Kerngesund und trotzdem krank
Die Problematik und Ätiologie funktioneller somatischer Syndrome

Lässt sich für körperliche Symptome keine medizinische Ursache finden, kann dies die Betroffenen stark belasten und die Behandler*innen herausfordern. Teilweise wird dann von funktionellen somatischen Syndromen gesprochen. Doch was heisst das? Trotz Diagnosestellung bleibt die Frage: «Wenn nicht medizinisch, was dann?».
Von Julia J. Schmid
Lektoriert von Anja Blaser und Berit Barthelmes
Illustriert von Gianna Zorzini
Schmerzen sowie andere unspezifische körperliche Symptome werden von allen Menschen ab und zu erlebt und können unterschiedlich stark belasten (Nater et al., 2016). Meist sind diese Beschwerden vorübergehend und führen nicht zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des Alltags. Allerdings werden auch schwerwiegendere Symptome wie anhaltende Erschöpfungszustände berichtet, die in Verunsicherung und Angst münden können (Nater et al., 2016). Oft sind die Betroffenen überzeugt, dass diese Ausdruck einer organischen Krankheit sind und suchen daher Hilfe bei somatisch ausgebildeten Ärzt*innen in der Hoffnung, den Grund für die Beschwerden zu erfahren (Dinkel & Lahmann, 2016; Fritzsche, 2020). Schätzungsweise erhalten jedoch bis zu zwei Drittel aller Patient*innen trotz eingehender Diagnostik nie eine biomedizinische Erklärung für ihre Symptome (Nater, 2011). Solche somatischen Beschwerden, die sich mit dem aktuellen Stand der Medizin nicht begründen lassen, werden in der Primärversorgung als «medizinisch nicht erklärbar» oder als «funktionell» bezeichnet (Kroenke & Mangelsdorff, 1989).
Fast jedes Symptom kann auch ohne Krankheit auftreten, aber einige wie Müdigkeit sind eher funktionell als andere (Mayou & Farmer, 2002). Erstaunlicherweise sinkt mit der Anzahl der Symptome die Wahrscheinlichkeit, dass eine somatische Krankheit vorliegt (Mayou & Farmer, 2002). Je nach Konstellation der funktionellen somatischen Symptome lassen sich eine Reihe von Syndromen definieren (Nater, 2011). Zu den häufigsten funktionellen somatischen Syndromen (FSS) gehören das Reizdarmsyndrom, das Fibromyalgiesyndrom und das chronische Erschöpfungssyndrom (Nater, 2011). Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere in der Literatur beschriebene Syndrome wie Spannungskopfschmerzen, atypische Gesichtsschmerzen und das prämenstruelle Syndrom (Nater, 2011).
«Surprisingly, the more somatic symptoms a person has, the less likely it is that these symptoms reflect the presence of disease and the more likely there is associated depression and anxiety.»
Mayou & Farmer, 2002, S. 266
Eine ernstzunehmende Erkrankung
Die Prävalenz der FSS liegt in der Normalbevölkerung bei etwa zehn (Fischer et al., 2013) und in klinischen Stichproben bei bis zu über 50 Prozent (Henningsen et al., 2007). Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). FSS führen im selben Masse wie medizinisch erklärbare Beschwerden zu psychischen Beeinträchtigungen, einem reduzierten sozialen Funktionsniveau (u. a. reduzierte Teilnahme am Arbeitsleben) und der Verschreibung psychotroper Medikamente (Joustra et al., 2015; Kisely & Simon, 2006; Lahmann et al., 2015). Die Lebensqualität ist durchschnittlich sogar stärker beeinträchtigt als bei Patient*innen mit ähnlichen Beschwerdebildern, die auf eine organische Ursache zurückzuführen sind (Henningsen et al., 2007). Zudem liegen hohe Komorbiditätsraten mit psychischen Störungen, vor allem Angststörungen und depressiven Störungen, vor (Nater et al., 2016). Bei Patient*innen mit schweren Verläufen muss darüber hinaus das erhöhte Suizidrisiko beachtet werden (Wiborg et al., 2013).
Andere Fachrichtung, andere Diagnose
Je nach Kontext werden medizinisch nicht erklärbare körperliche Beschwerden anders bezeichnet und kategorisiert (Nater et al., 2016). Während in spezialisierten Institutionen von FSS gesprochen wird, ist im psychiatrischen und psychotherapeutischen Rahmen die Verwendung der Diagnosekategorie «Somatoforme Störungen» des DSM-IV bzw. «Somatische Belastungsstörung» des DSM-5 üblicher (Nater et al., 2016). Die Begriffe beschreiben die gleichen Krankheitsentitäten aus unterschiedlichen Sichtweisen (Mayou & Farmer, 2002; Lahmann et al., 2010). Diese Vielzahl an möglichen Bezeichnungen kann einerseits als Konsequenz der diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen sowie der noch teilweise unbekannten Ätiologie gedeutet werden (Häuser & Lempa, 2004). Anderseits werden die Diagnostik und die Therapie durch die unterschiedlichen Terminologien und diagnostischen Kriterien der beteiligten Disziplinen weiter erschwert (Häuser et al., 2004). So erhalten nur wenige Patient*innen, die die Kriterien für ein FSS erfüllen, eine entsprechende Diagnose (Kingma et al., 2013).
Hinweise auf FSS gemäss Fritzsche (2020)
- Symptome folgen nicht anatomischen oder physiologischen Mustern
- Diffuse Schilderung der Symptome
- Patient*in wirkt klagend, fordernd und anklammernd
- Durch Nachfragen weitere funktionelle Symptome feststellbar
- Häufiger Arztwechsel
- Vorliegen aktueller Belastungen oder Stress
- Vorliegen mehrerer assoziierter Faktoren (u. a. weibliches Geschlecht, psychische Störungen in der Vorgeschichte, frühere Krankheitserfahrungen in der Familie (Harvey & Wessely, 2013)
Unterdiagnostiziert
Bei den FSS handelt es sich grundsätzlich um Ausschlussdiagnosen, die erst in Betracht gezogen werden, wenn die Suche nach einer körperlichen Ursache erschöpft ist (Harvey & Wessely, 2013; Nater et al., 2016). Die Symptomatik der FSS ist sehr komplex und kann sich über die Zeit ändern, beispielsweise von Kopf- zu Rückenschmerzen (Henningsen et al., 2007). Die Störungen können schubartig auftreten und häufig bestehen Symptome verschiedener Organsysteme gleichzeitig (Berg, 2005; Henningsen et al., 2007). Oft findet sich zusätzlich eine psychische Symptomatik (Henningsen et al., 2007). Unter anderem aufgrund dieser Komplexität und Variabilität werden die FSS erst spät oder auch gar nicht diagnostiziert. Bis zur richtigen Diagnose und anschliessend adäquaten Versorgung dauert es im Durchschnitt sieben Jahre (Henningsen et al., 2007). Die Gründe für die Unterdiagnostizierung liegen aber nicht nur bei den Symptomen, sondern auch den Ärzt*innen und Patient*innen.
Schwierige Patient*innen?
Typischerweise (aber nicht ausschliesslich) gehen die Patient*innen von einer somatischen Ursache ihrer Beschwerden aus (Lahmann et al., 2010). Oft haben sie kein Bewusstsein für die Zusammenhänge mit aktuellen oder früheren psychischen und sozialen Belastungen (Fritzsche, 2020). Das Versteifen auf eine organische Ursache kann auch im Wunsch begründet sein, als Patient*in ernstgenommen zu werden (Lahmann et al., 2010). Nehmen die Behandler*innen diese somatische Sichtweise auf, so werden häufig nicht indizierte, teilweise sogar risikoreiche Untersuchungen und Therapieversuche durchgeführt, was letztlich zu langwierigen Krankheitsverläufen und einer starken psychischen Belastung führt (Lahmann et al., 2010; Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Die Enttäuschung aufgrund gehäufter fehlgeschlagener Therapieversuche kann zu Unzufriedenheit mit den aktuellen Behandler*innen und damit zu Therapieabbrüchen und Arztwechseln führen (Lahmann et al., 2010). Somit bedingen FSS eine überproportionale, dysfunktionale und kostenintensive Inanspruchnahme des Gesundheitswesens (Lahmann et al., 2010). Patient*innen mit FSS werden häufiger untersucht, stärker invasiv behandelt und verursachen mehr Kosten als die durchschnittlichen Patient*innen einer Hausarztpraxis (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003).
«Funktionelle Körperbeschwerden stellen hohe Anforderungen an die Beziehung zwischen Arzt und Patient, denn das Unerklärte will dennoch erklärt und vor allem gebessert werden.»
Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003, S. 219
«Sie haben nichts!»
Auf Seiten der Ärzt*innen kann neben mangelnder Kenntnis der Störungsbilder das Selbstverständnis der Medizin, in erster Linie lebensbedrohliche Erkrankungen auszuschliessen, die Diagnosestellung erschweren (Dinkel & Lahmann, 2016). Aber auch die Vermutung, dass FSS vorliegen, stellt die Ärzt*innen vor eine Herausforderung (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Für ein Gespräch, um zugrundeliegende psychosoziale Probleme zu erkennen, fehlt meist die Zeit sowie die Ausbildung (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Zudem können Bemühungen um eine psychosoziale Sichtweise von den Patient*innen als Stigmatisierung oder Bedrohung ihrer Identität wahrgenommen werden (Burbaum et al., 2010). Für manche Patient*innen entsteht der Eindruck von den Ärzt*innen nicht ernstgenommen zu werden oder aufgegeben worden zu sein (Harvey & Wessely, 2013; Mayou & Farmer, 2002). Werden hingegen weitere Untersuchungen durchgeführt und Medikamente verschrieben, verdienen die Behandler*innen einerseits Geld und anderseits können die akuten Beschwerden gelindert werden (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Zwar fühlen sich die Patient*innen dadurch ernstgenommen, jedoch werden die wahren Hintergründe ihres Leidens weiter verschleiert. Eine Häufung von Untersuchungen, die ergeben, dass keine medizinisch erklärbare Krankheit vorliegt, können die Patient*innen zur Überzeugung ärztlicher Unfähigkeit führen und ihre Angst verstärken (Zimmermann & Kaduszkiewicz, 2003). Eine durch Missverständnisse und gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnete Arzt-Patient-Beziehung kann die Folge sein (Nater et al., 2016).
Therapeutische Grundhaltung bei FSS gemäss Fritzsche (2020)
- Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden
- Verständnis für Hilflosigkeit, Enttäuschung und Ärger aufbringen
- Unwahrscheinlichkeit einer ernsten organischen Erkrankung benennen und dennoch somatische Ebene im Blick behalten
- Keine vorschnelle Verknüpfung von berichteten oder vermuteten psychischen Belastungen mit den körperlichen Beschwerden
- Lange Krankschreibungen, unnötige Überweisungen und Eingriffe vermeiden
Vernichtende Kritik?
Wie bereits angedeutet, ist das Phänomen medizinisch nicht erklärbarer körperlicher Beschwerden nicht unumstritten (Nater et al., 2016). So wird von manchen Forscher*innen und Praktiker*innen der Standpunkt vertreten, dass es eine Frage der Ausführlichkeit der medizinischen Abklärung oder des medizinischen Fortschrittes sei, ob Beschwerden erklärt werden können (Nater et al., 2016). Klare Ausschlusskriterien und definitorische Grenzen scheinen zu fehlen (Lahmann et al., 2010).
Werden die Symptombilder der FSS verglichen, wird deutlich, dass manche Symptome wie Müdigkeit, Schmerzen, kognitive Beeinträchtigungen und gastrointestinale Beschwerden bei fast allen Syndromen vorkommen und die Somatisierung bei allen FSS eine entscheidende Rolle spielt (Barsky & Borus, 1999; Henningsen et al., 2004). Gleichzeitig erfüllen einige Patient*innen die Kriterien für mehrere FSS (Henningsen et al., 2004). In diesem Kontext wird diskutiert, ob überhaupt von distinkten FSS ausgegangen werden kann oder ob es sich stattdessen um eine einzelne Störung handelt, die eine bestimmte Schnittmenge an Kernsymptomen aufweist (Häuser & Lempa, 2004; Wessely et al., 1999). Möglicherweise erhält die Symptomkonstellation je nach klinischem Setting und medizinischer Spezialisierung einen anderen Namen (Häuser & Lempa, 2004; Petzke, 2010). Trotz der beschriebenen Überlappung spricht die aktuelle Forschung dafür, dass die meisten funktionellen somatischen Syndrome valide und spezifisch genug sind, um als unabhängige Symptombilder anerkannt zu werden (Nater et al., 2016). Die gemeinsamen Symptome deuten aber zumindest auf eine teils gemeinsame Ätiologie und Pathogenese hin (Nater, 2011).
Wenn nicht medizinisch, dann psychisch?
Hauptkritikpunkt an der FSS-Diagnose ist, dass durch ihre Definition, als medizinisch nicht erklärbare Symptome, der Dualismus zwischen physischen und psychischen Beschwerden gefördert wird (Scamvougeras & Howard, 2020). So werde die Annahme verstärkt, dass wenn keine organische Ursache feststellbar ist, die Symptome psychischen Ursprungs sein müssen. Dabei werde einerseits nicht berücksichtigt, dass im weitesten Sinne auch psychische Prozesse physischen zugrunde liegen (Scamvougeras & Howard, 2020) und anderseits, dass aktuell im Sinne des biopsychosozialen Modells von einer multifaktoriellen Genese der FSS ausgegangen wird (Fritzsche, 2020). Psychologische, biologische und soziokulturelle Faktoren sowie deren Wechselwirkung spielen bei der Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung eine Rolle (Fritzsche, 2020). Hierbei ist anzumerken, dass bis heute die Ätiologie der FSS nicht vollständig geklärt ist (Fischer et al., 2014) und nicht bei allen Syndromen die gleiche Evidenz bezüglich der Faktoren vorliegt (Nater et al., 2016).
Stressabhängige Störung?
Patient*innen mit FSS berichten vergleichsweise oft von Stressoren vor, während oder nach dem Ausbruch der Symptomatik (Nater et al., 2016). Bei den meisten Patient*innen kann ein Zusammenhang zwischen dem Erleben von Stress und ihren Beschwerden festgestellt werden (van Gils et al., 2014). (Kindheits-)Traumata gehören zu den stärksten Stressoren, wurden bei einer beträchtlichen Anzahl von FSS-Patient*innen festgestellt (Afari et al., 2014; Fuller-Thomson et al., 2011) und gehen mit einem knapp dreifachen FSS-Risiko einher (Afari et al., 2014). Darüber hinaus scheinen die FSS-Patient*innen verstärkt unter chronischen Belastungen wie Mobbing, Arbeitsbelastung, Immigration oder negativen Lebensereignissen zu leiden und es zeigt sich eine Häufung der Beschwerden bei Personen mit einem tiefen sozioökonomischen Status (Nater et al., 2016). Stressfaktoren scheinen also eine überzufällig grosse Rolle im Leben von Patient*innen mit FSS zu spielen (Nater et al., 2016).
Dies spiegelt sich auch in den Befunden zu den verschiedenen Stresssystemen wider (Nater et al., 2016). So scheint bei den Betroffenen eine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, des autonomen Nervensystems und des Immunsystems vorzuliegen, was wiederum die Anfälligkeit für Erschöpfung, Schmerzen und kognitive sowie emotionale Beeinträchtigungen erhöhen kann (Fischer et al., 2014; Mutsuura et al., 2009; Nater et al., 2016).
Ein Erklärungsansatz für diese Auffälligkeiten setzt an den von den Patient*innen häufig berichteten traumatischen Erfahrungen in der Kindheit an (Nater et al., 2016). Möglicherweise können, basierend auf einer bestimmten Disposition, Umweltstressoren in einer kritischen und vulnerablen Phase der Entwicklung der Regulation psychobiologische Stresssysteme in dem Masse auslenken, sodass diese bei späterer Konfrontation mit Stressoren nicht mehr in der Lage sind, adäquat zu reagieren (Fischer et al., 2014; Nater et al., 2016). Die Reaktivität der biologischen und psychologischen Stressreaktionssysteme ist dadurch dauerhaft negativ verändert (Nater & Skoluda, 2013; Suárez-Hitz et al., 2012). Dies kann direkt oder vermittelt über pathophysiologische Prozesse wie Hypokortikolismus zu den typischen Beschwerden von FSS führen (Nater et al., 2016).
«A pragmatic doctor therefore asks not whether symptoms are “physical” or “mental” but whether they are fixed or are reversible by appropriate intervention.»
Mayou & Farmer, 2002, S. 266
Doch medizinisch erklärbar?
Neben den beschriebenen Auffälligkeiten der Stresssysteme wird auf physiologischer Ebene auch von einer genetischen Basis ausgegangen (Nater et al., 2016). Zudem wird eine veränderte zentralnervöse Verarbeitung nozizeptiver Impulse vermutet (Henningsen et al., 2004), wobei eine erhöhte lokale oder generalisierte Schmerzempfindlichkeit vorliegt (Petzke, 2010). Darüber hinaus können einige FSS wie das Reizdarmsyndrom und das chronische Erschöpfungssyndrom mit Infektionen in Verbindung gebracht werden (Hickie et al., 2006; Moss-Morris et al., 2006).
Erlernte Beschwerden?
Zusätzlich zu den genannten physiologischen Faktoren können verschiedene Lernprozesse bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von FSS eine Rolle spielen (Fritzsche, 2020). Beispielsweise können Kinder durch Modelllernen das Krankheitsverhalten der Eltern übernehmen. Zudem kann durch vermehrte Aufmerksamkeit und Zuneigung sowie die Entlastung von Anforderungen und Verpflichtungen das Einnehmen der Krankenrolle positiv bzw. negativ verstärkt werden (Fritzsche, 2020). Assoziative Lernprozesse spielen insbesondere bei FSS eine Rolle, deren Symptome an bestimmte Umweltkontexte gebunden sind (Nater et al., 2016). Dies zeigt sich beispielsweise durch kontextabhängig erhöhte Sensitivität auf bestimmte Schmerzreize (Nater et al., 2016).
Biopsychosozialer Teufelskreis
Bei der Aufrechterhaltung der Störung spielt die somatosensorische Verstärkung eine entscheidende Rolle (Nater et al., 2016). Dabei wird durch Fokussierung der Aufmerksamkeit auf zufällige, krankheitsbezogene oder durch Stress ausgelöste Körpermissempfindungen die Wahrnehmung ihrer Intensität und Frequenz verstärkt. Somit steigt die Wahrscheinlichkeit, sie als Krankheitssignale zu bewerten (Nater et al., 2016). Dies resultiert in einer Aufmerksamkeitsfokussierung, was ein erhöhtes psychophysiologisches Anspannungsniveau und das Empfinden von Angst zur Folge hat, die wiederum die dysfunktional attribuierte Körperwahrnehmung verstärken (Lahmann et al., 2010). Viele Betroffene verfügen zudem über ein zu eng definiertes Verständnis von Gesundheit als völlige Abwesenheit von Körpermissempfindungen (Dinkel & Lahmann, 2016). Darüber hinaus schätzen sich die Betroffenen oftmals als körperlich schwach und wenig belastbar ein (Nater et al., 2016). Durch ein abnormes Krankheitsverhalten wie erhöhte Krankheitssorgen, hohes Inanspruchnahmeverhalten, Missbrauch von Medikamenten, Absuchen des Körpers nach Krankheitszeichen und ausgeprägtem Schonverhalten (z. B. Vermeidung körperlicher Aktivität) werden die Beschwerden aufrechterhalten (Nater et al., 2016; Schaefert et al., 2014). Beispielsweise werden durch übermässiges Schonverhalten die Belastbarkeit des Körpers reduziert und die Beschwerden verstärkt (Mayou & Farmer, 2002).
FSS stellen sowohl die Betroffenen als auch die Behandler*innen vor grosse Herausforderungen. Nach dem Ausschluss medizinischer Ursachen stellt sich die Frage: «Wenn nicht medizinisch, was dann?». Ein Blick auf die aktuellen Erkenntnisse zur Ätiologie offenbart jedoch, dass dem Störungsbild biopsychosoziale Faktoren zugrunde liegen. Die Betroffenen scheinen kerngesund und sind trotzdem krank.
Zum Weiterlesen
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Literatur
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