Unerfüllter Kinderwunsch
Die psychologischen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches und die Möglichkeiten der assistierten Reproduktion

Weltweit leiden ca. 50 Mio. Paare unter einem unerfüllten Kinderwunsch (Mascarenhas et al., 2012). Für diese Paare gibt es einerseits medizinische Angebote, die sie auf ihrem Weg zu einem leiblichen Kind unterstützen. Die reproduktive Psychologie andererseits ist für die psychische Begleitung der Eltern in dieser herausfordernden Zeit zuständig.
Von Laura Trinkler
Lektoriert von Zoé Dolder und Jovana Vicanovic
Illustriert von Gianna Zorzini
In der Schweiz bleibt jedes sechste Paar ungewollt kinderlos (Klinik für Reproduktions-Endokrinologie, USZ, n.d.). Für diese Paare gibt es viele verschiedene medizinische Hilfeleistungen, wie z. B. Fertilitätsabklärungen oder bei einer bestätigten Unfruchtbarkeit technische Möglichkeiten zur Förderung einer Schwangerschaft. Unfruchtbarkeit ist laut WHO eine Erkrankung des Fortpflanzungssystems, die dadurch definiert ist, dass es einem Paar nach zwölf oder mehr Monaten mit regelmässigem Geschlechtsverkehr ohne Verhütung nicht möglich ist, schwanger zu werden (Zegers-Hochschild et al., 2009). Eine künstliche Befruchtung (IVF oder ICSI, siehe Kästchen) kostet je nach gewähltem Verfahren zwischen 4‘000 und 10‘000 Franken pro Befruchtungszyklus (Fertility.ch, n.d.). Nebst den finanziellen Belastungen müssen Paare zusätzlich auch mit psychischen Belastungen rechnen, welche im nächsten Abschnitt aufgegriffen werden.
Psychologische Unterstützung
Nach einer Unfruchtbarkeitsdiagnose und einer eventuell folgenden künstlichen Befruchtung oder anderen Verfahren assistierter Reproduktion sind die werdenden Eltern oftmals mit Emotionen wie Scham, Trauer, Hilflosigkeit, Wut oder Neid konfrontiert. Ebenso kann ein Gefühl des Verlusts der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit aufkommen (Strauss et al., 2004). Insbesondere Scham, Gefühle des Unverstandenseins und Stigmatisierung können zu sozialem Rückzug führen, wodurch wiederum die zuvor genannten Emotionen verstärkt werden können. An dieser Stelle ist es wichtig, dass den werdenden Eltern auch psychologische Hilfe angeboten wird (Strauss et al., 2004).
«People need support (…). (…) in their daily lives when they just see pregnant people all around them, it can feel very isolating and feel very difficult in terms of finding support.»
Dr. Julie Bindeman in Calkins, 2019, [6:12]
In der Schweiz gibt es Gynäkolog*innen mit einer psychotherapeutischen Weiterbildung oder Psychotherapeut*innen mit einer Weiterbildung in gynäkologischer Sozialmedizin und Psychosomatik, die diesen Paaren Unterstützung anbieten können. Auch unter dem Stichwort Gynäkopsychologie finden sich ausgebildete Psychotherapeut*innen mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet des unerfüllten Kinderwunsches (Klaus-Grawe-Institut für psychologische Therapie, n.d.).
Das Berufsfeld der reproduktiven Psychologie
Für die Arbeit als reproduktive*r Psycholog*in bzw. Gynäkopsycholog*in gibt es in der Schweiz noch keinen spezifischen Weiterbildungslehrgang. Die Fachpersonen auf diesem Gebiet sind ausgebildete Psychotherapeut*innen, welche sich ihr Wissen in Bezug auf den unerfüllten Kinderwunsch oder andere gynäkopsychologische Themen während ihrer Arbeit in einer Frauenklinik oder verwandten Institutionen selbst erarbeitet haben.
Die deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung (BKiD) bietet eine explizite Fortbildung im Bereich des unerfüllten Kinderwunsches an. Mit den entsprechenden Voraussetzungen kann dies auch in einer Zertifizierung münden, in der Schweiz ist diese jedoch nicht anerkannt.

In den Vereinigten Staaten wird dieser spezielle Bereich der Gesundheitspsychologie Reproductive Psychology genannt. Die darin spezialisierten Psycholog*innen, Berater*innen und Sozialarbeiter*innen befassen sich nebst der psychologischen Belastung durch Unfruchtbarkeit und künstlicher Befruchtung auch mit Themen wie dem Umgang mit einer traumatischen Geburt, Fehlgeburten, Totgeburten, sowie auch postpartalen Stimmungskrisen wie der postnatalen Depression (Center for Reproductive Psychology, n.d.; Calkins, 2019).
Auch LGBTQ+-Paare finden in der reproduktiven Psychologie Unterstützung, sei es bei einer Befruchtung durch Verfahren der assistierten Reproduktion, Informationen rund um Samen- bzw. Eizellenspenden oder deren psychischen Implikationen für das Kind und die werdenden Eltern (Holley und Pasch, 2015). Auch Abklärungen zur Eignung von Leihmüttern oder Adoptionsprozessen werden in den Vereinigten Staaten durch die Reproductive Psychologists durchgeführt (Integrative Therapy of Greater Washington, n.d.).
Assistierte Reproduktive Technologien (ART)
Es gibt verschiedene Arten der assistierten Reproduktion, die einem Paar zur Verfügung stehen. Eine Auswahl der in der Schweiz zugelassenen, assistierten reproduktiven Technologien (ART) wird auf der Webseite fertility.ch (n.d.) wie folgt beschrieben:
- Intrauterine Insemination (IUI): Bei der IUI wird das Sperma des Mannes mithilfe eines Katheters in die Gebärmutter der Frau eingeführt.
- In-vitro-Fertilisation (IVF): Nach einer hormonellen Stimulation der Frau werden ihr mehrere Eizellen entnommen. Diese werden anschliessend in vitro, das heisst im Glas, mit den Spermien des Mannes befruchtet. Nach einer zwei- bis dreitägigen Kultivierung werden maximal drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutter eingesetzt.
- Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Die ICSI gilt als Ergänzung zur IVF. Dabei wird die Samenzelle des Mannes direkt in die Eizelle injiziert, was insbesondere bei schwacher Spermienqualität ein besseres Ergebnis verspricht.
Patientenorientierte Betreuung vs. psychologische Beratung
Laut den «Guidelines for Counselling in Infertility» unterscheidet man zwischen zwei Arten von Unterstützungsansätzen während einer Fruchtbarkeitsbehandlung (Appleton et al., 1999). Einerseits wird von der patientenorientierten Betreuung gesprochen, andererseits von der psychologischen Beratung.
Die patientenorientierte Betreuung konzentriert sich auf die psychosoziale Betreuung durch das gesamte, an der Fruchtbarkeitsbehandlung beteiligte Personal – also nicht nur Psycholog*innen, sondern insbesondere auch Ärzt*innen, Pflegende und Sozialarbeiter*innen. Bei der patientenorientierten Betreuung geht es vor allem darum, dass den werdenden Eltern alle Fragen rund um den Verlauf der Behandlung beantwortet und sie nach einer schmerzlichen Erfahrung, wie z. B. einer Fehlgeburt oder einem negativen Schwangerschaftstest, unterstützt werden. Eine weitere Aufgabe der patientenorientierten Betreuung ist die Herausgabe von weiteren Informationen, die die Patient*innen bei der emotionalen Verarbeitung und der Aufklärung des Umfeldes unterstützen (Appleton et al., 1999).
Im Unterschied dazu wird die psychologische Beratung nur durch psychotherapeutisch ausgebildete Fachpersonen durchgeführt. Sie ist nicht für alle Patient*innen notwendig und der Inhalt der Beratung ist sehr individuell und abhängig von der gewählten Behandlungsform der Reproduktionsförderung. In der Beratung kann sichergestellt werden, dass die werdenden Eltern bestmöglich informiert und auf die möglichen psychischen Schwierigkeiten vorbereitet sind, die durch die Behandlung ausgelöst werden können. Ein weiterer therapeutischer Aspekt der Behandlung konzentriert sich oft auf die emotionalen Konsequenzen der Ungewissheit bezüglich des Behandlungserfolges oder auch die Begleitung in ein kinderloses Leben (Appleton et al., 1999).
Wie geht es weiter?
Auch mit aller medizinischer und psychologischer Unterstützung ist es nicht möglich, jedem Paar seinen Wunsch nach einem biologischen Kind zu erfüllen. Kommt es trotz assistierter Reproduktion zu keiner Schwangerschaft, kann dies für Paare das Ende eines Lebensprojekts bedeuten und zu Veränderungen ihrer sozialen Rollen führen (Dyer et al., 2002). Kurz nach dem Abbruch einer erfolglosen künstlichen Befruchtung leiden Frauen generell mehr unter der erfolglosen Behandlung als Männer. Frauen haben, zusätzlich zu den psychologischen Problemen mit denen auch Männer zu kämpfen haben, auch Probleme mit dem Selbstbild und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit. Bleiben Frauen nach einer erfolglosen Fruchtbarkeitsbehandlung kinderlos, sind sie weniger zufrieden mit ihrem Leben und es zeigen sich erhöhte Level von Ängstlichkeit, Stress und Depressionen im Vergleich zu Frauen, die durch eine Adoption Mütter geworden sind (Filetto & Makuch, 2005). Egal, ob es um die psychologische Unterstützung bei diesen psychischen Problemen oder das Finden einer neuen Lebensaufgabe geht – es gibt viele Herausforderungen, bei denen die reproduktive Psychologie die Paare unterstützen kann.
In Anbetracht des steigenden Alters von Erstgebärenden (Nolte, 2019) kann davon ausgegangen werden, dass die assistierte Reproduktion in Zukunft noch öfters zum Einsatz kommen wird. Daraus lässt sich schliessen, dass eine einheitliche Weiterbildung im Bereich der reproduktiven Psychologie wünschenswert wäre, damit diese hoffnungsvollen Paare auf ihrem Weg zu einer Familie von spezialisierten Fachkräften optimal begleitet werden können.
Zum Weiterlesen
Van den Akker, O. (2012). Reproductive health psychology. Wiley-Blackwell.
Limiñana-Gras, R. (2017). Reproductive psychology and infertility. Acta Psychopathologica, 3, 1-3. https://doi.org/10.4172/2469-6676.100155
Calkins, H. (Producer). (2019, May 3). Finding a niche: Reproductive psychology [Audio podcast]. In Progress Notes: Keeping Tabs on the Practice of Psychology. American Psychological Association. https://www.apaservices.org/practice/business/podcasts/reproductive-psychology
Literatur
Appleton, T. C., Baetens, P., Baron, J., Bitzer J., Boivin, J., Corrigan, E., Daniels, K. R., Darwish, J., Guerra-Diaz, D., Hammar, M., Kentenich, H., McWhinnie, A., Strauss, B., Thorn, P., & Wischmann, T. (1999). Guidelines for counselling in infertility: Special interest group “psychology and counselling”. https://www.eshre.eu/Specialty-groups/Special-Interest-Groups/Psychology-Counselling/Archive/Guidelines
Bindeman, J. (n.d.). Fertility. https://greaterwashingtontherapy.com/fertility/
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2017, February 23). Kryokonservierung. Familienplanung.de. https://www.familienplanung.de/kinderwunsch/behandlung/kryokonservierung/
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Campagne, D. M. (2006). Should fertilization treatment start with reducing stress? Human Reproduction, 21(7), 1651-1658. https://doi.org/10.1093/humrep/del078
Center for Reproductive Psychology. (n.d.). What We Do. https://www.reproductivepsych.org/services/
Cousineau, T. M. & Domar, A. D. (2007). Psychological impact of infertility. Best Practice & Research Clinical Obstetrics and Gynaecology, 21(2), 293-308. https://doi.org/10.1016/j.bpobgyn.2006.12.003
Dyer, S. J., Abrahams N., Hoffman, M., & van der Spuy, Z. M. (2002). ‘Men leave me as I cannot have children’. Women’s experiences with involuntary childlessness. Human Reproduction 17(6), 1663-1668. https://doi.org/10.1093/humrep/17.6.1663
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Zegers-Hochschild, F., Adamson, G. D., de Mouzon, J., Ishihara, O., Mansour, R., Nygren, K., Sullivan, E., & van der Poel, S. (2009). The international committee for monitoring assisted reproductive technology (ICMART) and the world health organization (WHO) revised glossary of ART terminology, 2009. Human Reproduction, 24(11), 2683-2687. https://doi.org/10.1093/humrep/dep343