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Ethik bei Tierversuchen

Die Wahl des kleineren Übels – wieso, wie und wie lange noch?

Zu ethischen Problematiken gibt es selten eine eindeutige Antwort, wobei die Frage der Vertretbarkeit von Tierversuchen keine Ausnahme ist. Trotzdem haben wir als Forscher und Studierende eines wissenschaftlichen Fachesdie moralische Pflicht, uns über den Gebrauch von Tieren in Experimenten Gedanken zu machen. 

Von Noémie Lushaj 
Lektoriert von Marie Reinecke und Selina Stüssi
Illustriert von Kerry Willimann

In der Psychiatrie hat die Tierforschung zu einem besseren Verständnis von psychischen und neurologischen Erkrankungen beigetragen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (Schöner, Heinz, Endres, Gertz, & Kronenberg, 2017), bipolaren affektiven Störungen (Carr, 2017), Abhängigkeitserkrankungen (Planeta, 2018), Depression (Wang, Timberlake, Prall, & Dwivedi, 2017), Schizophrenie (Schoenrock & Tarantino, 2016) und Morbus Parkinson (Imbriani, Sciamanna, Santoro, Schirinzi, & Pisani, 2018). Sie hat auch die Entwicklung von innovativen Behandlungsmöglichkeiten gefördert, unter anderem die Tiefenhirnstimulation (Benazzouz, Gross, & Bioulac, 2016). In der Psychologie werden Tiere typischerweise in Experimenten zur Untersuchung von Phänomenen wie der gelernten Hilflosigkeit (Seligman & Groves, 1970) und zur Konditionierung von Angstreaktionen anhand von elektrischen Schocks (Mineka, Cook, & Miller, 1984) verwendet. 

«Many of the most painful experiments [on animals] are performed in the field of psychology.» 

Peter Singer, 2002, S. 42 

Über die Jahre hinweg haben Tierversuche substanzielle theoretische Erkenntnisgewinne für die Psychologie ermöglicht sowie einen grossen praktischen Nutzen für die Psychiatrie erzeugt. Nichtsdestoweniger ist die Kontroverse um das Thema in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen, zum grossen Teil aufgrund von ethischen Überlegungen. 

Magels Paradoxon 

«Ask the experimenters why they experiment on animals, and the answer is: ‘Because the animals are like us.’ Ask the experimenters why it is morally okay to experiment on animals, and the answer is: ‘Because the animals are not like us.’ Animal experimentation rests on a logical contradiction.» 

Charles R. Magel, zitiert nach Pessin & Engel, 2015, S. 368 

In der biologischen Taxonomie von Lebewesen werden Menschen als Säugetiere klassifiziert. Sie weisen also eine grosse genetische Ähnlichkeit zu manchen Tieren auf: Die menschliche DNA stimmt sogar bis zu 99 Prozent mit der DNA von Schimpansen überein (Waterson, Lander, & Wilson, 2005). Somit wird die Xenotransplantation, insbesondere die Ersetzung von menschlichen Organen durch Tierorgane, von manchen Forschern als mögliche Alternative zu der intraspezifischen Transplantation angesehen (Cooper et al., 2017). Wenn man das Menschenhirn mit dem Primatenhirn vergleicht, so findet man, dass diese grundsätzlich gleich sind – abgesehen von kleinen Unterschieden in der Gehirnmasse und in der Anzahl an Neuronen (Jäncke, 2013). Diese Ähnlichkeiten zum Menschen haben für die Tiere zur Folge, dass diese als nützliche Versuchsobjekte angesehen werden, mit denen für Menschen relevante Forschung betrieben werden kann. 

Menschen und Tiere sind zwar Mitglieder desselben Reichs, sie gehören jedoch zu verschiedenen Spezies und unterscheiden sich daher in mehreren Hinsichten. Unter diesen Unterschieden findet man z. B. Sprache, Kultur, Emotionen und Intelligenz. Manche Menschenaffen, Vögel, Fische und Insekten haben zwar komplexe Kommunikationssysteme entwickelt, diese sind aber in keinerlei Weise mit der menschlichen Sprache vergleichbar, in dem Sinne, dass sie nicht alle 13 design features of language besitzen, die vom Anthropologen und Linguisten Charles F. Hockett (1960) definiert wurden. Weiter besitzen Tiere keine kumulative Kultur (Henrich, 2015), keine so grosse Bandbreite an Emotionen wie Menschen (Lazarus, 1991) und wenn man Intelligenz als Ausmass an mentaler und verhaltensbezogener Flexibilität definiert, ist der Homo sapiens die schlauste Spezies des Tierreichs (Roth & Dicke, 2005). Forscher machen sich solche Unterschiede häufig zu Nutze, um Tieren einen geringeren moralischen Wert zuzuweisen und folglich Tierexperimente zu legitimieren, so Magel in seinem Zitat. 

Kurz gefasst heisst es also: Tierversuche sind nützlich, weil Tiere uns ähnlich sind und sie sind vertretbar, weil Tiere sich von uns unterscheiden. Abgesehen von der Inkonsistenz dieser Argumentation, sollte die Frage gestellt werden, ob der Grad der Ähnlichkeit zum Menschen überhaupt ein sinnvolles Kriterium ist, wenn es darum geht zu entscheiden, wie ein Lebewesen behandelt werden sollte. In der Tat sollten laut dem utilitaristischen und antispeziesistischen Philosophen Peter Singer (2002) Rechtfertigungen für Ungleichheiten, die sich auf die Unterschiede zwischen Gruppen fokussieren, abgelehnt werden, denn diese haben – analog zu Speziesismus im vorliegenden Fall – schon zu den diskriminatorischen Phänomenen des Rassismus und Sexismus geführt. Ein weniger anthropozentrisches Argument, das für die moralische Berücksichtigung von Tieren spricht, ist ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und sich an ihre Umwelt anzupassen (Taylor, 1986). Damit sind Tiere nicht unsere Eigentümer, sondern die subjects-of-a-life, deren Zweck das eigene Überleben und Wohlbefinden ist. Aus dieser Überlegung wird manchmal die Schlussfolgerung gezogen, dass Tierversuche in allen Fällen unethisch sind (Regan, 2004). So einfach ist die Situation jedoch weitgehend nicht. 

Ein ethisches Dilemma 

Wenn Forschung auf Tiere möglichst begrenzt werden sollte, bleibt ein kompletter Verzicht auf Tierversuche zum heutigen Standpunkt noch eine Utopie, denn es gilt in unserer Gesellschaft im Allgemeinem, dass das Wohl der Menschen den Vorrang hat und dieses zum Teil von Forschungsergebnissen abhängt, die ohne Tierversuche nicht möglich wären. Es findet also eine Kosten-Nutzen-Abwägung statt, wobei die Kosten den Schaden darstellen, der den Tieren zugetan wird und die Nutzen den Gewinn für die Menschheit und Gesellschaft repräsentieren (BLV, 2017). Dabei besteht das Dilemma darin, dass es keine perfekte Lösung gibt: Entweder leiden Tiere zugunsten der Menschen oder Versuchstiere werden gerettet, aber dafür müssen manche Menschen leiden. Mit dem einen oder anderen Übel muss man leben können. 

Die Notwendigkeit von Alternativen 

«Tierversuche dürfen nur bewilligt werden, wenn keine alternativen Methoden vorhanden sind, mit denen eine Fragestellung beantwortet werden kann.»

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, 2017 

In der Schweiz gilt seit den 80er Jahren das sogenannte 3R-Prinzip: «Replace, Reduce, Refine» (BLV, 2017). Replace bedeutet, dass Alternativen bevorzugt werden sollten, Reduce heisst, dass die Anzahl an Tieren, die für die Forschung gebraucht werden, möglichst klein gehalten werden sollte und Refine bezeichnet die Minimierung des Leidens der Tiere. Tierversuche werden also nur als letztes Mittel bewilligt, nachdem alle Alternativen durchgegangen und als ungeeignet bewertet wurden. Was gibt es demnach für Alternativen? Zu ihnen zählt man z. B. In-Vitro-Modelle wie die Organ-auf-Chip-Technologie (Huh et al., 2010) sowie Computermodelle, die unter anderem der Entwicklung von neuen Medikamenten dienen (Doke & Dhawale, 2015). Diese Techniken sind hochgradig komplex, dennoch sind sie noch nicht in der Lage eine Vielzahl an Forschungsfragen zu klären. Einen lebenden, fühlenden Organismus künstlich zu imitieren ist eine Herausforderung, die noch nicht bewältigt werden konnte. Diese Tatsache erklärt, dass es Tierversuche zum heutigen Standpunkt immer noch gibt, obwohl die meisten Menschen darauf verzichten wollen und trotz der schon existierenden Restriktionen. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit einer Zunahme an Forschung, die sich auf die Entwicklung von stellvertretenden Methoden fokussiert: Erst dann, wenn durch Alternativen qualitativ so hochwertige Ergebnisse wie Tierversuche garantieren werden, wird das Dilemma der Tierforschung endgültig gelöst. 

Kosten-Nutzen-Abwägung 

Das Leiden der Tiere wird in der Schweiz gemäss Art. 24 der Tierversuchsverordnung (2010) anhand von vier Schweregraden quantifiziert: Der Schweregrad 0 beinhaltet harmlose Beobachtungsstudien, der Schweregrad 1 leichte Belastungen, der Schweregrad 2 mittlere Belastungen und der Schweregrad 3 stellt die maximale zugelassene Belastung dar. Die sogenannten schutzwürdigen Interessen repräsentieren dagegen den potenziellen Nutzen von Tierversuchen. Diese werden in Art. 8 des Gentechnikgesetzes (2003) aufgelistet und enthalten z. B. «die Gesundheit von Mensch und Tier», «die Wissensvermehrung» und «[einen wesentlicheren] Nutzen für die Gesellschaft auf wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Ebene». Wenn die schutzwürdigen Interessen als überwiegend ausfallen, wird der Schaden als gerechtfertigt angesehen. Im gegenteiligen Fall liegt eine Missachtung der Würde des Tieres vor und es darf kein Tierexperiment durchgeführt werden. 


Zum Weiterlesen

Lee, G., Illes, J., & Ohl, F. (Eds.). (2015). Ethical issues in behavioral neuroscience.  

Current Topics in Behavioral Neurosciences: Vol. 19doi:10.1007/978-3-662-44866-3 

Literatur

Benazzouz, A., Gross, C., & Bioulac, B. (2016). Non-human primate: An essential building brick in the discovery of the subthalamic deep brain stimulation therapy. Frontiers in Aging Neuroscience, 7doi:10.3389/fnagi.2015.00252 

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. (2017). 3R – Replace, Reduce, Refine – Tierversuche ersetzen, reduzieren, verbessern. Retrieved from https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/tiere/tierversuche/3r-prinzip.html 

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. (2017). Abwägung von Nutzen und Belastung. Retrieved from https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/tiere/tierversuche/schweregrad-gueterabwaegung.html 

Carr, R. N. (2017). From animal models to behavioural treatment of bipolar disorder. International Journal of Comparative Psychology, 30(0). Retrieved from https://escholarship.org/uc/item/0514404w 

Cooper, D. K. C., Gaston, R., Eckhoff, D., Ladowski, J., Yamamoto, T., Wang, L., … Tector, A. J. (2017). Xenotransplantation-the current status and prospects. British Medical Bulletindoi:10.1093/bmb/ldx043 

Doke, S. K., & Dhawale, S. C. (2015). Alternatives to animal testing: A review. Saudi Pharmaceutical Journal, 23(3), 223-229. doi:10.1016/j.jsps.2013.11.002 

Gentechnikgesetz, AS 2003 4803 (2003). 

Henrich, J. (2015). The secret of our success: How culture is driving human evolution, domesticating our species, and making us smarter. Princeton: Princeton University Press. 

Hockett, C. F. (1960). The origin of speech. Scientific American, 203(3), 88-97. 

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Lazarus, R. S. (1991). Emotion and adaptation. New York: Oxford University Press. 

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