Stigmatisierung
Auswirkungen von Stigmata auf Kinder und Erwachsene mit Depressionen und ADHS

Depressionen und ADHS gehören zu den in der Kindheit am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Obwohl ADHS oft als reine Kinderkrankheit angesehen wird, bleiben beide Störungen oft über die Kindheit hinaus bestehen. Beide werden stark stigmatisiert, was sich erheblich auf Betroffene auswirkt.
Von Loriana Medici
Lektoriert von Sarah Ihn und Lisa Makowski
Illustriert von Kerry Willimann
Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind die beiden meistdiagnostizierten emotionalen und verhaltensbezogenen Störungen im Kindesalter. Sie werden zudem extrem stigmatisiert, wobei sich gängige Stereotypen auf Gefährlichkeit, Inkompetenz und Störverhalten beziehen (Mukolo, Heflinger, & Wallston, 2010). In Übereinstimmung damit nehmen Jugendliche depressive Peers als gefährlicher wahr (Walker, Coleman, Lee, Squire, & Friesen, 2008). Vergleichsweise werden Peers mit ADHS als Faulenzer gesehen und als anfälliger dafür, in Schwierigkeiten zu geraten (Wiener et al., 2012). Zwar werden lebenslange Störungen wie ADHS im Allgemeinen eher stigmatisiert als temporäre, jedoch zeigt sich bei Depressionen eine stärkere Stigmatisierung als bei ADHS (Walker et al., 2008).
Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen
In einer Studie, in der die Ansichten von Kindern bezüglich Ursachen von Depressionen und ADHS untersucht wurden, waren 25-33 Prozent der teilnehmenden Kinder der Meinung, dass «sich nicht genug anstrengen» eine Ursache für eine kindliche Störungen sei (Coleman, Walker, Lee, Friesen, & Squire, 2009).
«[…] for a child with depression or ADHD, at least one in four peers believes the child is to blame for the condition.» Coleman et al., 2009
Da störendes Verhalten von Kindern generell weniger toleriert wird als das von Erwachsenen, ist es leider keine Überraschung, dass Depressionen bei Kindern negativer bewertet werden als Depressionen bei Erwachsenen, wobei jüngere Kinder einer stärkeren Stigmatisierung ausgesetzt sind als ältere Kinder (Walker et al., 2008; Mukolo et al., 2010).
ADHS-Symptome werden von Erwachsenen vielfach grundsätzlich stigmatisiert. Zusätzlich gibt es eine generelle Skepsis gegenüber ADHS-Medikamenten, basierend auf der Behauptung, dass die Erkrankung überdiagnostiziert werde (Wiener et al., 2012). Typische Argumente von Skeptikern beinhalten, dass ADHS eine Folge schlechter Erziehung oder zu vielen Videospielen sei, oder gänzlich von der Pharmaindustrie erfunden wurde (Masuch, Bea, Alm, Deibler, & Sobanski, 2018). Darüber hinaus werden die Symptome von ADHS-Kindern oft fälschlicherweise als kontrollierbar angesehen, was bei Eltern, Lehrern und Peers Wut und Frustration auslösen kann. Dies kann wiederum zu Strafreaktionen von Lehrern führen, die glauben, dass das Verhalten an Klassenzimmerstandards angepasst werden könnte (Wiener et al., 2012). Vielen Lehrern fehlen akkurate Informationen über die Vielfalt von ADHS-Symptomen, da sie sich auf das Fernsehen, Zeitschriften oder Freunde und Verwandte als primäre Wissensquellen über die Störung verlassen (Bell, Long, Garvan, & Bussing, 2010).
Insgesamt werden psychische Störungen bei Kindern gleichermassen gnadenlos stigmatisiert wie bei Erwachsenen. Dies zeigt sich in negativen Reaktionen der Gesellschaft wie etwa vermehrten strafenden Reaktionen von Erwachsenen gegenüber Kindern mit psychischen Erkrankungen. Nicht selten wird die Familie für die Probleme des Kindes verantwortlich gemacht, und aussenstehende Erwachsene beschreiben eine Präferenz für soziale Distanz zum Kind und seiner Familie sowie eine Vorliebe für striktere Behandlungsmethoden, einschliesslich der Behandlung in restriktiven Settings, wie beispielsweise stationäre Therapien (Mukolo et al., 2010).
Direkte Folgen von Stigmatisierung
Laut Wiener et al. (2012) fühlen sich Kinder mit ADHS aufgrund ihres Verhaltens oft anders behandelt. Sie spüren die mit ihrer Diagnose verbundenen Stigmata und schämen sich – ein Gefühl, das ihre Eltern oft teilen. Negative elterliche Reaktionen auf Depressionen und ADHS können sich nachteilig auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken (Mukolo et al., 2010). Die von Betroffenen wahrgenommene Stigmatisierung ist mit geringerem Selbstwertgefühl und höherem Risiko für soziale Ablehnung verbunden (Wiener et al., 2012). Wichtiger noch, Kinder verinnerlichen bereitwillig negative Auffassungen anderer und haben daher eher stigmatisierende Ansichten bezüglich ihres eigenen psychischen Zustandes – ein Umstand, dem sich Therapeuten und Angehörige bewusst sein sollten (Coleman, 2009). Der Zusammenhang von internalisierten Stigmata und niedrigerem Selbstwert bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen (Masuch et al., 2018).
Stigmatisierung per Assoziation und Behandlungszugang
Obwohl Depression die häufigste emotionale Störung in der Kindheit ist, bleiben 75 Prozent der jugendlichen Betroffenen undiagnostiziert. Darüber hinaus werden nur 70 Prozent der mit Depressionen und 50 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Kinder tatsächlich therapeutisch unterstützt (Pescosolido et al., 2008). Dies ist zum Teil auf die starke Stigmatisierung der beiden Störungsbilder zurückzuführen, welche sich massgeblich darauf auswirkt, wie die Eltern auf kindliche Probleme reagieren. Dies beeinflusst sowohl den Zugang des Kindes zu psychologischen Hilfsangeboten, sowie deren Inanspruchnahme (Mukolo et al., 2010). Kinder sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, um professionelle Unterstützung zu erhalten, was zu verschiedenen Problemen führen kann (Mukolo et al., 2010). Zum einen erleben Familienmitglieder eines Kindes mit einer psychischen Erkrankung oft eine Stigmatisierung per Assoziation (Wiener et al., 2012). Dies führt dazu, dass Eltern sich sorgen, für die Probleme ihres Kindes verantwortlich gemacht zu werden, sollten Menschen in ihrem sozialen Umfeld herausfinden, dass ihr Kind psychologische Hilfe benötigt. Des Weiteren äussern Eltern Besorgnis darüber, marginalisiert zu werden, falls die Diagnose ihres Kindes publik würde. Darüber hinaus unterliegen auch Psychotherapeuten selbst einer Stigmatisierung, was ein weiteres Hindernis für die Inanspruchnahme psychologischer Dienste darstellt (Mukolo et al., 2010).
Ein- und Aufrechterhaltung der Behandlung
Wissensmangel, Misstrauen und uninformierte Urteile begünstigen Stigmatisierung und machen damit die (Un-)Fähigkeit der Gesellschaft, psychische Erkrankungen zu erkennen und verstehen, zu einer Determinante für die Entstehung von Stigmata. Dementsprechend ist die Fähigkeit zur Symptomerkennung der Eltern und deren Wissen über Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung ob professionelle Hilfe gesucht wird oder nicht (Pescosolido et al., 2008). Bedauerlicherweise kann die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern auch nach dem Überwinden all dieser Hindernisse von Stigmata beeinträchtigt werden. So werden z.B. Zielsetzungen und Methoden, die nicht mit elterlichen Überzeugungen übereinstimmen, behindert oder gänzlich abgelehnt. Infolgedessen stellt die Beteiligung der Familie für Therapeuten oft eine Herausforderung dar (Pescosolido et al., 2008).
Ein besonders stigmatisierter Aspekt der Therapie sind Psychopharmaka. Jugendliche mit einer psychiatrischen Diagnose schämen sich oft für ihren Zustand und den daraus resultierenden Medikationsbedarf. Sie tendieren dazu, sowohl ihre Diagnose als auch ihren Medikamentengebrauch geheim zu halten, was zu einer Reduktion von Interaktionen mit Peers führen kann, denen sie nicht vollständig vertrauen (Kranke, Floersch, Townsend, & Munson, 2010).
Spezifische Stigmata gegen ADHS bei Erwachsenen
Während die Validität von ADHS als psychische Störung im Allgemeinen bezweifelt wird, sind Erwachsene mit ADHS mit besonders ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert, da ADHS allgemein als Störung des Kindesalters gilt. Da ADHS angeblich «bei Erwachsenen nicht existiert», wird ihnen häufig vorgeworfen ihre Symptome zu fingieren, um an Stimulanzien zu gelangen (Masuch et al., 2018). Während viele Stereotypen aus dem Kindesalter bestehen bleiben, beinhalten die Attributionsüberzeugungen über ADHS bei Erwachsenen zusätzlich auch Drogenmissbrauch als vermeintliche Ursache für die Störung (Masuch et al., 2018).
Hürden bei der Hilfesuche für Erwachsene
Während Diskriminierung am häufigsten im Arbeits- und Bildungskontext antizipiert wird, befürchten viele Erwachsene mit ADHS auch, von medizinischen Fachkräften diskriminiert zu werden (Masuch et al., 2018). Die aktive Verleugnung von ADHS bei Erwachsenen durch bestimmte Ärzte verstärkt diese Angst und könnte eine mögliche Erklärung für den signifikanten Unterschied zwischen administrativer und epidemiologischer Prävalenz von ADHS sein (Masuch et al., 2018).
Bei erwachsenen Patienten mit Depression sind Selbststigmata ein wichtiger Faktor für die Suche nach psychologischer Hilfe (Barney, Griffiths, Jorm, & Christensen, 2006). Schamgefühle wegen der Einholung professioneller Hilfe sowie erwartete negative Reaktionen aus dem Umfeld sind bei depressiven Patienten weit verbreitet und können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, mit der um professionelle Unterstützung gebeten wird (Barney et al., 2006). Wahrgenommene Stigmatisierung zu Beginn der Therapie hängt signifikant mit dem späteren Behandlungsverhalten der Patienten zusammen (Sirey et al., 2001).
Ein Stigma kann definiert werden als die Ansicht, dass eine bestimmte Abweichung von der Norm bezüglich physikalischer Eigenschaften, Verhalten oder Charakter unerwünscht ist und ein negatives Gesamtergebnis darstellt. Es kann unterschieden werden zwischen öffentlichem Stigma, das sich in der Regel durch Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ausdrückt, und Selbststigmatisierung, die auftritt, wenn das stigmatisierte Individuum beginnt, diese verzerrten Ansichten zu akzeptieren. Öffentliche Stigmata variiert je nach Art der psychischen Störung, bleiben aber auch dann bestehen, wenn bekannt ist, dass eine Behandlung wirksam oder unnötig ist.
Zum Weiterlesen
Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 49(2), 92–103. doi:10.1016/j.iaac.2009.10.011
Bowers, E. (2012, August 15). Countering the Social Stigma of Depression [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.everydayhealth.com/hs/major-depression/facing-social-stigma-of-depression/
Tartakovsky, M. (2018, July 8). Breaking the Silence of ADHD Stigma [Web log post]. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://psychcentral.com/blog/breaking-the-silence-of-adhd-stigma/
Literatur
Barney, L. J., Griffiths, K. M., Jorm, A. F., & Christensen, H. (2006). Stigma about depression and its impact on help-seeking intentions. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry, 40(1), 51–54. doi: 10.1080/j.1440-1614.2006.01741.x
Bell, L., Long, S., Garvan, C., & Bussing, R. (2010). The impact of teacher credentials on ADHD stigma perceptions. Psychology in the Schools, 48(2), 184–197. doi: 10.1002/pits.20536
Coleman, D., Walker, J. S., Lee, J., Friesen, B. J., & Squire, P. N. (2009). Children’s beliefs about causes of childhood depression and ADHD: A study of stigmatization. Psychiatric Services, 60(7), 950–957. doi: 10.1176/ps.2009.60.7.950
Kranke, D., Floersch, J., Townsend, L., & Munson, M. (2010). Stigma experience among adolescents taking psychiatric medication. Children and Youth Services Review, 32(4), 496–505. doi: https://doi.org/10.1016/j.childyouth.2009.11.002
Masuch, T. V., Bea, M., Alm, B., Deibler, P., & Sobanski, E. (2018). Internalized stigma, anticipated discrimination and perceived public stigma in adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders. doi: 10.1007/s12402-018-0274-9
Moses, T. (2010). Being treated differently: Stigma experiences with family, peers, and school staff among adolescents with mental health disorders.Social Science & Medicine, 70(7), 985–993. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.12.022
Mukolo, A., Heflinger, C. A., & Wallston, K. A. (2010). The stigma of childhood mental disorders: A conceptual framework. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,49(2), 92–103. doi: https://doi.org/10.1016/j.jaac.2009.10.011
Pescosolido, B. A., Jensen, P. S., Martin, J. K., Perry, B. L., Olafsdottir, S., & Fettes, D. (2008). Public knowledge and assessment of child mental health problems: Findings from the national stigma study-children.Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 47(3), 339–349. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318160e3a0
Sirey, J. A., Bruce, M. L., Alexopoulos, G. S., Perlick, D. A., Raue, P., Friedman, S. J., & Meyers, B. S. (2001). Perceived stigma as a predictor of treatment discontinuation in young and older outpatients with depression. American Journal of Psychiatry, 158(3), 479–481. doi: 10.1176/appi.ajp.158.3.479
Walker, J. S., Coleman, D., Lee, J., Squire, P. N., & Friesen, B. J. (2008). Children’s stigmatization of childhood depression and ADHD: Magnitude and demographic variation in a national sample. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry,47(8), 912–920. doi: https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e318179961a
Wiener, J., Malone, M., Varma, A., Markel, C., Biondic, D., Tannock, R., & Humphries, T. (2012). Childrens perceptions of their ADHD symptoms. Canadian Journal of School Psychology, 27(3), 217–242. doi: 10. 1177/0829573512451972