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Winter is coming

Saisonal abhängige affektive Störungen

Saisonal abhängige affektive Störungen gehen mit mehreren Besonderheiten einher. Beispielsweise sind die Symptome nicht mit der einer depressiven Störung kongruent und die Behandlung findet meist ohne Medikamenteneinnahme statt. Ein kompakter Überblick.

Von Sebastian Junghans
Lektoriert von Berit Barthelmes und Norzin Bhusetshang
Illustriert von Janice Lienhard

Auf dem Fussweg vom Bahnhof Oerlikon zum Psychologischen Institut in Zürich gibt es nicht viel zu sehen, bis auf eine Menge Grau. Man verlässt die betonlastige Bahnhofsunterführung, kreuzt eilig die Tramtrassen, nur um dann wieder in einem zum Institut führenden grauen Tunnel zu verschwinden. Der Zürcher Winter, geprägt vom wolkenbedeckten Himmel und unangenehmen Temperaturen, verstärkt die Wahrnehmung dieses Grau(en)s zusätzlich. Umso mehr geniesst man die Momente, in denen einige Sonnenstrahlen den Weg durch die Wolkendecke finden und das Grau kurzweilig zu vertreiben mögen. Es ist faszinierend, wie etwas Licht einen so hastigen Ort kurz innehalten lässt und den Passanten sichtlich Freude bereitet. Doch woran liegt diese saisonal abhängige Sehnsucht nach der Sonne und nach Licht?

Saisonale Gegebenheiten

Menschen sind in ihrer Stimmung und in ihrem Verhalten von saisonalen Gegebenheiten abhängig (Wehr & Rosenthal, 1989 in Magnusson & Boivin, 2003). Vielleicht merkt es manch eine oder einer bei sich selbst: Im Winter fällt das Aufstehen etwas schwerer, die Stimmung ist gedrückt und man würde am liebsten den ganzen Tag zuhause verbringen. Während solche Empfindungen unter Stimmungsschwankungen einzuordnen wären, gibt es Menschen, die stärker von saisonalen Gegebenheiten beeinflusst werden und vor allem im Winter an einer depressiven Symptomatik leiden.

1984 definierten Rosenthal und Kollegen seasonal affective disorders,oder zu Deutsch saisonal abhängige affektive Störungen, als ein Krankheitsbild, das sich durch jährliche zur gleichen Zeit auftretende Depressionen auszeichnet. Die Kriterien zur Diagnose einer saisonal abhängigen affektiven Störung nach DSM-5 wie auch nach ICD-10 sind das regelmässige, zeitlich zusammenhängende Auftreten einer depressiven Episode und einer Jahreszeit (bspw. Winter) und einer Remission im zeitlichen Zusammenhang mit einer Jahreszeit (bspw. Frühling). Eine vollständige Remission entspricht dabei dem Verschwinden der depressiven Symptomatik. Die Diagnose kann nur gestellt werden, wenn eine saisonal gebundene depressive Episode in den letzten zwei Jahren aufgetreten ist und in diesem Zeitraum keine nicht saisonal gebundenen depressiven Episoden vorgekommen sind. Zudem gibt es die Bedingung, dass die Patient*innen in ihrer Lebensgeschichte häufiger saisonal abhängige depressive Episoden als nicht saisonal abhängige depressive Episoden erlebt haben (Gründer, o. D.).

Neuere Untersuchung

Eine neuere Studie aus dem Jahr 2009 von Brancaleoni und Kollegen verglich Studierende aus Italien und Norwegen, um erneut die Hypothese der Prävalenz des positiven Zusammenhangs der Winterdepression mit dem Breitengrad zu testen. Die Resultate sprachen für eine Verwerfung der Hypothese, weil die Unterschiede zwischen den Gruppen gering waren. Zur Überprüfung wäre eine Replikationsstudie mit italienischen Studierenden, die in Norwegen studieren, sinnvoll. Der Vergleich mit ihren Landsleuten in der Heimat könnte mögliche Unterschiede aufdecken.

Verlauf und Symptome

Die meisten Betroffenen beginnen im Herbst oder frühen Winter Symptome zu entwickeln. Dazu gehören Symptome, die auch bei Depressionen auftreten, wie gedrückte Stimmung, Interessensverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, Energielosigkeit und Müdigkeit. Zudem zeigen Betroffene sogenannte atypische Symptome. Darunter fallen Hypersomnie, vermehrter Appetit, vor allem auf kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Süssigkeiten, Gewichtszunahme, erhöhte Reizbarkeit und ein Schweregefühl, bei dem die Extremitäten als «schwer wie Blei» empfunden werden. Im Frühling oder Sommer remittieren diese Symptome und treten erst wieder im nächsten Herbst oder Winter auf.

Therapie

Saisonal abhängige affektive Störungen werden üblicherweise mit einer Lichttherapie behandelt (Magnusson & Boivin, 2003). Die Lichttherapie führt bei rund 80 Prozent der Patient*innen zur Remission. Bei der Therapie setzen sich Patient*innen vor eine spezielle Lampe, welche mit einer Lichtstärke von 2’500 bis 10‘000 Lux strahlt. Dies entspricht einer 5- bis 20-mal grösseren Lichtmenge als bei einer normalen Raumbeleuchtung. Patient*innen setzen sich 60-80 cm vom Lichttherapiegerät entfernt hin, das sich auf Augenhöhe befinden sollte. Bei Geräten mit 10’000 Lux wird empfohlen, sich 30 Minuten vor das Gerät zu setzen, wobei diese Dauer mit sinkender Luxzahl steigt. Dabei ist es nicht nötig direkt in das Gerät zu schauen, ein Blick alle Minute genügt, die restliche Zeit kann mit Lesen, Schreiben oder Arbeiten verbracht werden (Konstantinidis et al., 2003).

Die antidepressive Wirkung der Lichttherapie setzt nach 3 bis 4 Tagen ein – einiges schneller als bei der Einnahme von Antidepressiva. Dennoch kann es angebracht sein, Patient*innen medikamentös zu behandeln, wenn die Lichttherapie nicht wirkt.

Nach oben?

In der breiten Bevölkerung herrscht die Annahme, dass Winterdepression vor allem Bewohner*innen nördlicher Länder, wie Finnland, Norwegen oder Kanada, betrifft. Dies beruht wiederum auf der Annahme, dass die Winterdepression auf mangelndes Licht zurückzuführen sei. Festzuhalten ist: Je nördlicher die Koordinate, desto kürzer wird die Dauer zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang im Winter. Die Dauer betrug beispielsweise am 21. Dezember letzten Jahres in Helsinki 5 Stunden und 48 Minuten (Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Zeiten Helsinki, Dezember 2021, o. D.), während sie in Zürich 8 Stunden und 26 Minuten betrug (Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Zeiten Zürich, Dezember 2021, o. D.).

Zur Überprüfung der Hypothese, dass die Prävalenz einer Winterdepression mit nördlicheren Breitengraden steigt, wurden viele Studien durchgeführt, welche allerdings unterschiedliche Resultate hervorbrachten. Die Literatur gibt Anlass dazu, die Hypothese neu zu formulieren. In den Studien (z. B. Magnusson & Axelsson, 1993) war die Prävalenz für verschiedene Gruppen unterschiedlich. Zwischen 1870 und 1914 emigrierten rund 20‘000 Isländer*innen nach Nordamerika. Magnusson & Axelsson (1993) fanden dabei einen Ort in Kanada an dem 600 Nachfahren dieser Emigrant*innen lebten. Davon nahmen 250 an ihrer Befragung teil. Die Prävalenz für Winterdepressionen war in dieser Population signifikant geringer als bei Stichproben aus südlich gelegeneren Orten, wie New York, Maryland oder New Hampshire. Komplett verworfen werden sollte die Hypothese allerdings nicht: In einer isländischen Stichprobe wurden höhere Prävalenzen festgestellt als in der kanadisch-isländischen Stichprobe. Dies spricht für einen Einfluss des Breitengrades – allerdings nur zwischen sich ähnlichen Stichproben. Die Stichprobe aus Florida hatte die niedrigste Prävalenz aller untersuchter Orte. Magnusson und Axelsson (1993) interpretieren ihre Resultate so, dass der Breitengrad einen Einfluss auf die Prävalenz von saisonal abhängigen affektiven Störungen hat und dies innerhalb genetisch ähnlicher Populationen.

«The finding that the prevalence of combined SAD and S-SAD [subsyndromal seasonal affective disorder] was significantly lower in the Interlake district than in Iceland lends support to the hypotheses that prevalence rates of SAD and S-SAD are influenced by latitude within genetically similar populations.»

Magnusson & Axelsson, 1193, S. 951

Bei Verwandten ersten Grades von Betroffenen wurde ein erhöhtes Vorkommen von saisonal abhängigen affektiven Störungen gefunden (Enoch & Goldman, 2001). Dies spricht zusätzlich für die These, dass die Wahrscheinlichkeit eine saisonal abhängige affektive Störung zu bekommen, genetisch beeinflusst wird.

Frauen leiden häufiger an saisonal abhängigen affektiven Störungen als Männer. Die Erkrankung häuft sich nach der Pubertät (Swedo et al., 1995) und nimmt mit höherem Alter wieder ab (Eagles, 2001). In einer grossen deutschsprachigen Stichprobe (N = 610) lag das Durchschnittalter der Patient*innen bei rund 40 Jahren. Die Diagnosestellung fand durchschnittlich erst 11 Jahre nach der ersten depressiven Episode statt (Winkler et al., 2002).


Zum Weiterlesen

Magnusson, A. & Axelsson, J. (1993). The prevalence of seasonal affective disorder is low among descendants of Icelandic emigrants in Canada. Archives of General Psychiatry, 50(12), 947. https://doi.org/10.1001/archpsyc.1993.01820240031004

Magnusson, A. & Boivin, D. (2003). Seasonal affective disorder: An overview. Chronobiology International, 20(2), 189–207. https://doi.org/10.1081/cbi-120019310

Literatur

Eagles, J. M. (2001). Sociodemographic aspects. In T. Partonen & A. Magnusson (Eds.) Seasonal affective disorder, practice and research (pp. 33-46). Oxford: Oxford University Press.

Enoch, M. A., Goldman, D. (2001). Genetic influences. In T. Partonen & A. Magnusson (Eds.) Seasonal affective disorder, practice and research (pp. 261-266). Oxford: Oxford University Press.

Konstantinidis, A., Heiden, A., Kasper, S., Pjrek, E., Stastny, J., Thierry, N., Wimmer, R. Winkler, D. (2003). Diagnose, Ätiologie und Therapie der saisonal abhängigen Depression (SAD). Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 4(4), 26-30.

Brancaleoni, G., Nikitenkova, E., Grassi, L. & Hansen, V. (2009). Seasonal affective disorder and latitude of living. Epidemiology and Psychiatric Sciences, 18(4), 336-343. https://doi.org/10.1017/s1121189x00000312

Gründer, G. (o. D.). Saisonal abhängige affektive Störung – Dorsch – Lexikon der Psychologie. dorsch.hogrefe.com. Abgerufen am 27. Januar 2022, von https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/saisonal-abhaengige-affektive-stoerung

Magnusson, A. & Axelsson, J. (1993). The prevalence of seasonal affective disorder is low among descendants of Icelandic emigrants in Canada. Archives of General Psychiatry, 50(12), 947. https://doi.org/10.1001/archpsyc.1993.01820240031004

Magnusson, A. & Boivin, D. (2003). Seasonal affective disorder: An overview. Chronobiology International, 20(2), 189-207. https://doi.org/10.1081/cbi-120019310

Rosenthal, N. E., Sack, D. A., Gillin, J. C., Lewy, A. J., Goodwin, F. K., Davenport, Y., Mueller, P. S., Newsome, D. A. & Wehr, T. A. (1984). Seasonal affective disorder. Archives of General Psychiatry, 41(1), 72-80. https://doi.org/10.1001/archpsyc.1984.01790120076010

Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Zeiten Helsinki, Dezember 2021. (o. D.). sunrise-and-sunset.com. Abgerufen am 26. Januar 2022, von https://www.sunrise-and-sunset.com/de/sun/finnland/helsinki/2021/dezember

Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Zeiten Zürich, Dezember 2021. (o. D.). sunrise-and-sunset.com. Abgerufen am 26. Januar 2022, von https://www.sunrise-and-sunset.com/de/sun/schweiz/zurich/2021/dezember

Swedo, S. E., Pleeter, J. D., Richter, D. M., Hoffmann, C. L., Allen, A. J., Hamburger, S. D., Turner, E. H., Yamada, E. M. & Rosenthal, N. E. (1995). Rates of seasonal affective disorder in children and adolescents. American Journal of Psychiatry, 152(7), 1016-1019. https://doi.org/10.1176/ajp.152.7.1016

Winkler, D., Willeit, M., Praschak-Rieder, N., Lucht, M. J., Hilger, E., Konstantinidis, A., Stastny, J., Thierry, N., Pjrek, E., Neumeister, A., Möller, H. J. & Kasper, S. (2002). Changes of clinical pattern in seasonal affective disorder (SAD) over time in a German-speaking sample. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 252(2), 54-62. https://doi.org/10.1007/s004060200012

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