«Morgen ist auch noch ein Tag…»
Prokrastination bei Studierenden: Das unproduktive Kavaliersdelikt

«Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen» heisst das berüchtigte Sprichwort. Der entstehende Stress lässt bei vielen Studierenden die Motivation im Keim ersticken und erschwert das Studium um einiges. Es wird nach Strategien gesucht, wichtige Termine nicht auf die lange Bank zu legen.
Von Tatonka Brunner
Lektoriert von Hannah Meyerhoff und Laura Trinkler
Illustriert von Nathalie Vital
Das deutsche Wort «prokrastinieren» geht auf das lateinische «procrastinare» zurück, übersetzt «vertagen» (crastinum = morgen, der morgige Tag) (Höcker et al., 2013). Ursprünglich war damit eine eher positiv konnotierte Verhaltensweise gemeint, nämlich das reflektierte Aufschieben von schwierigen Entscheidungen hin zu einem günstigeren Zeitpunkt. In unserem heutigen Sprachgebrauch kommt «prokrastinieren» jedoch eine mehrheitlich negative Bedeutung zu, im Sinne von «eine Sache nicht in Angriff nehmen, obwohl sie längst fällig wäre» (Höcker et al., 2013).
Oftmals sind priorisierte Tätigkeiten diejenigen, die schnellstmöglich zu erledigen sind (Bauer, 2019). Somit erscheint das Aufschieben von Tätigkeiten auf den ersten Blick als eine flexible Handlungskontrolle, weil man sich den unmittelbar anstehenden Aufgaben zuwendet. Man spricht auch heute noch vom positiven Aufschieben: Wir schlafen eine Nacht über Entscheidungen, bevor wir reagieren und handeln. Positiv im Bewusstsein, dass es ein gesundes Mass an Aufschieben ist, durch das man bei Entscheidungen mehr Sicherheit gewinnt (Bauer, 2019). Da beim Prokrastinieren die aufgeschobenen Ereignisse nicht wegfallen, sondern auf der Prioritätenliste nur weiter nach unten rutschen, verschiebt man diese Aufgaben ins Ungewisse und sie werden schlussendlich ausgeblendet. Der Zyklus beginnt von neuem (Bauer, 2019). Ein Thema für die klinische Psychologie wird die Prokrastination, sobald sie habituell wird und nicht mehr unterlassen werden kann (Höcker et al., 2013).
Spricht man von einer Störung?
Weder in der ICD-10 noch im DSM-IV werden diagnostische Kriterien für die Prokrastination aufgeführt (Höcker et al., 2013). Dort wird das Prokrastinieren lediglich als Symptom von anderen Störungen genannt, zum Beispiel bei der Depression. Prokrastination stellt eine dysfunktionale Form der Selbstregulation dar, die erhebliche Folgen für die Lebensführung mit sich bringt und dazu psychischen Aufwand fordert, um sie aufrechtzuerhalten. Dies kann wiederum eine Ursache von psychischen Störungen sein (Höcker et al., 2013). Es wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Tendenz zu prokrastinieren, der eigenen Unzufriedenheit und depressiven Symptomen gefunden. Weiter wurde entdeckt, dass die Unzufriedenheit bei Studierenden mit der Semesterzahl zunimmt (Deters, 2006). Denn die höchsten Prokrastinationswerte wurden bei Studierenden gefunden, die sich zum Zeitpunkt der Befragung ausserhalb der Regelstudienzeit befanden. Mit zunehmender Semesterzahl werden die psychischen Folgen des Aufschiebens immer gravierender (Deters, 2006).
In der Forschung wird zwischen der akademischen Prokrastination und einer Alltags-Prokrastination unterschieden, wobei jeweils unterschiedliche Ziele und Aktivitäten betroffen sind. Es stellte sich heraus, dass bei Prokrastinierenden in der Regel beide Bereiche betroffen sind (Höcker et al., 2013).
Wie entsteht und überlebt Prokrastination?
Am besten gedeiht Prokrastination bei mangelnder Steuerungsfähigkeit (Brisch, 2014). Im Klima von unregelmässigem Schlaf, wenig Bewegung, unausgewogener Ernährung und fehlender Routine können Lernende der Prokrastination zum Opfer fallen. Das gilt vor allem für Jugendliche, bei denen das Gehirn noch mitten in hormonellen Umstellungen und sonstigen massiven Veränderungsprozessen steckt (Brisch, 2014).
Ein weiterer Punkt ist die Aktivität beziehungsweise die Inaktivität (Brisch, 2014). Junge Studierende haben das Interesse, ihre neu erlernten Kompetenzen zu testen: unweigerlich auch ihre Tätig- und Untätigkeit. Die eigenen Grenzen ausweiten, herausfinden wie weit man gehen kann, bis Nachteile aufkommen. Prokrastination wird dann zur geläufigen Methode und das motivierte Lernen erstickt im Keim. Eine wichtige Rolle bei der «Aufschieberitis» spielt auch das sogenannte «Gewächshauspflanzen-Syndrom» (Brisch, 2014). Es beschreibt Studierende, die von zu Hause aus hohen Ansprüchen akademisch geprägter Familien genügen müssen, wobei zu wenig Wert auf die Entwicklung der emotionalen Intelligenz (EQ) gelegt wird. Manche bemerken beim Lernen, dass es ihnen bei der Strukturierung, Planung und Selbststeuerung an Selbstständigkeit fehlt. Denn ein zu hoher Erfolgsdruck erlaubt es den Studierenden nicht, mit der Arbeit anzufangen aus Angst vor möglichem Versagen (Brisch, 2014). Das Aufschieben schiebt diese Angst kurzzeitig mit sich weg. Dazu kommen der soziale Druck und der Wunsch, gesellig zu sein. Dies erschwert das Bewahren der Eigenständigkeit, die für das Planen des individuellen Studiums notwendig ist. Prokrastination ist sehr ansteckend!
Dem ungewollten Verschieben die Stirn bieten: Wichtig oder dringend?
Als erstes gilt es, Prioritäten zu finden und zu setzen: Mit der «Getting Things Done» (GTD) Methode von David Allen gewinnt man die Übersicht über die vielen Termine (Bauer, 2019). Dabei werden alle Aufgaben aus den verschiedenen Lebensbereichen aufgelistet, vom Kleiderschrank ausmisten bis zum Fertigstellen der Seminararbeit. Als nächstes erstellt man eine Rangordnung der Aufgaben nach deren Dringlichkeit. Da kommt eine hilfreiche Matrix ins Spiel, die an die berühmte Eisenhower-Methode angelehnt ist (Bauer, 2019).
Wichtig und dringend | Wichtig und nicht dringend |
Nicht wichtig und dringend | Nicht wichtig und nicht dringend |
Auf der horizontalen Achse wird der Wert der Dringlichkeit und auf der vertikalen die Wichtigkeit abgebildet (Bauer, 2019). Die Aufgaben auf der erstellten GTD-Liste werden hier eingegliedert und nach Bedarf in der Matrix umhergeschoben. Wichtig ist, sich dann proaktiv Kästchen für Kästchen durchzuarbeiten, von oben links über oben rechts nach unten rechts. Diese Tabelle ist ein guter Einstieg, um den Berg an Aufgaben systematisch zu meistern (Bauer, 2019). Also sofort beginnen!
«Morgen ist ein Tag zu spät»
Gielas, 2011, Titelsatz
Rituale und Struktur – Wenn nicht jetzt, wann dann?
Beim Lerneinstieg oder einem Motivationstief hilft es enorm, sich feste Rituale anzueignen, die das Gehirn schon bei Beginn der Arbeit in einen automatisierten Arbeitsmodus versetzen (Bauer, 2019). Bereits ein morgendlicher Wecker ist eine erste Strukturhilfe. Ein festes Frühstück, eine kurze Sporteinheit oder eine Meditationsübung helfen, Motivation aufzubauen. Rund um den Arbeitsplatz können zahlreiche Rituale gefunden werden, die das Loslegen unterstützen. So wirkt auch im Homeoffice der Weg vom Schlafzimmer an den Schreibtisch unterstützend, um Motivation zu schöpfen. Es kann ausprobiert werden, ob Musik oder lärmschützende Kopfhörer bei der Konzentration helfen (Bauer, 2019). Hier gelten die Leitfragen: Welche Grundvoraussetzungen müssen für mich gegeben sein? Wo kann ich mich am besten konzentrieren? Wie muss mein Arbeitsplatz angeordnet sein, oder mit wem gelingt mir die Arbeit noch besser?
Faktor Zeit – Eigene Tipps, um auch im Prüfungsstress erfolgreich aktiv zu bleiben
Manchmal braucht es eine grosszügige Pause. Angenommen, die vorgenommene Zeiteinteilung mit der GTD Liste hat nicht funktioniert oder man hat es an einem Tag nicht geschafft, richtig anzufangen, «dann leiste ich jetzt, was im Moment geht, mit der Einstellung, die ich zum gegebenen Zeitpunkt gegenüber meiner Arbeit habe. Ich versuche, die Energie in die Arbeit mitzunehmen» (Zitat von Suanne Pollmeier, Schauspieldozentin an der Stage School Hamburg). Ein hilfreicher Tipp bei wenig Zeit: Es ist besser, das bereits Gelernte zu festigen, als zu versuchen, komplett neue Themen zu erlernen. Im Studium braucht es stets Mut zur Lücke!
«Es ist sehr wichtig, die verdienten Pausen nach Bedarf zu setzen, nicht fix in den Terminkalender einzuplanen. So kann man entspannter auf ein Motivationstief reagieren und ohne Reue eine Pause einlegen, das verleiht Handlungskontrolle. Denn fängt man auf niedriger Flamme an zu lernen, benötigt man mehr Zeit für eine Arbeit, die auf voller Flamme weniger Zeit in Anspruch nehmen würde.» (Auszug aus dem Interview mit Romina Behrend, Studentin der UZH)
«Für eine Arbeit am Mittwoch, versuche ich am Sonntag damit fertig zu sein.» Romina Behrend, Studentin der Universität Zürich
Zum Weiterlesen
Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe.
Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag.
Literatur
Bauer, A. (2019). Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird. Junfermann Verlag.
Brisch, K. H. (2013). Bindung und Jugend: Individualität, Gruppen und Autonomie. Klett-Cotta.
Deters, B., Engberding, M., & Rist, F. (2006). Prokrastination bei Studierenden: Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter. Retrieved from Prokrastination bei Studierenden – Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter (adhs-studien.info)
Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2013). Prokrastination: Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens. Hogrefe.
Gielas, A. (30. Mai 2011). Morgen ist ein Tag zu spät. Neue Zürcher Zeitung.