Depression und Suizidalität – die Erfahrungen von Angehörigen
Über Gedanken, Gefühle und Herausforderungen im Alltag mit einem von Depression und Suizidalität betroffenen Vater.

15 von 1000 Todesfällen in der Schweiz sind Suizide. 9% der Schweizer*innen leiden an Depressionen (Bundesamt für Statistik, o.J.a, o.J.b). Davon betroffen sind auch Angehörige; zwei davon erzählen von ihren individuellen Gedanken, Ängsten und Wünschen und hoffen, damit zur Enttabuisierung der beiden Themen beizutragen.
Von Student*innen des Vereins Mindful[L] der UZH
Lektoriert von Natalie Birnbaum und Isabelle Bartholomä
Nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern auch das Leben der Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen wird durch diese Erkrankungen stark beeinträchtigt. Es ist besonders wichtig,dass diese Menschen nicht vergessen werden, sondern dass ihnen Unterstützung angeboten und ihren Herausforderungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch Angehörige sollen Hilfe bekommen und diese vor allem auch in Anspruch nehmen. (Weiterführende Informationen finden sich in der Infobox.)

Die im Folgenden dargestellten Erfahrungsberichte sind sehr individuell und sollten keinesfalls als Generalisierung für alle Betroffenen und deren Angehörige dienen. Sie sollen vielmehr einen tiefen und ehrlichen Einblick in das Erleben von Angehörigen geben.
Mehr Raum für Angehörige
Meine Jugend war stark durch die Depression meines Vaters geprägt.
Diese hat viel Raum in unserer Familie und somit auch in meinem Leben eingenommen. Es war ein sich ständig wiederholendes Auf und Ab, zu dem leider auch mehrere Suizidversuche gehörten. Der Gedanke, dass der eigene Vater nicht mehr weiterleben möchte, war hart und bei jedem weiteren Suizidversuch wurde ich schwächer, irgendwie auch wütender und ungeduldiger. Dass er dazu bereit gewesen wäre, uns mit diesem Schmerz alleine zurückzulassen, hat mich sehr verletzt und auch enttäuscht.

Die ständige Angst, es könnte wieder passieren, hat mich und mein Verhalten stark geprägt. Unbewusst habe ich mir angewöhnt, wie auf Eierschalen zu laufen. Damit wollte ich verhindern, ihn mit meinen Handlungen noch zusätzlich zu belasten oder in irgendeiner Art zu triggern. Letzteres beschreibt das Auslösen einer starken emotionalen (hauptsächlich negativen) Reaktion durch einen äusseren Einfluss (hier: meine Handlung). Diese Neigung trage ich auch heute noch in mir. Ich habe eine Erwartungshaltung entwickelt, aufgrund derer mein Herz bei jedem Anruf meiner Mutter schneller zu schlagen begann, weil ich immer das Schlimmste befürchtete. Und auch heute geschieht mir das noch ab und zu. Die Angst, es könnte wieder von vorne beginnen, begleitet mich weiterhin in meinem Leben.
Jede*r Angehörige reagiert, fühlt und verhält sich anders. Dabei gibt es kaum ein Richtig oder Falsch. Einigen Angehörigen geht es wie mir: Oft dachte ich, dass ich selbst nicht leiden und klagen darf, weil ich meinem Vater helfen und für ihn stark sein musste und dies auch selber unbedingt wollte. Dabei rückte meine eigene Belastung oft in den Hintergrund.
Was wir euch mit auf den Weg geben möchten
Bitte verwendet bei diesem Thema nicht die Begriffe Selbstmord oder Freitod, denn dies kann für Betroffene sehr verletzend sein. Selbstmord ist ein veralteter Begriff, welcher als Beurteilung der Tat verstanden wird und einen kriminellen Akt beschreibt. Der Begriff Freitod deutet auf eine selbstbestimmte Tat hin und somit auf eine freie Entscheidung. Dies ist es keinesfalls, denn suizidgefährdete Menschen befinden sich in einer Notlage, in einem Zustand extremen Leidens, aus welchem sie sich befreien wollen. Als eine freie Entscheidung kann das nicht verstanden werden (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.).
Die Mehrheit aller Suizidhandlungen sind Impulshandlungen, da der momentane seelische Schmerz nicht ausgehalten werden kann.
Suizidabsichten konnten bei 68 – 80 Prozent der Patient*innen in weniger als 2 Tagen; bei 90 – 99 Prozent in weniger als 10 Tagen in der Klinik behandelt werden (Bronisch & Hegerl, 2011).

Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein für die Herausforderungen, mit denen die Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen zu kämpfen haben, in unserer Gesellschaft mehr Platz findet und vor allem auch bei den Betroffenen selbst vorhanden ist. Es ist völlig in Ordnung, manchmal nicht mehr weiter zu wissen und es ist akzeptabel und sogar ausserordentlich wichtig, sich auch mal zurückzuziehen, auf sich selbst zu achten und bei Bedarf Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Mein Alltag als Suizidhinterbliebene*r

Im Alltag wird man oft mit der Frage nach seinen Eltern konfrontiert. Wenn ich sage, dass mein Papa nicht mehr lebt, kommt manchmal die Frage auf, warum man im Alter von 23 Jahren keinen Vater mehr hat. Darauf antworte ich immer ehrlich, dass er sich suizidiert hat. Oft merke ich dann schnell, dass es doch niemand so genau wissen möchte. Trotzdem antworte ich so, weil ich die Stigmatisierung und das Tabu satt bin und mit der Reaktion der Personen umgehen kann. Es ist mir egal, wie sich die andere Person mit meiner Antwort fühlt, denn ich fühle mich auch nicht gut mit der Tatsache, dass sich Menschen das Leben nehmen. Dies ist aber leider die Realität. Weisst du, wie viele Personen sich das Leben in der Schweiz nehmen? Jährlich sind es etwa 1000 Personen (Bundesamt für Statistik, 2021), assistierte Suizide sind davon ausgeschlossen. Gemäss einer schweizerischen Gesundheitsbefragung kam es im Jahr 2017 zu 33´000 Suizidversuchen. Es wird von einer grossen Dunkelziffer ausgegangen (Peter & Tuch, 2019). Weiter nimmt man an, dass zwischen 18-40% der Bevölkerung im Laufe des Lebens Suizidgedanken haben (Suizidprävention Kanton Zürich, o.J.). Als Reaktion auf meine Geschichte wird mir überraschend oft entgegnet, dass mein Gegenüber eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Dies zeigt sich auch in den Zahlen der WHO, welche davon ausgeht, dass bei jeder suizidierten Person durchschnittlich 5-7 Angehörige von den Folgen mitbetroffen sind (AGUS e.V., o.J.). Angehörige haben nach dem Tod eines suizidierten Familienmitglieds ein signifikant höheres Risiko, selber psychisch zu erkranken. Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder die eigene Suizidalität sind einige Beispiele von häufigen psychischen Erkrankungen von Angehörigen (Wagner et al., 2021).
« And maybe I put everything I have
Student*in des Vereins Mindful[L] der UZH, 2021
into helping others
because at the end of the day-
I don’t know how to help myself.
Self-prescription medicine doesn’t seem to help
So what can I really do
He said he marvels at my strive to help others
He said that’s the best character a person can have
And I smile and take the compliment
But I feel no pride, no satisfaction
I know I wouldn’t do it if I wasn’t just like them
I know I wouldn’t do it if I could heal myself
I know I wouldn’t do it if I didn’t need to be needed.
This is the only way I know to help myself
I do this because keeping others alive –
keeps me alive.»
Neben der Trauer haben Angehörige auch mit einer starken Stigmatisierung zu kämpfen. Sei es nun der Arbeitgeber, dem man sich anvertraut und der einem nachfolgend keine Belastung zumutet oder die Kaderposition, welche man nicht bekommt, weil man in Therapie ist oder war. Es fühlt sich für mich wie eine Doppelstigmatisierung an, weil ich Hilfe in Anspruch genommen habe.

Etwas Gutes habe ich aber aus der Erfahrung gelernt. Ich habe Bewusstsein für die Tatsache entwickelt, dass die Zeit, welche ich zur Verfügung habe, ein Ablaufdatum hat. Ich habe mich schon sehr früh mit der Frage auseinandergesetzt, wer ich sein und was ich werden will und tue dies auch heute noch.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich (mindestens) so oft an meinen toten Vater wie an meine Mutter denke, werde ich sehr selten nach meinem Vater gefragt. Meine Tanten und Onkel fragen mich oft nach meiner Mutter, aber nur selten nach meinem Vater. Genau darum ist es mir unglaublich wichtig, das Thema zu entstigmatisieren. Ich will gefragt werden, wie es mir mit meinem Papa geht. Ich will Geschichten über ihn hören, denn mein Papa ist so viel mehr als nur sein Suizid. Ich will nicht behandelt werden, als wäre ich in Watte gepackt, als hätte ich keinen Vater oder als hätten meine Verwandten ihn nie gekannt. Denn ich habe einen Papa, einfach einen toten. Ich will dir auch sagen können, dass ich mich grad schlecht fühle, weil ich meinen Papa vermisse und ich möchte, dass du damit umgehen kannst. Und ich möchte, dass alle, welche mein Schicksal teilen, auch die Möglichkeit haben, nach ihren Gefühlen gefragt zu werden, eine Therapie machen und fröhlich sein zu dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden.
Zum Weiterlesen
Hilfestellen
- Notfalladressen findest du hier: https://www.nightline.ch/public/de/start/ oder hier: https://www.143.ch/
- Die Suizidprävention Kanton Zürich bietet Hilfestellungen rund um das Thema Suizidprävention: https://www.suizidpraevention-zh.ch/jemanden-durch-suizid-verloren/erwachsene/das-wichtigste-in-kuerze/das-muessen-sie-wissen/
- Verein Refugium ist ein Verein für Menschen, die einen Menschen durch Suizid verloren haben: https://www.verein-refugium.ch/
- Eine Gruppe namens Nebelmeer für junge Erwachsene, die einen Elternteil oder ein Geschwister durch Suizid verloren haben: https://nebelmeer.net/
- Verein trauernetz: Neben der Förderung der nebelmeer-Gruppen bietet trauernetz Beratung, Vernetzung und Schulung für Fachpersonen zum Thema Nachsorge nach Suizid: www.trauernetz.ch
Mehr zum Thema Depression, Suizidalität und den Umgang von Angehörigen mit diesen Themen
- Informationsbroschüren für Angehörige
https://www.angehoerige.ch/angebote-fuer-angehoerige/information-fuer-angehoerige - Informationsbroschüre für Betroffene und Angehörige BAG
- VASK Schweiz
- Was Angehörige für sich tun können – PRO MENTE SANA Ratgeber
https://www.rheinleben.ch/assets/uploads/files/Beratung/Angeho%CC%88rigen-Selbsthilfe/PMS_Angehoerige_neu.pdf
Literatur
AGUS e.V. (o.J.). Angehörige nach Suizid. https://www.agus-selbsthilfe.de/info-zu-suizid/tod-durch-suizid/angehoerige-nach-suizid/
Bronisch, T. & Hegerl, U. (2011). Suizidalität. In H.-J. Möller et al. (Eds.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (4th ed., pp. 2659-2691). Springer.
Bundesamt für Statistik. (2021). Suizidmethoden nach Geschlecht. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.assetdetail.19444410.html
Bundesamt für Statistik. (o.J.). Spezifische Todesursachen. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html
Bundesamt für Statistik. (o.J.). Psychische Gesundheit. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/psychische.html#par_headline_1677393895
Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung. Obsan Bulletin 7. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_bulletin_2019-07_d_0.pdf
Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Suizid oder Selbstmord? Warum wir von Suizid und nicht von Selbstmord sprechen. https://www.suizidpraevention-zh.ch/ich-bin-in-der-krise/erwachsene/wie-kann-ich-mir-helfen/gespraechstipps/zur-wortwahl/
Suizidprävention Kanton Zürich. (o.J.). Wie häufig sind Suizide? https://www.suizidpraevention-zh.ch/mehr-wissen-ueber-suizid/einige-zahlen/wie-haeufig-sind-suizide/
Wagner, B., Hofmann, L., & Grafiadeli, R. (2021). Wirksamkeit von Interventionen für Hinterbliebene nach einem Suizid: Ein Systematischer Review. Psychiatrische Praxis, 48(01), 9–18. https://doi.org/10.1055/a-1182-2821