Autismus-Spektrum-Störungen
Braucht es einen Perspektivenwechsel?

Die Autismus-Spektrum-Störung ist heutzutage weit verbreitet. Meist zeigt sie sich erstmals im Kindesalter, indem sie den Betroffenen die Kommunikation mit anderen erschwert. Doch ist Autismus wirklich eine Störung? Oder funktionieren Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen einfach anders?
Von Larissa Leuenberger
Lektoriert von Marina Reist und Laura Trinkler
Illustriert von Holly Vuarnoz
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeichnet sich vor allem durch Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie stereotype, repetitive Verhaltensweisen aus (Freitag, 2020). In der ICD-10 wurden hierbei verschiedene Unterarten unterschieden, wie frühkindlicher Autismus, welcher sehr stark ausgeprägte Symptome vorweist, und das Asperger-Syndrom, welches eher unauffällig ist (Müller, 2016). In den neueren Klassifikationssystemen wie ICD-11 werden diese jedoch zunehmend durch den Überbegriff «Autismus-Spektrum-Störung» ersetzt, welcher, wie der Name schon sagt, alle verschieden starken Ausprägungen auf einem allgemeinen Spektrum zusammenfasst (Freitag, 2020).
Personen, die mit einer ASS diagnostiziert werden, zeigen oft Schwierigkeiten im sozialen Umgang (Müller, 2016). Sie sprechen wenig und sehen das gegenüber nicht an, wenn er*sie mit ihm*ihr spricht (Müller, 2016). Allgemein ist die Kommunikation mit Autist*innen oft sehr schwierig. Viele wirken unerreichbar und leben in ihrer eigenen Welt. Es fällt ihnen schwer, sich in andere hineinzuversetzen und allgemein scheinen Autist*innen eine weniger stark ausgeprägte Theory of Mind zu haben (Tager-Flusberg, 2007). Auch zeigt sich bei den Betroffenen häufig ein stark routiniertes Verhalten, welches sie akribisch jeden Tag wiederholen. Diese Routine ist ihnen sehr wichtig und sie reagieren oft mit Wut und/oder Angst auf Behinderungen oder Abweichungen von ihrem gewohnten Tagesablauf (Müller, 2016).
Die Symptome der ASS können sich in der Ausprägung von Individuum zu Individuum stark unterscheiden. Während es einigen Betroffenen möglich ist, sich ohne grosse Umstände in die Gesellschaft zu integrieren, bleiben andere ein Leben lang nonverbal und sind nicht in der Lage, selbständig den Alltag zu meistern. Es gibt heute jedoch zahlreiche Therapien und Interventionen, welche die Symptome erfolgreich lindern können. Die Integration in die Gesellschaft, welche bei den Kindern meist in der Schule beginnt, ist dabei ein entscheidender Schritt. Denn vom Kontakt zu anderen Menschen können Personen mit ASS viel profitieren und lernen. Schlussendlich ist es auch ein grosses Ziel bei ASS, dass die Betroffenen ein gewöhnliches Leben führen und möglichst uneingeschränkt leben können.
Die Hürden mit ASS
«Manchmal fühle ich mich, als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet und muss die Gepflogenheiten mühsam lernen. – Linda»
Müller, 2016, Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, Abs. 5
Die Konfrontation mit der übrigen Welt bringt oft viele Probleme mit sich. Einige Betroffene leiden unter Mobbing oder fühlen sich ausgegrenzt, weil ihre Mitmenschen sie nicht verstehen. Dies ist für viele eine grosse Last und hängt mit psychischen Problemen wie Depressionen und allgemein schlechterer psychischer Gesundheit zusammen (Mitchell, Sheppard, & Cassidy, 2021). Das Anschlussbedürfnis ist von Individuum zu Individuum verschieden und so gibt es auch zwischen verschiedenen Personen mit ASS-Diagnose grosse Unterschiede. Es ist ein Irrtum, dass alle Menschen mit ASS nicht gern Freundschaften pflegen oder in Partnerschaft leben wollen. Darum ist es verheerend, wenn sie von Anfang an als «der*die ist Autist*in, das heisst, er*sie ist asozial», abgestempelt werden. Diese Sichtweise macht es den Betroffenen noch schwerer, Anschluss zu finden. Sie fühlen sich ausgeschlossen und minderwertig, worunter ihr Selbstwertgefühl leidet (Mitchell et al., 2021). In wenigen schlimmen Fällen kann dies sogar zu Suizidgedanken führen (Mitchell et al., 2021).
Und nicht nur in sozialen Angelegenheiten fühlen sich Autist*innen überfordert. Auch die über- oder unterempfindliche Wahrnehmung ist eine starke Einschränkung. Dabei sind die verschiedensten Sinne betroffen, wie Gehör, Tast- und Sehsinn (Müller, 2016). Manche fühlen sich, als befänden sie sich in einer fremden Welt oder auf einem fremden Planeten (Müller, 2016).
Autismus als gesellschaftliches Problem
Unsere Gesellschaft hat sich seit hunderten von Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, doch schon seit jeher mussten Minderheiten um ihren Platz kämpfen. Leute mit ASS sind eine dieser Minderheiten. Von Kind auf werden sie geschult und gedrillt, um sich an unseren Standard anzupassen. Viele Forscher fragen sich, ob es nicht besser wäre, den mit ASS-Diagnostizierten einen Schritt entgegenzukommen und mehr Toleranz zu zeigen (Mitchell et al., 2021). So wie Gehbehinderte die Möglichkeit bekommen, sich unbeschwerter im Alltag fortzubewegen, müssten auch für Autisten angenehmere Bedingungen geschaffen werden, um ihnen das Leben zu erleichtern.
Das «Double Empathy Problem»
«… eine Diskrepanz in der Reziprozität zwischen zwei unterschiedlich veranlagten sozialen Akteuren, die umso ausgeprägter ist, je größer die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Lebenswelt ist…»
Milton, 2012, S. 884
Ein grundlegendes Problem bei der Theory of Mind und Empathie ist, dass für die Festlegung der Norm nicht-autistische Personen verwendet wurden (Milton, 2012). So funktioniert die Erfassung dieser zwei Konstrukte bei nicht-autistischen Personen zwar einwandfrei, doch im autistischen Spektrum zeigen sich dabei Schwierigkeiten. Milton (2012) bezeichnet darum auch die Defizite bei ASS in der Theory of Mind als reinen Mythos. Das Problem seien gemäss Milton nicht allfällige Defizite von Menschen mit ASS, sondern die Interaktion zwischen diesen und Menschen ohne ASS. Es wird deshalb als «doppeltes» Problem bezeichnet, weil die Schwierigkeit durch die Interaktion dieser zwei Gruppen miteinander entsteht und auf Unterschieden zwischen den beiden beruht (Milton, 2012). Personen mit ASS haben kaum Probleme, sich mit anderen Personen mit derselben Diagnose zu unterhalten. Auch Menschen ohne ASS haben vergleichsweise wenig Probleme beim Umgang mit ihresgleichen. Erst wenn die zwei Gruppen aufeinandertreffen, entstehen die Schwierigkeiten, was zeigt, dass die Ursache in den Gruppenunterschieden liegt (Milton, 2012). Es ist genauso schwer für Personen ohne ASS sich in Leute mit ASS hineinzuversetzen wie umgekehrt. Kinder mit ASS müssen heutzutage viele Stunden pro Woche an ihren sozialen Fähigkeiten arbeiten und werden oft gedrillt, um der sozialen Norm zu entsprechen. Das Double Empathy Problem impliziert jedoch, dass ein Entgegenkommen von beiden Seiten möglich wäre. Wie dieses aussieht, bleibt jedoch noch offen.
Defizit oder einfach anders?
Es gibt keine klare Antwort auf die Frage, ob Menschen mit ASS ein Defizit aufweisen oder einfach nur anders sind als neurotypische Menschen. Es ist so, dass Menschen mit ASS mit gewissen neurologischen Veränderungen zur Welt kommen, die ihnen die Interaktion mit anderen erschweren (Mitchell et al., 2021). Vor allem Schwierigkeiten beim Erlernen der verbalen und nonverbalen Kommunikation sind dabei ein ausschlaggebender Faktor. Doch ist auch zu berücksichtigen, dass der Standard, den man den Betroffenen zur Erreichung setzt, vielleicht nicht geeignet ist. Es ist definitiv nicht vorteilhaft, den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass sie erst ihre Defizite überwinden müssen, um als Mensch zu genügen. Denn viele Autisten empfinden ihre Diagnose als etwas Wunderbares. Sie wollen gar nicht geheilt werden und würden sich nicht als krank bezeichnen (Müller, 2016). Darum streben viele einen Perspektivenwechsel in der Gesellschaft an, sodass Autisten als vollwertige und anders funktionierende Menschen anerkannt werden (Mitchell et al., 2021; Müller, 2016). Linus Müller (2016), der Autor der Website «Autismus Kultur», bezeichnet Autismus dabei als «neurologisch bedingte Wesensart – keine Krankheit». Die einen sind introvertiert, die anderen extrovertiert. Und so gibt es auch Menschen mit und Menschen ohne ASS. Sie alle äussern sich verschieden im sozialen Kontext, eine Wertung ist dabei jedoch nicht möglich. Es zeigt nur die Diversität und Individualität von uns als Menschen.
Theory of Mind
«Theory of Mind (ToM) ist die Fähigkeit, anderen Wünsche, Absichten, Ideen usw. zuzuschreiben, die sich von den eigenen unterscheiden»
Wehrli & Modestin, 2009, S. 229
Die Fähigkeit einer ToM wird im frühen Kindesalter entwickelt, wobei sie erst im Erwachsenenalter vollständig ausgereift ist. Die Entwicklung einer ToM ist wichtig für soziale Interaktionen, denn so lernen die Kinder, dass nicht alle das gleiche Wissen haben und Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen. Im Gegensatz zur Empathie, bei der es darum geht Gefühle nachzuempfinden, gelingt Mithilfe einer ToM das Nachvollziehen von Gedankengängen. Mit ungefähr anderthalb Jahren äussert sich bei den Kindern zum ersten Mal eine rudimentäre ToM (Onishi & Baillargeon, 2005). Dies zeigt die Studie von Onishi und Baillargeon (2005) zum False Belief. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Kinder mit 18 Monaten in der Lage sind zu verstehen, dass ein Mensch nach Überzeugungen handelt, die richtig oder falsch sein können (Onishi & Baillargeon, 2005). Bis heute ist der Zeitpunkt des Beginns einer ToM jedoch umstritten.
Zum Weiterlesen
Milton, D. E. M. (2012). On the ontological status of autism: The ‘double empathy problem’. Disability & Society, 27(6), 883-887. https://doi.org/10.1080/09687599.2012.710008
Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350
Literatur
Freitag, C. M. (2020). Von den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 zur Autismus-Spektrum-Störung in ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 1-5. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000774
Milton, D. E. M. (2012). On the ontological status of autism: The ‘double empathy problem’. Disability & Society, 27(6), 883-887. https://doi.org/10.1080/09687599.2012.710008
Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 1-18. https://doi.org/10.1111/bjdp.12350
Müller, L. (2016, 9. Januar). Aus autistischer Sicht: Was ist eigentlich Autismus?. Autismus-Kultur. https://autismus-kultur.de/autismus/autismus-spektrum-was-ist-autismus.html
Onishi, K. H., & Baillargeon, R. (2005). Do 15-month-old infants understand false beliefs? Science, 308(5719), 255-258. https://doi.org/10.1126/science.1107621
Tager-Flusberg, H. (2007). Evaluating the theory-of-mind hypothesis of autism. Current Directions in Psychological Science, 16(6), 311-315. https://doi.org/10.1111/j.1467-8721.2007.00527.x
Wehrli, M. V., & Modestin, J. (2009). Theory of Mind (ToM) – ein kurzer Überblick. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 160(6), 229-234. https://doi.org/10.4414/sanp.2009.02088