dass die Dopaminbaseline unmerklich ständig sinkt (Huberman, 2021).

Ich erinnere mich noch explizit an eine Vorlesung zu «Exekutiven Funktionen» von Prof. Dr. Lutz Jäncke im Jahre 2020, in welcher er uns auf Folgendes hinwies: «Wenn das Hirn sich daran gewöhnt hat, in einer gewissen Zeiteinheit mit Informationen bombardiert zu werden und es gleichzeitig nicht gelernt hat, diesen Reizen entgegenzuwirken bzw. sie gut zu verarbeiten, gibt es die Kontrolle gegenüber all den Reizen auf. Somit wird das Hirn von den Reizen getrieben und wird schliesslich zu deren Sklave». Ich nahm damals diese Informationen irgendwo im Gedächtnis auf, jedoch verstand ich deren Bedeutung erst im Jahr 2021, als ich mehrmals das Gefühl hatte, dass ich von meinem Alltag überwältigt werde und mich ausgebrannt fühlte. Als ich mein Verhalten im Rahmen der «Pain-Pleasure-Scale» zu analysieren begann, realisierte ich schnell, dass sich mehrere anspruchsvolle Aktivitäten zusammengehäuft hatten, was dazu führte, dass ich mein Dopaminsystem stark beanspruchte und der Dopaminabfall dementsprechend grösser war. Dies kann so weit gehen, dass es sich am Ende so anfühlt, als könnte kaum noch Freude an irgendetwas empfunden werden, was dem Zustand einer süchtigen Person ähnelt (Huberman, 2021).

«When we do something we enjoy—like playing videogames—the brain releases a little bit of dopamine and we feel good. But one of the most important discoveries in the field of neuroscience in the past 75 years is that pleasure and pain are processed in the same parts of the brain and that the brain tries hard to keep them in balance.»

Lembke, 2021, S. 1

Wie bringe ich meine Stimmung wieder hoch?

Wie können wir aber tatsächlich unsere Stimmung verbessern und dafür sorgen, dass es uns wieder gut geht? Gemäss der Theorie von «Pain-Pleasure» geht es nicht darum, etwas aktiv zu machen, um die Stimmung zu verbessern (Huberman, 2021). Dies würde vielmehr dazu führen, dass die Dopaminbaseline noch weiter sinkt. Erst wenn der Dopaminmangelzustand bewusst wird und dieser trotz des Schmerzes, Cravings und der Langeweile akzeptiert wird, wird verstanden, dass der Schmerz ein vorübergehender Zustand ist (Huberman, 2021). Mit dem Wissen, dass der Schmerz, wie auch immer er sich manifestieren mag (z. B. als Craving, Langeweile, schlechtere Stimmung) nur vorübergehend ist, kann sich selbst nach einer Woche mit anspruchsvollen Erlebnissen einen Tag geben werden, in dem bewusst nichts gemacht wird. Somit kann das Hirn neue Dopaminvesikel bilden und die Dopaminbaseline langsam erhöht werden, damit später wieder mehr Freude empfunden werden kann (Huberman, 2021).

Dank der Interpretation meiner Stimmung als Abhängige von Dopamin, bin ich noch bewusster darin geworden, wie ich meine Woche plane und wie ich meine Erlebnisse verteile. Es gelingt mir jetzt besser, anspruchsvolle Aktivitäten an unterschiedlichen Tagen zu verteilen, sofern das möglich ist. Wenn das nicht geht, nehme ich mir mindestens einen halben Tag zur Erholung, an dem ich nichts mache. Wenn ich mit den Wellen meiner Stimmung fliesse, statt sie zu meiner «perfekten» Vorstellung hinzubewegen, hat sie vielmehr die Tendenz, sich automatisch nach oben zu bewegen und auch dort länger zu verweilen.


Zum Weiterlesen

Lembke, A. (2021). Dopamine nation: Finding balance in the age of indulgence. Dutton.

Literatur

Billman, G. E. (2020). Homeostasis: The underappreciated and far too often ignored central organizing principle of physiology. Frontiers in Physiology, 11(200). https://doi.org/10.3389/fphys.2020.00200

Fischer, H. (2004). Why we love: The nature and chemistry of romantic love. Macmillan.

Huberman, A. (2021). Controlling Your Dopamine For Motivation, Focus & Satisfaction. (Abgerufen am: 10.01.2022). [Video]. https://www.youtube.com/watch?v=QmOF0crdyRU

Jäncke, L. (2017). Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften (2. Aufl.). Hogrefe AG.

Kuchel, O. G., & Kuchel, G. A. (1991). Peripheral dopamine in pathophysiology of hypertension. Interaction with aging and lifestyle. Hypertension, 18(6), 709–721. https://doi.org/10.1161/01.hyp.18.6.709

Lembke, A. (2021). Dopamine nation: Finding balance in the age of indulgence. Dutton.

Lembke, A. (2021). Digital addictions are drowning us in dopamine. The Wall Street Journal.

Li, D., Sham, P. C., Owen, M. J. & He, L. (2006). Meta-analysis shows significant association between dopamine system genes and attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). Human Molecular Genetics, 15(14), 2276–2284. https://doi.org/10.1093/hmg/ddl152

Lieberman, D. Z. & Long, M. E. (2018). The molecule of more. Benbella Books Inc.

Tops, M., Boksem, M. A. S., Wijers, A. A., van Duinen, H., Den Boer, J. A., Meijman, T. F., & Korf, J. (2007). The psychobiology of burnout: Are there two different syndromes? Neuropsychobiology, 55. 143–150. https://doi.org/10.1159/000106056

Unsere (un)perfekten Leben

Jeder wünscht es sich, niemand hat es. Was hat es mit dem Streben nach dem scheinbar perfekten Leben auf sich?

Eine Welt, in der wir immer erreichbar sind, umgeben von scheinbar makellosen, erfolgreichen Menschen, erzeugt Druck, mitzuhalten. Oder sind wir es selbst, die sich solche unerreichbaren Erwartungen auferlegen? Wie schaffen wir es, uns von diesen hohen Ansprüchen loszulösen?

Von Alina S. von Garrel und Berit Barthelmes
Lektoriert von Julia Küher und Norzin Bhusetshang
Illustriert von Gianna Zorzini

Die Erwartungen sind in den vergangenen Jahren gestiegen: Menschen sollen und wollen erfolgreich im Beruf sein, perfekte Körper besitzen, interessante Hobbys ausüben, sich politisch oder sozial engagieren, nachhaltig leben, eine perfekte Beziehung führen und ausgiebig Zeit mit der Familie verbringen – für viele bedeutet das eine Überforderung (Seitz, 2021).

Forscher*innen führen den gestiegenen Leistungsdruck unter anderem auf unsere zunehmend digitalisierte Welt und die neuen technologischen Entwicklungen zurück (BARMER Internetredaktion, 2022). Via Smartphone, Laptop und Tablet sind wir praktisch immer und überall für jedermann erreichbar. Besonders unser Smartphone ist in der Lage, uns in eine Form der Abhängigkeit zu versetzen, die sich sehr nachhaltig auf unsere Lebensqualität auswirkt. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Wer echte Erholung finden will, muss sich aktiver und bewusster von der Arbeit abgrenzen als früher (BARMER Internetredaktion, 2022). Angebote wie die des Ballenbergs, eines Freilicht- und Aktivmuseums in der Zentralschweiz, locken gestresste Städter*innen an Wochenenden aufs Strohbett. Hier wird das Smartphone gegen Pfeil und Bogen ausgetauscht und frische Landluft tritt an die Stelle von Büros mit CO2-aufsaugenden Grünpflanzen (Website Ballenberg, 2022). Während wir früher noch vor der Einöde geflohen sind, kehren wir jetzt zurück – der ideale Reset.

Doch Work-Life-Balance ist nicht das einzige der Probleme in unserer modernen westlichen Welt (Seitz, 2021). Wir müssen unser Leben mittlerweile nicht nur vor uns selbst, sondern auch nach aussen verteidigen. In den sozialen Netzwerken werden wir mit Bildern scheinbar perfekter Körper, Reisen und Leben konfrontiert. Sei es ein Juice-Detox, eine Diät ohne Jo-Jo-Effekt oder ein bahnbrechender Erholungsurlaub auf Bali – es scheint, als würden andere Personen vieles besser und effizienter hinbekommen. Der Vergleich zu unseren «normalen» Leben macht dann umso unzufriedener und das vergebliche Nacheifern nach den unmöglichen Standards erzeugt Druck und das Gefühl, nicht mithalten zu können (Seitz, 2021).

«Wahrer Erfolg lässt sich immer nur über Leistung definieren, nie aber Leistung nur über Erfolg»

Karius, 1935

Konnten wir noch vor einigen Jahren beobachten, dass Menschen auf ihr Werk, ihre Arbeit, ihr Leben stolz waren, wird in der aktuellen Gesellschaft eher eine Art «Erschöpfungsstolz» erlebt (Oenning, 2017). Klasse, wenn man abends völlig erledigt nach Hause kommt und nur noch auf die Couch fällt, von der man sich nicht mehr wegzubewegen vermag – auf dieses Gefühl kann man stolz sein. Eine solche Definition von Erfolg wird uns suggeriert. Die Bewunderung des eigenen Schaffensprozesses sowie auch des Endproduktes hingegen treten in den Hintergrund (Oenning, 2017).

Warst du heute schon stolz auf dich?

Die Erschöpfung wird zum Gradmesser der eigenen Produktivität (Weller, 2022). Je erschöpfter wir sind, desto mehr haben wir das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Und das, obwohl eben diese Erschöpfung auf Dauer zu Burnout-Symptomen und der zunehmenden Unfähigkeit, (psychisch) zu funktionieren führen kann – also genau dem Zustand, den wir so eifrig zu vermeiden versuchen. In dem Moment aber, indem wir das Gefühl haben, den Sinn des Handels zu verlieren und uns nur noch getrieben fühlen, wird es vor allem eines: ungesund (Weller, 2022).

Wann geraten wir in diese Abwärtsspirale? Bereits in jungen Jahren werden wir zu Höchstleistungen getrieben (Oenning, 2017). So produziert das verkürzte Schulsystem in Deutschland 17-Jährige, die sich schon im zarten Alter für ihren Traumberuf entscheiden sollen – und das am besten schnell. Danach geht es weiter: Studium in Regelstudienzeit, dabei Berufserfahrung sammeln und sich möglichst noch ehrenamtlich betätigen. Mit Anfang 20 stehen junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt, die nicht einmal die Chance bekommen haben, sich selbst zu finden, Fehler zu machen und wieder neu zu starten (Oenning, 2017). Schon 2018 hatte laut einer Studie der Barmer Krankenkasse jede*r sechste Studierende psychische Probleme. In der Covid 19-Pandemie potenzierte sich diese Belastung (Silberg, 2022). Studierende lernen inmitten von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen teilweise bereits über Jahre hinweg online; einige neu-Studierende haben noch nie einen Hörsaal von innen gesehen. Dazu kommen für viele Studierende finanzielle Sorgen, weil ihre Nebenjobs auf Eis gelegt wurden. Die Anforderungen und Leistungserwartungen sind allerdings gleichgeblieben (Knab, 2022).

Lasst die Kinder spielen

Könnte eine Lösung sein, bereits in jungen Jahren mehr Freiheit statt Einengung und Leistung zu unterstützen? Das Konzept der Montessori-Schulen fördert beispielsweise eine Pädagogik, die explizit auf Leistungsdruck verzichtet (Montessori Website, 2022). Hier wird das Prinzip der Reformpädagogik betrieben, das Benotung ablehnt (Süddeutsche, 2018). Positiv fällt an solchen Schulen auf, dass Kinder ein gesünderes Selbstvertrauen entwickeln – das Konzept des Scheiterns soll es nicht geben, hier heisst es, sich selbst ausprobieren (Tagesablauf Montessori-Schule, 2018). Idee dieses Konzepts ist es nicht als Mittel zum Zweck, sondern «für das Leben» zu lernen. Ein wesentlicher Unterschied zur Regelschule ist sicherlich, dass Kinder in Montessori-Schulen nicht während der gesamten Schulstunde an ihren Plätzen sitzen bleiben müssen. Ist ein Kind mit einer Aufgabe fertig, gibt es – wenn es möchte – die nächste. Klassischer Frontalunterricht findet nicht statt. Die Kinder arbeiten primär mit Dingen, die ihnen Spass machen und werden nicht gezwungen, einem Lehrplan, der wenig Differenzierung zulässt, zu folgen (Tagesablauf Montessori-Schule, 2018). Ein Idealbild?

«Alles Gute verdankt sich liebevoller Disziplin»

Horton, 2004

Problematisch kann es werden, wenn Kinder von einer Montessori- auf eine reguläre weiterführende Schule wechseln (Benfer, 2022). Der Umgang mit Leistung und Noten ist hier ein anderer, was zu Überforderung führen kann. Ausserdem bleibt die Frage, ob sich Leistungsdruck sogar stärker entwickelt, wenn Kindern freie Hand beim Fällen von Entscheidungen gelassen wird. Fest definierte Regeln sind Teil der Erziehung eines Kindes, um diesem Entscheidungen im Leben abzunehmen, die es noch nicht bereit ist, selbstständig zu treffen (Benfer, 2022). Damit wird das Kind sanft in eine Richtung gelenkt, die es dann zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem die kognitive Entwicklung dies zulässt, hinterfragen und überdenken kann. Leistungsdruck muss nicht schlecht sein – die Kinder in Montessori-Schulen sind meist angehalten, an ihren Stärken zu arbeiten und ihre Schwächen nicht in den Vordergrund zu rücken. Ist es hier vielleicht sogar gut, darauf zu drängen, Durchhaltevermögen und eine stringente Lösungssuche und -findung zu stärken? Es bleibt offen, ob eine solche früh implementierte individualistische Verhaltenskultur zu einer geringeren Anpassungsfähigkeit der Kinder führt. Das Messen von Leistung, der Vergleich mit anderen und ein positives Konkurrenzverhalten führen im besten Fall zu einer ausgeprägten Empfindung für das Gegenüber und der gesunden Frage an sich selbst: Was kann ich tun, um mich zu verbessern und so an mir zu arbeiten, dass ich davon profitiere?

Woher kommt der Druck?

Oft fällt es uns schwer, an unserem Leistungsdruck konstruktiv zu arbeiten. Eigene und fremde Erwartungen sowie sonstige private und arbeitstechnische Umstände erschweren häufig das offene und bewusste Nachdenken über den eigenen (Über-)Anspruch. Wird der Leistungsdruck dann von aussen scheinbar positiv ausgelegt, glauben wir, kein Recht zu haben, uns zu beschweren. Es wird weiter «gehustled».

Montessori-Schulen

Die erste deutsche Montessori-Schule wurde 1924 in Jena eröffnet. Mittlerweile gibt es über 400 Montessori-Schulen in ganz Deutschland. Der Schwerpunkt liegt dabei im Vorschul- und Grundschulbereich. Über die Hälfte der Montessori-Schulen sind private Schulen und befinden sich in freier Trägerschaft. Das heisst, dass sie keine staatliche Förderung bekommen und sich daher zum Teil oder vollständig selbst finanzieren müssen. Träger sind häufig evangelische oder katholische Kirchen oder Elterninitiativen. Es gibt aber auch staatliche Schulen, die Montessori-Zweige anbieten (Schmitz, 2020).

Es kommt zwar vor, dass eine Person explizit an seinem Leistungsdruck arbeiten möchte, häufig hat dieser aber unbewusste Ursachen (Famplus, 2022). Der Druck kommt in den meisten Fällen von innen heraus und eben nicht, wie vielleicht erwartet, aus der Umgebung (Sacher, 2005). Beispielsweise sind es oftmals nicht die Eltern, die gute Noten sehen wollen, sondern wir selbst. Die Gründe für die hohen Ansprüche an sich selbst sind verschieden – nicht ausgeschlossen, dass auch die Gesellschaft ihre Rolle dazu beiträgt (Sacher, 2005). Dabei sind diese Ansprüche nicht per se schlecht, sondern können vielmehr antreibend und motivierend sein. Problematisch wird es, wenn die Ansprüche so hoch sind, dass sie uns blockieren. Aufgeschobene Aufgaben, Ineffektivität, mangelnde Kreativität, aber auch Schlafprobleme, schlechte Laune und Unzufriedenheit sind Anzeichen dafür, dass wir das, was zu erledigen ist, mit unangenehmen Gefühlen verbinden, die uns hemmen, unsere sonstige Leistung zu zeigen (BARMER Internetredaktion, 2022). Sitzt man also das nächste Mal drei Stunden lang an drei Sätzen einer Hausarbeit, sollte man sich vielleicht fragen, ob einem die eigenen Ansprüche im Weg stehen oder man aus Angst vor Versagen gar nicht erst zu einem Ergebnis kommt (BARMER Internetredaktion, 2022). Denn wer jede Aufgabe perfekt lösen will, ist schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Kein Mensch wird jemals unfehlbar sein, das wusste schon Seneca mit seinen berühmten Worten «errare humanum est». Und ist das nicht gerade das Schöne, menschlich sein zu dürfen, mit allem, was dazugehört?

Was tun?

Was also tun, wenn uns alles zu viel wird? Erst mal Ruhe bewahren. Das Wort «Stress» ist zwar mehr oder minder zum Modewort geworden, nichtsdestotrotz sollten wir vorsichtig dabei sein, gefährliche Folgen von Stress zu bagatellisieren. Klar ist: Dauerstress macht krank (AOK, 2022). Dauerstress schränkt unser alltägliches Wohlbefinden erheblich ein und kann durch einen andauernden Leistungsdruck, gepaart mit Überforderung und Zeitmangel, einen Zustand auslösen, in dem die eigenen Ressourcen aufgebraucht sind und wenig Pufferfunktion übrig bleibt (AOK, 2022). Es ist folglich wichtig, über das eigene konkrete Verhalten unter Leistungsdruck und die Folgen dieses Verhaltens nachzudenken, um konkrete Einstellungs- und Verhaltensänderungen anzupacken. Die Literatur zum Umgang mit Stress ist umfangreich und breit gefächert: Vom Umgang mit Stress auf der Arbeit (Gündel et al., 2014) bis hin zu privatem oder schulischem Stress (Bergmüller, 2003) findet sich Forschung aus mehreren Fachbereichen wie der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin, der Sportwissenschaft oder der Ernährungswissenschaft (Hannigan et al., 2004).


Zum Weiterlesen

Greiner, A., Langer, S., & Schütz, A. (2012). Grundlagen zur Stressentstehung, Stressreaktion und Stressbewältigung. In A. Greiner, S. Langer & A. Schütz (Hrsg.). Stressbewältigungstraining für Erwachsene mit ADHS (pp. 17-29). Springer.

Kienle, R., Knoll, N., & Renneberg, B. (2006). Soziale Ressourcen und Gesundheit: Soziale Unterstützung und dyadisches Bewältigen. In Gesundheitspsychologie (pp. 107-122). Springer.

Reimann, S., & Hammelstein, P. (2006). Ressourcenorientierte Ansätze. In  B. Renneberg & P. Hammelstein (Hrsg.). Gesundheitspsychologie (pp. 13-28). Springer.

Literatur

AOK – Die Gesundheitskasse. (2020, 1. Juli). Stress: So krank kann er machen. https://www.aok.de/pk/magazin/wohlbefinden/stress/stress-so-krank-kann-er-machen/

Ballenberg, Freilichtmuseum der Schweiz. (2022). https://www.ballenberg.ch/de

BARMER Internetredaktion. (2022, 06. Januar). Was ist Leistungsdruck? Wenn Erwartungen und Ansprüche in eine Überforderung münden. Barmer. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/stress/was-ist-leistungsdruck-269920 

BARMER Internetredaktion. (2022). Anzeichen für Leistungsdruck und Dauerstress. Barmer. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/stress/anzeichen-leistungsdruck-269876

Benfer, A. (2022, 10. Januar). Montessori-Pädagogik: Welche Erziehungsziele verfolgt das Konzept? desired.de. https://www.desired.de/mami/kind/montessori-paedagogik/

Bergmüller, S. (2003). Schulstress unter Jugendlichen: Entstehungsbedingungen, vermittelnde Prozesse und Folgen. Eine empirische Studie im Rahmen von PISA.

Gündel, H., Glaser, J., & Angerer, P. (2014) Immer schneller, höher, weiter – Zeit- und Leistungsdruck in der Arbeit. In: Arbeiten und gesund bleiben. Kritisch hinterfragt (pp. 85.98). Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-55303-5_6

Horton, P. (2004). Die zweite Saite: Aphorismen, Satire, Zärtlicheiten. Echter.

Hannigan, B., Edwards, D., & Burnard, P. (2004). Stress and stress management in clinical psychology: Findings from a systematic review. Journal of Mental Health, 13(3), 235-245.  https://doi.org/10.1080/09638230410001700871

Schulstress und Leistungsdruck: Was Sie tun können, wenn Ihr Kind gestresst ist. (2022). Famplus. https://www.famplus.de/gast/wissenswertes/blog/node/880724

Karius, K.H. (1935). WortHupferl-Edition. WortHupferl-Verlag.

Knab, E. M. (2022, 14. Januar). Kommt für Studierende nach dieser Corona-Welle ein böses Erwachen? Augsburger Allgemeine. https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/augsburg-kommt-fuer-studierende-nach-dieser-corona-welle-ein-boeses-erwachen-id61479771.html

Oenning, L. (2017, 04. April). „Früher waren wir stolz auf unser Werk, heute auf unsere Erschöpfung“. Wirtschaftswoche. https://www.wiwo.de/erfolg/leistungsdruck-deutsche-brauchen-eine-bedachte-strategie/13724704-3.html 

Montessori Deutschland. (2022). Montessori Deutschland. https://www.montessori-deutschland.de

Montessori Schule – Tagesablauf in einer Montessori-Schule | MONTESSORI-ONLINE.COM. (2018, 14. September). [Video].

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Sacher, W. (2005). Deutsche Leistungsdefizite bei PISA. Bedingungsfaktoren in Unterricht, Schule und Gesellschaft. In: Frederking V., Heller H., Scheunpflug A. (eds) Nach PISA (pp. 22-50). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Süddeutsche Zeitung GmbH. (2018, 19. Oktober). Montessori-Schulen. SZ Bildungsmarkt. https://bildung.sueddeutsche.de/kategorie/alternative-konzepte/montessori-schulen/

Weller, M. (2022, 8. Januar). Burnout: Wenn gar nichts mehr geht. FINK.HAMBURG. https://fink.hamburg/2022/01/burnout-wenn-gar-nichts-mehr-geht/

Eiscreme gegen Stress? 

Warum die Lieblingsserie besser gegen Anspannung helfen kann als Schokolade

Eine Packung Eis, eine Tafel Schokolade, Kekse, Chips oder am liebsten einfach alles auf einmal? Stress und starke Emotionen beeinflussen, was und wie viel wir essen. Und zwar oft ohne, dass wir es wirklich bemerken. Häufig erhoffen wir uns ein besseres Gefühl. Aber geht es uns danach wirklich besser? 

Von Kim Ankermann
Lektoriert von Jovana Vicanovic
Illustriert von Livia Halbeisen

Etwa 60 Tage kann ein Mensch überleben, bis er verhungert (Pütter, 1921). Dann versagen entweder zuerst die Organe oder das Herz (Pütter, 1921). Um das zu verhindern, hat unser Körper einen komplexen Mechanismus entwickelt (Carlson, 2016). Sobald der Blutzucker sinkt, sorgt eine Art mehrstufiges Warnsystem dafür, dass wir essen. Ein anderes ist wiederum dafür zuständig, dass wir wieder aufhören. Man kann es sich ein bisschen so vorstellen, als hätten wir an ganz vielen Stellen – im Magen, im Darm und im Blut – Sensoren, die ständig mit unserem Gehirn kommunizieren und für genügend Zucker sorgen (Carlson, 2016). 

Dieses Warnsystem mit allen dahinter liegenden hormonellen Prozessen ist mittlerweile gut erforscht (Dallmann, 2010). Allerdings ist auch klar, dass das längst nicht ausreicht, um das menschliche Essverhalten zu erklären (Dallmann, 2010). Weltweit stuft die WHO Adipositas als eines der grössten Gesundheitsrisiken ein und es wird mittlerweile sogar von einer «Adipositas-Epidemie» gesprochen (WHO, 2008). Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2017 42 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz adipös oder übergewichtig, in Deutschland waren es mit 53 Prozent mehr als die Hälfte (BFS, 2017). Neben dem automatischen Kontrollsystem muss es also einen anderen Grund geben, der erklärt, warum Menschen essen, obwohl sie eigentlich keinen Hunger haben. Als mögliche Faktoren vermuten Forscher*innen negative Emotionen, Stress und Anspannung (Dallmann, 2010). 

Bei Stress vor allem «fettig und süss» 

Nur 20 Prozent der Menschen ändern ihr Essverhalten unter Stress nicht (Spence, 2017). Wie es sich ändert, unterscheidet sich allerdings stark. Etwa 40 Prozent der Menschen neigen zum sogenannten «Stress-Essen», sie essen also mehr. Die übrigen 40 Prozent geben hingegen an, unter Anspannung weniger zu essen. Die Studienlage ist hierzu nicht eindeutigTrotzdem konnten Forscher*innen zeigen: Egal welcher Typ; unter Stress zeigt die Mehrheit – zumindest was die Essenswahl angeht – ähnliche Präferenzen. Im Labor assen Personen, die zuvor unter Stress gesetzt wurden, vor allem Fettiges und Süsses (Spence, 2017). Also Lebensmittel, die unter dem Begriff «comfort food» zusammengefasst werden können. 

Trostessen 

In Umfragen wurden bestimmte Lebensmittel besonders häufig als comfort food genannt (Spence, 2017). Wansink und Sangermann (2000) befragten mehr als 1’000 Menschen in Nordamerika. Am beliebtesten waren Kartoffelchips (24 Prozent). Auch gewählt wurden: Eiscreme (14 Prozent), Kekse (zwölf Prozent), Pizza und Pasta (elf Prozent), Rindfleisch/Steak-Burger (neun Prozent), Obst und Gemüse (sieben Prozent), Suppe (vier Prozent) und Sonstiges (neun Prozent). Auffällig waren die Geschlechterunterschiede. Frauen gaben häufiger süsse Lebensmittel an, wohingegen Männer zwar auch Eis wählten, aber fast genauso häufig warme Hauptgerichte wie Suppe und Pizza (Wansink & Sangermann, 2000). In der Forschung ist das Wissen über comfort food für verschiedene Bereiche entscheidend (Spence, 2017). Es könnte eine Möglichkeit sein, ältere Menschen, die nicht genügend Nahrung aufnehmen, zum Essen zu bringen. Im Raumfahrtbereich wird erhofft, damit das Stresslevel von Astronauten zu senken. 

Der Ausdruck comfort food wird nicht nur im Alltag verwendet, sondern ist auch in der Wissenschaft ein feststehender Begriff (Spence, 2017). Comfort food kann für jeden etwas anderes sein. Generell wird darunter aber Essen, das Trost oder ein Gefühl von Wohlbefinden vermittelt, verstanden (Spence, 2017). Es ist häufig kalorienreich und wird im «traditionellen Stil» zubereitet (Wagner et al., 2014). Für viele Menschen ist comfort food zum Beispiel das Lieblingsessen aus der Kindheit; so landen Hühnersuppe und Schokolade in Umfragen weit oben auf der Liste des beliebtesten Trostessens (Wagner et al., 2014). Forscher*innen gehen davon aus, dass Nostalgie einen grossen Einfluss darauf hat, warum wir gerade bei negativen Emotionen Lust auf dieses Essen haben (Hirsch, 1992). Oft bleibt es aber nicht bei dieser Lust und so passiert das «Stress-Essen» trotz gutem Vorsatz wie automatisch (Dallmann, 2010). Grund dafür ist die Gewohnheit (Dallmann, 2010). 

Trostessen ohne Nachdenken 

Dass bei negativen Emotionen automatisch zum Schokoriegel gegriffen wird, ist – wie vieles beim Menschen – erlerntes Verhalten (Dallmann, 2010). Neben dem vorher beschriebenen Warnsystem, das über Hormone dafür sorgt, dass genügend Energie verfügbar ist, gibt es noch weitere Faktoren, die Essverhalten auslösen. Im Gehirn gibt es vereinfacht gesagt drei Orte, die unsere Essensentscheidung beeinflussen. Es gibt den unbewussten Teil; besonders wichtig ist hier die Amygdala im limbischen System. Hier entstehen Emotionen und es werden Verknüpfungen zwischen Verhalten und Gefühlen erlernt. Ausserdem gibt es den rationalen Teil im Präfrontalkortex, der die bewusste Kontrolle übernimmt. Der dritte Ort ist der Nucleus Accumbens, das ist der Name mehrerer Kerne im Gehirn, die zu den Basalganglien zählen. Sie sind wichtig für Motivation und die Umsetzung von Gewohnheiten (Dallmann, 2010). 

«Once stress-induced feeding becomes habitual, the problem-solver, executive part of the prefrontal cortex might no longer be actively engaged in the outcome; comfort food intake can become a reflex.» 

Dallmann, 2010, S. 163   

Wenn man sich also vornimmt, bei Stress keine Schokolade mehr zu essen, sollte der kontrollierende Teil dafür sorgen, dass man dies auch nicht macht. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass bei automatischem Trostessen der rationale Teil fast gar nicht mehr mitwirkt (Dallmann, 2010). Der Körper hat gelernt, dass sich durch das Essen von Zucker oder Fett die Stressreaktion kurzzeitig reduziert. Nach dieser Erfahrung wird das Verhalten wiederholt. Irgendwann ist Trostessen als Reaktion auf Stress so fest mit einem guten Gefühl verbunden, dass gar nicht mehr darüber nachgedacht wird. Es wird laut Dallmann (2010) fast schon zum Reflex. Die zugrundeliegenden Prozesse sind vergleichbar mit denen, die bei Sucht auftreten (Dallmann, 2010). 

Das Problem bei Stress ist ausserdem, dass die ausgeschütteten Stresshormone dazu führen, dass der rationale Teil geschwächt wird, das führt dazu, eher gewohnheitsmässiges Verhalten umzusetzen (Dallmann, 2010). Es wird also noch schwerer, dem Drang nach Essen zu widerstehen. Zudem konnte in Laborexperimenten mit Tieren gezeigt werden, dass bestimmte Stresshormone die Aufnahme von fett- und zuckerhaltigem Essen fördern. Es wird vermutet, dass so früher das Überleben gesichert werden sollte. Alle Stressmechanismen sollten dafür sorgen, dass der Körper möglichst schnell viel Energie zum Überleben hat. Obwohl die Ursachen für Stress heutzutage meist woanders liegen, ist die Reaktion des Organismus geblieben (Dallmann, 2010). 

Aber fühlen wir uns nach comfort food wirklich besser? 

In einer amerikanischen Umfrage gaben mit 81 Prozent die meisten Menschen an, dass sie sich besser fühlen, wenn sie sogenanntes Trostessen gegessen haben (Spence, 2017). Eine kurzzeitige Verminderung der Stressreaktion konnte auch im Labor gezeigt werden, ebenso wie eine Freisetzung von Opiaten und Serotonin (LeMagnen, 1986). Dies kann kurz zu einer besseren Stimmung führen (Drewnowski et al., 1992). Trotzdem vermuten viele Forscher*innen, dass das beschriebene gute Gefühl nicht nur von einer körperlichen Reaktion kommt (Spence, 2017). Sie gehen vielmehr davon aus, dass die Erinnerung und die Assoziation mit sozialen Ereignissen zur Stimmungsaufhellung führen (Spence, 2017). 

Laut Gabriel (2015) gebe es Möglichkeiten, um bei negativen Gefühlen oder Stress für gute Stimmung zu sorgen, ganz ohne Süssigkeiten: «Irgendwas anderes, dass das gleiche beruhigende Gefühl von Vertrautheit vermittelt wie das erneute Lesen eines geliebten Buchs oder das Anschauen einer Lieblingsserie» (zitiert in Romm, 2015). Um die Gewohnheit zu brechen und wieder mehr Kontrolle zu bekommen, könnten Achtsamkeits- und Meditationsübungen helfen (Dallmann, 2010). Britische Forscher*innen konnten ausserdem zeigen, dass schwarzer Tee Stress reduziert (Hall, 2006; Steptoe et al., 2007). Es gibt also Möglichkeiten aus dem beschriebenen Kreislauf auszubrechen: Zum Beispiel das Lieblingsbuch zu lesen, statt Eiscreme zu essen. 


Zum Weiterlesen  

Spence, C. (2017). Comfort food: A review. International Journal of Gastronomy and Food Science9, 105–109. doi: 10.1016/j.ijgfs.2017.07.001 

Literatur

Dallmann, M. F. (2010). Stress-induced obesity and the emotional nervous system. Trends in Endocrinology & Metabolism21(3), 159–165. https://doi.org/10.1016/j.tem.2009.10.004 

Hirsch, A. R. (1992). Nostalgia: A Neuropsychiatric Understanding. ACR North American AdvancesNA-19. https://www.acrwebsite.org/volumes/7326/volumes/v19/NA-19/full 

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Wagner, H. S., Ahlstrom, B., Redden, J. P., Vickers, Z., & Mann, T. (2014). The myth of comfort food. Health Psychology33(12), 1552. https://doi.org/10.1037/hea0000068 

Locher, J., Yoels, W., Maurer, D., & van Ells, J. (2005). Comfort Foods: An Exploratory Journey 

Into The Social and Emotional Significance of Food. Food And Foodways, 13(4), 273-297. doi: 10.1080/07409710500334509  

Pütter, A. (1921). Der Hungertod. Naturwissenschaften, 9(2), 31-35. 

Carlson, N.R., Birkett, M. (2017). Physiology of Behavior (12. Auflage), Pearson Education. 

Fast Fashion 

Trend von heute, Abfall von morgen – Die Konsequenzen des Überkonsums der Wegwerfmode 

Die Mode von heute ist der Abfall von morgen: So wirkt Fast Fashion. Wieso kursiert der Wegwerftrend in unserer Gesellschaft und welche Zielgruppe konsumiert hauptsächlich Fast Fashion? Welche Auswirkungen hat dieser Konsum auf unsere Umwelt? Wie setzten sich Einzelhändler gegen die Wegwerfmode ein und was kannst DU dagegen machen? 

Von Gioia Köppel
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Marina Reist
Illustriert von Melina Camin

Hast du schon einmal ein T-Shirt für unter zehn Franken gekauft im Wissen, dass sowohl das Material, die Herstellungskosten, der Transport und die Fixkosten vom Einzelhändler mit diesen zehn Franken proportional abgedeckt werden müssen? Es bedarf keiner grossen Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass dieser Preis nur so tief angesetzt werden kann, weil an Materialqualität, sicheren Arbeitsbedingungen bei der Herstellung oder Sozialleistungen der Arbeiter*innen gespart wird. Aber sind wir doch ehrlich, lieber zehn Shirts à zehn Franken als zwei Shirts à 50 Franken – oder doch nicht? 

Definition von Fast Fashion 

Mode ist ein zyklisches Phänomen, das von der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert wird, bis es veraltet (Bhardwaj & Fairhurst, 2010). Modetrends werden von Fashion Shows und Runways beeinflusst, die früher ausschliesslich für das Auge von Designer*innen, Einkäufer*innen und Fashion Manager*innen auf die Beine gestellt wurden (Bhardwaj & Fairhurst, 2010). Ab 1999 machten Fotos der Modeschauen in Zeitschriften und im Internet die Modetrends der Öffentlichkeit zugänglich (Mintle, 2008). Der Industriezweig «Fast Fashion» entwickelte sich aufgrund des kurzen Lebenszyklus der heutigen Modetrends und dem Druck der Einzelhändler, diese Trends so schnell wie möglich umzusetzen (Barnes & Lea‐Greenwood, 2006; Mintle, 2008).  

Der Cambridge Dictionary (o. D.) definiert Fast Fashion wie folgt: 

«Clothes that are made and sold cheaply, so that people can buy new clothes often.»  

In der Schweiz sind Zara und H&M führende Fast-Fashion-Händler, welche alle zwei bis vier Wochen neue Kollektionen präsentieren (Fast Fashion, 2020). Die Vielfalt der Optionen, die begrenzte Produktion und die niedrigen Preise von Fast Fashion erhöhen den Anreiz der Verbraucher*innen, eine grosse Menge an Kleidung zu kaufen (Crewe & Davenport, 1992; Mintle, 2008). Der Überkonsum von Bekleidung hat durch Onlineshops im letzten Jahrzehnt noch rasanter zugenommen (George & Yaoyuneyong, 2010; Lazim et al., 2020). Auch auf Social-Media-Kanälen ist man als Konsument*in stets zahlreichen Werbeanzeigen ausgesetzt, welche Impulsiv-Käufe fördern (Lazim et al., 2020). Weltweit werden jedes Jahr 80 Milliarden Kleidungsstücke aus erster Hand gekauft (Bick et al., 2018). Allein in der Schweiz fügt jede Person durchschnittlich 20 Kilogramm Kleidung (ca. 60 Stück) pro Jahr ihrem Kleiderschrank hinzu (WWF-Rating der Bekleidungs- und Textilindustrie, o. D.). Viele dieser Kleider bleiben ungetragen und landen beim Aussortieren direkt im Müll (Greenpeace-Umfrage, 2019). Dies unterstreicht das Ausmass des Kleidungsüberkonsums, welcher zu schwerwiegenden Umweltfolgen führt (z. B. Boucher & Friot, 2017). 

Doppelte Menge, halbe Tragedauer – Welche Auswirkungen hat dies auf unsere Umwelt? 

Die meisten Kleidungsstücke bestehen aus Baumwolle oder Polyester (Anbau von Baumwolle, 2016). Der Anbau und die Verarbeitung beider Stoffe verursacht Umwelt- und Gesundheitsprobleme. Baumwolle ist anfällig für Schädlinge und benötigt daher zum Anbau Pestizide, die die Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigen und das Trinkwasser verunreinigen (Anbau von Baumwolle, 2016). Die Chemikalien aus der Textilfärberei und Pestizide aus dem Baumwollanbau gefährden die Gesundheit von Menschen und Tieren vor Ort (Bick et al., 2018). Pestizide sind laut WHO (2018) eine der häufigsten Todesursachen durch Selbstvergiftung. Darüber hinaus verbraucht die Baumwollproduktion 15.000 Liter Süsswasser pro Kilo (Fast Fashion, 2020). Die Polyesterproduktion verbraucht Öl und gibt beim Waschen in der Waschmaschine Mikroplastik in die Ozeane ab. Nach Angaben der IUCN wird 35 Prozent der Mikroplastikfreisetzung in die Weltmeere durch Polyester verursacht (Boucher & Friot, 2017). Aufgrund der momentanen Konsumsituation von Fast Fashion wird erwartet, dass die CO2-Emmissionen in den nächsten zehn Jahren um 60 Prozent steigen (UNFCCC, 2018). Kinderarbeit, gewissenlose Arbeitsbedingungen und Ausbeutung sind in der Fast Fashion-Produktion alltäglich (Anbau von Baumwolle, 2016; Anguelov, 2015; Bick et al., 2018). Trotz alledem steigt der Konsum, wieso? 

Wer konsumiert Fast Fashion und wieso? 

Eine Determinante für den Konsum von Fast Fashion ist die Erschwinglichkeit und die Vielfalt der Auswahl, die soziale Norm und die intrinsische Motivation einzigartig sein zu wollen (Crewe & Davenport, 1992; McNeill & Moore, 2015; Rostiani & Kuron, 2019; Wai Yee et al., 2016). Vor allem junge, gebildete Frauen konsumieren die kurzlebigen Modetrends (Crewe & Davenport, 1992; Ma et al., 2012; McNeill & Moore, 2015; Wai Yee et al., 2016). Wieso konsumieren gebildete Individuen mehr Fast Fashion? Eine mögliche Erklärung hierfür bietet der Rigorismus. Rigorismus bezeichnet das starre Festhalten an Denk- und Handlungsweisen ohne Berücksichtigung von Situationsmerkmalen. Im Kontext übermässigen Konsums wird Rigorismus als Erklärungsversuch für die Kluft von Umweltbewusstsein und dementsprechenden Umweltverhalten herbeigezogen (Kuckartz, 2007). Die Inkonsistenz von Überzeugung und Verhalten kann zu einem unbehaglichen Gefühl führen, welches kognitive Dissonanz genannt wird. Wenn ein solches Gefühl eintritt, muss sich etwas ändern, um die Dissonanz zu beseitigen oder zu reduzieren (Festinger, 1957).  

Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz gemäss Fischer et al. (2018) 

Wie reduziert ein*e Fast Fashion-Konsument*in das unangenehme Gefühl nach den Einkäufen? 

  1. Addition von Argumenten, die das Verhalten unterstützen – «Ich möchte trendy gekleidet sein. » 
  1. Ignorieren von Argumenten, welche gegen das Verhalten sprechen – Zum Beispiel die Statistiken zu Konsequenzen von Fast Fashion in den Medien ignorieren 
  1. Andere positive Verhaltensweisen hervorheben, um das Verhalten zu kompensieren – «Ich fliege nie mit dem Flugzeug und trage so schon zu einem verminderten CO2-Ausstoss bei.» 
  1. Betonung der Wichtigkeit von unterstützenden Argumenten – «Fast Fashion trägt Umweltkonsequenzen mit sich, aber mein Wohlbefinden ist mir am wichtigsten und ich fühle mich nur in modischer Kleidung wohl.» 
  1. Verharmlosung der Wichtigkeit von Argumenten, die gegen das Verhalten sprechen – «Ich glaube, die Medien stellen die Umweltkonsequenzen von Fast Fashion übertrieben dar.» 

Was machen Einzelhändler, um den Fast Fashion-Konsum zu reduzieren? 

Damit umweltfreundliche Kleidung von Konsument*innen erkannt wird, wurden Gütesiegel kreiert. Ein Beispiel hierfür ist das Gütesiegel «GOTS – Global Organic Textile Standard», welches für eine nachhaltige Produktionskette von Rohstoff bis Verkauf einsteht (GOTS, o. D.).  

Einige Einzelhändler spezialisieren sich auf das Gegenstück von Fast Fashion, etwa Slow Fashion (Fast Fashion, 2020). Slow Fashion bezeichnet Mode, die mit recycelbaren Materialen bei nachhaltigen Bedingungen hergestellt wird. Ausserdem fokussiert Slow Fashion auf zwei Saisons im Jahr und folgt demnach nicht den stetig wechselnden Trends, sondern setzt vielmehr auf zeitlose Designs. Die Herstellung der Slow Fashion Kleidung richtet sich nach Menschen- und Arbeitsrecht, sodass weder Kinderarbeit noch Ausbeutung betrieben wird (Fast Fashion, 2020). 

Was kann man als Konsument*in machen, um den Fast Fashion-Konsum zu reduzieren? 

Genau wie das Car-Sharing in der Automobilbranche findet man in der Kleiderbranche einen Industriezweig für Kleiderverleih. In Leihboutiquen kann man nicht nur Abendkleider oder Kostüme ausleihen, sondern auch Alltagskleidung, Schuhe, Taschen und weitere Accessoires. Das Ausleihen von Bekleidung bietet eine Alternative, um an Veranstaltungen neue Kleider anziehen zu können, bei welchen man sowieso nicht die Absicht gehabt hat, diese öfters zu verwenden.  

Ein weiterer Ansatz wäre, die Lebensdauer der Fast Fashion-Kleidung zu verlängern. Dies lässt sich durch tiefe Waschtemperaturen, Auslüften statt Trocknen und selteneren Waschvorgängen erreichen. 

Secondhand Mode statt Fast Fashion wäre eine Möglichkeit, nachhaltig zu agieren und Umwelt und Ressourcen zu schonen, ohne aufs Shoppingerlebnis an sich verzichten zu müssen. Der Kauf von Secondhand-Kleidung trägt dazu bei, die Umweltfolgen von (Fast-)Fashion zu reduzieren (Farrant et al., 2010). Secondhand Mode kann auch in puncto Preis mit Fast Fashion mithalten, zumal Secondhand-Kleidung meist qualitativ hochwertiger ist und in Relation zu ihrer Qualität zu einem günstigeren Preis erworben werden kann. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil von Secondhand-Mode ist, dass sie den Wunsch nach einzigartiger Entfaltung der eigenen Persönlichkeit besser zu erfüllen vermag als Fast Fashion-Kleidung (Rostiani & Kuron, 2019). Da es sich bei Secondhand-Kleidern meist um Einzelstücke handelt, wird die Shoppingtour zur Jagd nach verborgenen Schätzen. Hört sich nach einem aufregenden Einkaufserlebnis an, oder? 


Zum Weiterlesen

Thomas, D. (2019). Fashionopolis: The price of fast fashion and the future of clothes. Head of Zeus. 

Brooks, A. (2019). Clothing poverty: The hidden world of fast fashion and second-hand clothes. Bloomsbury Publishing PLC. 

Literatur 

Anguelov, N. (2015). The dirty side of the garment industry: Fast fashion and its negative impact on environment and society (1. Aufl.). CRC Press. https://doi.org/10.1201/b18902 

Barnes, L., & Lea‐Greenwood, G. (2006). Fast fashioning the supply chain: Shaping the research agenda. Journal of Fashion Marketing and Management: An International Journal, 10(3), 259–271. https://doi.org/10.1108/13612020610679259 

Bhardwaj, V., & Fairhurst, A. (2010). Fast fashion: Response to changes in the fashion industry. The International Review of Retail, Distribution and Consumer Research20(1), 165–173. https://doi.org/10.1080/09593960903498300 

Bick, R., Halsey, E., & Ekenga, C. C. (2018). The global environmental injustice of fast fashion. Environmental Health17(1), 1-4. https://doi.org/10.1186/s12940-018-0433-7 

Boucher, J., & Friot, D. (2017). Primary microplastics in the oceans: A global evaluation of sources. IUCN International Union for Conservation of Nature. https://doi.org/10.2305/IUCN.CH.2017.01.en 

Crewe, L., & Davenport, E. (1992). The puppet show: Changing buyer-supplier relationships within clothing retailing. Transactions of the Institute of British Geographers17(2), 183-197. https://doi.org/10.2307/622545 

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Lazim, N. A. M., Sulaiman, Z., Zakuan, N., Mas’od, A., Chin, T. A., & Awang, S. R. (2020). Measuring post-purchase regret and impulse buying in online shopping experience from cognitive dissonance theory perspective. IEEE International Conference on Information Managementhttps://doi.org/10.1109/ICIM49319.2020.244662 

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Weblinks

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Mintle, S. (2008). Fast fashion is not a trend. Sydney Loves Fashion. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.sydneylovesfashion.com/2008/12/fast-fashion-is-trend.html 

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WWF-Rating der Bekleidungs- und Textilbranche. (o. D.). WWF. Abgerufen am 30. Juli 2021, von https://www.wwf.ch/de/unsere-ziele/wwf-rating-der-bekleidungs-und-textilindustrie 

Bratwürstchen oder Tofu 

Spannung zwischen Moral und Verhalten 

Bratwürstchen oder Tofu? Auto oder Strassenbahn? Billiges T-Shirt oder teure Slow Fashion? Gemüse in Plastik oder unverpackt? Oft haben wir eindeutige moralische Ansichten zu bestimmten Themen (Klimawandel, Tierrechte, etc.), verhalten uns aber im Alltag nicht unbedingt danach. Das kann zu innerer Spannung führen. 

Von Madita Schindler
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Zoé Dolder
Illustriert von Andrea Bruggmann

Im Folgenden geht es um mögliche Erklärungsansätze für die Diskrepanz zwischen Moral und Verhalten und um die Auflösung dieser Spannung. Um zu verstehen, ob und wie unsere moralischen Werte und Ansichten unser Verhalten beeinflussen, lohnt sich eine Beschäftigung mit dem psychologischen Konstrukt der Einstellung: 

«Als ‹Einstellungen› bezeichnet man Bewertungen von Sachverhalten, Menschen, Gruppen und anderen Arten von Objekten unserer sozialen Welt.» 

Jonas et al., 2014, S. 198 

Einstellungen werden als etwas relativ Stabiles und Dauerhaftes angesehen (Garms-Homolová, 2020). Sie haben einen evaluativen Charakter und können eine kognitive, affektive und konative (handlungsorientierte) Komponente beinhalten. Zur kognitiven Komponente werden das Wissen über einen Sachverhalt sowie Überzeugungen oder Glaubensgrundsätze gezählt. Der affektive Teil beschreibt Emotionen und subjektive Vorlieben bezüglich des Einstellungsobjekts, die handlungsorientierte Komponente beschreibt die Verhaltensabsichten. Beispielsweise könnte eine Einstellung von Hannah sein, dass die Arbeitskräfte in vielen Textilfabriken unzumutbaren Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind (kognitive Komponente). Dies löst bei Hannah Unbehagen und Mitleid aus (affektive Komponente). Darum ergreift sie den Plan, künftig bevorzugt bei fairen Labels zu shoppen (konative Komponente). Einstellungen sparen Ressourcen, weil bei der Präsentation von bestimmten Objekten oder Objektgruppen bereits eine Bewertung vorhanden ist und das Verhalten daran ausgerichtet werden kann (Garms-Homolová, 2020). 

Einstellungen reichen nicht aus 

«Der durch die Prädiktorvariable Einstellung erklärte Varianzanteil an der Gesamtvarianz der Kriteriumsvariable Verhalten beträgt ca. zehn Prozent; die restlichen 90 Prozent der Kriteriumsvarianz fallen demnach auf unbekannte Drittvariablen.» 

Güttler, 2003, S. 192 

Der Zusammenhang ist also alles andere als eindeutig: Durch Einstellungen ist nur ein kleiner Teil des Verhaltens zu erklären. Obwohl Hannah die Einstellung hat, dass die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken unzumutbar sind und sie als Konsumentin etwas dagegen tun sollte, auch wenn dies für sie kleinere persönliche Einbussen im Alltag bedeutet, geht sie trotzdem immer wieder bei den gleichen günstigen Klamottenläden T-Shirts aus Pakistan shoppen. Warum also führen bestimmte Einstellungen oft nicht zu korrespondierenden Verhaltensweisen? 

Inkonsistente Einstellungen 

Wie oben beschrieben, haben Einstellungen drei Komponenten. Diese können aber unterschiedliche Gewichtungen haben und miteinander in Konflikt stehen. Die Einstellung zu Salamipizza dient als Beispiel: Die kognitive Komponente beinhaltet den Wunsch, Tierleid zu vermeiden, während die affektive Komponente sagt «Salamipizza ist lecker und gibt mir ein gutes Gefühl». Wenn die affektive Komponente eine stärkere Gewichtung hat, wird man in diesem Fall vermutlich zur Salamipizza greifen (Smith et al., 2019). Selbst wenn wir davon ausgehen, dass eine konsistente Einstellung vorliegt, gibt es Einflussfaktoren, die ein passendes Verhalten verhindern (Smith et al., 2019). 

Theorie des geplanten Verhaltens 

Eine der populärsten Theorien zum Zusammenhang zwischen Einstellungen und Verhalten ist die «Theory of Planned Behavior» von Ajzen (1985). Die drei Faktoren Einstellung, soziale Norm und Verhaltenskontrolle bewirken zusammen, dass sich eine Intention, also eine Verhaltensabsicht bildet. Diese führt zu einem entsprechenden Verhalten. Die soziale Norm meint die Einflüsse des sozialen Umfelds bzw. die wahrgenommenen Erwartungen anderer Personen in Bezug auf ein Verhalten. Man könnte zum Beispiel stereotypisch annehmen, dass in einer bayerischen Familie Fleisch gegessen wird. Die (wahrgenommene) Verhaltenskontrolle beschreibt die Einschätzung einer Person, wie schwierig es ist, ein Verhalten mit den vorhandenen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten auszuführen. Beispielsweise wie man die Möglichkeit einschätzt, sich fleischloses Essen zu kochen. Neben der Einstellung haben hier also noch weitere Aspekte Einfluss darauf, ob ein Verhalten letzten Endes zustande kommt (Ajzen, 1985). 

Die Theorie macht allerdings ausschliesslich Vorhersagen über bewusstes Verhalten (Graf, 2007). Sie ist also vielleicht anwendbar beim einmaligen Kauf des neuen E-Autos, bei dem eine ausführliche Reflexion angebracht ist. Die Frage ist, in wie vielen alltäglichen Situationen Entscheidungen mit moralischen Konsequenzen ganz oder zum grossen Teil unbewusst getroffen werden. 

Unbewusstes und gewohnheitsmässiges Verhalten 

«People process […] systematically only when they have both the motivation and the cognitive capacity to do so.» 

Smith et al., 2019, S. 255 

Eine bewusste Entscheidung zwischen zwei Verhaltensoptionen ist nur möglich, wenn die Motivation und die kognitive Kapazität vorhanden sind (Smith et al., 2019). In vielen Situationen im Alltag verringern Zeitdruck, die allgemeine emotionale Stimmung, Ablenkung oder das Fehlen von Informationen einen der beiden Faktoren. Wenn kein bewusstes Nachdenken möglich ist, lassen wir uns von Gewohnheiten und Heuristiken leiten. Heuristiken sind kognitive Daumenregeln, Entscheidungsverfahren, die schnell und meist unbewusst ablaufen und wenig Ressourcen benötigen. Die Rekognitionsheuristik sorgt beispielsweise dafür, dass wir uns eher für eine Alternative entscheiden, die wir kennen (Smith et al., 2019). Also für die Bratwürstchen unserer Lieblingsmarke statt für die vegane Alternative aus Tofu, die wir noch nie gegessen haben. 

Folgen von Unstimmigkeiten zwischen Einstellung und Verhalten 

In vielen Fällen verhalten wir uns also entgegen unseren moralischen Überzeugungen. Es kommt zu Spannung zwischen einer Einstellung, beispielsweise der Verurteilung von klimaschädlichen Flugreisen und einem Verhalten wie dem Kauf eines Billigflugtickets nach Mallorca (Garms-Homolová, 2020). Psychologische Konsistenztheorien bezeichnen diese Spannung als «Dissonanz» (z. B. Festinger, 2012). Es handelt sich dabei um einen subjektiv unangenehmen Zustand, der möglichst schnell reduziert werden soll. Die bekannteste Konsistenztheorie ist die «Theorie der kognitiven Dissonanz» von Leon Festinger (2012). Laut dieser Theorie gibt es verschiedene Möglichkeiten zur Dissonanzreduktion. Eine Option wäre, das zukünftige Verhalten zu ändern. Wenn sich Hannah wegen des Ticketkaufs unwohl fühlt, wird sie sich bei der nächsten Gelegenheit eher für die Bahnfahrt entscheiden. Häufiger kommt es allerdings vor, dass die Dissonanz auf eine andere Weise verringert wird, beispielsweise durch Rationalisierung: Die getroffene Wahl wird im Nachhinein als besser bewertet und die verworfene Alternative abgewertet. Im Prinzip wirkt hier also das Verhalten zurück auf die Einstellung, sodass wieder eine Konsistenz hergestellt wird. Hannah könnte zum Beispiel argumentieren, dass sie als Individuum sowieso keinen Einfluss auf den Klimawandel nehmen kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Selbstversicherung. Dabei wird das «Versagen» in einem Bereich durch die Hervorhebung eines Verhaltens in einem anderen Bereich ausgeglichen. Hannah hat zwar durch die Flugreise eine hohe CO2-Bilanz, aber dafür kauft sie immer das unverpackte Gemüse im Supermarkt. Auch die Beschaffung von neuen Informationen oder die gezielte Meidung bestimmter Informationen kann eine Möglichkeit zur Dissonanzreduktion sein (Festinger, 2012; zitiert nach Garms-Homolová, 2020). Hannah wird sich in Zukunft also einfach keine Dokumentationen über die Folgen des Klimawandels mehr ansehen. 

Es ist kompliziert 

Fassen wir also zusammen: Es reicht nicht aus, eine Einstellung zu einem Thema zu haben. Bevor es zu einer entsprechenden Handlung kommt, spielen viele weitere Faktoren eine Rolle (z. B. Smith et al., 2019). Inkonsistente Einstellungen sorgen für Ambivalenz bei der Verhaltenswahl (Garms-Homolová, 2020). Bei der «Theorie des geplanten Verhaltens» haben soziale Normen und die subjektive Verhaltenskontrolle einen Einfluss (Ajzen, 1985). Unbewusstes und gewohnheitsmässiges Verhalten wird oft ohne Nachdenken und Einbeziehen aller Informationen auf der Basis von Heuristiken ausgeführt (Smith et al., 2019). Wenn das gewählte Verhalten nicht mit den Einstellungen übereinstimmt, kommt es zu kognitiver Dissonanz, die durch verschiedene Mechanismen wie Verhaltensänderung, Selbstversicherung oder Meiden von bestimmten Informationen reduziert werden kann (Garms-Homolová, 2020). 

Definition Prädiktor & Kriterium 

Die Prädiktorvariable (oder unabhängige Variable) bezeichnet die Vorhersagevariable (Bortz & Schuster, 2010). Die Kriteriumsvariable (oder abhängige Variable) soll mithilfe der Prädiktorvariable/n vorhergesagt werden. Die unabhängige Variable wird im Experiment gezielt manipuliert und die abhängige Variable gemessen. Man kann den Prädiktor auch als Ursache und das Kriterium als Wirkung bezeichnen (Bortz & Schuster, 2010). 


Zum Weiterlesen

Kahneman, D. (2012). Thinking fast and slow. Penguin Books. 

Smith, E. R., Mackie, D. M., & Claypool, H. M. (2019). Social psychology (4. Ausgabe). Routledge. 

Literatur 

Ajzen, I. (1985). From intentions to actions: A theory of planned behavior. In Kuhl, J., & Beckman, J. (Eds.), Action Control (pp. 11-39). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-69746-3_2 

Bortz, J., & Schuster, C. (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-12770-0 

Festinger, L. (2012). Theorie der kognitiven Dissonanz (2nd ed.). Verlag Hans Huber.  

Garms-Homolová, V. (2020). Sozialpsychologie der Einstellungen und Urteilsbildung. Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62434-0 

Graf, D. (2007). Die Theorie des geplanten VerhaltensTheorien in der biologiedidaktischen Forschung. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-540-68166-3_4 

Güttler, P. O. (2003). Sozialpsychologie: Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen. R. Oldenbourg Verlag. https://doi.org/10.1524/9783486599268 

Jonas, K.; Stroebe, W., & Hewstone, M. (2014). Sozialpsychologie. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-41091-8 

Kahneman, D. (2012). Thinking Fast and Slow. Penguin Books. 

Smith, E. R., Mackie, D. M., & Claypool, H. M. (2019). Social Psychology (4th ed.). Routledge.  

Kinder in der Pandemie 

Erlebnisse und Gedanken eines Kinderarztes 

Welchen Preis haben Kinder in der Pandemie bezahlt? Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? Diese und weitere Fragen beantwortete uns Dr. Bruno Knöpfli – Kinderarzt und delegierender Psychotherapeut mit langjähriger Erfahrung. 

Von Sebastian Junghans und Charlotte Baldenweg 
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Berit Barthelmes
Illustriert von Shaumya Sankar

Folgendes Interview fand am 22. Juli 2021 statt. Das Interview wurde im Original auf Schweizerdeutsch geführt und anschliessend auf Hochdeutsch übersetzt. Dr. Bruno Knöpfli äusserte dabei seine freie Meinung. Seine Aussagen sind unabhängig von der Meinung der Redaktionsmitglieder des awares. 

Wie hat sich dein Job verändert durch die Pandemie? 

Ich war in der glücklichen Situation, eine grossräumige Praxis zu haben. Die grossen Behandlungszimmer waren schon immer auch Warteräumlichkeiten. Damit hatte ich eine optimal coronataugliche Praxis zur Verfügung. Niemand traf den anderen, die Patienten und Patientinnen liessen sich separieren. Der Betrieb war in diesem Sinne nicht beeinträchtigt. Im Gegensatz zu vielen aus meiner Kollegschaft, erfuhren wir sogar eine Umsatzsteigerung um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, was sehr viel ist. Erschwerend sind mehrere komplizierte Prozesse dazugekommen, welche den Aufwand erhöht haben. Für die Praxis als wirtschaftliches Unternehmen resultierte eine Steigerung. 

Aus Patientensicht ergab sich die Situation, dass viele in anderen Praxen keinen Termin bekamen. Wahrscheinlich war das der Ausdruck einer Hilflosigkeit in dem Sinne, dass viele zu ihren Hausärzten und -ärztinnen wollten, wegen den komplexeren Betriebsabläufen aber keine Termine erhalten haben. 

«Ich führte Telefonate, welche neu waren: Gespräche mit Kindern, die man überzeugen musste, sich in die Praxis zu wagen. Kinder beruhigen, die nicht mehr in die Schule gehen wollten.» 

Knöpfli, 2021 

Wie nehmen Kinder die Maske bei dir als Arzt wahr? Hat sich dieser Umgang im Laufe der Pandemie verändert? 

Für mich selbst hat das äussere Auftreten eine untergeordnete Bedeutung, wie es auch bei den meisten Kindern der Fall ist. Die Kinder können sich auch relativ gut an geänderte Bedingungen und neue Situationen anpassen. Aber natürlich lassen theoretische Überlegungen Schwierigkeiten vermuten. Ein Kind schaut zuerst auf die Augen und den Mund. Dieses Dreieck wird durch die Maske verhüllt. Es müsste einen Einfluss auf den Umgang der Kinder mit uns haben. Vielleicht gab es bei uns keinen Effekt, da ich die meisten Kinder schon vor Corona kannte. Bei Fremden könnte das durchaus anders sein.  

Auch bei Säuglingen konnte ich nichts Spezielles beobachten. Ich habe keinen Unterschied zu vergangenen Untersuchungen festgestellt. Aber ich achte auch darauf, Säuglinge bei der Untersuchung wenig zu bedrängen, in den meisten Fällen hängen die Kleinen an der Mutter, während ich untersuche. Das ist sogar essenziell für die Beurteilung. Ein Kind geringen Alters, das nicht die Mutter als Schutzort sucht, lässt eine Auffälligkeit in der Mutter-Kind-Beziehung vermuten. 

Haben neben den Besuchen aufgrund von Grippe und Erkältungssymptomen auch andere Konsultationsgründe abgenommen bzw. zugenommen? 

Ich habe tatsächlich eine Steigerung von Patienten und Patientinnen mit Husten feststellen müssen. Husten ist aber ein Symptom mit breitem ursächlichem Spektrum; er kann beispielsweise durch Asthma oder Infektionen entstehen. Die reinen Infektionen haben abgenommen. Wir hatten diesen Winter sehr viel weniger banale Infektionen als zuvor. Diese scheinen jetzt aber aufzuholen, sodass sie lediglich verspätet auftreten. So hatten wir im Frühling und Frühsommer extrem viele Patienten und Patientinnen mit Infektionen. Darüber gibt es auch Aufzeichnungen des Zürcher Kindesspitals, die zeigen, wie stark erhöht die Infektanfälligkeit in dieser untypischen Zeit geworden ist. Die Grippe selbst war vergangenes Jahr weniger stark im Vergleich zu früheren Jahren. Allerdings haben wir diesbezüglich auch wenig getestet, sondern vermehrt bezüglich Corona. 

Viele, die Atembeschwerden oder Atemstörungen haben, zeigten auch ungewöhnliche Ängste. Darin begründete Konsultationen haben massiv zugenommen. Die Kinder und vor allem deren Eltern entwickelten Ängste, dass ernsthafte Probleme entstünden. Allerdings ist es nicht so, dass bei Kindern, die Komorbiditäten oder Vorerkrankungen aufwiesen, diese auch als Risikofaktor für einen schweren Verlauf gelten; Kinder sind grundsätzlich keine Risikopatienten in dieser Pandemie. Selbst bei schwer kranken Kindern spricht man nicht von Risikopatienten. Genau diese Patienten und Patientinnen hatten aber grosse Angst. 

Ist ein Kind vorerkrankt, dann löst das auch bei anderen Familienmitgliedern eine riesige Verunsicherung aus. Es wird probiert, das betroffene Kind vor jeglichen möglichen Ansteckungsquellen fernzuhalten. Insbesondere Familien mit Asthmatikern und Asthmatikerinnen oder auch Frühgeborenen, die beatmet werden mussten, waren besonders verunsichert. Bei Patienten und Patientinnen mit Immundefiziten war diese Reaktion nachvollziehbarer; man wusste lange nicht, wie solche Patienten und Patientinnen auf eine Coronainfektion reagieren würden. Glücklicherweise sind auch diese Kinder nicht stark gefährdet. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich ungewöhnlich viele Angststörungen als Komorbidität diagnostizieren musste; unabhängig vom Verlauf ihrer Krankheiten war die Angst immens. 

Welche Symptome psychischer Erkrankungen haben bei Kindern zugenommen? Internalisiert oder externalisiert? Die Angststörungen weisen eher auf internalisierte Symptome hin. 

Ich würde das so unterschreiben. Aber jede Erkrankung ist schlimmer geworden durch Corona. Es war eine Zusatzbelastung. Und für Kranke ist eine Zusatzbelastung ein Problem, wenn sie sowieso schon am Limit sind. Dann kommt noch etwas dazu und das Fass läuft über. 

Wir werden vermutlich noch länger mit Corona leben müssen – Was kann man tun, um Kinder in ihrem Alltag mit Corona zu unterstützen? 

Ich verstehe nicht, weshalb diese Fragestellung seit dem Ausbruch von Corona derart fundamental stets von Neuem gestellt wird. Wir haben eine Tradition sowie gute Evidenz, auf Grund dessen wir eigentlich wissen sollten, wie wir mit Kindern umzugehen haben. Ausserdem haben wir eine Bundesverfassung, die besagt, dass ein Kind ein Recht auf Schulung, körperliche Aktivität und gesellschaftliche Kontakte oder Interaktionen auf einer persönlichen Ebene hat. Dass derart elementare Aspekte in Zusammenhang mit der Entwicklung von jungen Menschen in Frage gestellt werden, verstehe ich nicht und habe ich nie verstanden. Auch eine Population zu schützen, um dadurch eine andere Population in ihren Grundrechten einzuschränken, trifft bei mir auf Unverständnis. Wir müssen zurückkommen zu unseren Wertvorstellungen, die wir über Jahrzehnte sinnvoll und differenziert entwickelt haben und diese nicht einfach in einer ad hoc Reaktion über Bord werfen. Medizinisch gesehen ist das unseriös und widerspricht den heute geltenden Kriterien nach massvoller und evidenzbasierter Handlungsweise. Dies gilt auch für die Anfangsphase, als man die Gefahr noch nicht einschätzen konnte. Die Medizin basiert auf dem Prinzip, dass man bei einer Intervention abwägen muss, was das Potenzial sowohl auf der Wirkungs- wie auch auf der Nebenwirkungsseite ist. Wenn man die Nebenwirkungen nicht abschätzen kann, darf man sie nicht durchführen. Macht man sie trotzdem, ist das unethisch, sie verkommt zu einem Versuch, bei dem man nicht weiss, wie gross die Kosten sind und wer sie zu tragen hat. Jedes ethische Komitee hätte für eine Nichtdurchführung entschieden. Jetzt wurde politisch entschieden. 

«Kinder mussten drei Grundrechte aufgeben, um andere zu schützen.» 

Knöpfli, 2021 

Eltern haben ein stressiges Jahr hinter sich. Wie macht sich der elterliche Stress bei den Kindern bemerkbar? 

Es gibt gute wissenschaftliche Studien, welche das belastendste Alter von Menschen in der heutigen Gesellschaft untersuchten. Dabei ergab sich, dass die tragende und am massivsten belastete Bevölkerungsschicht die 30 – 50-jährigen sind. Das ist natürlich auch die Population, in der es viele Eltern von Kindern gibt. Eltern haben massive Belastungen durch Corona erfahren. Einerseits hatten sie oft keinen Job mehr; ihre Existenz war bedroht. Andererseits erlebten sie eine Doppelbelastung, weil die Kinder nicht in der Schule betreut wurden und sie sie zu Hause betreuen mussten. Zusätzlich konnten sie nicht planen. Selbst wenn Eltern in der Lage waren, sich zu organisieren, dann war die Planungsunsicherheit derart gross, dass man am nächsten Tag oft wieder vor einer anderen Situation stand. So konnten selbst die agilsten Leute sich nicht mehr auf diese Zusatzbelastungen einstellen. 

Wenn man schaut, wie das jetzt weitergeht, sehe ich kein Ende. Die Risikopopulation ist jetzt geimpft; das ist ein Privileg und sicherlich angenehm für diese Population. Andere Länder sind eine andere Strategie gefahren, wobei zuerst die Übertragenden geimpft wurden und die Risikopopulation dazu instruiert wurde, sich möglichst nicht anzustecken. Theoretisch hätte man so den Infekt schneller im Griff gehabt. Wir haben jetzt zuerst die Risikopopulation geimpft und dann die Übertragenden. Wer überhaupt noch nicht drangekommen ist, sind die Kinder. Das heisst, dass Eltern ungeimpfter Kinder nun dauerhaft am Testen sind, damit sie wenigstens ein bisschen Bewegungsfreiheit haben. Sie müssen sich umständlich organisieren, um an gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen zu können oder in die Ferien zu gehen; anderenfalls bleiben sie isoliert. 

Je jünger ein Kind ist, desto stärker hängt dessen Gedeihen von der Gesundheit der Eltern ab. Kinder, die gesunde und belastbare Eltern haben, sind meist selbst gesund und belastbar. Es gibt Kinder, die Betreuungsaufgaben übernehmen, zum Beispiel von kranken oder ausgebrannten Eltern. Diese Kinder sind natürlich massiv und inadäquat belastet. Die Auswirkungen davon sieht man meist nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit bis in ein paar Jahren. Ausserdem kann dies ein entwicklungshemmender Faktor sein. Anstatt dass die Kinder betreut werden, müssen sie selbst betreuen und werden zu Care-Givern. 

Es wird berichtet, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien ausgelastet seien. Therapieplätze für Kinder zu finden hat sich schon vor der Pandemie schwierig gestaltet. Haben die Überweisungen für Psychotherapien zugenommen? Was müsste dahingehend verbessert werden? 

Wir haben eine spezielle Situation, weil ich eine psychologische Abteilung in der Praxis habe. Das ist aber eine Ausnahmesituation. Die meisten Praxen haben das nicht. Von der Kollegschaft hört man, dass sie riesige Probleme mit psychologischen Überweisungen haben. Wir hatten zahlreiche Anfragen mehr zu übernehmen. 

Die Gesundheitspolitik befindet sich dahingehend in einem Umsturz. Die delegierende Psychotherapie und die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Psychologie wird nun eher aufgehoben und es geht in Richtung wie bei den Physiotherapeuten und -therapeutinnen. Der Doktor macht eine Verordnung und dann kann ein Patient oder eine Patientin zum Psychotherapeuten, zur Psychotherapeutin. Wenn das so laufen wird wie mit der Physiotherapie, dann ist das eine Erleichterung für die Allgemeinheit wegen der höheren Verfügbarkeit und Einfachheit. Aber so wie ich die Bundesbehörden kenne, ist wie bei anderen medizinischen Dienstleistungen der Preis ein wichtiger, wenn nicht ein dominierender Faktor. Es könnte schwieriger werden, einen Therapieplatz zu bekommen, weil es um Versicherungsgelder geht. Ob sich das insgesamt positiv auswirken wird, steht in den Sternen. 

Welchen Preis haben Kinder deiner Meinung nach in der Pandemie bezahlt? 

Kinder mussten drei Grundrechte respektive erwiesene entwicklungs-fördernde Aspekte aufgeben/einschränken, um andere zu schützen. Die drei Grundrechte sind der Anspruch auf Bildung, der Anspruch auf körperliche Aktivität und Bewegung und der Anspruch auf soziale Kontakte. Sie selbst haben kaum Profit von den massiven Einschränkungen. Kinder als Population sollten in diesem Sinne nicht mit derartig einschneidenden Coronaeinschränkungen belastet und in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden. In Diskussionsforen am Fernsehen wird aber entgegen diesen Fakten davon gesprochen, dass Kinder ohne jegliche Einschränkungen diese Massnahmen hinnehmen/überstehen können. 

Kinder erlebten Isolation, weniger Austausch mit Gleichaltrigen und Sorgen um Angehörige. Was könnten langfristige Folgen dieser speziellen Situation sein? 

Bezüglich Bildung werden wir ganz sicher einen Bildungsrückstand erfahren. Es gibt dazu Untersuchungen, bei denen Medizinstudierende ihre erste Propädeutikumprüfung absolvierten. Normalerweise sind dort 5 Prozent durchgefallen; jetzt sind es 50 Prozent. Das heisst bei der reinen Wissensvermittlung ist ganz sicher ein Defizit vorhanden. 

Bildung hat aber nicht nur ein Wissensvermittlungsauftrag, sondern auch den Auftrag, ein soziales Netzwerk zu erstellen. Im Berufsleben ist ein gutes soziales Netzwerk sehr wichtig, wenn die eigenen Grenzen ausgelotet sind. Ein intaktes Netzwerk respektive eine gute Kollegschaft kann dabei meist helfen. Wer diese Kollegen und Kolleginnen im Studium nicht kennenlernt, hat weniger Möglichkeiten. Der häufigste Kennenlernort ist nach wie vor die Schule und das Studium.  

Wenn das Studium so aussieht, dass Erstsemestrige erzählen, dass sie noch nie in einer Vorlesung waren, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Sie müssen im «Lichthof» andere Kollegen und Kolleginnen treffen und sich austauschen; sie müssen Karriereinteressen, Vertiefungsrichtungen und so weiter voneinander erfahren. Nur auf diese Weise weiss man, wen man fragen kann, wenn man ein gröberes Problem zu lösen hat. Wenn man diese Personen wirklich kennt, sind der Zugang und die Auskunft anders als bei Unbekannten. 

Als «alter Arzt», der den Nutzen von Wissen gegenüber dem des sozialen Netzwerkes abschätzen kann, schätze ich die Wichtigkeit des sozialen Netzwerkes grösser ein als die des reinen Wissens, insbesondere in einer Leitungsfunktion. 

Die grosse Frage ist, was bleibt? An was gewöhnen wir uns? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wenn soziale Kontakte nun ins Internet verlagert werden, verändert sich etwas. Ob das gut oder schlecht ist, wird sich noch zeigen. Aber ich würde meinen, um Vertrauen zu gewinnen, um einen Menschen so zu erleben, dass man genügend vertraut ist, ihn anzurufen/anzusprechen, muss man ihn wahrscheinlich persönlich gesehen haben. Eine reine Internetbeziehung zu haben langt nicht. 

«Wenn das Studium sich so gestaltet, dass Erstsemestrige sagen, sie seien noch nie in einer Vorlesung gewesen, obwohl sie seit einem Jahr studieren, ist das für mich eine Katastrophe. Das Studium dient nicht nur der Wissensvermittlung, sondern auch dem Networking, wozu persönliche Kontakte unabdingbar sind.» 

Knöpfli, 2021 

Möchtest du uns Psychologiestudierenden noch etwas auf den Weg geben? 

An psychologischen Fortbildungen treffe ich oft auf eine Vorgehensweise, bei der verschiedene psychologische Techniken besprochen werden. Es gibt ganze Kongresse über psychotherapeutische Analysen, über verhaltenstherapeutische Ansätze etc. Die Kongresse werden so geführt, dass man über ein System redet, aber nicht über die Patienten und Patientinnen. Man spricht über die Güte eines Systems, unabhängig von den zu Behandelnden. Vielleicht ist das eine Gegenbewegung zu dem, was die Medizin macht. Mediziner und Medizinerinnen beurteilen die Patienten und Patientinnen, indem sie eine Diagnostik machen und auf die Diagnostik beziehungsweise auf dem damit verbundenen «Stempel», den der Patient oder die Patientin trägt, wird die Therapie ausgerichtet. Das drehen viele Psychologen und Psychologinnen aus meiner Sicht extrem um. Eine Diagnose ist verpönt, man will nicht «stempeln» und man sieht das Ganze viel offener. Dadurch geht aber vielfach der diagnostische Ansatz verloren. Man wendet dann generelle Prinzipien auf jeden an. Man darf den Patienten als Individuum nicht vergessen. 

Ein zweiter Aspekt, den ich Psychologiestudierenden gerne auf den Weg geben würde: Wenn ein Arzt oder eine Ärztin einen Patienten betreut, dann geht er davon aus, dass er seine Informationen anderen Kollegen oder Kolleginnen im Interesse des Patienten weitergeben kann/muss. Das birgt sicher eine Datenschutzproblematik in sich. Ich meine aber, dass auch dieser Punkt in der Psychologie etwas fest verschoben ist. Das Geheimnis, das man mit dem Patienten oder der Patientin teilt, muss in der Sitzung bleiben und damit bleibt es innerhalb dieser Zweierbeziehung. Wenn man das für einen gesamtheitlicheren Aspekt von Gesundheit im Sinne einer mehr interdisziplinären Betreuung öffnen würde, würden meiner Meinung nach Patienten und Patientinnen mehr von Behandlungen profitieren; die Auflösung dieser Zweierbeziehung hinzu einer grösseren und offeneren Struktur von Betreuung und involvierten Personen wäre nützlich. 

Dr. med. Bruno Knöpfli ist seit 2011 in einer Zürcher Praxis für Kinder- und Jugend-Medizin tätig. Im Rahmen dieser Arbeit bietet er ambulante pädiatrische Grund- und Notfallversorgung an und ist in den Bereichen der pädiatrischen Pneumologie und pädiatrischen Sportmedizin tätig. Des Weiteren ist er delegierender Psychotherapeut. Dr. med. Bruno Knöpfli studierte von 1977 bis 1985 Medizin an der Universität Zürich und promovierte 1986. Er sammelte internationale Erfahrung und war unter anderem Chefarzt und Direktor der Alpinen Kinderklinik Davos. 

Das hätte ich sein sollen!

Was ist eigentlich Neid? – Innere Spannung durch unangenehme Emotion

Neid ist eine gesellschaftlich nicht sehr akzeptierte Emotion, aber was genau bedeutet Neid eigentlich und wie geht man damit um? Die verschiedenen Facetten und Subtypen wie «malicious envy» und «benign envy» werden im Folgenden beleuchtet und mit Situationsmerkmalen in Verbindung gesetzt.

Von Anna Boeker
Lektoriert von Jovana Vicanovic und Laura Trinkler
Illustriert von Anna Boeker

Neid kann als eine verbreitete Emotion beschrieben werden, die von jedem Menschen in unterschiedlichem Ausmass erlebt wird (Foster, 1972). Ob es das neue Auto des Nachbarn, die Gehaltserhöhung des Kollegen oder der tolle Urlaub der Freundin ist, fast jedem fällt ein persönliches Beispiel ein.

Im Laufe der Jahre sind verschiedene Konzeptualisierungen von Neid verwendet worden (Lange et al., 2018b). Im Wesentlichen können drei verschiedene Konzepte unterschieden werden. Die Theorie des böswilligen Neids, die Theorie des dualen Neids und die Schmerztheorie des Neids. Neuere Ansätze wie die Pain-driven Dual Envy-Theorie (Lange et al., 2018b) versuchen, alle verschiedenen Konzepte zu integrieren. Dadurch soll eine universelle Konzeptualisierung von Neid gebildet werden, die in der zukünftigen Forschung verwendet werden kann (Lange et al., 2018b). Folgende Definition wird von Lange und Kolleg*innen (2018b) vorgeschlagen: «Neid beinhaltet einen belastenden Schmerz darüber, einer anderen Person unterlegen zu sein. Er tritt entweder als gutartiger Neid auf, der mit dem Wunsch verbunden ist, sich selbst zu verbessern und der beneideten Person nachzueifern, oder als bösartiger Neid, der mit feindseligen Gedanken und Absichten verbunden ist, die darauf abzielen, dem anderen zu schaden».

Die Lücke zur anderen Person

Im Wesentlichen stimmen alle Konzeptualisierungen darin überein, dass Neid aus einem sozialen Vergleich resultiert, der eine Lücke zwischen einem selbst und einem anderen schafft (Smith et al., 2018). Die Verkleinerung dieser Lücke oder die Absicht, dies zu tun, kann als die mit dem Neid verbundene Handlungstendenz verstanden werden (Smith et al., 2018).

Neid – gut oder böse?

Neid entsteht bei einem Vergleich, wenn das Gefühl aufkommt, dass eine andere Person besser dran ist als die Person selbst (Lange et al., 2018b). Die anschliessende Reaktion beziehungsweise Handlungstendenz kann sich unterscheiden (Lange et al., 2018b). Gutartiger Neid (benign envy) und bösartiger Neid (malicious envy) sind Begriffe, die in der Vergangenheit verwendet wurden, um verschiedene Formen von Neid zu unterscheiden (Van de Ven, 2016). Diese Unterscheidung basiert auf Arnolds (1960) Idee, dass Emotionen gefühlte Handlungstendenzen sind. Gutartiger Neid wird verwendet, um die Motivation zur Verbesserung der eigenen Position zu beschreiben (Van de Ven, 2016). Im Gegensatz dazu ist bösartiger Neid die Motivation, die andere Person herunterzuziehen (Van de Ven, 2016).

«Wir beneiden diejenigen, deren Errungenschaften und erfolgreiche Bemühungen uns ein Vorwurf sind.»

Aristoteles, ca. 340 v. Chr./1932, S. 128

Gutartiger und bösartiger Neid sind beides unangenehme und frustrierende Erfahrungen, die aus der Erkenntnis entstehen, dass einem die überlegene Qualität, Leistung oder der Besitz eines anderen fehlt (Van de Ven, 2016). Gutartiger Neid führt jedoch zu der Motivation, das begehrte Objekt auch für sich selbst zu gewinnen, während bösartiger Neid zu dem Wunsch führt, dass die andere Person es verliert (Van de Ven, 2016). So ist bösartiger Neid durch Gedanken wie «ich hätte es sein sollen» gekennzeichnet, während für gutartigen Neid eher Gedanken wie «ich hätte es sein können» charakteristisch sind (van de Ven, 2009).

Einflussfaktoren

Neid ist eine Emotion, die mit negativen Selbsteinschätzungen und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden ist (Parrott & Smith, 1993). Dieser negative Anteil oder der Schmerz bei Neid wurde in verschiedenen Studien übereinstimmend festgestellt (Lange et al., 2018a). Die Wahrnehmung, wie verdient eine Situation ist, sowie die wahrgenommene Kontrolle, scheinen zentrale Faktoren für die Beurteilung von Neid zu sein (van de Ven, 2009). Je unverdienter eine Situation wahrgenommen wird, desto stärker tritt bösartiger Neid auf (van de Ven, 2009).

Damit Neid entsteht, muss die Situation einen persönlichen Bezug zur Person haben (Salovey & Rodin, 1991). Die Emotion kommt auf, wenn die Person das Gefühl hat, dass wichtige Ziele und ihr Selbstwertgefühl bedroht sind (Salovey & Rodin, 1991). Fliegt eine Milliardärin in einen paradiesischen Urlaub, wird eine Person mit Flugangst wahrscheinlich nicht so neidisch sein, wie wenn seine Arbeitskollegin eine Gehaltserhöhung bekommt, die von ihr selbst schon lang erhofft wird.

Ergebnis

Neid kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen mit sich bringen (Lange et al., 2018a). Als negative Auswirkungen werden beispielsweise Feindseligkeit, Schadenfreude, Besessenheit und schlechte emotionale Regulation genannt. Im Gegensatz dazu werden auch Bewunderung, allgemeine positive Gedanken bezüglich der Erfolge von anderen sowie erhöhte Leistungen mit Neid assoziiert (Lange et al., 2018a). Schliesslich ist es wichtig zu bedenken, dass «die Definition der Erwünschtheit [des Neids] nicht absolut ist» (Smith et al., 2017, S. 24). Die Handlungstendenzen, die mit der Emotion einhergehen, machen Neid zu einem sehr komplexen und spannenden Thema.

Unterschiede zu anderen Emotionen

Besonders in der Alltagssprache werden Neid und Eifersucht häufig verwechselt. Jedoch unterscheiden sie sich nicht nur in den auslösenden Situationen, sondern auch im emotionalen Erleben (Parrott & Smith, 1993). Eifersucht beschreibt die Angst, eine Beziehung zu verlieren, die man bereits hat. Sie wird häufig im Kontext von romantischen Beziehungen untersucht (Parrott & Smith, 1993).

Van de Ven (2017) versucht, zwischen gutartigem Neid und Bewunderung zu unterscheiden. Es scheint, dass ein Hauptunterschied darin besteht, dass Neid als unangenehm und frustrierend empfunden wird, während Bewunderung ein angenehmes Gefühl ist. Bei Bewunderung zeigt sich zudem eine geringere Tendenz, sich selbst zu verändern oder zu verbessern, wie dies bei gutartigem Neid der Fall ist (Van de Ven, 2017).

Interkulturelle Unterschiede im Verständnis von Neid bilden sich bereits in der Sprache ab. So wird malicious envy im Deutschen auch mit Missgunst verglichen. Neid von anderen Emotionen zu unterscheiden ist entsprechend häufig nicht einfach.

Im Alltag gilt es erst einmal, die Emotion bei sich selbst überhaupt als solche zu erkennen und vor allem wahrzunehmen, was sie mit uns und unserem Umfeld macht (Smith et. al, 2017). Als eine sozial eher wenig akzeptierte Emotion fällt es vielleicht schwer, sich den eigenen Neid einzugestehen oder auch als Wurzel anderer Emotionen zu erfassen. Effektive Mechanismen zum Umgang mit Neid, beispielsweise auch im Unternehmenskontext, bleiben aktuell in der Literatur und Forschung noch eher aussen vor. Gedanken zur Umstrukturierung der Situation und dem Kontext scheinen einen alltäglichen Weg darzustellen (Smith et. al, 2017). Versucht ein kleiner Junge lange einen schönen reifen Apfel vom Baum zu erreichen, nur um dann ansehen zu müssen, wie sein grösserer Bruder ihn mit Leichtigkeit erreicht, pflückt und selbst isst, könnte das zu einer Umstrukturierung führen. In diesem Beispiel würden dem Jungen vielleicht Gedanken wie «eigentlich wollte ich den Apfel gar nicht so dringend haben» oder «der Apfel schmeckt sicher eh nicht» durch den Kopf gehen.

Kurzfristig lässt sich so vielleicht der emotionale Zustand dämpfen (Smith et. al, 2017). Aber wie kann Neid sonst reguliert werden? Offene Kommunikation und Förderung der emotionalen Intelligenz sind Vorschläge für den Unternehmenskontext. Ob die Emotion überhaupt reguliert oder beeinflusst werden sollte, bleibt aber weiterhin offen. Denn wie erwünscht Neid schlussendlich ist, ist eben nicht absolut (Smith et. al, 2017).


Zum Weiterlesen

Arnold, M. B. (1960). Emotion and personality. Columbia University Press.

van de Ven, N., Zeelenberg, M., & Pieters, R. (2009). Leveling up and down: The experiences of benign and malicious envy. Emotion, 9(3), 419–429. https://doi.org/10.1037/a0015669

Literatur

Aristotle (1932). Rhetoric. In L. Cooper (Ed.), The rhetoric of Aristotle. An expanded translation with supplementary examples for students of composition and public speaking(Book 2, Chap. 10). Prentice-Hall. (Original work published c. 340 B.c.)

Arnold, M. B. (1960). Emotion and personality. Columbia University Press.

Foster, G. M., Apthorpe, R. J., Bernard, H. R., Bock, B., Brogger, J., Brown, J. K., Cappannari, S. C., Cuisenier, J., D’Andrade, R. G., Faris, J., Freeman, S. T., Kolenda, P., MacCoby, M., Messing, S. D., Moreno-Navarro, I., Paddock, J., Reynolds, H. R., Ritchie, J. H., St. Erlich, V., Saviahinsky, J. S., Seddon, J. D., Utley, F. L., & Blyth Whiting, B. (1972). The anatomy of envy: A study in symbolic behavior [and       comments and reply]. Current Anthropology13(2), 165-202.

Lange, J., Blatz, L., & Crusius, J. (2018a). Dispositional envy: A conceptual review. In V. Zeigler-Hill & T. K. Shackelford (Eds.) SAGE Handbook of personality and individual differences.SAGE.

Lange, J., Weidman, A. C., & Crusius, J. (2018b). The painful duality of envy: Evidence

for an integrative theory and a meta-analysis on the relation of envy and schadenfreude. Journal of Personality and Social Psychology114(4), 572-598. https://doi.org/10.1037/pspi0000118

Parrott, W. G., & Smith, R. H. (1993). Distinguishing the experiences of envy and

jealousy. Journal of Personality and Social Psychology64(6), 906-920.

Salovey, P., & Rodin, J. (1991). Provoking jealousy and envy: Domain relevance and self-esteem threat. Journal of Social and Clinical Psychology10(4), 395-413.

Smith, R. H., Merlone, U., & Duffy, M. K. (2017). Envy at work and in organizations. Oxford University Press.

van de Ven, N., Zeelenberg, M., & Pieters, R. (2009). Leveling up and down: the experiences of benign and malicious envy. Emotion (Washington, D.C.), 9(3), 419–429. https://doi.org/10.1037/a0015669

Van de Ven, N. (2016). Envy and its consequences: Why it is useful to distinguish

between benign and malicious envy. Social and Personality Psychology Compass10(6), 337-349.

Van de Ven, N. (2017). Envy and admiration: Emotion and motivation following upward social comparison. Journal of Cognition and Emotion31(1), 193-200.