Freiwillige vor!
Ein soziales Dilemma in Wohngemeinschaften.

Zusammenleben bedeutet Kooperation. Doch wie handeln wir in Situationen in denen nur Einzelne den Dienst im Sinne der Gemeinschaft verrichten können? Über Entscheidungen und Bewertungen in einem Freiwilligendilemma.
Von Lisa Frisch
Lektoriert von Madeleine Lanz und Stefan Dorner
Illustriert von Lisa Frisch
Wer kennt es nicht? Leere Kaffeedosen, dreckiges Geschirr in der Spüle, überquellende Mülleimer –Wohngemeinschaften beherbergen tagtäglich soziale Stolpersteine, in denen sich nur ein Einzelner aufraffen muss, um die ganze Gemeinschaft vor dem Ausnahmezustand zu bewahren.
Das Freiwilligendilemma
Situationen wie diese sind in der Psychologie als Freiwilligendilemma (Volunteer’s Dilemma) bekannt. Es handelt sich dabei um interpersonelle Situationen in der ein kollektiver Gewinn erzielt werden kann, solange sich nur ein Einzelner zu einer gemeinschaftlich günstigen Handlung entscheidet (Diekmann, 1985). Das Dilemma existiert, wo immer es menschliches Zusammenleben gibt. Mag es in einer Wohngemeinschaft die Frage sein, wer heute den Kühlschrank auffüllt, ist es im Bus die Angelegenheit, wer für den zusteigenden Herrn den Platz freimacht. Ein Freiwilligendilemma stellt die Beteiligten vor die Wahl: Kooperation oder Freifahrt? Prosozial oder egozentrisch?
Dabei gibt es keine einzelne Strategie, die mit Gewissheit zum Erfolg führt: So bedeutet eine Kooperation beider Parteien einen kleinen Gewinn für beide. Entscheiden sich beide für eine Freifahrt, gehen beide leer aus. Wählt jedoch einer die Freifahrt während Gegenspielende kooperieren, können Erstere einen grossen Gewinn für sich beanspruchen, während sich Letztere mit einem geringen Gewinn begnügen müssen. Kurzum, eine Kooperation führt nur zu moderaten Gewinnen, aber eben auch nur zu moderaten Verlusten, während eine Freifahrt die Chance auf den ganz grossen Wurf innehält – jedoch immer mit dem Risiko leer auszugehen. Tücke des Freiwilligendilemmas ist, dass die Pareto Effizienz, also der Idealzustand, nur erreicht werden kann, wenn sich die beteiligten Parteien für die gegensätzliche Strategie entscheiden (Diekmann, 1985). Stellen Sie sich also vor, Sie befinden sich im Supermarkt vor dem Toilettenpapier. Kaufen oder nicht kaufen? Nehmen Sie es mit, bewahren Sie die Gemeinschaft mit Gewissheit vor dem Gau. Doch möglicherweise hat ihre Mitbewohnerin den Missstand im Bad bereits entdeckt und sich dem Kauf längst angenommen. Dann wäre ein Weiterer ineffizient, würde es infolge Toilettenpapiertürme im Bad bedeuten. Für ein ideales Resultat sollte also nur ein Einzelner kooperieren, während sich die anderen für eine Freifahrt entscheiden.
Kooperieren oder nicht kooperieren?
Doch wie entscheiden wir? Darley und Latané (1968) zufolge, verfallen wir in einem Freiwilligendilemma nicht selten der Verantwortungsdiffusion. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, in dem eine offensichtlich zu absolvierende Aufgabe, trotz genügend fähiger Umstehender, keine Erledigung erfährt. Folglich wählen wir die Freifahrt, sobald wir andere ähnlich verantwortlich empfinden. Die klassische Spieltheorie antwortet hingegen mit Gewinnsteigerung (Diekmann, 1985). Demnach seien wir rational denkende Wesen, die sich stets für jene Handlung entscheiden, welche den grösstmöglichen Gewinn verspricht. In einem Freiwilligendilemma würde das für uns bedeuten, abwechselnd Kooperation und Freifahrt zu wählen. Dann läge die Wahrscheinlichkeit den maximalen Gewinn zu erzielen, dass also beide Spieler unterschiedliche Handlungsentscheidungen treffen, bei 50 Prozent. Doch gibt es Evidenz, dass wir uns häufiger kooperativ verhalten, als es die Spieltheorie zulassen würde (Krueger, Ullrich & Chen, 2016). Auch finden Tversky und Kahnemann (1991), dass Menschen in der Gewinnsteigerung risikoscheu sind und gerne Verluste vermeiden. Damit bedienen wir uns einer Strategie, die versucht, unsere antizipierte Reue (anticipated regret) so gering wie möglich zu halten (Acevedo & Krueger, 2004). So müssten wir auch in unseren Wohngemeinschaften eine Tendenz zur Kooperation hegen. Lieber einmal mehr Seife besorgen, als das Risiko einzugehen, die Gemeinschaft in den Ausnahmezustand zu entsenden.
Häufig spielt sich ein Freiwilligendilemma auch im Beisein Anderer ab. Dann sind unsere Entscheidungen über Kooperation oder Freifahrt nicht vor der Bewertung der Umstehenden gefeit. Es scheint also plausibel, dass wir unsere Wahl auch daran orientieren, welchen Eindruck wir damit bei anderen hinterlassen. Tatsächlich fanden Forschende, dass Kooperierende moralischer und sogar kompetenter wahrgenommen werden (Heck & Krueger, 2017). Folglich hätten all jene, die sich nach dem gemeinsamen Abendessen für den Abwasch in Stellung bringen oder die seit Wochen untaugliche Glühbirne im Gang auswechseln, prompt an Ansehen gewonnen.
Doch Vorsicht ist geboten, da in einem Freiwilligendilemma die Rolle des Kooperierenden, im Sinne der Pareto Effizienz, nur von einem Einzelnen innegehalten werden kann. So zeigen Heck und Krueger (2017) auch, dass unser Urteil über Kooperierende von der Entscheidung des Gegenspielers abhängt: Demnach empfinden wir Kooperierende nur dann kompetent, wenn sich die Gegenspieler zu einer Freifahrt entscheiden. Wir bewerten also den Kaffeekaufenden positiver wenn es am selben Tage nicht noch einen weiteren Kaffeekaufenden gibt. Damit unterliegen wir einem Outcome Bias, weil unsere Beurteilungen auf Informationen basieren, die den Entscheidenden zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht zur Verfügung standen (Baron & Hershey, 1988). Konkret würden wir also erwarten, dass beide Parteien korrekt antizipieren wie die Gegenspielenden entscheiden – Freifahrt oder Kooperation – um dann genau die gegensätzliche Handlung zu unternehmen.
Jedoch zeigen Studien auch, dass wir unsere eigene Verhaltensstrategie gerne an die der Gegenspielenden angleichen (Krueger et al., 2016). Erwarten wir vom Gegenüber Kooperation, kooperieren wir auch. Unterstellen wir dem Gegenüber die Freifahrt, werden wir ebenfalls abtrünnig. In einem Freiwilligendilemma entfernt uns diese Strategie jedoch vom Idealzustand, schliesslich bedeutet beidseitige Kooperation Ineffizienz und beidseitige Freifahrt den grösstmöglichen Verlust. Obendrein schmälert Letztere erneut unser Ansehen: Wählen wir in der Vorahnung, dass Gegenspielende nicht kooperieren die Freifahrt und lassen infolge die gesamte Gemeinschaft ins Schlamassel laufen, sinkt unsere Reputation in Moral und Kompetenz bei unseren Mitmenschen (Heck & Krueger, 2017).
Hüter der Harmonie
Glücklich für die Harmonie des Zusammenlebens ist, dass Wohngemeinschaften soziale Umstände beherbergen, die als Katalysator für kooperatives Verhalten dienen: Beispielsweise teilen Mitbewohnende meist ein Gefühl der Zugehörigkeit und der sozialen Nähe. Und wie Balliet, Wu, und De Dreu (2014) in einer Metaanalyse ausmachen, zeigen zahlreiche Studien, dass wir im Kontext verschiedener sozialer Dilemmata eher kooperieren, wenn wir damit unserer eigenen Gruppe, anstelle einer anderen, einen Dienst erweisen. So finden auch Krueger et al., (2016), dass wir bei Menschen, die uns nahestehen, lieber einmal mehr die Strategie der Kooperation wählen (siehe Kasten). So sind wir gewillt unseren Teil beizutragen: Kümmert sich heute einer um die Seife, sorgt ein Nächster für ein köstliches Abendessen und eine Wiedernächste für den Wein.
Zu viel des Guten?
Es gibt Hinweise, dass wir in unserer eigenen Gruppe sogar zur Überkooperation neigen (Krueger et al., 2016). Wir kooperieren so viel, dass wir über den Idealzustand des Freiwilligendilemmas hinausschiessen. Praktisch ist die übermässige Kooperationslust jedoch in Situationen, die einem Beitragsdilemma ähneln. In Solchen hat eine gemeinsame Ressource nur Bestand, wenn sich genügend kooperativ zeigen, in dem sie etwas zu dieser Ressource beisteuern. So führt eine kleine negative Konsequenz für das Individuum, etwa in die Haushaltskasse einzuzahlen, zu einer positiven Konsequenz für die Gemeinschaft. Im Gegensatz zum Freiwilligendilemma gibt es hier jedoch eine dominante Strategie: Freifahrende sind begünstigt indem sie, trotz unkooperativen Verhalten, in den Genuss der gemeinsamen Ressource kommen (Fehr & Gächter, 2000). Die Devise lautet also, je mehr Mitbewohnende sich kooperativ zeigen, indem sie sich beispielsweise am Wohnungsputz beteiligen, desto vorteilhafter für die Gemeinschaft. Perdu ist die Sorge der Überkooperation.
Zum Weiterlesen
Diekmann, A. (1985). Volunteer’s dilemma. Journal of conflict resolution, 29(4), 605-610.
Balliet, D., Wu, J., and De Dreu, C. K. W. (2014). Ingroup favoritism in cooperation: a meta-
analysis. Psychol. Bull. 140, 1556–1581.
Literaturverzeichnis
Acevedo, M., & Krueger, J. I. (2004). Two egocentric sources of the decision to vote: The voter’s illusion and the belief in personal relevance. Political Psychology, 25(1), 115-134.
Balliet, D., Wu, J., and De Dreu, C. K. W. (2014). Ingroup favoritism in cooperation: a meta-analysis. Psychol. Bull. 140, 1556–1581.
Baron, J., & Hershey, J. C. (1988). Outcome bias in decision evaluation. Journal of personality and social psychology, 54(4), 569.
Darley, J. M., & Latane, B. (1968). Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of personality and social psychology, 8(4p1), 377.
Diekmann, A. (1985). Volunteer’s dilemma. Journal of conflict resolution, 29(4), 605-610.
Diekmann, A. (1993). Cooperation in an asymmetric volunteer’s dilemma game theory and experimental evidence. International Journal of Game Theory, 22(1), 75-85.
Fehr, E., & Gachter, S. (2000). Cooperation and punishment in public goods experiments. American Economic Review, 90(4), 980-994.
Heck, P. R., & Krueger, J. I. (2017). Social Perception in the Volunteer’s Dilemma: Role of Choice, Outcome, and Expectation. Social Cognition, 35(5), 497-519.
Krueger, J. I., Ullrich, J., & Chen, L. J. (2016). Expectations and decisions in the volunteer’s dilemma: effects of social distance and social projection. Frontiers in psychology, 7, 1909.
Tversky, A., & Kahneman, D. (1991). Loss aversion in riskless choice: A reference-dependent model. The quarterly journal of economics, 106(4), 1039-1061.