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Nie gut genug

Alle werden meine Unfähigkeiten sehen. Ich bin ein*e Hochstapler*in. Das Impostor-Syndrom und dessen Verbindung zum Perfektionismus unter der Lupe.
Illustration einer Blume, die durch Beton wächst
Bilder: Paraskevi Chrysopoulidou

Das Impostor-Syndrom zeichnet sich durch das Gefühl aus, trotz Erfolgen betrügerisch zu sein. Perfektionist*innen setzen hohe Standards und folgen sich selbst auferlegten oder gesellschaftlich vorgeschriebenen Erwartungen. Bei beiden Phänomenen geht es um Selbstzweifel und Angst vor dem Ungenügen.

M enschen, die beruflichen Erfolg nicht auf die eigenen Fähigkeiten, sondern auf übermässige Anstrengungen oder glückliche äussere Umstände zurückführen, fürchten, dass sie eines Tages als Hochstapler*in entlarvt werden, sobald ihre vermeintliche Inkompetenz nicht länger verborgen werden kann (Pannhausen et al., 2022). Durch das Anstreben extrem hoher Standards ist das Impostor-Syndrom eng mit dem Perfektionismus verbunden (Pannhausen et al., 2022). Perfektionismus ist das Festhalten an übertriebenen und exzessiv hohen Standards und das intensive Bedürfnis, fehlerlos zu sein (Flett & Hewitt, 2004). Es ist das Streben nach Exzellenz auf höchstem Niveau. Personen mit perfektionistischer Tendenz neigen dazu, sich selbst unter Druck zu setzen, weil sie glauben, dass sie in der Lage sein sollten, das Unmögliche zu erreichen ​(Hess, 1994)​. Infolgedessen steht Perfektionismus in Verbindung mit Gefühlen des Versagens, Ängsten und Depressionen (Choudhary et al., 2023). Je mehr der Fokus auf den eigenen Perfektionismus gelegt wird, desto stärker kann das Gefühl entstehen, für andere nicht genug zu sein, was möglicherweise zu Einsamkeit führen kann (Shafiq et al., 2024).

Ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung (Meier, 2023) thematisiert den Perfektionismus in der Kunst. Die berühmte Schweizer Uhrmacherkunst widmet sich jenem Phänomen, das die Vergänglichkeit von allem symbolisiert – der Zeit. Schönheit wird oft mit Vergänglichkeit verbunden, während der Perfektionismus eher auf Effizienz und Funktionalität setzt. Die Ausstellung «Perfectly Imperfect» des Winterthurer Gewerbemuseums präsentiert Beispiele von fehlerhaften Waren und Produkten, betont die Faszination für solche Unvollkommenheiten und verdeutlicht, wie wenig es braucht, um das Konzept der Normalität infrage zu stellen. In der japanischen Kunst des Kintsugi werden zerbrochene Gegenstände mit Goldlack repariert, um ihre Schönheit zu betonen. Sogar in der westlichen Kultur können Makel und Defekte als wertvoll angesehen werden, wie im Trend von Vintage-Mode und Shabby Chic.

Perfektionist*in gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber anderen

Perfektionist*innen neigen dazu, strenge Massstäbe bei sich selbst und bei anderen anzuwenden (Shafiq et al., 2024). Flett und Hewitt (1991) haben ein mehrdimensionales Modell des Perfektionismus vorgeschlagen, das aus selbstbezogenem, fremdbezogenem und sozial vorgeschriebenem Perfektionismus besteht. Nach diesem Modell bedeutet der selbstbezogene Perfektionismus, dass hohe Ansprüche an sich selbst gestellt werden und die eigene Leistung streng bewertet wird. Dieser beinhaltet auch einen motivationalen Aspekt, der sich darin zeigt, dass der Einzelne danach strebt, sich von Misserfolgen fernzuhalten und Perfektion in seinen Bestrebungen zu erreichen (Ruiz-Esteban et al., 2021). Fremdorientierter Perfektionismus bezieht sich darauf, von anderen zu verlangen, perfekt und ideal zu sein, und deren Verhalten kritisch zu bewerten. Es ist die Dimension des Perfektionismus, die nach aussen gerichtet ist (Flett & Hewitt, 2004). Der sozial vorgeschriebene Perfektionismus kann als die Überzeugung der Person erklärt werden, dass andere von ihr verlangen, perfekt zu sein und ideale Ziele für sie haben. Darüber hinaus haben solche Personen auch das Bedürfnis, die Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer zu gewinnen (Flett & Hewitt, 2004). Perfektionismus ist ein mehrdimensionales Persönlichkeitsmerkmal mit sowohl intrapersonellen als auch interpersonellen Komponenten.

Lee et al. (2024) definieren den intrapersonellen Perfektionismus als die dispositionelle Tendenz, perfektionistische Erwartungen an sich selbst zu stellen. Diese Form des Perfektionismus besagt, dass die Motivation, perfekt zu sein, selbstgesteuert ist. Allerdings legt die Studie von Lee et al. (2024) nahe, dass der intrapersonelle Perfektionismus das Funktionieren ausserhalb des Selbst beeinflussen kann. Zum Beispiel kann das Bestreben nach Höchstleistungen gelegentlich zu Beeinträchtigungen in sozialen Beziehungen und im Wohlbefinden führen (Hess, 2020).

Diese Auswirkungen von Perfektionismus zu akademischen Leistungen haben Blackburn et al. (2024) bei Studierenden untersucht. Sie haben herausgefunden, dass der selbstbezogene Perfektionismus positiv mit akademischen Leistungen verbunden ist, während der sozial vorgeschriebene Perfektionismus eine negative Verbindung aufweist (Blackburn et al., 2024).

«Im Gegensatz zur Annahme, dass perfektionistische Studierende aufgrund ihres Perfektionismus erfolgreich sind, ist es wahrscheinlich, dass sie trotz dieses Perfektionismus akademisch erfolgreich sind.»

Blackburn et al., 2024, S.8

Choi et al. (2024) ergänzen diese Erkenntnisse durch ihre Untersuchung der drei Typen von Perfektionismus. Die Teilnehmenden in ihrer Studie haben sich kurze Filmausschnitte mit Beinahe-Unfällen im Strassenverkehr angesehen. Sie sollten sich in die Rolle der Fahrenden in den Filmen versetzen und ihre eigene Schuld und die Schuld der anderen Fahrenden einschätzen. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass Personen mit einem hohen Mass an sozial vorgeschriebenem Perfektionismus und einem niedrigen Mass an fremdbestimmtem Perfektionismus eher zu Selbstvorwürfen neigen. Darüber hinaus neigen Personen mit einem hohen Mass an fremdbestimmtem Perfektionismus dazu, anderen mehr Schuld zu geben (Choi et al., 2024). Diese Ergebnisse bestätigen frühere Forschung und zeigen, dass Perfektionismus nicht nur mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbst- oder Fremdbeschuldigung verbunden ist, sondern auch als akute Reaktion auf bestimmte Situationen, einschliesslich solcher beim Autofahren (Choi et al., 2024). Somit zeigt sich Perfektionismus als vielschichtiges Phänomen mit Auswirkungen auf verschiedene Aspekte des individuellen und sozialen Lebens.

Wurzeln des Perfektionismus

Ge et al. (2023) deuten darauf hin, dass das elterliche Bindungsverhalten, wie zum Beispiel die Überbehütung und die Fürsorge, wichtige Prädiktoren für den sozial vorgeschriebenen Perfektionismus sind. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass das Ausmass der mütterlichen und väterlichen Überbehütung und Fürsorge den sozial vorgeschriebenen Perfektionismus bei jungen Männern und Frauen vorhersagen könnte. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass das Ausmass des sozial vorgeschriebenen Perfektionismus bei Frauen durch die wahrgenommene väterliche Überbehütung positiv und durch die väterliche Fürsorge negativ vorhergesagt wurde, nicht aber durch die wahrgenommene mütterliche Überbehütung oder Fürsorge. Im Gegensatz dazu wurde das Ausmass des sozial vorgeschriebenen Perfektionismus bei Männern positiv durch die wahrgenommene mütterliche Überbehütung und negativ durch die mütterliche Fürsorge, nicht aber durch die wahrgenommene väterliche Überbehütung oder Fürsorge vorhergesagt (Ge et al., 2023). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass geschlechtsspezifische elterliche Verhaltensweisen die Entwicklung von sozial vorgeschriebenem Perfektionismus beeinflussen.

Ist Perfektionismus heilbar?

Es hat sich gezeigt, dass die kognitive Verhaltenstherapie eine wirksame Behandlung für Perfektionismus ist (Hess, 2020). Neben dem Wissenserwerb und der weitreichenden Widerlegung dysfunktionaler Überzeugungen, beispielsweise durch das Testen von Vorhersagen im realen Leben, legen die Autor*innen Wert darauf, sich emotionalen Reizen auszusetzen und Achtsamkeit zu nutzen. Dies dient dazu, die Perspektive in Bezug auf Gedanken, die starke Emotionen hervorrufen, zu verändern (Hess, 2020). Perfektionist*innen neigen dazu, sich übermässig um ihre Leistung und die Art und Weise, wie sie von anderen wahrgenommen werden, zu sorgen (Hess, 2020). Die Autor*innen stellen zudem fest, dass dies tendenziell zu unflexiblen Standards, kognitiven Verzerrungen und leistungsbezogenen Verhaltensweisen führt. Hoiles et al. (2022) betonen ebenfalls die signifikante Verringerung von Perfektionismus und psychologischen Symptomen durch kognitive Verhaltenstherapie. Aktuelle Studien zeigen zudem, dass kognitive Verhaltenstherapie erfolgreich über das Internet durchgeführt werden kann (Hess, 2020). Dies ist besonders relevant, da Perfektionismus nicht zwangsläufig klinische Aufmerksamkeit erfordert. Internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie könnte daher eine wirksame Behandlungsmöglichkeit darstellen (Hess, 2020). Auch wenn diese Therapieform nicht für jeden Mensch geeignet ist, könnte sie als erste, geografisch unabhängige Option in einem umfassenden Betreuungsansatz gegen Perfektionismus dienen.

Zum Weiterlesen

  • Brown, B. (2010). The gifts of imperfection: Let go of who you think you’re supposed to be and embrace who you are. Hazelden Publishing.
  • Saltzberg, B. (2010). Beautiful oops! Workman Publishing.

Referenzen

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  • Hess, L. L. (2020). Treating perfectionism using internet-based cognitive behavior therapy: A study protocol for a randomized controlled trial comparing two types of treatment. Internet Interventions, 21, 100338. https://doi.org/10.1016/J.INVENT.2020.100338
  • Choi, D., Takeda, Y., Akamatsu, M., Kimura, M., Konishi, N., Ando, T., & Sato, T. (2024). Effect of perfectionism on self-other blame in driving situations. Personality and Individual Differences, 217, 112462. https://doi.org/10.1016/J.PAID.2023.112462
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  • ​Shafiq, B., Ali, A., & Iqbal, H. (2024). Perfectionism, mattering and loneliness in young adulthood of Generation-Z. Heliyon, 10(1), e23330. https://doi.org/10.1016/J.HELIYON.2023.E23330