Sinn(e) des Lebens
Was suchen wir als Sinn des Lebens?

Sinn im Leben scheint eine zentrale Motivation des menschlichen Lebens zu sein: Wer ihn hat, ist gelassener und glücklicher, wer ihn nicht hat, ist eher rastlos und depressiv (George & Park, 2016). Doch wie genau verstehen wir den Sinn des Lebens und was kann uns Sinn im Leben geben?
Von Marco Altorfer
Lektoriert von Isabelle Bartholomä und Berit Barthelmes
Illustriert von Katrin Grings
Was ist der Sinn des Lebens? Je nachdem, wen man fragt, erhält man in der Regel ganz unterschiedliche Antworten: Religiöse Personen antworten vielleicht «Gottes Wille erfüllen», Biolog*innen «die eigenen Gene verbreiten», Humanist*innen «eine bessere Gesellschaft erschaffen» und Science-Fiction Enthusiast*innen «42». Die Unterschiedlichkeit der Antworten deutet an, dass nur schon die Frage ganz unterschiedlich verstanden werden kann. Was sind die verschiedenen Bedeutungen vom «Sinn des Lebens» und was für Antworttypen sind möglich?
Was meinen wir mit «Sinn»?
Sinn ist im Kontext von «Sinn des Lebens» ungefähr ein Synonym für «Bedeutung» (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Im Englischen beispielsweise wird von «Meaning of Life» also «Bedeutung des Lebens» gesprochen. Dabei sind drei eng verwandte, aber doch unterschiedliche Aspekte von Sinn besonders relevant: Erstens Sinn als «Kohärenz», zweitens Sinn als «Zweckerfüllung» und drittens Sinn als «Signifikanz». Oder anders formuliert erstens als «Sinn ergeben», zweitens als «Sinn haben» und drittens als «sinnvoll sein» (die drei Formulierungen werden aber oft synonym gebraucht) (George & Park, 2016; Seachris, 2011).
«Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.»
Nietzsche, 1889, S. 54
«Sinn ergeben»
Etwas ergibt Sinn, wenn es auf die richtige Weise in ein Wissenssystem oder Theoriegebilde passt, also wenn es plausibel oder kohärent ist (Seachris, 2011). Zum Beispiel ergibt es Sinn, den Klimawandel mit einer Eindämmung von CO2-Emissionen zu bekämpfen. Auf der anderen Seite ergibt etwas keinen Sinn, wenn es keine theoretische oder empirische Grundlage hat, also wenn es nicht plausibel oder inkohärent ist (Seachris, 2011). Zum Beispiel ergibt es keinen Sinn, den Klimawandel mit Klimaanlagen zu bekämpfen. Bezüglich Sinn des Lebens wollen wir also, dass unser (oder aller) Leben kohärent in einen grösseren Wissenskontext passt (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Dieser Wissenskontext kann unter anderem religiös (z. B. biblische Lehre des Christentums), aber auch wissenschaftlich (z. B. Evolution und Urknall) geprägt sein.
«Sinn haben»
Etwas hat Sinn, wenn es einen Zweck erfüllt, beziehungsweise einem Ziel dienlich ist (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel hat mein Studium (unter anderem) den Sinn, mich zu bilden. Lerne ich im Studium aber nichts, hat es wohl (leider) keinen Sinn. Der Sinn des Lebens kann also so verstanden werden, dass wir wollen, dass unser (oder aller) Leben einen Zweck erfüllt, also dass wir etwas bewirken im Leben (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel kann ich den Zweck meines Lebens darin sehen, Gottes Wille zu befolgen oder die Welt zu verbessern.
«Alles kann einem Mann abgenommen werden, aber nur eines: die letzte der menschlichen Freiheiten – die eigene Einstellung unter den gegebenen Umständen zu wählen und den eigenen Weg zu wählen.»
Frankl, 1946, S. 75
«Sinnvoll sein»
Etwas ist sinnvoll, wenn es uns als signifikant, wichtig, bedeutungsvoll oder wertvoll erscheint (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Es geht also um eine evaluative oder wertende Perspektive. Zum Beispiel wird moralisches Handeln, wie Armen zu helfen, oft als sinnvoll angesehen. Alltägliche Dinge wie Netflix schauen hingegen nicht. Der Sinn unseres Lebens soll also etwas sein, das unser Leben zu etwas Besonderem und Wertvollen macht (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Zum Beispiel werden von vielen Personen grosse wissenschaftliche Leistungen wie die Erforschung der Radioaktivität von Marie Curie oder moralische, heroische Taten wie der Kampf gegen Unterdrückung von Gandhi und Martin Luther King als sinnvoll angesehen. Anderen Personen erscheinen kleinere Dinge als sinnvoll, wie der gute Umgang mit seinen Mitmenschen oder möglichst oft in Fortnite zu gewinnen.

Die drei Aspekte von Sinn bezüglich Sinn des Lebens können verbunden werden: Leben kann Sinn ergeben, haben und sinnvoll sein (George & Park, 2016; Seachris, 2011). Beispielsweise kann mein Leben Sinn ergeben, indem es in den Kontext einer Religion passt, Sinn haben, indem es Gottes Willen dieser Religion folgt und sinnvoll sein, indem es spezielle moralische Leistungen beinhaltet. In der Regel müssen wir alle Aspekte des Sinns des Lebens zumindest zum Teil erfüllen, um unser Leben als sinnvoll zu erachten (George & Park, 2016). Doch verstehen wir den Sinn des Lebens zwingend aus der individuellen Perspektive oder kann er auch aus einer allgemeineren gesehen werden?
Sinn im Leben oder des Lebens?
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist in der Regel eine persönliche (Metz, 2007). Es wird gefragt: «Hat mein Leben einen Sinn?». Doch unweigerlich dazu gesellt sich meist die andere, verwandte Frage: «Hat das Leben einen Sinn?». Das heisst, es wird auch gefragt, ob das Leben generell oder für irgendjemanden einen Sinn hat (Metz, 2007). Der «Lebensaspekt» im Sinne des Lebens kann als Spektrum von einer individuellen bis zu einer (völlig) universellen Sichtweise verstanden werden (Seachris, 2011). So kann sich der Lebensaspekt unter anderem auf ein Menschenleben, alle Menschenleben, alles biologische Leben oder die ganze Existenz (Sinn von «allem») beziehen. Simplifizierend wird dabei jeweils Sinn im Leben (oder Sinn meines Lebens) und Sinn des Lebens unterschieden, wobei Sinn im Leben das individuelle Leben betrachtet und Sinn des Lebens alle distanzierteren Sichtweisen (Metz, 2007; Seachris, 2011). Eine umfassende Sinntheorie, wie sie zum Beispiel die meisten Religionen geben, umfassen dabei generell beide Aspekte (Metz, 2007). Je nach Theorie sind die beiden Sinnarten unterschiedlich, gleich oder die Existenz der einen (oder beider) wird jeweils abgestritten. Theorien des Sinns des Lebens bestehen in der Regel aus Erklärungen für mehrheitlich metaphysische Fragen wie der Entstehung des Universums, Wirkungsmechanismen des Universums und Leben nach dem Tod (Seachris, 2011). Dabei gibt es religiöse und wissenschaftliche Erklärungen. Viele Religionen erklären die Entstehung des Universums durch Gott, die Wirkungsmechanismen des Universums durch Gottes Willen und das Leben nach dem Tod durch eine Seelenwanderung. Geläufige wissenschaftliche Theorien sind der Urknall für die Entstehung des Universums, Physik und Evolution für Wirkungsmechanismen des Universums und «nichts» als Leben nach dem Tod (Seachris, 2011). Bezüglich des Sinns im Leben gibt es drei Theoriefamilien, die im Folgenden vorgestellt werden.
Frankls Sinn im Konzentrationslager
Der österreichische Psychiater Viktor Frankl überlebte die Inhaftierung in Konzentrationslagern der Nazis im Zweiten Weltkrieg (Frankl, 1946). Er verarbeitete und analysierte seine Erlebnisse im Buch «… Trotzdem Ja zum Leben sagen». Darin beschreibt er, dass im Konzentrationslager nicht die physisch fittesten am längsten überlebten, sondern jene, die weiterhin einen Sinn in ihrem Leben sehen und somit das Leiden ertragen konnten. Frankl kommt zum Schluss, dass selbst wenn einem jegliche Freiheit genommen wird, man immer noch seine Einstellung zum Leben wählen kann. Somit kann Sinn in jedem Moment des Lebens gefunden werden, auch im Leiden und im Sterben (Frankl, 1946).
Nihilismus
Beginnen wir mit der pessimistischsten Theoriefamilie. Der Nihilismus behauptet, dass das Leben keinen Sinn hat oder, dass Sinn im Leben nicht erreichbar ist (Metz, 2007). Generell gehen Nihilist*innen so vor, dass sie Bedingungen für Sinn im Leben aufstellen und dann gegen diese argumentieren. So kann ein Nihilist beispielsweise die Existenz von Gott für Sinn im Leben voraussetzen, aber Atheismus vertreten (was aber eher selten ist). Die häufigste Strategie von Nihilist*innen besteht darin, objektive Werte oder moralische Standards für Sinn im Leben vorauszusetzen, aber deren Existenz oder Erreichbarkeit zu bestreiten (Metz, 2007).
Eng verwandt mit dem Nihilismus ist die Sichtweise, dass die Sinnfrage unbeantwortbar ist, entweder weil die Frage an sich ungültig (oder sinnlos) ist, da sie keine abschliessende oder befriedigende Antwort zulässt, oder weil wir nicht die kognitiven Fähigkeiten haben, sie zu beantworten (Wittgenstein, 1921).
«Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.»
Wittgenstein, 1921, S. 90
Supranaturalismus

Supranaturalistische Theorien postulieren, dass der Sinn im Leben durch übernatürliche Entitäten gegeben wird (Metz, 2007; Seachris, 2011). Dies ist grundsätzlich die Domäne der Religionen. Üblicherweise wird in Religionen von einer oder mehreren Gottheiten ausgegangen, die die Welt kreiert haben und das menschliche Zusammenleben regeln, sowie eines Lebens nach dem Tod meist in Verbindung mit einer überlebenden Seele (dies entspricht in etwa dem Sinn des Lebens). Der Sinn im Leben wird nun in der Regel in der Befolgung des Willens der Götter und im Erreichen des Nachlebens gesehen (Metz, 2007; Seachris, 2011). Ausserdem gibt es den sogenannten moderaten Supranaturalismus, deren Befürworter dafür einstehen, dass es Sinn im Leben ohne übernatürliche Entitäten geben kann, aber dass nur mit ihnen «vollständiger» oder «absoluter» Sinn erreicht werden kann (Metz, 2007).
Naturalismus
Anhänger des Naturalismus sind überzeugt, dass Sinn im «normalen» physischen Leben gefunden werden kann (Metz, 2007; Seachris, 2011). Er unterteilt sich in subjektive, objektive und hybride Theorien. Laut subjektiven Theorien kann in der Regel alles dem Leben einer Person Sinn geben, was diese Person als sinnerfüllend empfindet. Dieser Sinn kann durchaus von anderen geteilt werden, wie zum Beispiel bei der Familiengründung. Der Sinn kann aber auch höchst individuell sein, beispielsweise alle Kieselsteine auf der Welt zu zählen. Objektive Theorien hingegen postulieren, dass Sinn nur aus objektiven Werten stammen kann, das heisst Dingen, die einen inhärenten oder intrinsischen Wert haben. Häufige Beispiele sind ein moralisches Leben führen, nach Wahrheit streben oder Schönheit kreieren. Der Sinn entsteht dabei nicht dadurch, dass die eigene Lebensweise als sinnvoll empfunden wird, sondern dadurch, dass sie den objektiven Wert erfüllt. Das Problem der subjektiven Theorien ist, dass sie absurde oder auch unmoralische Lebensweisen als sinngebend erlauben. Das Problem der objektiven Theorien dagegen ist, dass es fraglich ist, ob objektive Werte existieren und dass Sinn im Leben in der Regel mit einem Sinngefühl verbunden wird. Hybride Theorien versuchen nun, die beiden Theorien zu vereinen, indem sie postulieren, dass Sinn im Leben sowohl subjektive wie auch objektive Werte benötigt. Das heisst, der sinnerfüllende objektive Wert muss von der Person auch als sinnerfüllend empfunden werden (Metz, 2007; Seachris, 2011).
Die Theorien zum Sinn im Leben versuchen zu erklären, wie unser Sinn im Leben entsteht. Was sie jedoch nicht erklären ist, wieso wir überhaupt nach Sinn im Leben streben.
«Meaning arises when subjective attraction meets objective attractiveness.»
Wolf, 1997, S. 224
Wieso brauchen wir Sinn?
Die «terror management theory» (TMT) liefert interessante Anhaltspunkte, warum wir den Wunsch nach Sinn im Leben besitzen (George & Park, 2016; Solomon et al., 2015). Die TMT postuliert, dass während der Evolution des Menschen mit dem wachsenden Intellekt das Problem vom Bewusstsein des Todes und daraus resultierender Todesfurcht („death terror“) entstand. Damit diese Todesfurcht den Menschen nicht paralysiert und handlungsunfähig macht, mussten in der Evolution kognitive Mechanismen entwickelt werden, um diese zu puffern. Die TMT geht von zwei übergreifenden Puffern aus: Ein überdauerndes kulturelles (unter anderem religiöses) Weltbild und Selbstwertgefühl. In verschiedenen Studien konnte festgestellt werden, dass Erinnerungen an den Tod zu weniger Angst führen, wenn das Vertrauen in das eigene Weltbild oder das Selbstwertgefühl gestärkt wird. Das kulturelle Weltbild hat nun eine enge Verwandtschaft mit dem Sinn des Lebens und das Selbstwertgefühl im Kontext der TMT eine enge Verwandtschaft mit dem Sinn im Leben. Unser Sinngefühl hilft uns also, Todesfurcht zu überwinden und unser Leben aktiv zu gestalten (George & Park, 2016; Solomon et al., 2015).
Zum Weiterlesen
Frankl, V. (1946). … Trotzdem Ja zum Leben sagen.
George, L. S., & Park, C. L. (2016). Meaning in Life as Comprehension, Purpose, and Mattering: Toward Integration and New Research Questions. Review of General Psychology, 20(3), 205–220. https://doi.org/10.1037/gpr0000077
Nietzsche, F. (1889). Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.
Literatur
Frankl, V. (1946). … Trotzdem Ja zum Leben sagen.
George, L. S., & Park, C. L. (2016). Meaning in Life as Comprehension, Purpose, and Mattering: Toward Integration and New Research Questions. Review of General Psychology, 20(3), 205–220. https://doi.org/10.1037/gpr0000077
Metz, T. (2007). The Meaning of Life. In E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021). Metaphysics Research Lab, Stanford University. https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/life-meaning/
Nietzsche, F. (1889). Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.
Seachris, J. (2011). Meaning of Life: Contemporary Analytic Perspectives. In Internet Encyclopedia of Philosophy. https://iep.utm.edu/mean-ana/
Solomon, S., Greenberg, J., & Pyszczynski, T. (2015). The worm at the core: On the role of death in life. Random House.
Wittgenstein, L. (1921). Tractatus logico-philosophicus.
Wolf, S. (1997). Happiness and meaning: Two aspects of the good life. Social Philosophy and Policy, 14(1), 207–225.