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Cliffhanger

Erklärung des Phänomens mittels eines Gedächtniseffekts

In einer dramatischen Szene baut sich immer mehr Spannung auf, bis sie kaum noch auszuhalten ist und alle auf die Auflösung warten – und die Episode ist zu Ende. Der Cliffhanger ist eine beliebte Erzähltechnik, über die sicherlich jeder schon einmal gestolpert ist. Zur Erklärung wird oftmals der sogenannte Zeigarnik-Effekt zurate gezogen.

Von Isabelle Bartholomä
Lektoriert von Ladina Hummel und Marina Reist
Illustriert von Melina Camin

Die Gestaltpsychologin Bluma Vulfovna Zeigarnik beschrieb 1927 in ihrer Dissertation den später nach ihr benannten Gedächtniseffekt (MacLeod, 2020). Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte, wie Zeigarnik auf die Idee für ihre Forschung kam. In allen Versionen sitzt Kurt Lewin mit seinen Freunden in einem Restaurant und fragt den Kellner nach einer bereits abgeschlossenen und bezahlten Bestellung, woraufhin dieser sich nicht, oder nur mit Mühe daran erinnern kann (MacLeod, 2020; Lompscher, 2011). Schon als Studentin arbeitete Zeigarnik mit Lewin zusammen und führte dies auch nach ihrem Abschluss fort, wobei er auch ihre Dissertation supervidierte (MacLeod, 2020). Nach der Beobachtung von Lewin führte Zeigarnik mehrere Experimente durch, in denen die Versuchspersonen diverse Aufgaben bearbeiten und diese im Anschluss aus dem Gedächtnis aufzählen sollten. Die Versuchsteilnehmenden konnten die Aufgaben jeweils entweder ungestört fertiglösen oder wurden gezielt durch die Versuchsleitung unterbrochen. Sie stellte fest, dass sich die Personen circa doppelt so häufig an unterbrochene Aufgaben erinnerten wie an fertiggestellte (MacLeod, 2020).

Lewins Einfluss

Da Lewin als Supervisor für Zeigarniks Dissertation fungierte, ist es nicht verwunderlich, dass ihre Überlegungen von seiner Forschung beeinflusst wurden, und sich der Zeigarnik-Effekt mit Lewins Feldtheorie vereinbaren lässt (MacLeod, 2020). Diese beschreibt den Menschen als komplexes Energiefeld, wobei jegliches Verhalten der Person als Veränderung dieses Feldes in einer Zeiteinheit aufgefasst werden kann. Innerhalb des Feldes wirken psychologische Spannungen, wie beispielsweise Bedürfnisse oder Wünsche, wodurch die mentale Energie zur Ausführung von entsprechendem Verhalten entsteht (MacLeod, 2020). Dieses Verhalten reduziert wiederum die Spannung. Im Fall des Kellners ging Zeigarnik davon aus, dass dessen Intention, die Bestellung zu bearbeiten, gewissermassen ein Quasi-Bedürfnis generiert und somit eine solche Spannung im Energiefeld entsteht. Diese hält so lange an, bis die Gäste gezahlt haben und die Aufgabe abgeschlossen wurde. Wird eine Aufgabe hingegen unterbrochen, bleibt die Spannung aufrechterhalten und könnte, so vermutete Zeigarnik, einen Einfluss auf die spätere Erinnerung an die Aufgabe haben (MacLeod, 2020).

Bluma Vulfovna Zeigarnik

Geboren wurde die spätere Psychologie-Professorin im Jahr 1901 in Prienai, Litauen (Lompscher, 2011). Nachdem sie in Minsk eine Mädchenschule besucht hatte, absolvierte sie die Abschlussprüfungen einer Schule für Jungen, da die Universitäten das höhere Qualifikationsniveau voraussetzten. So wurde sie zu einer der ersten Frauen, die in Russland eine Universität besuchten. Zeigarnik und ihr Ehemann kamen 1922 nach Europa, und sie schrieb sich in der späteren Humbolt Universität Berlin ein, wo sie mit mehreren Gestaltpsychologen in Kontakt kam, unter anderem auch mit Kurt Lewin. 1927 reichte sie ihre berühmte Dissertation ein, die im Journal Psychologische Forschung publiziert wurde. Im Jahr 1937 kehrte sie mit ihrem Mann nach Russland zurück, wo sie in Moskau mit Lev Vygotsky zusammenarbeitete. Sie wandte sich schliesslich den Gebieten der Klinischen Neuropsychologie und der Medizinischen Psychologie zu. Im Jahr 1988 verstarb Zeigarnik im Alter von 86 Jahren (Lompscher, 2011).

Die Experimente

Für ihre Arbeit führte Zeigarnik zwischen 1924 und 1927 eine Reihe von Experimenten mit insgesamt 164 Kindern und Erwachsenen durch, alle mit vergleichbarem Aufbau: Die Versuchspersonen lösten Aufgaben, wurden teilweise dabei unterbrochen und sollten dann möglichst viele der Aufgaben aus dem Gedächtnis aufzählen (Lompscher, 2011). In einem kleineren Experiment unterbrach Zeigarnik alle Aufgaben, variierte jedoch, ob die Personen sofort weitermachen oder nicht mehr zur Aufgabe zurückkehren durften (MacLeod, 2020). Ein anderes Mal untersuchte sie, ob es einen Einfluss hat, wenn die Teilnehmenden davon ausgehen, dass sie später weiterfahren, im Vergleich dazu, wenn sie wissen, dass sie das nicht tun werden. Sie fand in allen Experimenten dasselbe Muster der besseren Erinnerung von nicht fertiggestellten Aufgaben gegenüber komplettierten. Es machte aber keinen Unterschied, ob die Aufgabe kurz unterbrochen wurde und ob die Versuchspersonen erwarteten, die Aufgabe wieder aufzunehmen (MacLeod, 2020).

Was hat das Ganze mit Cliffhangern zu tun?

Der auch im Deutschen verwendete englische Begriff «Cliffhanger» steht wortwörtlich für jemanden, der an einer Felswand hängt. Laut Duden bezeichnet das Wort ein «große Spannung hervorrufendes dramatisches Ereignis am Ende einer Folge einer Rundfunk-, Film- oder Fernsehserie oder eines Buchkapitels, das die Neugier auf die Fortsetzung wecken soll» (Bibliographisches Institut GmbH, 2021). Es handelt sich also um eine Erzähltechnik, die darauf abzielt, das Publikum zum Weiterschauen oder -lesen zu bewegen. Zur Erklärung dieses uns allen bekannten Phänomens wird häufig der Zeigarnik-Effekt hinzugezogen (MacLeod, 2020). Das Geschehen am Ende einer Folge oder eines Kapitels kann als zu erledigende Aufgabe gesehen werden, welche zu einer Spannung führt. Erfahren wir nicht, wie es weitergeht, wird die Aufgabe gewissermassen nicht beendet und die Spannung löst sich nicht auf. Zeigarniks Theorie zufolge müssten sich Personen wohl besser an ein Cliffhanger-Ende einer Episode erinnern als an das Ende einer Episode, in der alles aufgelöst wurde. Die Spannung führt jedenfalls zum Bedürfnis, die unterbrochene Aufgabe – das Nachverfolgen der erzählten Geschichte – wieder aufzunehmen, wie Zeigarnik in der Schlussfolgerung ihrer Dissertation schreibt (MacLeod, 2020).

«Yet the core idea has remained better known than the criticisms. […] [Zeigarniks] phenomenon may, then, be an instance of a provocative and appealing idea that, once let out of the box, is nearly impossible to put back in.»

MacLeod, 2020, S.1081

Bewertung des Zeigarnik-Effekts

Der Gutachter von Zeigarniks Dissertation, Wolfgang Köhler, schätzte diese als eine der besten psychologischen Arbeiten seit einigen Jahren ein und Lewin selbst fragte die Forscherin, ob sie eigentlich wisse, dass sie eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht habe (Lompscher, 2011). Obwohl Zeigarnik selbst keine weitere Forschung zu dem nach ihr benannten Effekt betrieb, wurde dieser im Laufe der Zeit von vielen weiteren Forschenden untersucht (MacLeod, 2020). Zunächst fanden sich sowohl Resultate, die Zeigarniks Theorie unterstützten, als auch solche, die das nicht taten, doch über die Jahre hinweg häuften sich vor allem Letztere (MacLeod, 2020). Knapp 40 Jahre nach ihrer Dissertation fasste Butterfield (1964) zusammen, dass sich kein universelles Muster bezüglich der Erinnerung an fertiggestellte versus nicht fertiggestellte Aufgaben zeige (MacLeod, 2020). Atkinson (1953) hatte in seiner Dissertation herausgefunden, dass sich bei Personen mit hohem Leistungsbedürfnis tatsächlich der Zeigarnik-Effekt zeigte, bei Personen mit niedriger Ausprägung dieses Bedürfnisses jedoch das umgekehrte Muster auftrat, also fertiggestellte Aufgaben besser erinnert wurden (MacLeod, 2020). Erklärt wird dies damit, dass leistungsorientierte Personen eher die unvollständigen Aufgaben wiederaufnehmen und bewältigen wollen, während weniger leistungsorientierte diese eher verdrängen wollen, um Gefühle des Versagens zu vermeiden. Alles in allem gestaltet es sich schwierig, den Zeigarnik-Effekt in unselektierten Stichproben zu replizieren. Van Bergen (1968) versuchte die Bedingungen der Originalexperimente möglichst genau nachzubauen, doch auch so konnte sie die postulierte bessere Erinnerungsleistung bei nicht-fertiggestellten Aufgaben nicht nachweisen. Nichtsdestotrotz hält sich die Idee des Zeigarnik-Effekts in manchen Bereichen bis heute (MacLeod, 2020).

Das zeigt sich beispielsweise darin, dass der Effekt, wie bereits ausgeführt, zur Erklärung der Funktionsweise des Cliffhangers herangezogen wird, wie beispielsweise in einem Artikel von Anderson (2016) auf bbc.com. Doch auch in anderen Zusammenhängen werden Überlegungen zu den Implikationen des Effekts angestellt, wie zum Beispiel von Naviaux, Janne und Gourdin (2020), die eine Reihe von Strategien anführen, wie Ärzt*innen den Zeigarnik-Effekt nutzen oder vermeiden können. Alles in allem hat die Wissenschaftlerin mit dem Zeigarnik-Effekt also eine einflussreiche Entdeckung gemacht, die sich zwar empirisch nicht erhärtete, aber dennoch zahlreiche Forschungsarbeiten inspirierte und sich im Kopf vieler bis heute gehalten hat.


Zum Weiterlesen

MacLeod C. M. (2020). Zeigarnik and von Restorff: The memory effects and the stories behind them. Memory & cognition, 48(6), 1073–1088. https://doi.org/10.3758/s13421-020-01033-5

Lompscher, J. (2011). Bljuma Vol’fovna Zejgarnik: Einheit des Psychischen. In S. Volkmann-Raue & H. E. Lück (Eds.). Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts (pp. 207-222). Springer Fachmedien.

Literatur

Bibliographisches Institut GmbH. (2021). Duden – Die Deutsche Rechtschreibung. Berlin: Cornelsen Verlag GmbH. https://www.duden.de

Lompscher, J. (2011). Bljuma Vol’fovna Zejgarnik: Einheit des Psychischen. In S. Volkmann-Raue & H. E. Lück (Eds.). Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts (pp. 207-222). Springer Fachmedien.

MacLeod C. M. (2020). Zeigarnik and von Restorff: The memory effects and the stories behind them. Memory & cognition, 48(6), 1073–1088. https://doi.org/10.3758/s13421-020-01033-5

Naviaux, A.-F., Janne, P., & Gourdin, M. (2020). Do physicians suffer or benefit from the Zeigarnik effect? LEncéphale. https://doi.org/10.1016/j.encep.2020.08.012

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