Suizid
Wie durch Reden die Distanzierung von Suizidalität gelingen kann

Der Freitod ist ein Thema unserer Gesellschaft. Nicht immer sichtbar und doch präsent. Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin), Matthias Herren (Stellenleiter Dargebotene Hand ZH) und eine Betroffene erzählen, wie eine offene Kommunikation vor Selbstmord bewahren kann.
Von Hannah Löw
Lektoriert von Marie Reinecke und Zoé Dolder
Illustriert von Alessia Geisshüsler
Der Tod gehört zum Kreislauf des Lebens. Früher oder später sterben Lebewesen und Neue werden geboren. Doch wenn psychisches Leiden Menschen in den freiwilligen Tod drängt, ist keine Rede mehr von einem natürlichen Tod. Dass Suizid ein Thema unserer Gesellschaft ist, zeigen die Ergebnisse der Untersuchung des Bundesamts für Statistik (BFS): Etwa 1000 Menschen in der Schweiz beendeten im Jahr 2016 selbst ihr Leben (BAG, 2019). Nach der WHO erschwert eine Tabuisierung der Suizidthematik das Erkennen von selbstgefährdeten Menschen (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).
Gefühlte Datenlage und Daten der Gefühlslage
Wie oft laufen wir täglich durch die Gegend und begegnen fremden Menschen. Wir blicken in unbekannte Gesichter, schauen schnell weg, nicken kaum merkbar oder es rutscht sogar ein Grüezi über die Lippen. Wir kreuzen für einen kurzen Augenblick den Weg eines anderen und doch bleibt uns vieles dabei verborgen. Wie der Kapitän auf der Titanic, als er die Spitze des Eisberges entdeckte, erhaschen auch wir nur einen Bruchteil des Befindens. Die tieferliegende, emotionale Verfassung bleibt in den Strassen des Alltags meist unerkannt. Bei wie vielen Menschen würden wir einen verborgenen Eisberg an suizidalen Gedanken unter der Oberfläche vermuten?
In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) erhob das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2017 mittels Fragebogen Daten zu Suizidgedanken und Suizidversuchen in der Schweizer Bevölkerung. Die Prävalenz von Suizidgedanken lag bei ungefähr 7,8 Prozent. «Hochgerechnet auf die gesamte Wohnbevölkerung ab 15 Jahren sind dies rund 541’000 Personen (95%-KI: 508’000–575’000)» (Obsan, 2019, S. 2). Konstruiert das innere Auge diese Zahl zu einem Bild, so könnte die Platzkapazität des Stadions Letzigrund rund 20-mal ausgeschöpft werden mit Menschen, die Suizidgedanken in sich tragen (Stadt Zürich, 2018).
Die Prävalenz der Suizidversuche lag nach der Datenerhebung der SGB 2017 bei 0,5 Prozent innerhalb der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2016. Auch hier rechnet das SGB diese Zahl hoch auf «rund 33’000 Suizidversuche (95%-KI: 23’000–42’000)» (Obsan, 2019, S. 4–5) schweizweit.
3,4 Prozent der Befragten haben während ihrer gesamten Lebensspanne bis zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Das bedeutet, dass 214’000 bis 259’000 Menschen, die in der Schweiz leben, zuvor einen Suizidversuch unternommen haben (Obsan, 2019). Zu erwähnen ist hierbei, dass bei der Datenerhebung in der Schweiz lebende Personen ab 15 Jahren befragt worden sind, exklusiv der Personen im Freiheitsentzug, in psychiatrischen Kliniken oder im Asylbereich (Obsan, 2019).
«Angst. […] ein Drang, weg auf die Strasse zu gehen und zur nächsten Brücke runter. Dann hat mich jemand angesprochen, ein Wildfremder. […] Ich weiss […] nicht, was passiert wäre, wenn er mich nicht angesprochen hätte.»
Philipp Zürcher – Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich, 2015.
Wenn ein Suizidversuch misslingt – Rettungssanitäter*innen im Einsatz
Fast 100 Rettungsdienste versorgen die Schweizer Bevölkerung täglich mit über 1’200 Rettungseinsätzen (Obsan, 2017). In einer Befragung von 245 Rettungsdiensteinsatzkräfte wurde die Häufigkeit der Einsätze aufgrund psychiatrischer Notfälle auf 8,7 Prozent geschätzt (Pajonk et al., 2004). Das würde demnach bedeuten, dass fast jeder zehnte Rettungsdiensteinsatz aufgrund eines psychiatrischen Notfalls erfolgt, zu denen auch Suizidversuche zählen.
Auch Elisa Nguyen (ehemalige Rettungssanitäterin) rückte während ihrer Arbeit beim Rettungsdienst immer wieder aufgrund von Suizidversuchen aus. Elisa gibt für das aware einen Einblick in ihre Erfahrungen.
«Vor Beginn meines Veterinärmedizinstudiums habe ich als Rettungssanitäterin gearbeitet und so hatte ich auch einige Suizideinsätze. Dabei sind mir vor allem die Selbstmordversuche der gesunden, jungen Menschen in Erinnerung geblieben, weil diese meist „nur“ ein Hilferuf an ihre Umgebung waren. So haben mir ein paar Patienten*innen im Nachhinein erzählt, wie erschrocken sie über ihre eigene Tat gewesen seien. Sie seien sich der Konsequenzen bis dato nicht wirklich bewusst gewesen. Meiner Meinung nach kann man in vielen Fällen eine solche Verzweiflungstat verhindern, indem man diesen Menschen eine Möglichkeit gibt, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen. Prävention und offene Kommunikation sind oftmals schon sehr hilfreich.»
Die innere Not zu erkennen geben
«Ich finde es wichtig, dass man Menschen nicht alleine lässt, wenn sie in einer Krise sind und dass man sie vor allem ernst nimmt» (Pro Juventute et al., 2018), äussert sich Elea in der Präventionskampagne Jugendsuizid der Pro Juventute, SBB und weiteren Kampagnenträger*innen. Wachsame Augen entdecken im Winter 2019/2020 in der Stadt Zürich die Plakate von fünf Jugendlichen aus dieser Kampagne. Sie plädieren dafür, dass Betroffene über ihre Suizidgedanken reden. Auch die Kampagne «reden kann retten» der Prävention und Gesundheitsförderung des Kantons Zürich will dem Schweigen über Suizidgedanken entgegenwirken.
Wie eingangs erwähnt, gehört Tabuisierung der Suizidthematik nach der WHO zu den zentralen Schwierigkeiten in der Suizidprävention. Auch die Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung beeinflussen die Rate der Menschen, die sich Hilfe holen, massgeblich (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2016).
Die Schweiz ermöglicht Anlaufstellen, die 24 Stunden betreut werden und die jederzeit Menschen in einer akuten Krise ihre Hilfe anbieten, so beispielsweise das Kriseninterventionszentrum Zürich (KIZ). Die Bettenzahl im KIZ ist zwar beschränkt, doch sind Gespräche rund um die Uhr möglich (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, 2019). Wer keinen persönlichen Kontakt möchte, hat die Option zum Telefon zu greifen. Auch die Dargebotene Hand bietet durch Freiwilligenarbeit ein 24-Stunden-Telefon an. Ausserdem gibt es Online-Chats, in denen Menschen in einer Krise mit Freiwilligen der Dargebotenen Hand oder auch mit der Nightline Zürich ihre Sorgen per Computer besprechen können.
Matthias Herren, der Stellenleiter der Dargebotenen Hand im Raum Zürich, äussert sich für das aware folgendermassen zum Thema Suizid.
«Wenn Suizidwillige die Dargebotene Hand am Telefon oder per Chat kontaktieren, gilt das Grundprinzip, dort anzuknüpfen, wo der*die Kontaktsuchende jetzt gerade steht. Dabei gilt es ernst zu nehmen und offen anzusprechen, dass Suizidwillige ihre akute Krisensituation als Sackgasse erleben, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Im Gespräch wird aber beachtet, dass es Suizidwilligen nicht primär darum gehen muss, zu sterben, sondern vor dem Unerträglichen zu fliehen. Möglicherweise gibt es dafür auch einen anderen Weg als den Tod.»
Sich helfen lassen – im Gespräch mit einer Betroffenen (16.01.20)
«Die Mutter meines Ex-Freundes hat sich das Leben genommen, als er zehn Jahre alt war. Meine Tante habe ich nie kennengelernt, weil sie sich als junge Erwachsene das Leben genommen hat. In der Primarschule ist eine Schulkollegin von mir eine Zeit lang nicht mehr zum Unterricht erschienen – ihr Vater hatte sich damals das Leben genommen.», berichtet Lena1. Mehr als fünf Personen könne Lena aufzählen, die sie direkt oder indirekt kenne, die Suizid begangen haben. Und mehr als doppelt so viele, die es versucht hätten.
«Suizidgedanken sind ein ernstzunehmendes Thema. Hinter diesen Gedanken steckt meiner Meinung nach oft ein tieferliegendes Gefühl, das sich im Wunsch nach dem Tod ausdrückt.», sagt die Studentin. Zumindest sei es ihr so ergangen. Auch sie wollte sterben. Dachte sie zumindest. Zweimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Zweimal sei es schief gegangen. Heute ist sie dankbar für ihr Leben.
Zwei stationäre Klinikaufenthalte folgten auf die beiden Suizidversuche. «In der zweiten Klinik war ich zunächst unter FU-Status, also fürsorgliche Unterbringung. Anders gesagt: Zwangseinweisung. In vielen Gesprächen, Kunsttherapien und Körpertherapien konnte ich dann das Geschehene besser verstehen, den Kern in meinen Suizidgedanken erkennen und mit der Zeit Abstand davon nehmen.» Es sei nicht der Wunsch nach dem Tod für sie gewesen. Es war ihre Verzweiflung, nicht zu wissen, wie sie ihre Emotionen aushalten könne. Nicht zu wissen, wie sie sich selbst helfen könne. «Leider waren die Gedanken nicht einfach verschwunden. Als ich angefangen habe, darüber zu reden, blieb der Drang nach dem Sterben immer noch bestehen», erzählt Lena. Erst als sie es als Symptom der eigenen Überforderung erkannte, konnte sie mit der Zeit anders damit umgehen. Jedes Mal, wenn sie die Müdigkeit des Lebens ergriff, habe sie offene Ohren in der Therapie gesucht. Später habe es gereicht, wenn sie in schwierigen Phasen kurz in den Online-Chat der Nightline Zürich ging oder mit einem*r Freiwilligen der Dargebotenen Hand chattete. Lena denkt: «Wenn jemand keinen Ausweg mehr sieht, kann man diesen Menschen zwar am Leben halten, indem der Suizid verhindert wird, doch kann niemand einen Menschen dazu bringen, wieder wirklich zu leben. Es gehört auch der Wille dazu, sich helfen zu lassen und dem Leben eine neue Chance zu geben.» Trotz Scham und Angst sei das Reden für Lena der Schlüssel zur Ausgangstür aus dem Gedankengefängnis Suizid gewesen.
«Den Tod kann dir niemand wegnehmen. Doch wer keinen alternativen Weg ausprobiert, verpasst vielleicht die Oase hinter der nächsten Sanddüne des Lebens.»
Notfalladressen – rund um die Uhr erreichbar:
Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (KIZ): 044 296 73 10
Kriseninterventionszentrum der Integrierten Psychiatrie Winterthur (KIZ): 052 224 37 00
Notfallpsychiatrischer Dienst am Universitätsspital Zürich: 044 255 11 11
Die Dargebotene Hand: 143
Pro Juventute (für Kinder- und Jugendliche): 147
Weitere Adressen für Krisensituationen:
Psychiatrisch-Psychologische Poliklinik: 044 412 48 00
Die Dargebotene Hand: Online Chat unter www.143.ch
Nightline Zürich: Online Chat unter www.nightline.ch
Pro Mente Sana: 0848 800 858
Psychologische Beratungsstelle UZH/ETH: 044 634 22 80, pbs@sib.uzh.ch
Onlinesuche nach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (psychiatrisch und psychologisch): www.therapievermittlung.ch
Zum Weiterlesen
Suizidprävention Kanton Zürich. (2020). In der Krise: Das hilft. Besorgt um jemanden?: So können Sie helfen. Retrieved from https://www.suizidpraevention-zh.ch
Coelho, P. (1998). Veronika beschliesst zu sterben. Rio de Janeiro: Editora Objetiva Ltda.
Söldi, A. (08. April 2013). Wenn Krisen am Studieren hindern. Tages-Anzeiger, 25. http://www.pbs.uzh.ch/medien/WennKrisenamStudierenhindern.pdf
Forum für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich. (2015). Den Kindern helfen: Wie Sie Kinder nach einem Suizid unterstützen können. Zürich: Verlag Kirche+Jugend. https://www.suizidpraevention-zh.ch/fileadmin/user_upload/Kinder_reden_Broschuere_2015.pdf
Literatur
Pajonk, F.G., Gärtner, U., Sittinger, H., von Knobelsdorff, G., Andresen, B. & Moecke, H. (2004). Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall & Rettungsmedizin 7(3): 161-167. https://doi.org/10.1007/s10049-004-0654-x
Peter, C. & Tuch, A. (2019). Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung (Obsan Bulletin 7/2019). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
Frey, M., Lobsiger, M. & Trede, I. (2017). Rettungsdienste in der Schweiz: Strukturen, Leistungen und Fachkräfte (Obsan Bulletin 1/2017). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
Stiftung Deutsche Depressionshilfe. (2016). Suizidprävention: Eine globale Herausforderung. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/131056/9789241564779-ger.pdf
Pro Juventute. (2020). Kampagne Suizidprävention. Retrieved from https://www.147.ch/de/suizidpraevention
Stadt Zürich (2018). Das Stadion Letzigrund in Zahlen und Fakten. Retrieved from https://www.stadionletzigrund.ch/de/zahlenfakten
Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich. (2015). Warum reden wichtig ist: Momo Christen, Daniel Göring und Philipp Zürcher haben einen Suizidversuch überlebt. Sie berichten in Filmclips über ihre Erfahrungen. Retrieved from https://reden-kann-retten.ch