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Professor*innen gefragt

Wovon nehmen Sie Distanz? 

Gesammelt von Noémie Lushaj
Lektoriert von der Redaktion

Prof. Dr. Alexandra Freund 

Ich finde es oft sehr schwierig, wenn ich grobe Ungerechtigkeiten miterlebe – das kann soziale Ungleichheit sein, wie ich sie in Botswana oder Zambia gesehen habe, wo Luxus-Resorts neben bitterarmen Hüttensiedlungen ohne fliessend Wasser oder Elektrizität sind und die Menschen sich abrackern müssen, um überhaupt das Notwendigste zum Leben zu haben. Das kann aber auch die ungerechte Behandlung einer Kollegin oder eines Mitarbeitenden im wissenschaftlichen Betrieb sein. Zu diesen Dingen muss ich dann eine gewisse Distanz nehmen, um nicht von Emotionen wie Wut, Verzweiflung oder Resignation gewissermassen überwältigt zu werden, und handlungsfähig zu bleiben. Den Film über die «Central Park Five» (When they see us) konnte ich mir deshalb beispielsweise erst gar nicht ansehen. Die Schwierigkeit liegt für mich darin, mich dann nicht ganz von diesen Dingen abzuschotten. Das richtige Mass an Distanz erlaubt Compassion, die handlungsmotivierend ist, ohne einen emotional lahmzulegen. 

Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker 

Viele Menschen mit einem psychischen Leiden verspüren Distanz zu Anderen. Am klassischsten ist das beim sogenannten Entfremdungserleben innerhalb der Traumafolge- oder dissoziativen Störungen. Zur PTBS gehört fast regelhaft das Gefühl eines riesigen Abstands zwischen sich und den Anderen. Viele drücken das so aus, dass sie die Anderen ständig «wie hinter einer riesigen Glasscheibe» erleben; das Leben passiert neben ihnen und sie können nicht eingreifen. Dissoziative Depersonalisationserlebnisse sind dem sehr ähnlich, aber ihnen gehen keine traumatischen Erlebnisse voraus. Sie können bei einigen Jugendlichen entstehen und sind auch oft nur sehr kurzfristig (einige Tage), so dass sie eigentlich keine klinische relevante Störung sind. Von ihrem anhaltenden Entfremdungs-Distanzerleben haben mir viele Teilnehmer*innen von PTBS-Studien berichtet. Dafür und für das Leiden daran als Aussenstehender ein Mitgefühl zu bekommen, ist gar nicht so leicht, aber diese Empathiefähigkeit wird von den Patienten «belohnt», denn sie sind dankbar dafür, dass man ihren Zustand und ihre innere Unfähigkeit, die Distanz zu überwinden, versteht. 

Prof. Dr. Guy Bodenmann 

Distanz nehmen ist in der Psychologie wichtig. Im Sinne von Distanz nehmen durch die Einnahme einer Meta-Perspektive bei Konflikten, um einen sachlicheren Überblick zu gewinnen und Prozesse in einem ganzheitlicheren Licht zu sehen. Distanz nehmen bedeutet auch, nach einer emotional schwierigen Psychotherapie sich innerlich wieder zu fangen, das Berufliche am Abend hinter sich lassen. Am schwierigsten ist Distanz nehmen direkt im therapeutischen Prozess, wo Einfühlsamkeit (sich empathisch auf den anderen einlassen) und Abgrenzung (sich innerlich ein Stück weit zu distanzieren) immer wieder ein herausfordernder Balanceakt darstellt. Aber auch in jeder Partnerschaft spielt das Thema Distanz und Nähe eine wichtige Rolle. Die zwei Pole, zwischen denen man je nach Phase (zentripetal oder zentrifugal) hin und her schwankt, sind häufige Konfliktherde, wenn sich die Bedürfnisse der Partner*innen nach Nähe versus Distanz nicht decken. Nähe und Distanz immer wieder neu zu definieren gehört zu den zentralen Aufgaben eines Paares. 

Prof. Dr. Johannes Ullrich 

«Wovon nehme ich Distanz» ist eine interessante Frage. Dazu existieren in der Sozialpsychologie viele unterschiedliche Assoziationen. Zunächst einmal denke ich an die Skala der «sozialen Distanz», mit der gemessen wird, wie gross die Bereitschaft ist, mit Personen aus einer Fremdgruppe Kontakt zu haben. Hier funktioniert Distanz nach der Logik, je grösser die Abneigung, um so grösser die Distanz. Auch Francis Galton hat 1884 bereits die Idee gehabt, die Einstellung einer Person anhand nonverbaler Indikatoren wie Körperhaltung und Distanz zu messen. Wenn Sie mich also fragen, wovon ich Distanz nehme, fragen Sie danach, was oder wen ich nicht mag. Es gibt aber auch den negativ konnotierten Begriff der «Distanzlosigkeit». Im Zusammenhang mit dem Konzept des «Personal Space» bedeutet Distanz Respekt. Das heisst, ich respektiere den Abstand, der von einer Person gewünscht wird. Im sozialen Bereich ist Distanz also von der psychologischen Bedeutung her nicht linear. 

Prof. Dr. Mike Martin 

Als Längsschnittforscher spielt insbesondere die zeitliche Distanz zwischen Messzeitpunkten eine entscheidende Rolle für die Genauigkeit, mit der man Entwicklungsphänomene betrachten kann. Diese Distanz wird in unserer Forschung dank der Kombination mit hochauflösenden Mikrolängsschnittdaten von Aktivitätsmessungen immer kleiner. Auch die Distanz zu den beforschten Personen wird immer kleiner, weil sie in der partizipativen Alternsforschung bereits in der Design-Phase in die Forschung einbezogen werden und immer eine Kopie ihrer eigenen Daten erhalten. Ich erhoffe mir, dass die Verringerung der zeitlichen Distanz und die Verringerung der Distanz zwischen Forschenden und Erforschten für die Psychologie ganz neue Erkenntnisse liefern wird, weil individuell zuordenbare Daten wesentlich präzisere und kontextualisierte Erklärungsmodelle psychischer Gesundheit ermöglichen. 

Prof. Dr. Ulrike Ehlert 

Distanz ist ein sehr gutes Konzept, denn grundsätzlich ist es ja mal gut, nicht distanzlos zu sein. Oft ist es gut, Distanz zu bewahren. Beispielsweise wünschen wir uns eine gewisse Distanz im nonverbalen Umgang miteinander (Nähe-Distanz-Regulation), damit wir uns nicht «auf den Pelz rücken». Auch ist es meistens gut, keine distanzlosen Fragen zu stellen. Also zu wissen, wo die Grenzen der Intimität bei den verschiedenen Menschen, mit denen wir es zu tun haben, liegt. Distanz kann jedoch auch etwas sehr Verletzendes an sich haben. Beispielsweise von Menschen auf Distanz gehen, die gerade nicht auf der Gewinnerseite des Lebens stehen. Schliesslich kann uns «auf Distanz gehen» auch schützen. Vor Dingen und vor Menschen, die konträr zu unseren Wertvorstellungen und unserem Menschenbild stehen. Distanz ist also ein sehr vielschichtiges Konzept, das uns für andere verträglich macht und uns selbst den Umgang mit unseren Mitmenschen erleichtert. 

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