Ein unsichtbarer Begleiter

Was eine HIV-Infizierung mit sich bringt
Dank wichtiger medizinischer Fortschritte ist eine Ansteckung mit dem humanen Immundefizienz-Virus (Human Immunodeficiency Virus, HIV) für die meisten Menschen in Industrieländern heutzutage kein Todesurteil mehr. Trotzdem stellt ein positives HIV-Testergebnis und ein möglicherweise damit einhergehender Ausbruch der AIDS-Krankheit eine massive Lebensveränderung dar. In Angesicht der gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen müssen die Betroffenen viele Hürden überwinden.
Von Noémie Lushaj
Lektoriert von Aurelia Heilmann und Vera Meier
Illustriert von Gianna Zorzini
In der Schweiz leben circa 20‘000 Menschen mit HIV (BAG, 2018). Weltweit sind es 36.9 Millionen Individuen, die von der Virusinfektion betroffen sind (WHO, 2017). Um diese Pandemie zu beenden, ist nicht nur zusätzliche medizinische Forschung notwendig, sondern auch eine Zunahme an Akzeptanz und Unterstützung für die Betroffenen und ein weltweit verbesserter Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung.
Die HIV-Infizierung
Kommt eine Person in den direkten Kontakt mit HIV-infizierten Körperfluiden wie Blut, Sperma, rektal und vaginal Fluiden, sowie Muttermilch, droht eine Ansteckung mit dem Virus (CDC, 2018). Dabei sind die häufigsten Übertragungswege ungeschützter Geschlechtsverkehr und das Teilen von Nadeln und Spritzen mit Personen, die das Virus bereits in sich tragen (CDC, 2018). Andere Mechanismen der Virusweitergabe sind relativ selten.Diese inkludieren die Transmission zwischen Mutter und Kind und Verletzungen mit kontaminierten Objekten (CDC, 2018).Dass HIV durch Wasser, Luft, Speichel, Mücken, durch das Teilen von Toiletten, Essen oder Trinken übertragen wird, sind Mythen, die sich hartnäckig halten und aufgeklärt werden müssen (CDC, 2018).
Was im Körper passiert
Ist das Virus einmal in den Körper gedrungen, greift es das Immunsystem an: Die Anzahl an CD4+ T-Helfer-Lymphozyten wird reduziert (Wasmuth, 2010). Die Hauptaufgabe dieser Zellen besteht darin, Immunantworten auszulösen, sobald bestimmte Krankheitserreger im Körperinneren erkannt werden. Wird die HIV-Infektion nicht medikamentös behandelt, folgt das nächste Erkrankungsstadium: Das erworbene Immundefizienzsyndrom (Acquired Immune Deficiency Syndrome,AIDS) (Wasmuth, 2010). Da das Immunsystem in Zuge der AIDS-Erkrankung geschwächt ist, sind die Patienten|innen anfälliger für potenziell lebensbedrohliche opportunistische Krankheiten: Diese entstehen als Folge von Infektionen, die von der Schwäche des Immunsystems profitieren, um sich zu entwickeln (Wasmuth, 2010). Auch das Risiko, Krebserkrankungen zu entwickeln steigt aus demselben Grund (Wasmuth, 2010). Gezielte Behandlungen von opportunistischen Erkrankungen sowie eine Tritherapie (siehe nächster Abschnitt) können lebensrettend sein (Wasmuth, 2010).
Die Tritherapie als Rettung
Als die AIDS-Erkrankung in den 1980er Jahren erstmals ausbrach, galt ein positives HIV-Testergebnis als Todesurteil (Wang et al., 2015). Doch mit der Entwicklung der antiretroviralen Therapie (Antiretroviral Therapy, ART) im Jahr 1996 hat sich das Leben der Betroffenen radikal verändert (Wang et al., 2015). Mittels ART kann die Replikation von HIV in den CD4+ T-Helfer-Lymphozyten unterdrückt werden, was die Schwächung des Immunsystems verlangsamt (Trickey et al., 2017). Als Konsequenz ist die Lebenserwartung von Patienten|innen in Europa und Nordamerika zwischen 1996 und 2010 um zehn Jahre gestiegen (Trickey et al., 2017): Diese liegt mittlerweile nur noch circa zehn Jahre unter der Lebenserwartung gesunder Menschen. Auch ist die Lebensqualität von Patienten|innen in verschiedener Hinsicht deutlich besser geworden (Jin et al., 2014). Liegt die Infektion unter der viralen Schwelle, so ist beispielsweise das Übertragungsrisiko in serodiskordanten Partnerschaften, also in Partnerschaften, in denen nur ein|e Partner|in mit HIV infiziert ist, minimal (Loutfy et al., 2013). Auch ist es möglich, die Wahrscheinlichkeit von Mutter-Kind-Übertragungen unter ein Prozent zu senken. Dies unter der Bedingung, dass HIV-positive, schwangere Frauen entsprechend medikamentös behandelt werden, ihre Kinder durch einen Kaiserschnitt geboren werden, und die Mütter ihre Babys nicht stillen (ECS, 2005). Gegenwärtig werden 21.7 Millionen Patienten|innen, das sind 59 Prozent der global Betroffenen, medizinisch behandelt (WHO, 2017). Obwohl die gesundheitlichen Konsequenzen von AIDS heute sehr gut kontrolliert werden können und die Krankheit im Alltag somit beinahe unsichtbar ist, sind die psychosozialen Folgen nicht zu vernachlässigen.
«The prevalence of mental illnesses in HIV-infected individuals is substantially higher than in the general population. […] HIV/AIDS imposes a significant psychological burden.» WHO, 2008, S. 2
Stigma und Diskriminierung
Manche somatische und psychische Erkrankungen werden mehr stigmatisiert als andere. Dabei zählen Geschlechtskrankheiten wie AIDS zu den meist stigmatisierten Erkrankungen (Pettit, 2008). Diese Tatsache kann durch Schuldzuweisungen erklärt werden: Die Verantwortung für eine HIV-Infizierung wird den Betroffenen selbst zugeschrieben, was die Empathie ihnen gegenüber reduziert (McDonell, 1993).Überdies ist davon auszugehen, dass das Stigma eine adäquate Gesundheitsversorgung der Betroffenen verhindert, was schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann (Sartorius, 2007). Diskriminierungen bei der Arbeit aufgrund des HIV-Status scheinen ebenfalls weit verbreitet zu sein (Sprague, Simon, & Sprague, 2011). Um unfaire Behandlungen zu vermeiden, sollten Antidiskriminierungsmassnahmen weltweit implementiert werden, denn es gibt starke Evidenz dafür, dass diese gegen institutionelle Diskriminierung wirksam sind (Dubois-Arber & Haour-Knipe, 2001). Diskriminierungen, die von Individuen ausgehen, sind mittels solcher Massnahmen dagegen nicht so leicht aus der Welt zu schaffen (Dubois-Arber & Haour-Knipe, 2001).
Psychische Folgen – und Ursachen
HIV/AIDS und mentale Gesundheit sind eng miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig (WHO, 2008). Zum Beispiel erhöhen psychische Probleme wie Substanzabhängigkeitsstörungen das Risiko einer Infizierung mit dem Virus und erschweren die Krankheitsbehandlung (WHO, 2008). Überdies ziehen HIV/AIDS sowie die damit einhergehende Stigmatisierung und Diskriminierung psychische Folgen nach sich. In einem systematischen Review über die mentale Gesundheit von HIV-Patienten|innen in Afrika wurde gezeigt, dass etwa die Hälfte der Befragten an einer psychiatrischen Störung litten, wobei Depressionen am häufigsten waren (Brandt, 2009). Der HIV-Status konnte ebenfalls in Verbindung mit Angststörungen gebracht werden (Brandt et al., 2017). Auch kann eine HIV-Diagnose Suizidgedanken und -handlungen mit sich ziehen (WHO, 2008). Somit wird nicht nur die Ansteckungswahrscheinlichkeit durch psychische Faktoren beeinflusst, sondern HIV/AIDS kann auch gravierende Folgen für die mentale Gesundheit der Betroffenen haben und auf diesem Weg gar ihr Leben gefährden. Soziale Unterstützung, religiöses Coping oder wahrgenommener Stress beeinflussen unter anderem das psychische Wohlbefinden und die Krankheitsentwicklung der Patienten|innen und sollten bei der Krankheitsbehandlung berücksichtigt werden (Dalmida, Koenig, Holstad, & Wirani, 2013).
«Ending the AIDS epidemic will inspire broader global health and development efforts, demonstrating what can be achieved through global solidarity, evidence-based action and multisectoral partnerships.» UNAIDS, 2014, S. 1
Pandemie eliminieren: Global denken
Während die HIV-Pandemie durch die ART schon gebremst werden konnte, ist es das Endziel, die AIDS-Krankheit voll und ganz zu eliminieren. In diesem Zusammenhang verfolgt das Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (Joint United Nations Programme on HIV and AIDS, UNAIDS, 2014) das ambitiöse Ziel, die HIV-Pandemie bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts eingedämmt zu haben (siehe Kästchen «90-90-90»). Der Erfolg dieser Strategie basiert auf der Qualität des Zugangs zur erforderlichen Medikation in Entwicklungsländern: In der Tat sind die Versorgungslücken in vielen Weltregionen weiterhin sehr gross (UNAIDS, 2014). Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations International Children’s Emergency Fund, UNICEF) sowie das UNAIDS arbeiten zusammen «towards universal access»: Alle Patienten|innen sollen uneingeschränkten Zugang zu medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, sozialer Unterstützung und Präventionsprogrammen haben (WHO, 2007). Dabei wird insbesondere der Prävention grosse Bedeutung zugeschrieben (siehe Kästchen «Vorbeugen ist besser als heilen»).
Vorbeugen ist besser als heilen
Durch sogenannte safer sex practices, wie der Verwendung von Kondomen, kann das HIV-Ansteckungsrisiko deutlich vermindert werden (Davis & Weller, 1999). Für Risikogruppen, wie zum Beispiel homosexuelle Männer, Partner|innen von HIV-positiven Menschen, injizierende Drogenkonsumenten|innen, und Sexarbeiter|innen, ist die Einnahme von HIV-Präexpositionsprophylaxe (Pre-Exposure Prophylaxis, PrEP) eine mögliche Lösung: PrEP reduziert vorbeugend das Risiko einer HIV-Infizierung mittels Medikamenten (AWMF, 2018). HIV-Bildungsprogramme machen unterschiedliche Gruppen auf bestehende Angebote und auf die Wirksamkeit von Verhaltensänderungen aufmerksam (Kirby, Laris, & Rolleri, 2007).
90-90-90
Im Jahr 2020 sollten…
… 90% der HIV-infizierten Menschen ihren Status kennen.
… 90% der Personen, die eine HIV Diagnose haben, mit ART behandelt werden.
… 90% der behandelten Patienten|innen eine nicht mehr detektierbare Virusbelastung aufweisen.
Sollten diese Ziele 2020 tatsächlich erreicht werden, so wären laut UNAIDS (2014) bei 73 Prozent der HIV-positiven Patienten|innen weltweit die krankheitserregenden Viren unterdrückt und es wäre möglich, die HIV/AIDS-Pandemie bis 2030 zu beenden.
Zum Weiterlesen
Brandt, R. (2009). The mental health of people living with HIV/AIDS in Africa: A systematic review. African Journal of AIDS Research, 8(2), 123-133. doi: 10.2989/ AJAR.2009.8.2.1.853
Brandt, C., Zvolensky, M. J., Woods, S. P., Gonzalez, A., Safren, S. A., & O’Cleirigh, C. M. (2017). Anxiety symptoms and disorders among adults living with HIV and AIDS: A critical review and integrative synthesis of the empirical literature. Clinical Psychology Review, 51, 164-184. doi: 10.1016/j.cpr.2016.11.005.
World Health Organization (WHO). (2008). HIV/AIDS and mental health. Abgerufen am 01. Februar 2019 von http://apps.who.int/gb/archive/pdf_files/EB124/B124_6-en.pdf
Literatur
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Bundesamt für Gesundheit (BAG). (2018). HIV/STI-Statistiken und Analysen. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/zahlen-zu-infektionskrankheiten/hiv-sti-statistiken-analysen-trends.html
Centers for Disease Control and Prevention (CDC). (2018). HIV Transmission. Abgerufen am 01. Februar 2019 von https://www.cdc.gov/hiv/basics/transmission.html
Dalmida, S. G., Koenig, H. G., Holstad, M. M., & Wirani, M. M. (2013). The psychological well-being of people living with HIV/AIDS and the role of religious coping and social support. The International Journal of Psychiatry in Medicine, 46(1), 57-83. doi: 10.2190/PM.46.1.e
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