Borderline
Wenn es zwischen leidenschaftlich und destruktiv keine Distanz mehr gibt

Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, bei welcher Betroffene intensive Emotionen und instabile Identitäten aushalten müssen. Aber was ist eine Persönlichkeitsstörung genau? Was bedeutet Borderline für interpersonelle Beziehungen? Und wie kann man die Störung behandeln? Eine Übersicht.
Von Marcia Arbenz
Lektoriert von Marie Reinecke und Jovana Vicanovic
Illustriert von Hannah Löw
Kathrin, die Protagonistin des Dokumentarfilms Diagnose Borderline (2019) läuft barfuss durch den Wald. Hier kann sie sich entspannen. Das habe sie früher nicht gekonnt. Ihre Emotionen seien übermächtig gewesen, sie habe sich selber verletzt, sei gemein zu ihrer Mutter gewesen. Schon mit 13 Jahren hat sie gewusst, dass etwas nicht mit ihr stimmen würde. Dann kam die Diagnose: Persönlichkeitsstörung, Borderline. Aber was bedeutet das?
Störung der Persönlichkeit
Nach dem ICD-11 kennzeichnen sich Persönlichkeitsstörungen durch Probleme mit dem eigenen Selbst oder durch Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen (World Health Organisation, 2019). Betroffene Personen können zum Beispiel Mühe mit der eigenen Identität haben oder es nicht schaffen, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Ihre Erlebens- und Verhaltensmuster bestehen für mindestens zwei Jahre und betreffen Kognition, Affekt und Verhalten (World Health Organisation, 2019). Dabei gibt es allgemeine und spezifische Kriterien (Petermann, Maercker, Lutz, & Stangier, 2011). So muss beispielsweise das charakteristische und andauernde innere Muster des Erlebens und Verhaltens eindeutig von der kulturellen Norm abweichen und über unterschiedliche Situationen hinweg unflexibel sein. Ausserdem erfährt die betroffene Person oder ihre Umwelt einen Leidensdruck (Petermann et al., 2011). Nach dem ICD-11 wird als Erstes festgestellt, ob und wie schwer eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (World Health Organisation, 2019). Es wird zwischen leichtem, mittlerem, schwerem und nicht bestimmbarem Schweregrad unterschieden. Erst danach kann eine Diagnose bezüglich der Art der Persönlichkeitsstörung gestellt werden (World Health Organisation, 2019). Die sechs dominierenden Persönlichkeitseigenschaften und -Muster sind negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit und Borderline.
«[Die Gefühle sind] so unaushaltbar, dass man das Gefühl hat, […] der Körper ist zu eng, das ist alles zu klein für diese ganzen bombastischen Emotionen, die da einfach kommen.»
WDR Fernsehen, 2019
Schneiden, um sich selber zu spüren
Personen, die an Borderline leiden wie Kathrin, erleben oft intensive Angst, Wut, Trauer und ein chronisches Gefühl der inneren Leere (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Sie sind teilweise von einer intensiven Angst verlassen zu werden beherrscht (Petermann et al., 2011). Dies resultiert in einem übertriebenen Bemühen, den*die Partner*in an sich zu binden. Häufig zeigen sie eine Neigung für instabile, konflikthafte und intensive Beziehungen (Petermann et al., 2011). Die betroffene Person idealisiert und entwertet den*die Partner*in (Bolton & Mueser, 2009). Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind demnach instabil, genauso wie ihr Selbstbild und ihre Affekte (Petermann et al., 2011). Die Betroffenen zeigen eine deutliche Impulsivität. Beispielsweise gehen sie unbesonnen mit ihrem Geld um, trinken extrem viel Alkohol oder überessen sich (Bolton & Mueser, 2009). Hinzu kommen Androhungen oder Handlungen der Selbstverletzung wie Verbrennungen oder Schneiden (Bolton & Mueser, 2009; Petermann et al., 2011). Häufig schneiden sich die betroffenen Personen am Unterarm. Leichtes Ritzen wie auch tiefe Schnitte lösen ein kurzes Gefühl der Erleichterung der erlebten inneren Spannung aus oder lassen sie sich wieder selbst spüren (Petermann et al., 2011). Die Anzahl der Suizidversuche und die Einweisungen in Krankenhäuser von Betroffenen der Störung sind hoch (Bolton & Mueser, 2009). Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, werden überzufällig häufig auch mit Depressionen (Galione & Oltmanns, 2013), bipolaren Störungen (Fornaro et al., 2016), posttraumatischer Belastungsstörungen (Frías & Palma, 2015) oder Essstörungen wie Anorexie und Bulimie (Martinussen et al., 2017) diagnostiziert. Auch Kindheitstraumata werden vermehrt bei den Betroffenen festgestellt (MacIntosh, Godbout, & Dubash, 2015).
Häufige Remission, häufiger Rückfall
Etwa 1,5 Prozent der Menschen leiden an einer Borderlinestörung, wobei die Zahl je nach Studie unterschiedlich hoch ausfällt (Fiedler, 2018). In einer internationalen Studie der WHO wurde bei einer psychiatrischen Stichprobe Borderline bei fast 15 Prozent der Patienten diagnostiziert. Somit zeigt die Diagnose Borderline die höchste Prävalenzrate in fast allen Ländern (Fiedler, 2018). Nur in Indien konnte die Persönlichkeitsstörung nicht festgestellt werden. In der Übersichtsarbeit von Fiedler (2018) konnte die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit oder in der Jungend beginnen und sich anschliessend im Erwachsenenalter manifestieren, nicht bestätigt werden. Viele Patienten wurden im Verlaufe ihres Lebens nicht mehr diagnostiziert, vor allem im höheren Lebensalter. Eine Chronifizierung kommt nur in seltenen Fällen vor (Fiedler, 2018). Eine längsschnittliche Studie fand, dass 16 Jahre nach der erstmaligen Vergabe der Diagnose Borderline fast alle Versuchspersonen in Remission waren (Zanarini, Frankenburg, Hennen, Reich, & Silk, 2005). Dennoch hatten nur etwa 40 bis 60 Prozent der Versuchspersonen ein gesundes Funktionsniveau erreicht. Im Vergleich zu Versuchspersonen mit anderen Persönlichkeitsstörungen waren die Patienten*innen mit einer Borderlinestörung häufiger und schneller von einem Rückfall betroffen (Zanarini et al., 2005). In den letzten Jahrzenten haben sich jedoch die spezifischen Therapieprogramme erfolgsversprechend verbessert (Petermann et al., 2011). Es ist also gut möglich, dass sich die hohe Rückfallquote in den letzten 15 Jahren zu Gunsten der Betroffenen verändert hat.
Therapie nach Schema
Psychopharmaka scheinen die Schwere der Persönlichkeitsstörung nicht verringern zu können (Lieb, Zanarini, Schmahl, Linehan, & Bohus, 2004). Jedoch können Psychotherapien Erfolge verzeichnen. Vor allem spezialisierte Therapien können effektiv und allumfassend den Schwergrad und die Selbstverletzungstendenz reduzieren (Oud, Arntz, Hermens, Verhoef, & Kendall, 2018). Zudem scheinen sie von den Patienten besser akzeptiert zu werden: weniger brechen die Therapie ab (Oud et al., 2018). Zu den spezialisierten Therapien gehören unter anderem die dialektische Verhaltenstherapie, die übertragungsfokussierte Psychotherapie oder die Schematherapie (Oud et al., 2018). Gemeinsam haben diese Therapien, dass sie auf Theorien über die Entstehung und Erhaltung von Borderline basieren. Zudem veröffentlichen sie detaillierte Protokolle über die Behandlung und therapeutische Techniken. Ausserdem ist die therapeutische Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in bei allen Therapien bedeutsam (Oud et al., 2018). Im folgenden Abschnitt wird die Schematherapie stellvertretend für alle spezialisierten Therapieformen genauer erläutert.
«Ich fand das so amüsant, wenn die Leute schockiert waren, wenn ich irgendwie mit einem blutendem Arm da sass oder so. Ich fand das irgendwie amüsant. Bis ich dann festgestellt habe, dass ich es gar nicht mehr kontrollieren kann und dann habe ich Angst bekommen.»
WDR Fernsehen, 2019
Die Schematherapie beinhaltet vier sogenannte heilende Mechanismen (Kellogg & Young, 2006). Bei der begrenzten Nachbeelterung versuchen die Therapeuten die Defizite der Elternerziehung durch ein warmes und empathisches Auftreten zu kompensieren. Die emotionsfokussierte Arbeit als zweiter Mechanismus verwendet vor allem Vorstellungen, Dialoge und das Briefschreiben (Kellogg & Young, 2006). Bei der kognitiven Restrukturierung und Bildung wird thematisiert, was normale Bedürfnisse und Emotionen sind. Beim vierten und letzten Mechanismus, in welchem es um das Brechen von Verhaltensmustern geht, kommt es zu einer Generalisierung des Erlernten in der Therapie auf Beziehungen ausserhalb (Kellogg & Young, 2006). Diese Strategien sollten der Person helfen, eine emotionale Stabilität zu erhalten, zielorientiert zu handeln, beidseitig positive Beziehungen zu führen und sich generell gut zu fühlen.
Kathrin hat eine Therapie erfolgreich bewältigt. Heute ist sie selber Psychotherapeutin und kann auch durch ihre eigenen Erfahrungen anderen helfen. Sie ist zwar noch leidenschaftlich, aber nicht mehr destruktiv.
Weniger Borderline bei Männern? Einige Studien fanden ein Geschlechterverhältnis von 1:3 oder 1:4 bei mit Borderline diagnostizierten Personen, während andere keine signifikanten Unterschiede fanden (Bayes & Parker, 2017). Auffallend ist, dass vor allem Untersuchungen mit klinischen Versuchspersonen ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fanden. Da vermutet wird, dass Männer weniger häufig klinische Hilfe aufsuchen, sind sie in diesen Studien oft unterrepräsentiert, was zum vermeintlichen Fehlschluss führte, dass Männer weniger von Borderline betroffen sind (Bayes & Parker, 2017). Ein weiterer Grund ist, dass es bei Männern vermehrt zu einer Fehldiagnose kommt, wie beispielsweise der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Männer zeigen oft andere Ausprägungen der Störung (Bayes & Parker, 2017). So ist ihr Verhalten mehr externalisierend, sie fügen sich gewalttätigere Selbstverletzungen zu und zeigen dissoziale Verhaltensmuster und Substanzmissbrauch.
Zum Weiterlesen
Fiedler, P. (2018). Epidemiologie und Verlauf von Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66(2), 85–94. doi: 10.1024/1661-4747/a000344
World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en
Literatur
Bayes, A., & Parker, G. (2017). Borderline personality disorder in men: A literature review and illustrative case vignettes. Psychiatry Research, 257, 197–202. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.07.047
Bolton, E. E., & Mueser, K. T. (2009). Borderline personality disorder. In K. T. Mueser, S. D. Rosenberg, & H. J. Rosenberg (Eds.), Treatment of posttraumatic stress disorder in special populations: A cognitive restructuring program (pp. 225–238). Washington: American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/11889-011
Fiedler, P. (2018). Epidemiologie und Verlauf von Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66(2), 85–94. https://doi.org/10.1024/1661-4747/a000344
Fornaro, M., Orsolini, L., Marini, S., Berardis, D. de, Perna, G., Valchera, A., . . . Stubbs, B. (2016). The prevalence and predictors of bipolar and borderline personality disorders comorbidity: Systematic review and meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 195, 105–118. https://doi.org/10.1016/j.jad.2016.01.040
Frías, Á., & Palma, C. (2015). Comorbidity between post-traumatic stress disorder and borderline personality disorder: A review. Psychopathology, 48(1), 1–10. https://doi.org/10.1159/000363145
Galione, J. N., & Oltmanns, T. F. (2013). The relationship between borderline personality disorder and major depression in later life: Acute versus temperamental symptoms. The American Journal of Geriatric Psychiatry : Official Journal of the American Association for Geriatric Psychiatry, 21(8), 747–756. https://doi.org/10.1016/j.jagp.2013.01.026
Kellogg, S. H., & Young, J. E. (2006). Schema therapy for borderline personality disorder. Journal of Clinical Psychology, 62(4), 445–458. https://doi.org/10.1002/jclp.20240
Lieb, K., Zanarini, M. C., Schmahl, C., Linehan, M. M., & Bohus, M. (2004). Borderline personality disorder. Lancet. (364), 453–461.
MacIntosh, H. B., Godbout, N., & Dubash, N. (2015). Borderline personality disorder: Disorder of trauma or personality, a review of the empirical literature. Canadian Psychology/Psychologie canadienne, 56(2), 227–241. https://doi.org/10.1037/cap0000028
Martinussen, M., Friborg, O., Schmierer, P., Kaiser, S., Øvergård, K. T., Neunhoeffer, A.-L., . . . Rosenvinge, J. H. (2017). The comorbidity of personality disorders in eating disorders: A meta-analysis. Eating and Weight Disorders : EWD, 22(2), 201–209. https://doi.org/10.1007/s40519-016-0345-x
Oud, M., Arntz, A., Hermens, M. L., Verhoef, R., & Kendall, T. (2018). Specialized psychotherapies for adults with borderline personality disorder: A systematic review and meta-analysis. The Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 52(10), 949–961. https://doi.org/10.1177/0004867418791257
Petermann, F., Maercker, A., Lutz, W., & Stangier, U. (2011). Klinische Psychologie: Grundlagen. Göttingen: Hogrefe Verlag.
WDR Fernsehen (Producer). (2019). Diagnose Borderline. Das Leben neu gestalten: WDR Fernsehen. Retrieved from https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdmOTJlNjc1LWI0MjQtNDlhZi04ZDFlLTUzMDU2M2U2YTRjOA/
World Health Organisation (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th Revision). Retrieved from https://icd.who.int/browse11/l-m/en
Zanarini, M. C., Frankenburg, F. R., Hennen, J., Reich, D. B., & Silk, K. R. (2005). Psychosocial Functioning of Borderline Patients and Axis II Comparison Subjects Followed Prospectively for Six Years. Journal of Personality Disorders, 19(1), 19–29.