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Professor*innen gefragt

Wovon braucht es mehr und wovon weniger?

Gesammelt von Noémie Lushaj
Lektoriert von der Redaktion

Prof. Dr. Mike Martin

Der Prozess des Alterns ist charakterisiert durch Komplexität und Heterogenität, sowohl innerhalb der gleichen Person über die Zeit als auch über verschiedene Personen hinweg. Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit werden aber noch immer häufig allein daran ausgerichtet, ob jemand zur Gruppe der über 65-jährigen gehört. Damit wird ein einziges Merkmal, das chronologische Alter, zur Beschreibung eines komplexen Phänomens herangezogen. Zusätzlich werden Personen häufig von Forschungsvorhaben aufgrund ihres Alters ausgeschlossen. Damit wird ein strukturelles Ungleichgewicht unseres Wissens über die Grundlagen der Lebensqualität zwischen jüngeren und älteren Personen weiter verstärkt. Wir benötigen daher mehr Daten, die die Komplexität des Alterns über 65 Jahre objektivieren und für Forschende und Entscheidungsträger zugänglich machen, damit wir weniger Personen allein aufgrund ihres Alterns stereotypisieren. Diese Daten bilden die Grundlage für neue Langlebigkeits-Innovationen, die die Unterschiedlichkeit des Phänomens Altern nutzen statt sie zu ignorieren.

Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker

Diese Frage spricht die psychische Fähigkeit zur Balance an. Menschen erleben Gutes und Schlechtes, und das Schlechte ist bekanntermassen steigerungsfähig bis hin zum Traumatischen. Als wir in unserer Abteilung 2015 am Kohärenzsinn-Konzept gearbeitet haben – es soll ja die Bewältigungsfähigkeit durch ein möglichst umfassendes Verstehen und Einordnen negativer Erfahrungen messen –, haben wir das ursprüngliche Konzept von Aron Antonowsky um die Balance-Fähigkeit erweitert. Die Items im Antonowsky-Konzept waren hauptsächlich Optimismus-Items und der Originalfragebogen ist aus mehreren methodischen Gründen eigentlich obsolet. Bei der Balance geht es um das Anerkennen und Berücksichtigen, dass jeder Person Schlechtes und Gutes passiert und dass niemand um so etwas herumkommt. Ein US-Kollege aus der Trauma- und Resilienzforschung, George Bonanno, wollte einmal einen seiner Fachartikel den Titel geben «Shit happens». Er hat es dann aber doch nicht so gemacht – was nichts an der Grundaussage ändert, dass man manchmal einen funktionalen Fatalismus braucht, anstelle des Wunsches von den guten Sachen ganz viel und von Schlechtem gar nichts haben zu wollen.      

Prof. Dr. Klaus Oberauer

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit (also den Menschen, die nicht selbst Wissenschaft betreiben) ist nicht so gut, wie es sein könnte. Um dem abzuhelfen, brauchen wir mehr guten Wissenschaftsjournalismus: Texte (und Bilder?), die erklären, dass wissenschaftliche Erkenntnisse keine unverrückbaren Wahrheiten sind, sondern revidierbar und kritisierbar – und doch unsere beste Chance, die Welt zu erkennen (ein gutes Beispiel ist der Artikel «Nicht in Stein gemeisselt» in der ZEIT vom 30. Juli). Wir brauchen mehr Journalistinnen und Journalisten, die sich Zeit nehmen, die verschiedenen wissenschaftlichen Standpunkte zu einer Frage zu recherchieren und gegenüber zu stellen. Wir brauchen weniger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die den Medien grob vereinfachte griffige Geschichten – oft weit jenseits ihrer fachlichen Expertise – anbieten. Wir brauchen weniger Journalistinnen und Journalisten, die solche Geschichten dankbar übernehmen und unkritisch verbreiten.

Prof Dr. Guy Bodenmann

In der Familie braucht es mehr positive Signale, Zeichen der Zuneigung, des Interessens und des Verständnisses und weniger das Paar- und Familienklima vergiftende Animositäten, Reibereien und Zänkereien. Es braucht mehr Toleranz und Großzügigkeit den Macken der anderen Familienmitglieder gegenüber und mehr Konzentration auf das Wesentliche, auf das, was man aneinander hat. Eine Studie zeigt, dass ein Verhältnis von 5:1 (Positivität gegenüber Negativität) zu längerfristiger Partnerschaftszufriedenheit und Beziehungsstabilität beiträgt. Ein Verhältnis von mindestens 2:1 geht zudem mit weniger Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und weniger emotionalen Problemen (Ängsten, Depressionen) einher. Ein wohlwollendes von gegenseitigem Respekt, wechselseitiger Wertschätzung und liebevoller Zuneigung getragenes Miteinander geht mit höherer Lebenszufriedenheit und besserem psychischen und physischen Befinden einher. Davon braucht es mehr – von diesen kleinen Momenten der Achtsamkeit für die anderen.

Prof. Dr. Moritz Daum

Die Geschichte «Die drei Bären» handelt, je nach Version, von einem kleinen Mädchen, Goldlöckchen, Englisch Goldilocks, die in das Haus einer Bärenfamilie, ja man muss sagen, einbricht und dort vom gerade zubereiteten Brei probiert. Der Brei in der Schüssel des Bärenvaters ist zu heiss, der der Bärenmutter zu kalt, während der Brei des Bärenkindes genau richtig ist. Die Geschichte geht so weiter, Stuhl und Bett des Bärenvaters sind zu hart, der Bärenmutter zu weich und des Bärenkindes genau richtig.

Diese Geschichte haben Celeste Kidd und Kollegen in ein experimentelles Design überführt und bei Säuglingen im Alter von 7 bis 8 Monaten ihre Aufmerksamkeit zu unterschiedlichen komplexen Mustern untersucht (Kidd et al., 2012). Die Aufmerksamkeit der Säuglinge war am grössten bei visuellen Stimuli von mittlerer Komplexität. Bei zu viel Komplexität wandten sich die Säuglinge ab, bei zu wenig fanden sie es langweilig. Die Interpretation der Autor*innen: Bereits im ersten Lebensjahr versuchen Kinder ihr Lernen zu optimieren, in dem sie auf für sie ideale Informationsmengen fokussieren.

Im Grunde ist das nichts Neues. Schon unser entwicklungspsychologischer Übervater Jean Piaget argumentierte, dass sich Kinder in einem Zusammenspiel von Assimilation und Akkommodation neue Information effizient verarbeiten und dass entsprechend Lerngelegenheiten an den kognitiven Entwicklungsstand eines Kindes angepasst werden sollten. Auch der russischer Entwicklungspsychologe Lew Wygotskij beschreibt mit seinem Scaffolding nichts anderes als dass für ideales Lernen eine kompetentere Person einem Kind ein Rahmengerüst bietet, welches dem Kind hilft, eine Aufgabe zu lösen. Wichtig ist, dass dieses Rahmengerüst nicht zu viel und nicht zu wenig Spielraum lässt.


Referenzen:

Kidd, C., Piantadosi, S. T., & Aslin, R. N. (2012). The Goldilocks effect: Human infants allocate attention to visual sequences that are neither too simple nor too complex. PLoS ONE, 7(5), e36399. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0036399

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